31.08.2020 Aufrufe

The Red Bulletin September 2020 (AT)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

B O U L E V A R D D E R H E L D E N<br />

lichen Sinn hat. Es wäre ja sonst eine reine Abenteuerei<br />

gewesen, das war es auch, nur: Das wollte ich nicht.<br />

Aber zuletzt kann doch eine wissenschaftliche Erkenntnis<br />

daraus gezogen werden. Die Psychologie ist ja<br />

schließlich auch eine Wissenschaft.“<br />

„Und was für eine Erkenntnis hat euer Abenteuer<br />

erbracht?“, fragte ich.<br />

Wieder lächelte er. „Wenn eine Sache auf Leben und<br />

Tod steht, dann benötigst du Hass, um zu überleben,<br />

und nicht Liebe. Der Hass – das ist die Erkenntnis –, der<br />

Hass ist ein vitaleres Gefühl als die Liebe.“<br />

Sie starteten von Westgrönland aus, ließen sich mit<br />

einem Helikopter über die Insel nach Ostgrönland<br />

bringen. Dort gibt es nichts. Eis und Schnee, sonst<br />

nichts. Der Pilot, ein Vietnamveteran, der Grönland gut<br />

kannte, schlug ihnen vor, sie sollten betrügen, sollten<br />

so tun, als ob; er würde sie irgendwo verstecken und<br />

nach drei Monaten abholen und in den Westen fliegen,<br />

und dann sollten sie so tun, als ob sie vom Eis herunterkämen.<br />

„Sonst werdet ihr sterben“, sagte er. „Kein<br />

Mensch kann über das Inlandeis gehen. Dann wirklich<br />

noch eher ein Kamel durch ein Nadelöhr.“ Sie lachten<br />

ihn aus, ließen sich absetzen und winkten ihm zu, als<br />

er davonflog.<br />

Nun gab es kein Zurück mehr.<br />

Der Streit begann am ersten Tag schon. Zwischen<br />

Thomaseth und Peroni. Thomaseth war der Jäger, er<br />

hatte sein Gewehr mitgenommen. Er wolle sich „einschießen“,<br />

sagte er. Zu welchem Zweck, sagte er nicht.<br />

Bevor sie aufbrachen, stellte er sechs Gaskartuschen in<br />

den Schnee und schoss auf sie. Peroni brüllte ihn an,<br />

ob er verrückt sei, er habe die Anzahl der Kartuschen<br />

genau berechnet, dies sei kein Schulausflug, sondern<br />

eine Expedition auf Leben und Tod.<br />

Es wurde nie wieder gut zwischen den beiden.<br />

Zuerst mussten sie über die Berge steigen, hinauf<br />

zum Inlandeis. Thomaseth übernahm hier die Führung.<br />

Für den Aufstieg hatte Peroni fünf Tage vorgesehen,<br />

sie schafften es in drei Tagen. „Es ist kein Schulausflug“,<br />

sagte Thomaseth, „aber auch nicht viel mehr als eine<br />

Kletterpartie in den Dolomiten.“<br />

„Davon ist er nicht mehr heruntergekommen, von<br />

dieser Meinung“, erzählte mir Peroni. „Wenn ich mit<br />

dem Sextanten unseren Weg ausgerechnet habe, dann<br />

hat er das für eine Großtuerei gehalten. Ich habe einen<br />

Kompass, sagte er, das genügt. Ich sagte: Das genügt<br />

eben nicht, Wolfgang, der Nordpol und der Magnetpol<br />

„Er zog das Gewehr aus<br />

dem Schlitten und<br />

richtete es erst auf Peroni,<br />

dann auf sich selbst.“<br />

sind nicht identisch, so weit im Norden braucht es die<br />

Deklination. Das hat er nicht verstanden oder wollte es<br />

nicht verstehen.“<br />

Die Fronten verhärteten sich.<br />

Dann, mitten im Inlandeis, kam es zum großen<br />

Streit, zum endgültigen Streit, zum Bruch. Der Anlass<br />

war so banal, dass er sich schäme, mit mir darüber zu<br />

sprechen, sagte Peroni. Als es durch die Berge ging,<br />

war Thomaseth der Stärkste von den dreien gewesen,<br />

auf dem flachen Eis erlitt er einen Konditionseinbruch.<br />

„Es war psychisch“, sagte Peroni, „in erster Linie<br />

psychisch. Er hielt das unendliche Weiß nicht aus, wie<br />

auf einem Teller, die Erde makellos weiß bis zum Horizont,<br />

der Himmel über dir makellos blau. Er konnte<br />

nicht mehr weiter. Er wollte, dass der Josef einen Teil<br />

seiner Sachen auf seinen Schlitten nimmt. Das habe ich<br />

verboten. Dezidiert.<br />

Ich war auch zum Streiten aufgelegt, das geb ich zu.<br />

Ich sagte: So? Du kannst nicht mehr? Aber meinen Berechnungen<br />

glaubst du nicht. Ich habe dir gesagt, wie<br />

viel Kleidung jeder mitnehmen darf. Du hast dich nicht<br />

daran gehalten, hast dein blödes verstunkenes Südtiroler<br />

Bergsteigerhemd mitgenommen. Und diese paar<br />

hundert Gramm in Summe der Tage machen aus, dass<br />

du nicht mehr kannst. Er dagegen: Und du, du Obergescheiter,<br />

du hast dreimal mehr Klopapier mitgenommen,<br />

als du uns vorgerechnet hast. Ich darauf: Und<br />

wenn ich tausendmal mehr Klopapier mitgenommen<br />

hätte und würde es selber tragen, dann wäre das meine<br />

Sache … Und so weiter …“<br />

Der Streit eskalierte. Der Höhepunkt: Peroni nannte<br />

Thomaseth das größte Risiko der Expedition.<br />

Thomaseth zog das Gewehr aus seinem Schlitten<br />

und richtete es erst auf Peroni, dann auf sich selbst.<br />

Josef Schrott ging dazwischen. Bis dahin hatte er sich<br />

aus dem Streit zwischen den beiden herausgehalten.<br />

Schrott nahm das Gewehr zu sich, vergrub es in seinem<br />

Schlitten zuunterst – „damit einem Zeit zum Überlegen<br />

bleibt“ – und schlug vor, die beiden sollten von nun an<br />

kein Wort mehr miteinander sprechen und sich auch<br />

nicht anschauen. Bis zu ihrem Ende nicht. Nie mehr.<br />

Er werde das überprüfen.<br />

„Von nun an“, erzählte Peroni, „regierte der Hass.<br />

Und es war gut so. Wir hatten bisher einen wunderbaren<br />

Sommer erwischt, keine Stürme, keine Temperaturen<br />

unter minus 25 Grad. Dann aber kam der<br />

White-out.“ Nebel. Alles weiß. Oben und unten und auf<br />

allen Seiten. Und absolute Stille. Nichts zu sehen. Den<br />

Vordermann nicht, auch wenn man nur in zwei Metern<br />

Abstand voneinander geht. Der Mensch steht im Mittelpunkt<br />

einer weißen Kugel. Du weißt nicht mehr, ob du<br />

aufrecht stehst oder schon fällst. Er fürchtete, dieser<br />

Zustand könne Wochen dauern. Dann wären sie verloren<br />

gewesen.<br />

Sie blieben im Zelt und schwiegen. In Thomaseth<br />

und in Peroni baute sich der Hass auf. Wie sich Josef<br />

68 THE RED BULLETIN

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!