Das gelobte Land der Moderne
ISBN 978-3-86859-603-8
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Entlang einer Absperrung, neben einer diagonal nach rechts oben auslaufenden Fahrspur,<br />
warten 13 Personen auf den Bus. Je<strong>der</strong> schaut in eine an<strong>der</strong>e Richtung, je<strong>der</strong> bleibt für<br />
sich. Ein Mann mit Sonnenbrille lehnt sich ans Gelän<strong>der</strong>, wo er Jacke und Koffer abgelegt<br />
hat. Zu seiner Seite liest ein orthodoxer Jude in einem Buch (vermutlich gelehrt-frommen<br />
Inhalts), wohl um nicht in Verdacht o<strong>der</strong> Versuchung zu geraten, auf die luftig-modisch<br />
gekleidete Frau neben ihm zu blicken. Den Reigen beschließt ein Soldat, vielleicht bewachend,<br />
vielleicht ebenfalls wartend. Nach 1948 avancierte <strong>der</strong> Bus, als mehrere Anläufe zu<br />
grenzübergreifenden Bahnlinien gescheitert waren, zum Fortbewegungsmittel <strong>der</strong> Wahl<br />
und damit auch zum Begegnungs- und Beobachtungsraum von Touristen und Ortsansässigen.<br />
Diese Zusammenhänge könnten anhand des Einzelbilds neutral erklärt, in <strong>der</strong> Zusammenschau<br />
mit weiteren Dias als persönliche Erfahrung geschil<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> mit weiteren<br />
Stücken aus dem Kasten als Erinnerung mit Reisefährten geteilt werden. Erst im Zusammenwirken<br />
von Bildauswahl, möglichen weiteren Materialien und begleiten<strong>der</strong> Erzählung<br />
fügt sich die jeweilige Geschichte.<br />
Elisabeth Bäcker führte ihr bebil<strong>der</strong>tes Reisetagebuch 1981 auch deshalb so ausführlich,<br />
wie die Tocher rückblickend erzählt, um dem aus gesundheitlichen Gründen daheimgebliebenen<br />
Ehemann Josef Bäcker detailliert berichten zu können. 518 Den untersuchten Beständen<br />
wurde meist eine schriftliche Erzählung beigegeben: als Vortragsmanuskript im<br />
Diakasten, als Tagebuch mit Fotografien – o<strong>der</strong> als Bildunterschrift. <strong>Das</strong> Album, eine kommentierte<br />
Sammlung von Zeichnungen, Drucken, Erinnerungsstücken und später Fotografien,<br />
hatte sich Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts einen festen Platz in <strong>der</strong> bürgerlichen Kultur<br />
erobert. Auf sehr ähnliche Weise collagierte Dalman um 1871 in seinem Schüler-Büchlein<br />
eine zeichnerische Blütenlese missionarisch-palästinakundlicher Literatur.<br />
Als aus <strong>der</strong> imaginären eine reale Reise wurde, organisierte Dalman seine Fotografien<br />
breitgefächert zwischen loser Bil<strong>der</strong>sammlung und geordnetem Institutsalbum. Nach <strong>der</strong><br />
Literaturwissenschaftlerin Annegret Pelz lag <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Reiz eines Albums gerade in<br />
seiner narrativen Verknüpfung scheinbar unzusammenhängen<strong>der</strong> Elemente. Diese collagenhafte<br />
Erzählweise inspirierte, so das Ergebnis ihrer Untersuchung, wie<strong>der</strong>um zahlreiche<br />
Romanautoren mit einem Sinn „für dislozierte Objekte“ 519 . Auch Dalman komponierte<br />
seine Fachbücher vom Schreibtisch aus – wie es die in <strong>der</strong> Greifswal<strong>der</strong> Sammlung überlieferte<br />
Materialsammlung zu „Arbeit und Sitte“ belegt – aus losen Notizen, Skizzen und<br />
Fotografien. <strong>Das</strong> Bild war für ihn nicht bloße Illustration, son<strong>der</strong>n unauflöslich mit dem<br />
Forschen und Schreiben verwoben.<br />
Nach Pagenstecher 520 wurde das Familien-Fotoalbum in <strong>der</strong> Wirtschaftswun<strong>der</strong>zeit zum<br />
Reisealbum, um in den 1970er und 1980er Jahren vom Dia abgelöst zu werden. Bei den<br />
hier untersuchten Beständen finden sich Alben durchaus noch in den 1980er Jahren (in<br />
einer betagteren Zielgruppe), jedoch zumeist als Materialsammlung in Ringbuchordner<br />
o<strong>der</strong> Kladde. Die Zahl <strong>der</strong> beigelegten Reisedokumente (von Hotelrechnung bis Visum)<br />
überwog dabei oft den Bildteil. Aus <strong>der</strong> Fotoschau wurde ein privates Archiv. Bei diesem<br />
Befund muss berücksichtigt werden, dass völlig ungeordnete Bildsammlungen von den Erben<br />
wahrscheinlich nur selten an Archive (o<strong>der</strong> an die Verfasserin) weitergegeben wurden.<br />
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