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Nr. 7 / 2011 - September - Ev. Grunewald-Gemeinde

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Titel<br />

Der Niedergang des öffentlichen Gesprächs<br />

Das war nicht meine Frage! – so<br />

werden Gesprächsteilnehmer in<br />

TV-Talkshows von einer Anne Will<br />

oder Maybrit Illner oder anderen abgebügelt,<br />

wenn sie ansetzen, einmal einen<br />

eigenständigen Gedanken zu entwickeln.<br />

Gesprächsteilnehmer? Eher<br />

handelt es sich um Abfrage-Runden,<br />

gesteuert von hochbezahlten Talkmastern,<br />

die in jeder Referendarprüfung<br />

durchfallen würden, weil sie unfähig<br />

sind, ein Gespräch sich entfalten zu<br />

lassen. Und wir als Zuschauer und<br />

Zuhörer? Wir sind<br />

inzwischen durch<br />

Gewöhnung an das<br />

stets wiederholte<br />

Muster so verdorben,<br />

dass wir uns<br />

hauptsächlich davon<br />

beeindrucken<br />

lassen, wie ein Teilnehmer der Runde<br />

den anderen mit seiner Erscheinung<br />

und Rhetorik aussticht.<br />

Das öffentliche Gespräch, unter<br />

Gebildeten entfaltete sich seit dem<br />

18. Jahrhundert in dafür bestimmten<br />

Orten, in Hauskreisen, in Salons, in<br />

Kaffeehäusern, in Tischgesellschaften<br />

und Logen, wo über Geschäfte,<br />

Politik und Kirche, Wissenschaften<br />

und Künste kontrovers geredet wurde.<br />

Die gesellschaftliche Stellung der<br />

Einzelnen wurde von der Kraft des<br />

Arguments wenn nicht aufgehoben,<br />

so doch überspielt (Friedrich der<br />

Große war Freimaurer und wurde in<br />

der Loge als Privatmann behandelt),<br />

was unter den Bürgern das Gefühl<br />

ihrer ‚Ebenbürtigkeit’ stärkte. Dieses<br />

öffentliche Gespräch hat weitere Kreise<br />

der Bevölkerung erfasst und sich in<br />

Freundschaftsbünden, Clubs, Vereinen,<br />

Parteien ausgebreitet. Inzwischen<br />

ist es in den audiovisuellen Medien<br />

zur arrangierten Programmnummer<br />

verkommen, zum Konsumgut, das<br />

die öffentliche Auseinandersetzung<br />

eher behindert als fördert. Es erfüllt<br />

die Funktion, die Gesellschaft zu Beobachtern<br />

zu machen und damit ruhig<br />

zu stellen, und gaukelt ihr gleichzeitig<br />

vor, am politischen Geschehen – irgendwie<br />

– teilzunehmen.<br />

„Das Gespräch ist die angemessene<br />

Form nicht für<br />

die Belehrung, sondern für<br />

das Denken.“<br />

Von Peter Nusser<br />

Wir sollten uns für das öffentlichpolitische<br />

Gespräch das Ideal des<br />

Staatsbürgers des 18. Jahrhunderts<br />

neu in Erinnerung rufen. Zwar ist das<br />

Recht jedes einzelnen zur ‚Mitsprache’<br />

in den modernen Demokratien<br />

durch die Verfassungen garantiert,<br />

doch hat der Einfluss der Massenmedien<br />

zu einer neuen Unmündigkeit<br />

geführt. Wir hören<br />

uns an und akzeptieren,<br />

was Politiker<br />

interessengelenkt<br />

für uns entscheiden<br />

– wir hören<br />

leider auch in der<br />

Kirche vornehmlich<br />

zu. ‚Wutbürger’, Protestbewegungen,<br />

der Rückzug ins Private sind die verständliche<br />

Folge dieser Entwicklung.<br />

Und das Facebook im Internet? Es<br />

dient dem schnellen Informationsaustausch<br />

(Profilseiten über sich selbst,<br />

Kleinanzeigen, Einladungen, Nachrichten<br />

usw.), ersetzt aber kein Gespräch,<br />

kann es allenfalls vorbereiten<br />

helfen. Denn Informationen müssen,<br />

wenn aus ihnen sinnvolle Konsequen-<br />

zen erwachsen sollen, unter verschiedenen<br />

Aspekten durchdacht und eben<br />

besprochen werden.<br />

Was also ist zu tun, um das öffentliche<br />

Gespräch wieder zu beleben?<br />

Ein erster Schritt wäre, um überhaupt<br />

die Gesprächsfähigkeit zu schulen,<br />

die Einführung des‚Debattierens’<br />

als eigenes Fach oder als Teil des<br />

muttersprachlichen Unterrichts, wie<br />

das in den angelsächsischen Ländern<br />

üblich ist. Andere Schritte wären beispielsweise<br />

die kritische Einmischung<br />

in die programmgestaltende Arbeit<br />

der Rundfunkräte der öffentlichrechtlichen<br />

Anstalten; das Ansprechen<br />

der eigenen politischen Abgeordneten<br />

(die man in der Regel gar nicht kennt);<br />

die konstruktive Einmischung in das<br />

<strong>Gemeinde</strong>leben der Kirchen (etwa<br />

mit dem Ziel der Ausweitung von<br />

Gesprächskreisen). - Das stillschweigende<br />

Abwarten aber, das Hinnehmen<br />

dessen, was ‚Autoritäten’ vorsagen<br />

oder vormachen, ist der Fluch der<br />

Demokratie.<br />

Dr. Peter Nusser ist em. Professor<br />

für Deutsche Philologie an der Freien<br />

Universität Berlin<br />

<strong>September</strong> <strong>2011</strong> 3

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