Nr. 7 / 2011 - September - Ev. Grunewald-Gemeinde
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In der Nacht ist sie in die Intensivstation<br />
eingeliefert worden. Aneurysma<br />
im Kopf, sagt der Arzt, also die<br />
Erweiterung eines Blutgefäßes. Eine<br />
lebensbedrohliche Situation.<br />
Sie ist Ende zwanzig, hat ihr Studium<br />
beendet und mehrere Fortbildungsmaßnahmen<br />
erfolgreich<br />
abgeschlossen.<br />
Eine junge Frau, sportlichfit, die<br />
gesund gelebt hat. Jetzt ist sie nicht<br />
ansprechbar.<br />
Die Notfallseelsorgerin, die Nachtdienst<br />
hat, macht mich auf die Patientin<br />
aufmerksam.<br />
Den Tag über finde ich mich immer<br />
wieder am Bett bzw. im Warteraum<br />
ein. Ich bekomme als Krankenhausseelsorger<br />
Kontakt zu den Eltern,<br />
der Schwester, dem Freund, den<br />
Verwandten. „Wir sind evangelisch,<br />
haben aber keinen Kontakt zur Kirche!“,<br />
so lautet der einzige Hinweis<br />
zur Orientierung des Pfarrers!<br />
Warum – Fragen unter Tränen, lautes<br />
Klagen und Fragen und Hoffen:<br />
Vielleicht geht es doch gut aus. 50:<br />
50 hat der Arzt gesagt. Und immer<br />
wieder Geschichten aus der Familie,<br />
der Lebenslauf der Tochter, die<br />
besonderen Begabungen, herausragende<br />
Ereignisse im Leben, Lebensplanungen<br />
und die guten beruflichen<br />
Aussichten ...<br />
Am späten Abend eröffnet der<br />
Arzt der Familie, dass die junge Frau<br />
gestorben sei.<br />
Die Mutter weint laut, der Vater<br />
bricht zusammen. Die Schwester, der<br />
Freund fassungslos.<br />
Sie nehmen – jeder auf seine Weise<br />
– Abschied.<br />
Ich versuche, am Totenbett ein<br />
freies Gebet zu sprechen. Die Worte<br />
werden nicht als Gebet verstanden.<br />
Ob ich den Psalm 23 wagen kann?<br />
„... mir wird nichts mangeln ... und<br />
ob ich schon wanderte im finstern Tal,<br />
fürchte ich kein Unglück; denn du bist<br />
bei mir.“<br />
Und wo bist du jetzt, Gott? Bei<br />
uns?<br />
Ich habe die Familie eingeladen,<br />
einen Kreis zu bilden. Wir haben<br />
Titel<br />
Ich bin da - Gespräch am Krankenbett<br />
Von Christoph Wurbs<br />
uns an der Hand gefasst, wobei wir<br />
die eben Verstorbene mit in unsere<br />
Runde nehmen.<br />
„Verstehen können wir diesen Tod<br />
nicht, aber wir stehen zusammen,<br />
stehen beieinander und schenken uns<br />
auf diese Weise Bei-Stand.“<br />
Dann bittet uns die Krankenschwester,<br />
den Raum zu verlassen, weil<br />
die Schläuche, Kabel und sonstigen<br />
Geräte entfernt werden sollen. Wir<br />
warten draußen im Warteraum –<br />
schweigend.<br />
Dann dürfen wir das Sterbezimmer<br />
wieder betreten. Still liegt sie da. Auf<br />
die Decke hat die Schwester eine rote<br />
Rose gelegt.<br />
Die Rose, Zeichen der Liebe, die<br />
den Tod überdauert. Liebe, die stärker<br />
ist als der Tod.<br />
Bei meiner Verabschiedung bedanke<br />
ich mich bei den Zurückbleibenden<br />
dafür, dass sie mir Zutritt zu<br />
ihrem Intimraum von Leid, Schmerz<br />
und Tod gewährt haben.<br />
Gesagt habe ich den Tag über nicht<br />
viel. Ich habe keinen Bibelvers, keinen<br />
Psalm, keinen Gesangbuch-Liedtext<br />
zitiert. Kein ausdrücklicher Versuch,<br />
das Geschehen fromm zu deuten.<br />
Aber ich war da. – Das ist nicht<br />
viel!? Das ist nicht genug?<br />
Ich bin mir bewusst: Mit meinem<br />
Da-Sein habe ich ohne Worte nichts<br />
weniger als den Namen Gottes gespiegelt.<br />
Meine Überzeugung beruft sich<br />
auf die Begegnung am brennenden<br />
Dornbusch. Mose fragt Gott nach<br />
seinem Namen. „Da antwortete Gott<br />
dem Mose: Ich bin der «Ich-bin-da»<br />
(Ex 3,14). Ich habe die Gewissheit:<br />
Wann immer ein Mensch im Leid, in<br />
der Liebe oder „nur“ in der Alltäglichkeit<br />
sagt: Ich bin da, kommt der<br />
Gottesname ins Spiel, ob man davon<br />
weiß oder nicht, ob man es beabsichtigt<br />
oder nicht.<br />
Gern hätte ich dies der Familie vermittelt.<br />
Die große Trauer aber hielt ihr<br />
Herz (noch) verschlossen<br />
Durch meine Begleitung, mein<br />
Zuhören, mein Mitgehen habe ich<br />
auch ohne Worte gesprochen. Und<br />
ich bin überzeugt, diese „Worte“ sind<br />
verstanden worden.<br />
Christoph Wurbs ist katholischer<br />
Pfarrer i. R. in Wiesbaden<br />
<strong>September</strong> <strong>2011</strong> 5