D E R C L U B D E R T O T E N D E N K E R JEAN-JACQUES ROUSSEAU Wie kann man heute eigentlich noch Urlaub machen? Die größten Denker aller Zeiten beantworten Fragen unserer Gegenwart, übermittelt durch den Philosophen Christoph Quarch. Diesmal: Jean-Jacques Rousseau erklärt, warum man am besten zu Fuß verreist. Très bien, meine Freunde, ich weiß, was euch umtreibt: Ihr scharrt wieder mit den Füßen. Es dürstet euch nach Reisen. Ihr wollt die Welt erkunden. Und dafür sind euch alle Mittel recht: Flugzeuge und Wohnmobile, Busse und Kreuzfahrtschiffe, Pkws und Eisenbahnen. Doch seit neuestem sind da diese Leute, die euch ins Gewissen reden und euch weismachen wollen, eure Reiselust sei nicht okay. Sie erzählen euch vom Klimawandel oder dem ökologischen Fußabdruck, den ihr zurücklasst. Sie verderben euch die Laune, o ihr Reiselustigen. Und als ob das nicht genügte, kommt dann auch noch dieses Virus und macht Fernreisen auf lange Sicht noch schwieriger. Oh, da seufzt ihr, meine Freunde, denn ihr seht eure Freiheit bedroht – und das wollt ihr nicht hinnehmen. Ich fühle mit euch, meine Freunde, war ich es doch, der einst die Freiheit in den höchsten Tönen pries – und der seine Stimme gegen alle jene erhob, die sie mit Füßen traten. „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“: Das war mein Leitwort aus dem Jahre 1762, mit dem ich – ohne das zu wollen – die große Revolution einleitete. Wenn es einen Denker gibt, der euren Freiheitshunger teilt, dann bin ich das, meine Freunde. Aber, so muss ich euch dennoch fragen, wisst ihr eigentlich, was Freiheit ist? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Denn ich hege den Verdacht, dass die Freiheit, die ihr für eure Reiselust in Anspruch nehmt, in Wahrheit keine Freiheit ist: dass ihr vielmehr Getriebene seid, die dem Irrsinn des alltäglichen Lebens entkommen wollen. Könnte es sein, dass ihr gar nicht auf Reisen seid, sondern auf der Flucht, wenn ihr eure Koffer packt und euch davonstehlt? Könnte es sein, dass ihr vor euch selbst flieht, ihr Ruhelosen – weil ihr euch durch euren Wohlstand, eure Technik, ja, auch eure „Bildung“ „Könnte es sein, dass ihr gar nicht auf Reisen seid, sondern auf der Flucht?“ von euch selbst entfremdet habt und nun nach einem besseren, gesünderen, natürlicheren Leben strebt? Um die Wahrheit zu sagen, mes amis charmants, ich bin mir sicher, dass es sich so verhält. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war häufig auf der Flucht. Acht Jahre zog ich quer durch Europa, um den Verfolgungen zu entkommen, die ich mit meinen Schriften auf mich gezogen hatte. So dachte ich jedenfalls, bis ich begriff, dass es mir im Grunde nur darum ging, dieses elende bürgerliche Kleid abzuwerfen, diese falsche Maskerade des angepassten Intellektuellen und Familienvaters. Oh, wie mich das quälte. Ich, Jean-Jacques, wollte eintauchen in die Natur – zum Urmenschen werden, frei von allen ökonomischen und bürgerlichen Zwängen: ein Pilger auf dem Weg zu meinem wahren Selbst. „Man muss wissen, was sein soll, um das, was ist, recht beurteilen zu können“, schrieb ich einst. Und ich wusste, was sein soll: ein natürliches und individuelles Leben. Dahin aber, meine Freunde, kommt man nicht mit Flugzeugen oder Kreuzfahrtschiffen. Dahin kommt man nur auf Schusters Rappen. „Wer ans Ziel kommen will, kann mit der Postkutsche fahren, aber wer richtig reisen will, soll zu Fuß gehen“ – das ist mein Motto für gute Reisen. Und glaubt mir, ich habe es häufig erprobt, wenn ich quer durch Europa zog. Immer kam ich mir selbst am nächsten, wenn ich durch die Natur wandelte und die Städte hinter mir gelassen hatte. Von mir aus könnt ihr das auch mit dem Fahrrad machen, aber langsam – und ohne Motor. Nicht, weil ich ein Öko wäre, sondern weil ich möchte, dass ihr eure Ketten sprengt: die Ketten der Konsumzwänge, die ihr euch selber auferlegt. Macht euch frei davon, jetzt ist die Zeit dazu. Brecht aus aus dem Gefängnis eurer Konventionen! Bon voyage! JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712–1778) war ein Denker, an dem sich die Geister schieden. Die einen verehrten ihn als „Deuter des Lebens“ und „Helfer der Wahrheit“, die anderen verbrannten seine Bücher. Tatsächlich war er eine schillernde Figur; ein Autor, der in seinem pädagogischen Roman „Émile“ für eine ganzheitliche Erziehung des Menschen votierte, seine eigenen fünf Kinder aber ins Findelhaus gab, der die bürgerliche Freiheit schätzte und allen bürgerlichen Konventionen entkommen wollte. Kein Wunder, dass er überall aneckte und zuletzt sein Heil in einem zurückgezogenen und isolierten Leben suchte. DR. CHRISTOPH QUARCH BENE ROHLMANN 18 THE RED BULLETIN
JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712–1778) Schweizerisch-französischer Denker, Pilger auf dem Weg zu sich selbst und ein „früher Öko-Tourist“ – sein Ziel: ein natürliches Leben zu führen. THE RED BULLETIN 19
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