OM_05_2019_ePaper
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“Es gibt für jeden<br />
das passende Rad,<br />
man muss es nur<br />
finden.”<br />
Marius Brandt: An der Stelle fällt mir ein toller<br />
Witz ein, von meiner Tochter, den sie sich im<br />
Kindergarten erzählen: Warum fährt ein Nilpferd<br />
kein Fahrrad? Es hat den Daumen zum Klingeln<br />
nicht. Was für mich bedeutet, dass auf die Details<br />
geachtet werden muss, um den Fahrspaß im<br />
Vordergrund zu halten.<br />
Meine Tochter ist jetzt dreieinhalb Jahre alt. Erst<br />
saß sie auf einem Laufrad und jetzt kann sie<br />
schon allein fahren. Auf dem Weg zur Kita kann<br />
ich neben ihr her joggen. So eine Mobilität auf<br />
dem Fahrrad macht auch frei und stärkt das<br />
Selbstbewusstsein. Das gilt für die kleinen<br />
Menschen genauso wie für die großen.<br />
Wer wegen kardiovaskulärer Erkrankungen auf das<br />
Fahren verzichten musste, hat heute durch die<br />
Pedelec und E-Bike wieder ganz andere Möglichkeiten,<br />
seinen Radius zu erweitern.<br />
Sabine Göttsche: Also wir haben auch Kunden,<br />
die würden sich ohne Fahrrad gar nicht mehr bewegen<br />
können. Die wären nicht mehr in der Lage,<br />
so am Leben teilnehmen zu können. Beispielsweise<br />
MS-Erkrankte fahren dann teilweise mit<br />
Elektrounterstützung, natürlich mit 3- oder<br />
4-Rädern. Wenn die das nicht hätten, könnten<br />
sie fast gar nichts mehr machen. Sie haben es<br />
schwer an Krücken zu gehen, aber Fahrrad geht.<br />
Das ist eben das, was viele gar nicht wissen:<br />
Man kann sich lange auf dem Fahrrad bewegen.<br />
Mit wenig Kraft trotzdem noch vorankommen.<br />
Die machen ihre Einkäufe, die sind mobil, das<br />
könnten sie ohne Rad alles nicht.<br />
Dr. Ingo Arnold: Der Bewegungsrhythmus macht<br />
es: beugen, strecken, beugen, strecken. Scherbewegungen<br />
sind für Knie und Hüfterkrankte unangenehm.<br />
Die hat man beim Radfahren nicht.<br />
Deshalb sagen Hüftkranke immer: „Fahrradfahren<br />
geht gut, Laufen ist schwer.“<br />
Sabine Göttsche: Ich selbst habe ein neues<br />
rechtes Knie. Das ist kein Problem, im Gegenteil:<br />
Dass ich immer mit dem Fahrrad unterwegs war,<br />
hat mich wieder mobiler gemacht.<br />
Dr. Ingo Arnold: Man kann die Pedale rückversetzen,<br />
also asymmetrisch die Pedale versetzen,<br />
so kann die limitierte Bewegungsseite des Knies<br />
auch am Fahrradfahren teilnehmen, das wissen<br />
die wenigsten.<br />
Sabine Göttsche: Wer eine Knieoperation hinter<br />
sich hat, erfährt vieles in der Reha. Da macht<br />
man Spinning und sitzt auf dem Ergometer. Aber<br />
danach muss man sich erst mal wieder auf das<br />
Fahrrad trauen. Ich weiß noch, dass ich mir überlegte,<br />
mit welchem Bein ich absteige, was ich<br />
mache, wenn ich hinfalle … mittlerweile bin ich<br />
sogar wieder Ski gelaufen. Aber ich glaube, dass<br />
das Kniegelenk durchs Radfahren gut geschmiert<br />
wird und dass das wichtig ist.<br />
Dr. Ingo Arnold: Der Knorpel, oder überhaupt die<br />
Zellen im Knorpel, die leben von Belastung und<br />
Entlastung, immer dieser Wechsel, das ist wie ein<br />
Schwamm, der aufsaugt und wieder abgibt. Das<br />
ist beim Fahrradfahren halt ideal, man tut dem<br />
Knorpel auch Gutes, also im Grunde genommen<br />
ein totales Rundum-Paket.<br />
Marius Brandt: Definitiv, wobei ich da natürlich<br />
noch einen Punkt mit reinwerfen würde, bevor jemand<br />
gar nicht unterwegs ist, bitte aufs Fahrrad.<br />
Nichtsdestotrotz darf man nicht vergessen, dass<br />
das Radfahren auch eine sitzende Position ist.<br />
Wer das Fahrrad als Transportmittel zur Arbeit<br />
und als Sportgerät in der Freizeit sieht und viel<br />
Zeit auf dem Fahrrad verbringt, sollte einer<br />
Disbalance vorbeugen. Als Physiotherapeut<br />
muss ich da die Empfehlung geben, auch die<br />
Gegenbewegung nicht zu vernachlässigen. Die<br />
Dosierung sowie das Maß macht die Gesundheit<br />
und einfach gesagt, auch einfach mal in die<br />
Streckung gehen.<br />
Im Stehen fahren?<br />
Sabine Göttsche<br />
Marius Brandt (lacht): „Nein nicht ganz. Man<br />
könnte natürlich den Sattel abmontieren und<br />
würde definitiv mehr stehen. Aber tatsächlich geht<br />
es darum, dass eine gewisse Dosierung auch<br />
außerhalb des Fahrradfahrens mit reingebracht<br />
werden sollte. Aber da sprechen wir dann schon<br />
von dem Extremen, also das heißt, man verbringt<br />
dann schon viele Stunden auf dem Fahrrad, im<br />
Verhältnis, nichtsdestotrotz muss man nach oben<br />
hinsteuern.<br />
Sabine Göttsche: Fünf Tage die Woche am Computer,<br />
und am Wochenende muss dann mit dem<br />
Rennrad gefahren werden. Da übernehmen sich<br />
einige und können am Anfang der Woche gar<br />
nicht mehr laufen. Die haben sich nichts Gutes<br />
getan. Da sollte man anders rangehen.<br />
Dr. Ingo Arnold: Also noch mal, da zügeln wir<br />
nicht. Da nehmen wir das Fahrradfahren als solches<br />
nicht raus, weil es zu viele positive Aspekte<br />
hat. Es ist besser als viele andere Dinge in der<br />
Aktivierung, weil die Belastung für den Organismus<br />
relativ gering ist und das Positive überwiegt.<br />
Marius Brandt: Nicht als einziges Sportgerät!<br />
Dr. Ingo Arnold: Nein, wenn Radfahren das<br />
einzige an Bewegung ist, dann ist es zu wenig.<br />
Wenn es zu exzessiv betrieben wird, dann ist es zu<br />
einseitig und es kommt zu ungünstigen Verkürzungen<br />
von weniger beanspruchten Muskelgruppen.<br />
Da lautet die Empfehlung der Orthopäden:<br />
Fahrrad ist prima, aber parallel sollte<br />
noch ein anderer Sport betrieben werden. Idealerweise<br />
Ausdauer- neben dosiertem Krafttraining.<br />
Welche Fahrräder mögen die Oberneulander?<br />
Sabine Göttsche: Es ist ein Stadtteil, in dem ein<br />
Fahrrad leider nicht ganz so wertgeschätzt wird,<br />
wie in anderen Stadtteilen. In Findorff, Schwachhausen<br />
oder im Viertel besitzen viele kein Auto<br />
und das Fahrrad ist das Fortbewegungsmittel.<br />
Das darf auch etwas kosten, muss aber in erster<br />
Linie zum Besitzer passen.<br />
Hier in Oberneuland kommt es mir oft so vor,<br />
dass es ein teures Statussymbol ist, das Auto ist<br />
das Fortbewegungsmittel. Oberneuland ist ein<br />
wunderschöner Stadtteil, eigentlich müsste jedes<br />
Kind mit dem Fahrrad zur Schule und zum Sport<br />
fahren können, auch Einkäufe könnte man ebenfalls<br />
gut mit dem Fahrrad erledigen. Es ist einfach<br />
schade, dass die meisten das Auto bevorzugen.<br />
Junge Mädchen möchten Hollandräder, die<br />
Jungen stehen auf Fixies – das sind die Räder<br />
ohne alles, nur zwei Räder, Sattel, Bremse.<br />
Es wird inzwischen viel E-Rad gefahren, das<br />
macht auch Sinn, wenn man es wirklich nutzt.<br />
Vom ökologischen Fußabdruck her ist ein E-Rad<br />
erst mal Minus, wenn ich dann aber das Auto<br />
stehen lasse und fahre viele Kilometer damit,<br />
dann verkehrt sich das irgendwann in ein Plus,<br />
aber die Herstellung eines Fahrrades mit Akku<br />
und allem Drum und Dran ist schon umweltbelastend<br />
und sehr energieintensiv. Wenn jemand<br />
so ein Fahrrad kauft, um in zwei Jahren 500 Kilometer<br />
zu fahren, dann ist es eigentlich schade<br />
drum. Wer 5.000 Kilometer fährt – das haben wir<br />
teilweise, auch ältere Herrschaften, die fahren<br />
mehrere Tausend Kilometer im Jahr – dann macht<br />
das Sinn. Dafür bleibt das Auto stehen, sie sind<br />
fitter und denen macht das Spaß.<br />
34 OBERNEULAND