Philipp Melanchthon, Commentarii in Epistolam ad Romanos, 1540
Melanchthons Römerbriefkommentar aus dem Jahr 1540
Melanchthons Römerbriefkommentar aus dem Jahr 1540
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Argumentum
38
Dixi de particula gratis, De qua et 64 hoc
considerent pii, merita tolli ac reiici, non quia
nos nihil agamus, sed ut promissio nobis sit
certa, {19v} quae fieret incerta, si 65 penderet
ex conditione meritorum, Item, ut debitus
honos Christo tribuatur, Item quia, etiamsi
quid agimus, tamen procul absumus a perfectione
legis. Oritur autem fides a verbo Dei,
videlicet ab Evangelio, quod proprie est promissio,
in qua beneficia Christi nobis tum
promittuntur, tum exhibentur 66 . Nihil enim
posset mens humana statuere de remissione
peccatorum, si Deus non revelasset hanc suam
voluntatem certo verbo, seu certa promissione.
Sciendum est autem hanc Evangelicam
promissionem universalem esse, quod eo necesse
est admoneri pios, quia pavidae mentes
de his duabus quaestionibus maxime disputant,
videlicet de dignitate, et de electione.
Primum quaerimus an indignos recipiat, deinde
etiamsi essemus digni, cogitamus tamen
Deum suos quosdam amicos elegisse, quibus
haec beneficia velit impertire, dubitamus an
ad nos quoque pertineat, veremur nos non
esse in numero illorum. Ita ambigit humana
ratio de voluntate Dei. Nam et Philosophi
adsentiuntur, Deum paucis quibusdam, videlicet
Heroicis viris favere, et eorum eventus
gubernare, sed reliquos homines negligi a
Deo cogitant. Prorsus {20} hoc modo cogitat
mens de praedestinatione, ut vocant. Sed humanam
opinionem 67 taxat vox coelestis. Hoc
differt Evangelium a philosophicis opinionibus
et a lege, quia aliter monstrat Dei voluntatem,
ostendit Deum vere et indignos velle
recipere, et omnibus offerre gratiam, modo ut
credant promissioni. Quare discant pii, promissionem
esse universalem, sicut testantur
innumera dicta, ut, Venite ad me omnes, qui
laboratis, et onerati estis. 68 Rom. iii. Iusticia
Dei per fidem Iesu Christi in omnes, et super
omnes credentes. 69 Item Rom. x. Idem domi-
Ich habe über das Wörtchen „gnadenhalber“ gesprochen,
in Bezug auf das die Frommen auch beachten sollten, dass die
Verdienste beseitigt wurden, nicht weil wir nichts mehr tun
sollen, sondern damit uns die Verheißung gewiss ist (die
bliebe nämlich ungewiss, wenn sie von der Bedingung der
Verdienste abhängig wäre) und die verdienten Ehren Christus
zuteil werden sowie weil wir, auch wenn wir etwas tun,
weit hinter der vollkommenen Erfüllung des Gesetzes zurückbleiben.
Der Glaube entsteht vielmehr aus dem Wort
Gottes, d.h. aus dem Evangelium. Das ist die Verheißung,
durch die uns die Wohltaten Christi erst zugesagt und dann
zugeeignet werden. Der menschliche Geist könnte nämlich
nichts von der Vergebung der Sünden wahrnehmen, wenn
Gott nicht seinen diesbezüglichen Willen durch das verbindliche
Wort bzw. die verbindliche Verheißung offenbart hätte.
Man muss aber auch wissen, dass diese Verheißung des
Evangeliums allgemeingültig ist. Mit ihr müssen die Frommen
ermahnt werden, weil angsterfüllte Gemüter sich vor
allem mit zwei Fragen beschäftigen: mit der Würdigkeit und
mit der Erwählung. Erst fragen wir, ob Gott die Unwürdigen
annimmt, und dann, selbst wenn wir würdig wären, denken
wir trotzdem, dass er einige von seinen Freunden erwählt hat,
denen er diese Wohltaten zukommen lassen will. Wir wissen
nicht, ob auch wir dazugehören, und befürchten, dass wir
nicht dazu gehören. So ist sich die menschliche Vernunft in
Bezug auf den Willen Gottes unsicher. Auch die Philosophen
sind dieser Meinung. Sie nehmen an, dass Gott nur einigen
wenigen gewogen ist, nämlich den heroischen Männern, deren
Ergehen er lenkt, während die übrigen Menschen von
ihm vernachlässigt werden. Genau in derselben Weise denkt
auch der Verstand von der Prädestination, wie sie es nennen.
Die himmlische Stimme tadelt aber diese menschliche Ansicht.
Das unterscheidet das Evangelium von philosophischen
Meinungen und vom Gesetz, denn es macht den Willen Gottes
ganz anders sichtbar. Es zeigt, dass Gott wirklich auch die
Unwürdigen annehmen will und allen die Gnade anbietet –
vorausgesetzt, dass sie der Verheißung glauben. Darum sollen
die Frommen lernen, dass die Verheißung allen gilt. Das bezeugen
unzählige Worte wie z.B.: „Kommt her zu mir, die ihr
mühselig und beladen seid“; Röm 3: „Die Gerechtigkeit Gottes
aus Glauben an Jesus Christus für alle und über alle Glaubenden.“
Ebenso Röm 10: „Derselbe Herr über alle, der reich
ist für alle ... .“ Wir sollen uns – jeder einzelne – in diese „alle“
64
et Str40-1, Wit41-1/2, Str44. – def. Str40-2.
65
si Str40-1/2, Wit41-1, Str44. – sed Wit41-2.
66
exhibentur Str40-1/2, Wit41-1/2. – adhibentur Str44.
67
Sed humanam opinionem Str40-1/2, Wit41-1/2. – Sed hanc humanam opinionem Str44.
68
Mt 11,28.
69
Röm 3,22.
8. Juni 2021