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B O U L E V A R D D E R H E L D E N<br />
Ich greife vor: Bevor er die Umlaufbahn um die Erde<br />
verließ, um in die Erdatmosphäre einzutauchen,<br />
schlug ein System Alarm. Der Keramikschild, der die<br />
Kapsel vor dem Verglühen bewahren sollte, schien<br />
sich zu lösen. Wenn das geschähe, wäre der Astronaut<br />
nicht mehr zu retten. Glenn behielt die Nerven, von<br />
der Bodenstation aus konnte der Schaden behoben<br />
werden, allerdings musste er die Landung händisch<br />
steuern – Intelligenz, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung.<br />
Zu diesen Begriffen würde in Zukunft eine<br />
ganze Generation den Namen John Glenn assoziieren.<br />
Angst und Panik konnten ihm nichts anhaben.<br />
Diese Gefühle ließ er nicht zu, er besiegte sie, triumphierte<br />
über sie. Mit einem anderen Gefühl aber hatte<br />
er nicht gerechnet, und kein Techniker unten auf der<br />
Erde, kein Psychologe, der Priester nicht, nicht einmal<br />
Anna Margaret, Johns Ehefrau, die ihm schon im Alter<br />
von fünf Jahren das Ja-Wort fürs Leben gegeben hatte,<br />
nicht einmal sie hatte damit gerechnet: Heimweh.<br />
Durch das winzige Fenster der Raumkapsel blickte<br />
er hinunter auf die Erde, er konnte ihre Rundung<br />
sehen, er geriet in heilige Verzückung, als sich<br />
unter ihm der blaue Pazifik dehnte, er sah Hawaii,<br />
sah die Perlenkette Japan, sah die goldenen Weiten<br />
der asia tischen Wüsten, sah die Gipfel des Himalaya,<br />
sah Europa, klarer als auf jeder Landkarte. Und dann<br />
sah er die Küste von Amerika. Er war allein, er traute<br />
sich nicht, laut mit sich selbst zu sprechen, weil er<br />
dachte, die Bodenstation höre zu. Er wollte singen.<br />
Ihm fiel ein, wie er als Kind in dem Wald am Fox Creek<br />
gespielt hatte, er war aufgewachsen in New Concord.<br />
Wie glücklich war er gewesen, er, ganz mit sich allein.<br />
Wenn er im Sommer unten beim Bach die Libellen beobachtet<br />
hatte, manche ganz nahe. Wenn er über die<br />
schillernden Farben ihrer Flügel gestaunt hatte, die<br />
sich in den Spiegelungen des Wassers änderten. Wenn<br />
er das feuchte Moos gerochen hatte, kein Parfum<br />
konnte damit konkurrieren. Sogar an die Moskitostiche<br />
erinnerte er sich gern, zu Hause rieb seine Mutter<br />
die betreffenden Stellen mit Zitronensaft ein. Da habe<br />
er begriffen – erst viele Jahre nach diesem großen<br />
Menschheitsabenteuer erzählte er einer Journalistin<br />
davon –, da habe er begriffen, dass Alleinsein das<br />
Schönste auf der Welt sei, allein mit sich und seinen<br />
Gedanken, seinen Träumen, seinen Gedankenspielen<br />
weit voraus in eine Zukunft, seine Zukunft.<br />
„Aber doch nur“, sagte er der Reporterin ins<br />
Mikrofon, „wenn du auf den Wegen gehst, auf denen<br />
du schon oft gegangen bist, auf denen Menschen<br />
gegangen sind, die du liebst oder hasst, die dir Gutes<br />
oder Böses wollen. Wenn du die Wegbiegung dort<br />
vorne kennst, wenn du die riesige Fichte dort drüben<br />
kennst, wenn du die Steine kennst, auf die du dich setzen<br />
und mit den nackten Füßen im Bach plantschen<br />
kannst.“ Einsamkeit sei dagegen etwas anderes. Er<br />
habe geglaubt, sein Herz breche entzwei: Wenn ich<br />
nie wieder, nie wieder … Die Einsamkeit, das wisse er<br />
nun, sei das Entsetzlichste.<br />
Mit einem Gefühl hatte<br />
der Astronaut John<br />
Glenn nicht gerechnet:<br />
Heimweh.<br />
Er war glücklich gelandet, war als Held gefeiert<br />
worden. Im Triumphzug fuhr er durch New York,<br />
hunderttausend Menschen jubelten ihm zu. Präsident<br />
Kennedy bat ihn um seine Freundschaft und warb mit<br />
ihm für seine Politik. Er tourte durch das Land, hielt<br />
Vorträge, wurde zu Fernsehshows eingeladen – er hatte<br />
Amerika den Stolz zurückgegeben. Er war ein Star.<br />
Als er an Bord des Schiffes, das ihn und seine<br />
Kapsel aus dem Meer geborgen hatte, aus dem Raumanzug<br />
stieg, hatte ihn der Kapitän gefragt: „Sir, was<br />
gedenken Sie als Erstes zu tun?“<br />
Glenn antwortete: „Ich möchte nach Hause.“<br />
Zu Hause fragte ihn Anna Margaret: „John, was<br />
willst du als Erstes tun?“<br />
Er antwortete: „Ich möchte nach Hause.“<br />
Sie wusste, was er meinte, sie fragte: „Soll ich dich<br />
begleiten?“<br />
Nein, sagte er, er wolle allein sein. Und sie wusste<br />
wieder, was er meinte.<br />
Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach New<br />
Concord, das war nicht weit. Er spazierte am Fox<br />
Creek entlang bis zu dem Wäldchen. Und dort legte er<br />
sich bäuchlings mitten auf den Weg. Breitete die Arme<br />
aus, als wolle er den Globus, die Welt, die ganze Welt,<br />
nämlich unsere Erde, umarmen und küssen.<br />
So hat man ihn gefunden“, erzählte mein Freund<br />
Bob Didonato. „Ach, du wirst es nicht glauben“,<br />
sagte er, „ein junger schwarzer Musiker fand ihn.<br />
Er meinte, er sei tot. So wie er dalag. Ohne Regung.<br />
Die Lippen auf den Lehmboden gepresst. Der Musikant<br />
– glaub mir, es ist die Wahrheit –, er muss wohl<br />
ein frommer Mann gewesen sein, er kniete sich nieder<br />
und betete, betete für die Seele dieses Mannes, der da,<br />
ganz allein, ohne jeden Beistand, einsam, mitten auf<br />
dem Weg nahe dem Fox Creek gestorben war. Aber er<br />
war nicht gestorben. Er ist aufgestanden – auferstanden,<br />
sozusagen.“<br />
„Und das ist hier geschehen?“, fragte ich. „An dieser<br />
Stelle, genau hier?“<br />
„Genau hier“, sagte Bob.<br />
„Woher weißt du das?“<br />
„Jeder weiß es, jeder hier in New Concord, jeder<br />
in Muskingum County. Frag, wen du willst.“<br />
„Das werde ich“, sagte ich.<br />
Und ich tat es. Ich fragte in einem Coffeeshop, ich<br />
fragte eine Frau auf der Straße, ich klopfte an Türen<br />
und fragte, ich fragte Kinder auf dem Spielplatz. Alle<br />
bestätigten, was Professor Bob Didonato mir erzählt<br />
hatte.<br />
94 THE RED BULLETIN