Leichtathletik INFORMationen 03/2021
Inhalt: Geher-Förderprojekt bei Olympia in Tokio + Olympia 2021 – Von Hightech und Untiefen + Neue Wege im Hochsprung – „Der Hochsprungbaum” + Marcel Fehr – Wenn Träume platzen + Nachbetrachtung – U23-Europameisterin Lilly Kaden + Portrait: Anna Malia Hense
Inhalt: Geher-Förderprojekt bei Olympia in Tokio + Olympia 2021 – Von Hightech und Untiefen + Neue Wege im Hochsprung – „Der Hochsprungbaum” + Marcel Fehr – Wenn Träume platzen + Nachbetrachtung – U23-Europameisterin Lilly Kaden + Portrait: Anna Malia Hense
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Abfinden oder kämpfen?<br />
Es setzte sich ein emotional sehr ambivalenter Prozess in Gang:<br />
Die Erkenntnis, dass der Traum von Olympia platzen würde,<br />
und der Leistungssportler in mir, der am letzten Qualifikationstag<br />
(dem 29. Juni <strong>2021</strong>) in Luzern, noch einmal einen Versuch<br />
starten wollte. Doch wer keine Pfeile im Köcher hat, der<br />
kann auch nicht weit schießen. Und so viele Pfeile kann man<br />
innerhalb von 3 Wochen gar nicht sammeln, um von 13:57 Minuten<br />
Leistungsniveau auf eine Zeit von unter 13:20 Minuten<br />
zu kommen.<br />
Man hängt sich im Leistungssport an wenigen Höhepunkten<br />
auf. Deutsche Meisterschaft, Europameisterschaft, Weltmeisterschaft<br />
und Olympische Spiele. Alles andere sind<br />
Durchgangsstationen, Etappenziele oder Vorbereitungswettkämpfe.<br />
Aber ist es am Ende wirklich nur dieser eine Moment?<br />
Der alles entscheidet? Der Erfolg von Misserfolg haarscharf<br />
trennt? All die Trainingslager und Schufterei entweder rechtfertigt<br />
oder lächerlich sinnlos erscheinen lässt? Für viele mag<br />
das von außen und auf dem nackten Ergebnispapier so sein.<br />
Für mich zeichnet sich ein anderes Bild.<br />
„Der Weg ist das Ziel“<br />
„Der Weg ist das Ziel“ mag für viele wie eine hohle Phrase klingen.<br />
Genauer betrachtet, steckt in dieser Binsenweisheit aber<br />
ein wahrer Kern. Es wäre fatal, die Karriere eines Leistungssportlers<br />
an den wenigen erfolgreichen Höhepunkten zu messen.<br />
Was die Bekanntheit und die finanzielle Situation angeht,<br />
mag das zwar der Fall sein. Aber die Erlebnisse und Erfahrungen,<br />
die man aus 1 ½ Jahrzehnten Mittel- und Langstreckensport<br />
mitnimmt, lassen sich nicht an ein paar Wettkämpfen<br />
festmachen. Egal, ob es die Erfahrungen im kenianischen<br />
Hochland, die internationalen Begegnungen bei Auslandswettkämpfen<br />
oder die zusammenschweißenden Trainingsstunden<br />
mit den Vereinskollegen sind: Den Weg zu meinen<br />
verpassten Olympischen Spielen zu bestreiten, war es mir absolut<br />
wert. Der Frust und die Trauer über das verpasste Großereignis<br />
können gegen all die Erlebnisse nichts ausrichten.<br />
Vor dem Fernseher in Deutschland verfolgte ich mit gemischten<br />
Gefühlen Olympia unter Coronabedingungen. Es war<br />
schon befremdlich, solch sterile und abgeschottete Spiele zu<br />
verfolgen. Während in manchen Ländern der Welt das Coronavirus<br />
nach wie vor für katastrophale Zustände sorgt, trifft<br />
sich ein elitärer Kreis von Spitzenathlet:innen in Tokio, um das<br />
größte Sportereignis des Planeten zu zelebrieren. Gleichzeitig<br />
war es für die Sportler:innen und für Sportbegeisterte gut,<br />
dass die Spiele stattgefunden haben. Die Emotionen waren<br />
echt. Die der Sportler:innen und die derjenigen, die gebannt<br />
vor den Bildschirmen saßen. Auch bei mir: die geteilte Goldmedaille<br />
im Hochsprung, das zehrende Rennen meiner Freundin<br />
Hanna Klein über die 1.500 m, die Wut und Enttäuschen<br />
von Johannes Vetter oder die Glückseligkeit von Malaika Mihambo<br />
nach ihrem letzten Versuch zur Goldmedaille. Höhenflüge<br />
und Rückschläge. Freude und Trauer. Ambivalenzen<br />
kann man nicht immer lösen. Sie gehören zum Sport sicherlich<br />
genauso dazu, wie zu vielen anderen Lebensbereichen.<br />
Immerhin hat man im Vergleich zur Fußball-Europameisterschaft<br />
nicht darüber hinweggetäuscht, dass Corona präsent<br />
ist. Volles Stadion beim Finale im Wembley – gähnende Leere<br />
in Tokio.<br />
„Ich würde es wieder tun“<br />
Über mehr als mein halbes Leben war ich Leistungssportler.<br />
Durch und durch. Mit allem, was mir emotional und physisch<br />
mit in die Wiege gelegt wurde. Und wenn mich jemand fragen<br />
würde, ob ich diese Zeit bereue, könnte ich ihm ein entschiedenes<br />
„Nein“ entgegensetzen. Trotz der verpassten Spiele, trotz<br />
all der Verletzungen und trotz der Rückschläge: Ich würde es<br />
wieder tun. Auch wenn mir der Erfolg und die Anerkennung<br />
viel gegeben haben, war ich nie jemand, der sich zum Laufen<br />
aufraffen musste. Ich habe es geliebt. Das berühmt berüchtigte<br />
„Runners High“ war mir ein treuer Begleiter auf unzähligen<br />
Trainingseinheiten. Die Kameradschaft in meinem Verein,<br />
die Erlebnisse in Trainingslagern oder auf Wettkämpfen rund<br />
um den Globus möchte ich nicht missen. Sie haben mich zu<br />
dem gemacht, der ich heute bin. Auch wenn mir die verpassten<br />
Spiele so manch schlaflose Nacht und damit Ringe unter<br />
den Augen anstatt tätowierte Ringe auf der Schulter beschert<br />
haben. Ich würde es wieder tun.<br />
Marcel Fehr<br />
29 Jahre, Langstreckenläufer und angehender Journalist<br />
Selbstportrait von Marcel Fehr mit Hanna Klein.<br />
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