The Red Bulletin Dezember 2020 (DE)
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D E R C L U B D E R T O T E N D E N K E R<br />
GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL<br />
Soll ich mir altes Zeug<br />
im Museum anschauen?<br />
Die größten Denker aller Zeiten beantworten<br />
Fragen unserer Gegenwart, übermittelt<br />
durch den Philosophen Christoph Quarch.<br />
Diesmal: Kurz nach seinem 250. Geburtstag<br />
erklärt Hegel, wieso es sich lohnt, sich mit<br />
Geschichte zu befassen.<br />
Also woischt, i bi ja a Schwoab. Und a Schwoab ka gar<br />
net andersch, als alles nuffz’hebe, was ihm querkommt.<br />
Heidenei, des verstoasch ja net, denn du bischt ja wohl<br />
kan Schwoab, sonst tätst et frage, ob des guat isch,<br />
sich im Museum so an alte Plunder az’gucke.<br />
Also in gepflegtem Hochdeutsch: Wir Schwaben<br />
neigen dazu, Dinge aufzuheben. Und als ein schwäbischer<br />
Philosoph neige ich – auch nach vielen Jahren<br />
in Berlin noch – dazu, genau das gut und sinnvoll zu<br />
finden. Denn mit dem Aufheben hat es eine eigentümliche<br />
Bewandtnis. Das Aufheben ist<br />
nämlich die Lieblingsbeschäftigung<br />
des Geischtes – Pardon: des Geistes.<br />
Ums Aufheben ist es mir also zu<br />
tun. Denn Aufheben ist wichtig – Aufheben<br />
ist geistreich. Genauso geistreich<br />
wie das Spiel mit Worten, das<br />
ich jetzt gern mit dir spielen möchte:<br />
Aufheben – so habe ich’s vor langen<br />
Jahren in meiner „Phänomenologie<br />
des Geistes“ ausgearbeitet – kann<br />
dreierlei bedeuten: etwas aufbewahren<br />
bzw. etwas vor der Mülltonne retten; etwas abschaffen,<br />
wie man etwa ein Verbot aufhebt; und etwas<br />
auf eine höhere Ebene bringen – so wie man etwas<br />
vom Fußboden aufhebt, wenn es runtergefallen ist.<br />
Und jetzt kommt’s: Wenn der Geist etwas aufhebt,<br />
dann geschieht alles drei zugleich. Und das ist dann<br />
auch die Erklärung dafür, warum es eine ganze Menge<br />
bringt, gelegentlich einmal ein Museum aufzusuchen.<br />
Ist nicht leicht zu verstehen, auch nicht leicht<br />
zu erklären, aber ich will’s versuchen: Als Erstes mach<br />
dir bitte klar, dass du nicht vom Himmel ge fallen bist.<br />
Nein, bist du nicht: Du bist in eine Welt hineingeboren,<br />
die schon vor dir da war und die eine Geschichte hat.<br />
Die Welt, in der du lebst, ist eine gewordene Welt. Je<br />
mehr du nun in sie hineinwächst, desto mehr saugst<br />
du sie auf – und mit ihr auch ihre Geschichte. Die Weise,<br />
wie du denkst, wie du sprichst, wie du fühlst: Alles<br />
„ Du bist in eine<br />
Welt hineingeboren,<br />
die<br />
schon vor dir da<br />
war und die eine<br />
Geschichte hat.“<br />
hat eine Geschichte, die weit, weit hinter deine Geburt<br />
zurückreicht. Denn es ist die Geschichte des Geistes:<br />
die Geistesgeschichte, die wir bis zu den ersten Anfängen<br />
der Menschheit zurück verfolgen können. Ja,<br />
wie ein roter Faden zieht der Geist sich durch die<br />
Jahrhunderte. Und mit jedem Jahrzehnt – das war<br />
meine größte Entdeckung – wird er etwas … geistreicher,<br />
etwas umfassender, etwas komplexer, etwas<br />
bewusster. Und wie macht er das? Die Antwort kennst<br />
du schon: durchs Aufheben.<br />
Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: die<br />
Europäische Union. Nach zwei Weltkriegen und dem<br />
Faschismus war man sich in Europa einig, dass so<br />
etwas nie wieder geschehen dürfe. Also schloss man<br />
sich zu einer Europäischen Gemeinschaft zusammen.<br />
Dabei wurde einiges aufgehoben: Alte Feindschaften<br />
wurden abgeschafft, während nationale Eigenheiten<br />
aufbewahrt blieben. Und Europa wurde auf eine neue<br />
Entwicklungsstufe gebracht – die heute allerdings<br />
vielen Menschen Kopfzerbrechen bereitet, wenn man<br />
bedenkt, was in Ländern wie Polen,<br />
Ungarn oder Großbritannien abgeht.<br />
Und da sage ich dir: Du kannst das heutige<br />
Europa nur verstehen, wenn du<br />
seine Geschichte kennst. Du verstehst<br />
den Geist deiner Zeit nur, wenn du dir<br />
klarmachst, was er alles aufgehoben<br />
hat – im dreifachen Sinne. Und was er<br />
auf gehoben hat, findest du als „altes<br />
Zeug“ in den historischen Museen.<br />
Also: Wenn du verstehen willst, in<br />
welcher Welt du lebst, befasse dich mit<br />
der Vergangenheit. Klar, du kannst so tun, als wärest<br />
du vom Himmel gefallen – aber damit fällst du auf die<br />
Nase. Im Einzelfall ist das nicht schlimm. Wenn aber<br />
ein ganzer Kontinent seine Geschichte vergisst, dann<br />
wird es eng. Deshalb glaube ich, es bringt uns allen<br />
etwas, ab und zu in ein Museum zu gehen.<br />
FRIEDRICH HEGEL (1770–1831)<br />
war einer der einflussreichsten Denker für das 19. und<br />
20. Jahrhundert. Nicht nur Karl Marx und die Wegbereiter<br />
des Sozialismus ließen sich von ihm inspirieren, sondern auch<br />
existenzialistische Philosophen wie Søren Kierkegaard oder<br />
Jean-Paul Sartre. Als gebürtiger Schwabe wurde er 1818 an<br />
die Berliner Universität berufen, wo er eine große Hörer- und<br />
Anhängerschaft fand. Seine Philosophie ist hochkomplex,<br />
erhebt sie doch den Anspruch, ein geistiges System bereitzustellen,<br />
mit dem sich die Kultur- und Menschheitsgeschichte<br />
als dynamische Entfaltung des Weltgeistes verstehen lässt.<br />
DR. CHRISTOPH QUARCH BENE ROHLMANN<br />
18 THE RED BULLETIN