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Red Bulletin 0521 DE

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B O U L E V A R D D E R H E L D E N<br />

Ich greife vor: Bevor er die Umlaufbahn um die Erde<br />

verließ, um in die Erdatmosphäre einzutauchen,<br />

schlug ein System Alarm. Der Keramikschild, der die<br />

Kapsel vor dem Verglühen bewahren sollte, schien<br />

sich zu lösen. Wenn das geschähe, wäre der Astronaut<br />

nicht mehr zu retten. Glenn behielt die Nerven, von<br />

der Bodenstation aus konnte der Schaden behoben<br />

werden, allerdings musste er die Landung händisch<br />

steuern – Intelligenz, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung.<br />

Zu diesen Begriffen würde in Zukunft eine<br />

ganze Generation den Namen John Glenn assoziieren.<br />

Angst und Panik konnten ihm nichts anhaben.<br />

Diese Gefühle ließ er nicht zu, er besiegte sie, triumphierte<br />

über sie. Mit einem anderen Gefühl aber hatte<br />

er nicht gerechnet, und kein Techniker unten auf der<br />

Erde, kein Psychologe, der Priester nicht, nicht einmal<br />

Anna Margaret, Johns Ehefrau, die ihm schon im Alter<br />

von fünf Jahren das Ja-Wort fürs Leben gegeben hatte,<br />

nicht einmal sie hatte damit gerechnet: Heimweh.<br />

Durch das winzige Fenster der Raumkapsel blickte<br />

er hinunter auf die Erde, er konnte ihre Rundung<br />

sehen, er geriet in heilige Verzückung, als sich<br />

unter ihm der blaue Pazifik dehnte, er sah Hawaii,<br />

sah die Perlenkette Japan, sah die goldenen Weiten<br />

der asia tischen Wüsten, sah die Gipfel des Himalaya,<br />

sah Europa, klarer als auf jeder Landkarte. Und dann<br />

sah er die Küste von Amerika. Er war allein, er traute<br />

sich nicht, laut mit sich selbst zu sprechen, weil er<br />

dachte, die Bodenstation höre zu. Er wollte singen.<br />

Ihm fiel ein, wie er als Kind in dem Wald am Fox Creek<br />

gespielt hatte, er war aufgewachsen in New Concord.<br />

Wie glücklich war er gewesen, er, ganz mit sich allein.<br />

Wenn er im Sommer unten beim Bach die Libellen beobachtet<br />

hatte, manche ganz nahe. Wenn er über die<br />

schillernden Farben ihrer Flügel gestaunt hatte, die<br />

sich in den Spiegelungen des Wassers änderten. Wenn<br />

er das feuchte Moos gerochen hatte, kein Parfum<br />

konnte damit konkurrieren. Sogar an die Moskitostiche<br />

erinnerte er sich gern, zu Hause rieb seine Mutter<br />

die betreffenden Stellen mit Zitronensaft ein. Da habe<br />

er begriffen – erst viele Jahre nach diesem großen<br />

Menschheitsabenteuer erzählte er einer Journalistin<br />

davon –, da habe er begriffen, dass Alleinsein das<br />

Schönste auf der Welt sei, allein mit sich und seinen<br />

Gedanken, seinen Träumen, seinen Gedankenspielen<br />

weit voraus in eine Zukunft, seine Zukunft.<br />

„Aber doch nur“, sagte er der Reporterin ins<br />

Mikrofon, „wenn du auf den Wegen gehst, auf denen<br />

du schon oft gegangen bist, auf denen Menschen<br />

gegangen sind, die du liebst oder hasst, die dir Gutes<br />

oder Böses wollen. Wenn du die Wegbiegung dort<br />

vorne kennst, wenn du die riesige Fichte dort drüben<br />

kennst, wenn du die Steine kennst, auf die du dich setzen<br />

und mit den nackten Füßen im Bach plantschen<br />

kannst.“ Einsamkeit sei dagegen etwas anderes. Er<br />

habe geglaubt, sein Herz breche entzwei: Wenn ich<br />

nie wieder, nie wieder … Die Einsamkeit, das wisse er<br />

nun, sei das Entsetzlichste.<br />

Mit einem Gefühl hatte<br />

der Astronaut John<br />

Glenn nicht gerechnet:<br />

Heimweh.<br />

Er war glücklich gelandet, war als Held gefeiert<br />

worden. Im Triumphzug fuhr er durch New York,<br />

hunderttausend Menschen jubelten ihm zu. Präsident<br />

Kennedy bat ihn um seine Freundschaft und warb mit<br />

ihm für seine Politik. Er tourte durch das Land, hielt<br />

Vorträge, wurde zu Fernsehshows eingeladen – er hatte<br />

Amerika den Stolz zurückgegeben. Er war ein Star.<br />

Als er an Bord des Schiffes, das ihn und seine<br />

Kapsel aus dem Meer geborgen hatte, aus dem Raumanzug<br />

stieg, hatte ihn der Kapitän gefragt: „Sir, was<br />

gedenken Sie als Erstes zu tun?“<br />

Glenn antwortete: „Ich möchte nach Hause.“<br />

Zu Hause fragte ihn Anna Margaret: „John, was<br />

willst du als Erstes tun?“<br />

Er antwortete: „Ich möchte nach Hause.“<br />

Sie wusste, was er meinte, sie fragte: „Soll ich dich<br />

begleiten?“<br />

Nein, sagte er, er wolle allein sein. Und sie wusste<br />

wieder, was er meinte.<br />

Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach New<br />

Concord, das war nicht weit. Er spazierte am Fox<br />

Creek entlang bis zu dem Wäldchen. Und dort legte er<br />

sich bäuchlings mitten auf den Weg. Breitete die Arme<br />

aus, als wolle er den Globus, die Welt, die ganze Welt,<br />

nämlich unsere Erde, umarmen und küssen.<br />

So hat man ihn gefunden“, erzählte mein Freund<br />

Bob Didonato. „Ach, du wirst es nicht glauben“,<br />

sagte er, „ein junger schwarzer Musiker fand ihn.<br />

Er meinte, er sei tot. So wie er dalag. Ohne Regung.<br />

Die Lippen auf den Lehmboden gepresst. Der Musikant<br />

– glaub mir, es ist die Wahrheit –, er muss wohl<br />

ein frommer Mann gewesen sein, er kniete sich nieder<br />

und betete, betete für die Seele dieses Mannes, der da,<br />

ganz allein, ohne jeden Beistand, einsam, mitten auf<br />

dem Weg nahe dem Fox Creek gestorben war. Aber er<br />

war nicht gestorben. Er ist aufgestanden – auferstanden,<br />

sozusagen.“<br />

„Und das ist hier geschehen?“, fragte ich. „An dieser<br />

Stelle, genau hier?“<br />

„Genau hier“, sagte Bob.<br />

„Woher weißt du das?“<br />

„Jeder weiß es, jeder hier in New Concord, jeder<br />

in Muskingum County. Frag, wen du willst.“<br />

„Das werde ich“, sagte ich.<br />

Und ich tat es. Ich fragte in einem Coffeeshop, ich<br />

fragte eine Frau auf der Straße, ich klopfte an Türen<br />

und fragte, ich fragte Kinder auf dem Spielplatz. Alle<br />

bestätigten, was Professor Bob Didonato mir erzählt<br />

hatte.<br />

94 THE RED BULLETIN

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