Philipp Melanchthon, Commentarii in Epistolam ad Romanos, 1540
Melanchthons Römerbriefkommentar aus dem Jahr 1540
Melanchthons Römerbriefkommentar aus dem Jahr 1540
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Argumentum
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Discrimen legis et Evangelii. 75
Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium
Plurimum differunt Lex et Evangelium. Nam
lex est doctrina, in 76 qua Deus praecipit quales
nos esse oporteat, et quae facienda, quae
vitanda sint. Et quanquam politia Mosaica
deleta sit, tamen manet lex moralis, quae est
una et eadem omnium temporum, cum eius
noticia nobiscum nascatur. Voluit enim Deus
aliquam esse noticiam in homine, quae iudicaret
peccatum. Ac semper omnibus temporibus
voce legis arguitur peccatum in praedicatione
poenitentiae. Ideo Paulus dicit. Per
legem cognitio peccati. 77 Nec tantum loquitur
de caeremoniis, ut quidam fingunt, sed praecipue
de Decalogo seu lege morali. Haec
enim semper, et omnes accusat. Nam longe
aliter de lege divina sentiendum est, quam de
moribus vitae civilis. In vita civili tantum flagitatur
externa disciplina. At lex Dei requirit
perfectam obedientiam, interiorem et exteriorem.
Ut testatur praeceptum. Diligas Dominum
{21v} Deum tuum ex toto corde 78 etc. Et
sic Matthaei v. Christus legem interpretatur.
Cum autem haec natura hominum morbo
originis viciata non possit praestare perfectam
obedientiam, lex ostendit iram Dei adversus
peccatum, accusat et damnat omnes
homines praeter Christum, qui, ut inquit
Paulus, liberavit nos a maledictione legis 79 .
Liberavit autem non tantum Iudaeos aut ceteros
qui post editam vel abolitam legem Mosaicam
salvati sunt, sed etiam Patres ante
Moisen. Ergo illi etiam fuerunt sub lege, hoc
est, sunt accusati et perterrefacti iudicio legis
naturalis, et periissent, nisi tenuissent promissiones
de Christo, propter quem sciebant
promissam esse liberationem a peccato et a
morte.
Rident fortassis homines politici haec, cum
dicimus, Legem divinam flagitare perfectam
obedientiam, Neminem legi divinae satisfacere
posse, quia in natura hominis ignoratio et
Zwischen Gesetz und Evangelium gibt es einen gewaltigen
Unterschied, denn das Gesetz ist eine Lehre, mit der Gott
vorschreibt, wie wir beschaffen sein sollen und was man tun
bzw. lassen soll. Und obwohl der mosaische Staat untergegangen
ist, gibt es weiterhin das Sittengesetz, das in allen Zeiten
ein und dasselbe ist, weil seine Kenntnis mit uns geboren
wird. Gott wollte nämlich, dass es im Menschen ein Wissen
gibt, das Sünde erkennen kann. Und zu allen Zeiten ist die
Sünde stets von der Stimme des Gesetzes mit der Aufforderung
zur Buße angeklagt worden. Darum sagt Paulus: „Durch
das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde.“ Er spricht
nicht lediglich von den Zeremonien, wie manche behaupten,
sondern in erster Linie vom Dekalog oder Sittengesetz. Das
klagt nämlich stets alle an. Über das göttliche Gesetz muss
man nämlich sehr viel anders urteilen als über die Sitten des
bürgerlichen Lebens. Im bürgerlichen Leben kommt es lediglich
auf die äußere Lebensführung an. Demgegenüber verlangt
das Gesetz Gottes vollkommenen Gehorsam, inneren
und äußeren, wie das Gebot bezeugt: „Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben von ganzem Herzen ...“ Genauso legt
Christus das Gesetz in Mt 5 aus. Doch weil die Natur der
Menschen, die durch die Urkrankheit verderbt ist, den vollkommenen
Gehorsam nicht erbringen kann, macht das Gesetz
auf den Zorn Gottes über die Sünde aufmerksam. Abgesehen
von Christus, der, wie Paulus sagt, uns vom Fluch des
Gesetzes befreit hat, beschuldigt und verurteilt es alle Menschen.
Er hat aber nicht lediglich die Juden befreit, oder andere,
die gerettet worden sind, nachdem das Mosegesetz gegeben
und aufgehoben worden war, sondern auch die Väter
vor Mose. Darum sind auch sie unter dem Gesetz gewesen,
das heißt sie wurden angeklagt und in Angst versetzt durch
das Urteil des natürlichen Gesetzes, und sie wären zugrunde
gegangen, wenn sie nicht an den Verheißungen von Christus
festgehalten hätten, dessentwegen sie wussten, dass die Erlösung
von der Sünde und vom Tod versprochen ist.
Politisch denkende Menschen werden wahrscheinlich lachen,
wenn wir sagen, dass das göttliche Gesetz vollkommenen
Gehorsam verlangt und dass keiner dem göttlichen Gesetz
Genüge tun kann, weil in der Natur des Menschen die
75
So Wit41-1/2. – Str40-1 hat hier keine Zwischenüberschrift. – Str40-2, Str 44 haben als Marginalie: Lex.
76
in Wit41-1/2. – def. Str40-1/2, Str 44.
77
Röm 3,20.
78
Dtn 6,5.
79
Gal 3,13.
8. Juni 2021