ST:A:R_16
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Nr. <strong>16</strong>/2007<br />
Buch VI - Literatur <strong>ST</strong>/A/R 47<br />
Aufgrund seiner Herkunft mussten sie fort, kommen nach<br />
Österreich. Sie kommen nach Traiskirchen. Das Kind will zur<br />
Welt kommen. Das macht es im Spital in Baden bei Wien. Nach<br />
einer Zwischenstation in einem Heim in Wien-Währing folgt<br />
die Aufnahme in die sogenannte Bundesbetreuung (1). Dann<br />
findet sich Platz im Integrationshaus, nach einem Antrag, eine<br />
Möglichkeit.<br />
Der Fernsehapparat läuft. Eine armenischer Sender. Eine<br />
Freundin ist da, deren Tochter, beide sitzen, schauen auf<br />
den Bildschirm. Außerdem ist dabei: die Übersetzerin und<br />
Mitarbeiterin des Integrationshauses. Sie spricht Russisch. Hat<br />
sicherheitshalber ein Wörterbuch dabei. Der Mann kommt, kurz,<br />
bringt Eier aus dem Supermarkt. Sagt Freundliches auf Englisch.<br />
Geht wieder. Ein Kurs, erklärt mir die Übersetzerin, ein Kurs im<br />
Haus, zur möglichen zukünftigen Arbeitsfindung. Die Tochter<br />
geht weg, kommt aber gleich wieder zurück, hat ein Handy in der<br />
Hand. Spricht mit ihrer Mutter. Armenisch. Das Kind schnappt<br />
mein Papier und zeichnet darauf. Die Freundin steht auf.<br />
Ein Tisch, groß genug für sechs Leute, eine Tischdecke mit<br />
Weihnachtsmotiven, im Fernseher Santa Claus oder Nikolaus<br />
oder wie immer er sich auf Armenisch nennen mag, außerdem<br />
Engel, Kunstschnee und das ganze Übliche dazu.<br />
Weihnachten? Ja, am 6. Jänner. Christen also, frage ich. Sie ja,<br />
sagt die Übersetzerin. Der Mann? Nein, der ist Moslem.<br />
Die Freundin nimmt zwei Mandarinen, die in einem Korb am<br />
Tisch liegen, schält sie, lässt die Schalen verschwinden, teilt<br />
die Früchte in Spalten auf, legt auf jeden der vorbereiteten<br />
Teller einige davon. Zum Naschen liegen außerdem bereit:<br />
Blätterteigzöpfe und Nüsse.<br />
Sie, die Mutter des Kindes, die Frau des Mannes, meine<br />
Gastgeberin, noch immer weiß ich keine Namen, ruft mich, lässt<br />
mich sehen, was sie tut. Das Wasser, die Butter, das Mehl, sie<br />
rührt und rührt. Ich notiere, was mir die Übersetzerin überträgt.<br />
Sie sagt, sagt die Übersetzerin, sie könne nur zeigen, wie es geht.<br />
Sie könne die einzelnen Schritte nicht anders beschreiben. Ich<br />
setze mich wieder hin, notiere das Gesehene.<br />
Die Freundin steht auf, geht zu der Küchenzeile, öffnet<br />
eine Packung clever-Blätterteig und beginnt ihrerseits etwas<br />
herzurichten, ohne irgendwelche Worte. Ich muss nachfragen,<br />
was nun geschieht. Sie zeigt es mir. Bodschak. Und was heißt das<br />
auf Deutsch? Die Frauen beratschlagen sich, finden kein Wort,<br />
weder auf Russisch noch auf Englisch. Bodschak eben. Dann<br />
deutet sie auf mein Halstuch, erklärt: Wenn man ein Geschenk<br />
übergibt, man es eingewickelt, in ein Tuch eingewickelt, übergibt.<br />
Und dieses Tuch schlägt man an den oberen Enden zusammen,<br />
hält es zusammen, mit einem Bindfaden also, oder nur so.<br />
Bodschak ist also ein Päckchen, ein Blätterteig-Päckchen.<br />
Ganz gleich gemacht sei das Gebäck, das schon am Tisch steht,<br />
erklären sie mir, die gleichen Ingredienzien, nur ist der Teig<br />
anders gewickelt worden, nämlich zu einer Cigar.<br />
Der Teig, den sie, die Gastgeberin, begonnen hat, den die<br />
Übersetzerin als eine Art Brandteig benennt, kann offenbar ein<br />
wenig warten. Das Kind wird müde. Sie hält es im Arm. Es wird<br />
ruhig. Bald wird es eingeschlafen sein. Die Frauen setzen sich.<br />
Sie warten auf meine Fragen. Die erste ist nach den Namen.<br />
Sie schreiben sie auf, in der lateinischen Umschrift. In welcher<br />
Sprache sprechen sie miteinander? Armenisch, sagen sie.<br />
Armenisch, sage ich, das kenne ich von historischen<br />
Dokumenten. Ich weiß, sage ich, dass es eine eigene Schrift<br />
ist. Aber nicht viel mehr, gestehe ich ein (2). Ja, sagen sie. Und<br />
schweigen.<br />
Das Alter, bitte ich um mehr Auskunft. Sie notieren mir Zahlen.<br />
Nur Ali M., das Kind, bekommt einen genauen Geburtstag: 17.8..<br />
Ich sage: Löwe also. Ja, sagen sie. Und schweigen.<br />
Marianna steht wieder auf, wird wieder Bewegung. Sie bringt das<br />
eingeschlafene Kind ins andere Zimmer. Die Freundin, Karine,<br />
steht auf. Sie holt die Bodschak aus dem Herd. Bestreut sie mit<br />
Zucker. Stellt sie auf den Tisch. Zieht sich an. Ihre Tochter Anna<br />
folgt ihr. Sie gehen beide.<br />
Wir kosten von dem Gebäck. Der Geschmack ist vertraut.<br />
Wir sind nun zu dritt: Marianna, die Übersetzerin und ich.<br />
Ich frage Marianna, was ihr zum Kochen einfällt, zu ihrem ersten<br />
Mal Kochen. Sie antwortet: Das war ganz klassisch: Borschtsch.<br />
Sie erzählt, dass sie aus einer großen Familie stammt, mit vielen<br />
Kindern, aufgewachsen in einer Kleinstadt, aber städtisch genug,<br />
um nicht mehr ländlich zu sein. Sie musste viel kochen, für ihre<br />
fünf Geschwister kochen. Aber, so erklärt sie mir, es war die Zeit<br />
der Sowjetunion. Es war leicht, sagt sie mit einem Lächeln, da gab<br />
es keine Probleme, weil gekocht wurde, was aufzutreiben war. Es<br />
gab keine Auswahl. Also gab es keine Fragen.<br />
Aber was hätte sie gerne gekocht, wenn es alles gegeben<br />
hätte, versuche ich die Frage auszudehnen, Fleisch, gegrilltes,<br />
gemischt aus Huhn, Lamm, Schwein, mit Erdäpfeln dazu, am<br />
offenen Feuer gemacht. So ähnlich wie Schaschlik, hilft mir die<br />
Übersetzerin. Und noch ein Fleischgericht, sagt Marianna, in<br />
Wasser gekocht, faschiert, davon hätten sie auch gerne mehr<br />
gehabt. Aber das ist auch viel Arbeit, schränkt sie ein. Wie Köfte,<br />
sagt die Übersetzerin.<br />
Und dann?, setze ich das Fragen fort. Dann, sagt Marianna,<br />
ging sie fort aus Aserbaidschan, mit achtzehn schon, ging nach<br />
Armenien und dann nach Georgien, war länger in Georgien und<br />
dann wieder in Armenien. Sie sei so oft hin und her gezogen<br />
zwischen diesen beiden Ländern, dass sie gar nicht mehr sagen<br />
könne wie oft. Und wie war das mit dem Kochen? Auch das war<br />
keine Frage, sagt sie, wenn man bei Verwandten wohnt, nur<br />
Unterschlupf hat, kein festes Zuhause kennt, dann isst man das,<br />
was auf den Tisch kommt. Wieder kein Thema.<br />
Ich war immer unterwegs, sagt sie plötzlich. Und spricht jetzt<br />
Englisch, direkt mit mir. Ich bin so, sagt sie. Oder ich war so,<br />
schränkt sie ein. Vielleicht liegt es am Kind. Ich weiß nicht,<br />
beginnt sie einen Satz. Ich bin dumm, setzt sie fort. Ich war<br />
dumm, sagt sie dann, jetzt gibt es kein Zurück mehr.<br />
Ich schaue sie an. Sie ist nicht groß, sie ist nicht klein, sie ist<br />
nicht dick, sie ist nicht dünn. Sie hat eine Brille. Sie hat braunes<br />
mittellanges Haar. Sie hält den Kopf gesenkt. Eine Weile sagt sie<br />
gar nichts.<br />
Erinnerungen. Ja. Gerüche? Ja. Welche denn? Äpfel, sagt sie. Ich<br />
liebe Äpfel. Immer.<br />
Das Kind wird wieder wach, hustet, braucht Wasser. Der Teig<br />
steht schon viel zu lange herum, muss ins Rohr. Die Bewegungen<br />
setzen nun wieder ein. Das verschlafene Kind an die Hüfte<br />
geklemmt, beginnt sie die Teigknödel auf das Backblech zu<br />
setzen, während das Backrohr aufheizt. Sie ist nicht zufrieden.<br />
Der Teig ist zu warm geworden, sagt sie, er wird nicht schön<br />
aufgehen. Aber er geht auf, nur die Formen sind nicht genau<br />
nach ihrer Vorstellung. Sie holt die Creme aus dem Kühlschrank,<br />
diktiert mir die notwendigen Zutaten, Schritte, kontrolliert, ob<br />
ich es auch gut verstanden habe, obwohl sie jetzt wieder Russisch<br />
spricht. Ich frage, ob eine Puddingcreme nicht ebenso passend<br />
wäre, als Füllung. Nein, auf keinen Fall. Warum? Da geht die<br />
Milch raus, übersetzt die Übersetzerin wörtlich.<br />
Wir beginnen zu essen. Zu welchen Gelegenheiten man das alles<br />
isst, was mittlerweile vor uns steht, will ich wissen. Immer, sagt<br />
sie, immer dann, wenn man nicht isst. Sofort steht sie wieder auf,<br />
öffnet nochmals den Kühlschrank. Das Kind braucht etwas zu<br />
essen, denke ich, aber sie arbeitet an einer Überraschung: Eine<br />
Pfanne mit Öl, Palatschinken, gefüllt mit Faschiertem. Was ist<br />
das? Blintschik, sagt sie. Und das wird jetzt das Abendessen für<br />
die Familie? Aber nein. Auch das ist eine Speise, die man isst,<br />
wenn man nicht isst. Frisch sind sie am besten, ich soll mehr<br />
davon nehmen.<br />
Dann kommt der Mann zurück. Nimmt das Kind auf den Schoß.<br />
Füttert es mit der Creme aus dem Inneren der Eclair. In welcher<br />
Sprache sprechen sie miteinander?<br />
Mit dem Kind arabisch, sagt er auf Englisch. Und mit Marianna?<br />
Englisch. Und Marianna mit dem Kind? Armenisch. Manchmal<br />
auch Russisch. Und Deutsch lernen sie hier im Haus. Heißt das,<br />
dass Ali vier Sprachen spricht? Noch spricht er gar keine, sagt<br />
sie. Aber er kann schon ein Wort, sagt der Mann. Und, welches?<br />
“Bruder”, sagt Marianna, ich hab’s ihm beigebracht.<br />
Glossar<br />
Brandteig: “Im Unterschied zu anderen Teigen kommt bei einem<br />
Brandteig das Mehl nicht roh, sondern abgebrüht, ‘abgebrannt’ (daher<br />
der Name) dazu. Die beigegebene Flüssigkeit dient als Treibkraft<br />
und Lockerung, weil sie im Backrohr unter starker Hitzeeinwirkung<br />
Dampf entwickelt und so das Aufgehen des Teiges bewirkt.<br />
Brandteiggebäcke müssen daher in das bereits sehr heiße Backrohr<br />
kommen, das so wenig wie möglich geöffnet werden darf (auf alle<br />
Fälle erst, wenn der Teig eine ausreichende Kruste gebildet hat.).”<br />
(Quelle: Franz Maier-Bruck: Das Große Sacher Kochbuch, Schuler<br />
Verlagsgesellschaft, Hersching 1975)<br />
Anmerkungsteil<br />
8. 1. 2004, 13.15 – 17.15 Uhr, Integrationshaus, 1020 Wien,<br />
Engerthstraße <strong>16</strong>1-<strong>16</strong>3<br />
Susanna Hajrapetjan, 35 (geb. in Aserbaidschan)<br />
Ali Kabbashi, 1 1/2 Jahre (geb. in Baden bei Wien)<br />
Kabbashi Ali Mohammed, 32 (sein Vater, aus Ägypten; verheiratet mit<br />
Susanna)<br />
Karine Pogosian, 45 (aus Armenien)<br />
Anna Aslanian, 17 (deren Tochter)<br />
Sonja Scherzer, 36 (geb. in Wien): Übersetzerin aus dem Russischen<br />
in diesem Gespräch; Mitarbeiterin des Integrationshauses<br />
Christine Huber, Autorin, 40 (geb. in Wien)<br />
Bundesbetreuung: (1)<br />
Das österreichische Innenministerium kommt für die Kosten<br />
für Verpflegung, Unterkunft und Versicherung von mittellosen<br />
Asylwerbern und Asylwerberinnen auf.<br />
Armenisch: (2)<br />
“Im Zuge der von Syrien aus betriebenen Christianisierung des<br />
Kaukasus kam es zur Entfaltung regionaler Schriftkulturen in<br />
Armenien (seit Anfang des 5. Jahrhunderts) und in Georgien (seit<br />
Mitte des 5. Jahrhunderts). Die Schriftschöpfung des armenischen<br />
Alphabets mit seinen 38 Buchstaben geht auf Mesrop zurück, den<br />
ersten Bischof des Landes und Initiator der altarmenischen religiösen<br />
Literatur. (Es sind dies) lokale Schriftschöpfungen, die keine<br />
Abzweigungen von Basisschriften sind. Es sind Originalalphabete,<br />
denen das alphabetische Schreibprinzip gemeinsam ist, deren<br />
Zeichenrepertoires aber entweder vollständig oder überwiegend auf<br />
Eigenschöpfung beruhen.” (Quelle: Harald Haarmann. Geschichte<br />
der Schrift, C.H. Beck, München, 2002)