gab September 2021
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Musik<br />
NACHGEFRAGT<br />
MELISSA<br />
ETHERIDGE:<br />
„Ich war nicht<br />
immer treu“<br />
„One Way Out“ ist zwar ein<br />
neues Album der 60 Jahre<br />
jungen Melissa Etheridge. Die Songs<br />
allerdings sind halb so alt wie die<br />
Musikerin selbst und klingen dementsprechend<br />
ungestüm und wild.<br />
Ein kurzes Telefonat.<br />
„Hallo, hier ist Melissa“, meldet sich Melissa<br />
Etheridge aus Los Angeles am Telefon. Sie<br />
ist keine Frau der langen Umschweife „Die<br />
Musik hat mir in den zurückliegenden ein<br />
bis zwei Jahren geholfen, gesund zu bleiben“,<br />
sagt sie gleich zu Beginn. „Ich wüsste<br />
nicht, was ich hätte tun sollen oder was aus<br />
mir geworden wäre, hätte ich nicht meine<br />
Gitarre, meine Songs und meine Stimme<br />
gehabt.“ Bis zu fünf Mal pro Woche trat sie<br />
in der Phase der tiefen Corona-Tristesse<br />
in ihrer Garage auf, unterstützt einzig und<br />
allein von ihrer Frau Linda Wallem.<br />
Die Pandemie war schon hart genug, doch<br />
Etheridge (60) musste außerdem einen<br />
persönlichen Schicksalsschlag verkraften.<br />
Ihr Sohn Beckett, den sie mit ihrer Ex-Frau<br />
Julie Cypher bekam und dessen leiblicher<br />
Vater David Crosby war, starb mit 21 Jahren<br />
an den Folgen einer Tablettensucht. Neue<br />
Lieder habe sie Veröffentlichung ihres<br />
jüngsten Studioalbums „The Medicine<br />
Show“ unter den Umständen nicht<br />
geschrieben. Dass mit „One Way Out“<br />
jetzt dennoch ein neues Werk erscheint,<br />
verdankt Melissa ihrem Archivierungs- und<br />
Aufräumtrieb. Etheridge wühlte sich nach<br />
und nach durch ihr bestens bestücktes<br />
Archiv und förderte jene neun Songs<br />
zutage, die sich wirklich top anhören.<br />
Knusprig und wild, richtig schön rockig. Bei<br />
„Save Myself“ zum Beispiel meint man, Tina<br />
Turner rauszuhören, und dann natürlich<br />
auch noch die Stones, und zwar in Form<br />
des „Sympathy For the Devil“-Hu-Hus,<br />
minimal variiert. Der Titelsong ist einfach<br />
total knackig, „As Cool As You Try“ ist<br />
ein rockharmonischer Song, den man<br />
früher, als die Sender solche Musik noch<br />
spielten, als Radiohit bezeichnet hätte.<br />
„For The Last Time“ ist ein richtig schöner<br />
Bluessong, „Wild Wild Wild“ verträumt<br />
melancholisch und stimmlich stark, und die<br />
Midtempo-Nummer „I’m No Angel Myself“<br />
textlich keck. „In dem Song beschreibe ich<br />
das Treffen mit einer alten Freundin, die<br />
mit meiner damaligen Lebensgefährtin<br />
geschlafen hat. Und ich stelle fest, dass<br />
auch sie unter Beziehungsproblemen leidet,<br />
und zwar heftigen.“ An dieser Stelle lacht<br />
Etheridge. Das Lachen wird noch lauter, als<br />
sie sagt: „Aber keine Sorge, auch ich war bei<br />
weitem nicht immer treu.“<br />
Man fragt sich natürlich, warum diese Lieder<br />
nicht damals schon rausgekommen sind, als<br />
Melissa sie geschrieben hat, in den späten<br />
Achtzigern und frühen Neunzigern nämlich,<br />
schon nach ihrem Debüt, aber noch vor<br />
dem ganz großen Mainstreamerfolg mit<br />
dem „Yes I Am“-Album 1993. Die Antwort:<br />
„Ich dachte, die Songs wären zu ihrer Zeit<br />
etwas zu forsch und direkt gewesen. Ich<br />
war persönlich noch nicht so weit.“ Was<br />
Melissa meint: Die Lieder erzählen von<br />
lesbischer Liebe, doch sie selbst hatte sich<br />
noch nicht geoutet, das geschah erst parallel<br />
zu „Yes I Am“. Seitdem freilich ist Melissa<br />
Etheridge, die sich nach mühsamem Beginn<br />
als Bar- und Kleinclubsängerin mit zeitlosen<br />
Hits wie „Come to My Window“ und „Like<br />
the Way I Do“ zeitweise in die Riege der<br />
Stadionrockerinnen emporgekämpft hatte,<br />
eine unvermindert unerschrockene Ikone<br />
der LGBTQ-Bewegung sowie eine Aktivistin<br />
für linke Politik, Klima- und Tierschutz sowie<br />
die medizinische Nutzung von Cannabis.<br />
„Ich denke, ich habe das alles ganz gut<br />
hinbekommen“, fasst sie ihr Schaffen<br />
zusammen. „Als ich mein Coming Out<br />
hatte, <strong>gab</strong> es kaum offen Homosexuelle<br />
in der Rock- und Popmusik. Heute hebt<br />
niemand mehr eine Augenbraue, wenn sich<br />
jemand dazu bekennt, queer zu sein. Wenn<br />
du möchtest, kannst du mich gerne eine<br />
Pionierin nennen. Ich bin definitiv stolz und<br />
dankbar, hunderttausenden von Menschen<br />
den Mut gegeben zu haben, offen und<br />
angstfrei als diejenigen zu leben, die sie<br />
sind.“ *Interview: Steffen Rüth