Der Hunger des Staates nach Feinden. Die ... - Rote Hilfe e.V.
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45 Tage im 7. Stock von Stuttgart-Stammheim<br />
auf eine Skizze der Aktivitäten der Leute in Heidelberg und anderswo, zu denen Annette<br />
und ich am meisten Kontakt hatten und deren Handeln wir unserer Meinung <strong>nach</strong> am<br />
meisten verdanken.<br />
Was sie für uns getan haben, ist wirklich unschätzbar – und viele von ihnen waren Leute,<br />
für die Politik insgesamt weiß Gott nicht im Zentrum ihres Lebens stand. Vom ersten Tag<br />
an organisierten sie Proteste, Leserbriefe an Zeitungen und Demonstrationen; sie forderten<br />
die Medien zu Berichten auf und traten in Kontakt zum Staats- und Justizapparat; sie<br />
besuchten uns im Gefängnis und machten manchmal diese Besuche selbst zu einer Art<br />
Kundgebung; sie verteilten Flugblätter, um noch weitere Teile der Öffentlichkeit zum Protest<br />
zu mobilisieren. Und siehe da, es war möglich!<br />
Aufgrund all dieser Aktivitäten begannen sich auch die Fernsehmagazine für den Fall zu<br />
interessieren, und für den Abend <strong>des</strong> 19. Mai 1981 war dann eine Sendung <strong>des</strong> Politmagazins<br />
Panorama angesetzt, in der Moderator Franz Alt u. a. mit der ganzen Schulklasse einer<br />
der Verhafteten, die Lehrerin war, darüber sprechen sollte, wie der Staat hier irrational<br />
und hysterisch mit Kanonen auf Spatzen schießt und seinen »Antiterrorkampf« selbst<br />
zu einer Mischung aus Witz und Tragödie macht.<br />
Einige Stunden vor der Sendung kamen Schließer in meine Zelle und befahlen mir, meine<br />
Sachen zu packen: Meine Entlassung sei angeordnet. Als weitere Illustration dazu, wie<br />
das Leben im Knast schon <strong>nach</strong> kurzer Zeit normale menschliche Reaktionen verzerrt, sei<br />
erwähnt, dass der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war: »Aber ihr könnt<br />
mich doch nicht einfach <strong>Die</strong>nstags abends in diesem Scheiß-Stuttgart-Stammheim auf<br />
die Straße setzen!«<br />
Nun, diese Sorge war natürlich unberechtigt, denn als wir aus dem Knast kamen, hatte<br />
sich längst ein »Begrüßungskomitee« unserer Unterstützerinnen und Unterstützer eingefunden,<br />
die uns erstmal abküssten, umarmten und dann zu einer rauschenden Party mitnahmen<br />
– einer Party, die für uns frisch Entlassene, wie wir einander später alle übereinstimmend<br />
erzählten, einen leicht traumatisierenden Charakter hatte, denn was immer die<br />
Apologeten <strong>des</strong> »Antiterrorkampfs«, wie er in den siebziger und achtziger Jahren geführt<br />
wurde, erzählen: Schon <strong>nach</strong> wenigen Wochen Einzelhaft beginnt man, ein anderes Wesen<br />
zu werden, das Schwierigkeiten hat, normalen menschlichen Kontakt herzustellen<br />
und aufrechtzuerhalten.<br />
Eine überzeugendere Rechtfertigung für unser Eintreten für das Recht von Gefangenen auf<br />
menschenwürdige Haftbedingungen, die dem Menschen auch ohne übermenschliche Anstrengungen<br />
erlauben, ein Mensch zu bleiben, konnte und kann es eigentlich nicht geben.<br />
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