WOLL Elternratgeber Ausbildung + Karriere 2022/2023 Kreis Soest
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„Mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung<br />
hast du immer etwas in der Hand. Und ein viel<br />
besseres Verständnis für den Stoff im Studium.“<br />
(Hubertus Gosmann)<br />
Nichtstun war für ihn keine Option –<br />
und schon gar nicht für seine Eltern.<br />
Also musste kurz vor dem turnusmäßige<br />
<strong>Ausbildung</strong>sbeginn ein <strong>Ausbildung</strong>splatz<br />
her. Das Problem: Damals gab<br />
es noch einen Arbeitgebermarkt und<br />
im Sommer so gut wie keine offenen<br />
Stellen mehr. Außer bei der Deutschen<br />
Post. Also bewarb er sich mehr oder<br />
weniger blind für den <strong>Ausbildung</strong>sberuf<br />
der „Dienstleistungskraft im Postbetrieb“.<br />
„Was man hier lernt, das braucht<br />
man im Leben!“<br />
Die Zusage kam prompt. Doch was<br />
Gosmann nicht wusste: Das erste Jahr<br />
der dreijährigen <strong>Ausbildung</strong> war ein<br />
Vollzeitschuljahr. Und so fand er sich<br />
1992 nach den Sommerferien dort wieder,<br />
wo er nie wieder hinwollte: in einem<br />
Klassenraum. Diesmal am Hubertus-<br />
Schwartz-Berufskolleg in <strong>Soest</strong>. „Da<br />
hatte ich erst einmal einen Schock. Ich<br />
merkte allerdings schnell, dass ich die<br />
Dinge, die ich hier lerne, wirklich gebrauchen<br />
kann. Dass die Themen, die<br />
hier behandelt werden, eine unglaubliche<br />
Lebensnähe haben, die mich bis heute<br />
trägt.“ Und so wurde aus dem Abiturverweigerer<br />
plötzlich ein Streber, der in<br />
allen elf Fächern die Note eins auf<br />
dem Zeugnis bekam. „Aber auch nur,<br />
weil wir keinen Sportunterricht hatten,<br />
sonst wäre mir das nicht geglückt“, gibt<br />
er schmunzelnd zu. Da wusste er freilich<br />
noch nicht, dass ab der Mittelstufe<br />
der einheitliche Dienstsport zur Pflicht<br />
wurde. Dank der guten Noten konnte<br />
Gosmann die <strong>Ausbildung</strong> verkürzen<br />
und war nach 2,5 Jahren fertig. Keine<br />
vier Wochen später fand er sich in der<br />
Rolle des Ausbilders wieder und lernte<br />
plötzlich seine gleichaltrigen Kollegen<br />
an, die vor kurzem noch neben ihm in<br />
der Schulbank saßen.<br />
„Pauker bei uns, das wäre doch<br />
was für dich.“<br />
Als Ausbilder kehrte Gosmann regelmäßig<br />
zum Hubertus-Schwartz-<br />
Berufskolleg zurück, um sich an den<br />
Sprechtagen nach seinen Azubis zu erkundigen.<br />
Sein ehemaliger Lehrer für<br />
Betriebswirtschaft und Rechnungswesen<br />
gab die Initialzündung für die <strong>Karriere</strong><br />
in der Schullaufbahn. „Bei der Post<br />
kommt die Privatisierung, da gehen die<br />
Lampen aus. Den Job, den du da machst,<br />
wird es nicht mehr lange geben. Pauker<br />
bei uns, das wäre doch was für dich“,<br />
sagte er zu seinem ehemaligen Schüler.<br />
Was Gosmann einleuchtet, hatte einen<br />
Haken. Ihm fehlte schließlich das Abitur.<br />
Also begann er 1995 mit dem<br />
Abendgymnasium und saß wieder in<br />
der Schule, die er einst genervt verlassen<br />
hatte. 1998 folgt dann das Studium<br />
in Paderborn. Bei der Post ließ<br />
sich Gosmann nur beurlauben: „Es gibt<br />
immer den Misserfolgsmeider und den<br />
Erfolgssucher. Ich bin von Natur aus<br />
eher der Misserfolgsmeider und brauchte<br />
die Sicherheit.“ Außerdem jobbte er<br />
zwischendurch immer wieder als Postzusteller.<br />
„Ich habe zwar nie gern studiert,<br />
aber ich wusste, wo ich hinwollte<br />
– ans Hubertus-Schwartz-Berufskolleg“,<br />
sagt Gosmann. „Für mich war<br />
definitiv klar: Ich kann nirgendwo anders<br />
Pauker sein als hier. Ich habe diese<br />
Schule geliebt und tue es noch heute.“<br />
Allerdings kriegen Referendariaten<br />
ihre Schule zugewiesen und können sie<br />
sich nicht aussuchen. Weil es dem damaligen<br />
Schulleiter höchsten Respekt<br />
abverlangte, wie Gosmann sich vom<br />
niedrigsten Bildungsgang seiner Schule<br />
hochgearbeitet hat, wollte er das unbedingt<br />
unterstützen und setze alle Hebel<br />
in Bewegung, um ihn an seine Schule<br />
zu holen.<br />
„Es muss nicht jedes Kind<br />
studieren.“<br />
Seit Anfang des Jahres ist der Oberstudienrat<br />
nun stellvertretender Schulleiter<br />
des <strong>Soest</strong>er Berufskollegs. Seine eigene<br />
Erwerbsbiografie ist der beste Beweis<br />
dafür, dass in unserem Bildungssystem<br />
jeder alles erreichen kann, wenn er nur<br />
will. „Egal aus welcher Situation heraus<br />
man startet, welchen Weg man wählt.<br />
So kann ein Postbote auch stellvertretender<br />
Schulleiter werden“, resümiert<br />
Gosmann. Ihm ist es wichtig, auch den<br />
Eltern deutlich zu machen, dass nicht<br />
jedes Kind studieren muss. Natürlich<br />
darf jeder an ein Studium denken. Aber<br />
seine Empfehlung lautet: „Macht vorher<br />
unbedingt eine <strong>Ausbildung</strong>. Egal welche.<br />
Das sage ich auch meinen Kindern.<br />
Wenn es nicht klappt, fängt das Netz<br />
euch auf. Mit einer abgeschlossenen<br />
Berufsausbildung hast du immer etwas<br />
in der Hand. Und ein viel besseres Verständnis<br />
für den Stoff im Studium.“<br />
Außerdem haben Studierende mit Berufsausbildung<br />
die Chancen auf deutlich<br />
attraktivere Nebenjobs. Schließlich<br />
ist nicht jeder mit einem wohlbetuchten<br />
Elternhaus gesegnet, welches das Studium<br />
mit all seinen Aspekten finanzieren<br />
kann. Das Berufskolleg verzeichnet<br />
vermehrt Studienabbrecher, die das<br />
Studium unterschätzt haben, und dann<br />
eine duale <strong>Ausbildung</strong> absolvieren.<br />
Gosmann: „Die starten hier durch wie<br />
eine Rakete, weil die genau das erleben,<br />
was ich nach dem Abbruch des Gymnasiums<br />
erlebt habe. Plötzlich können<br />
sie mit entsprechendem Aufwand etwas<br />
erreichen. Das zu sehen, motiviert mich<br />
total.“ ■<br />
<strong>WOLL</strong> <strong>Elternratgeber</strong> <strong>2022</strong> - 95