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UNDERDOG#69

Schwerpunkt: Punk und Behinderung Unser Schwerpunkt-Thema skizziert zum einen die sogenannte „Cripple Punk-Bewegung“, in der Betroffene Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung beziehen.

Schwerpunkt: Punk und Behinderung
Unser Schwerpunkt-Thema skizziert zum einen die sogenannte „Cripple Punk-Bewegung“, in der Betroffene Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung beziehen.

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UNDERDOG

Ausgabe 69 Sommer 2022 €2,50



Ahoi!

Unser Schwerpunkt-Thema skizziert zum einen die

sogenannte „Cripple Punk-Bewegung“, in der Betroffene

Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar

machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung

beziehen. Sean Gray liefert mit seinem Erfahrungsbericht

einen Diskurs über Inklusion, Zugang, DIY und Punk.

Parallel dazu haben wir uns mit Rollstuhl-Skater David

Lebuser über sein Engagement für barrierefreie Konzerte

unterhalten und darüber, was es heißt in einem Rollstuhl

zu sitzen und mit Barrieren kämpfen zu müssen.

Zusammen mit Lisa und Fotografin Anna Spindelndreier

haben sie das Projekt SIT'N'SKATE ins Leben gerufen, um

mit Aktionen, stylischen Bildern und Lifestyle die Sicht auf

Menschen mit Behinderung zu verbessern und

Stereotypen zu zerstören.

Darüber hinaus diskutieren wir die Begrifflichkeiten

„Behinderung und Handicap“ und skizzieren im Artikel

„Punkrock und Behinderung“ anhand von Fallbeispielen

Aspekte von Selbstermächtigung und Aktionsfelder von

Musikern mit Behinderungen.

Annie Segarra erzählt von ihrem Leben, von ihrer

Diagnose des Ehlers-Danlos-Syndroms und Misshandlung

durch medizinisches Fachpersonal, sowie von ihrer Reise

mit Körperdysmorphie als queere behinderte Person.

FaulenZa gilt aufgrund verschiedener psychiatrischen

Diagnosen als krank und behindert und gibt in „Mad

Pride“ persönliche Einblicke aus ihrem Therapie-Alltag.

Felix Brückner ist Sänger und Gitarrist der Band FHEELS.

Dass er im Rollstuhl sitzt, spielt dabei keine Rolle. Wir

unterhielten uns mit ihm über die veränderten

Lebensumstände. Abschließend unterhielten wir uns mit

Markus MAGENBITTER über seine schwere

neuroimmunologische Erkrankung und wie das

„Chronische Fatigue-Syndrom“ seinen Alltag bestimmt.

Viel Spaß beim Lesen!

Inhalt 3

Mad Pride – Kolumne von FaulenZa 4

Cripple Punk 8

Sit’n’Skate – Destroying Stereotypes 16

Diskurs: Handicap vs. Behinderung 26

Magenbitter – ME/CFS-Betroffener 32

Inklusion auf Konzerten 37

Punkrock und Behinderung 44

Felix Brückner (Fheels) 53

The Future Is Accessible – Annie Segarra 59

Zine-Reviews 65

Abo 75

Impressum

UNDERrDOG

V.i.S.d.P. Fred Spenner

Stolles Weg 1

D-27801 Dötlingen

+49(0)4431-72771

info@underdog-fanzine.de

www.underdog-fanzine.de

Verkaufspreis:

Innerhalb Deutschlands:

€2.50.- + €1,60.- (Porto)

Abo für 4 Ausgaben: €10.- (im Voraus)

Europa:

€2,50.- + 3,70.- (Porto)

4er-Abo: 15.- (im Voraus)

https://www.underdog-fanzine.de/

shop/abo/

Dank an: Felix, David, Annie, Sean,

Markus

Bezugsquellen

Deutschland:

GRANDIOSO-Versand&Mailorder, MAD

BUTCHER RECORDS, KINK RECORDS ,

ROTER SHOP, BLACK MOSQUITO

Mailorder, PEST&CHOLERA,

RIOT BIKE RECORDS, FLIGHT 13

Records, SN-Rex, INCREDIBLE NOISE

RECORDS, RilRec., NO SPIRIT Mailorder,

Cheap Trash Records Stuttgart, Black

Plastic Bremen, TRUE REBEL RECORDS,

Schweiz:

ROMP Info- und Plattenladen Luzern

Österreich:

Dagdas DIY Shows, Infoladen Kukuma,

Akademie der bildenden Künste Wien

Infoläden: Infoladen Bremen, Archiv

für alternatives Schrifttum, Infoladen

Frankfurt

UNDERDOG #70:

Deadline: 01.11.2022

Anzeigenschluss: 15.11.2022

Erscheinungsdatum: 01.12.2022

Hinweis:

Die Deutsche Nationalbibliothek stellt

diese Publikation in Frankfurt und

Leipzig bereit und ist im Internet

abrufbar unter:

http://d-nb.info/1036440567


Psychische und seelische Behinderung

Mad Pride – Zwischen

Wertschätzung und Abwertung

»Ich gelte durch verschiedene

psychiatrische Diagnosen als

krank und behindert.«

Schon oft war ich in psychiatrischen

Kliniken und anfangs war ich ganz

schüchtern damit, Leuten davon zu

erzählen. Bei meinem ersten stationären

Aufenthalt habe ich selbst bei meinen

engsten Freund*innen gezögert, ihnen

davon zu erzählen.

»Ich überlege wie und wer ich sein will

und versuche möglichst viel davon zu

verwirklichen.«

Mittlerweile bin ich – was das angeht –

selbstbewusster geworden. Sich

Unterstützung holen und an sich zu

arbeiten ist etwas, was Kraft und Mut

kostet. Das ist etwas Gutes. Ich möchte

nicht, dass das als etwas angesehen wird,

wofür mensch sich schämen muss. Man

kann sogar stolz darauf sein!

Ich habe in meinem Leben viel Scheiße

erlebt und trotzdem habe ich

therapeutisch ganz beachtliche

Fortschritte geschafft. Zum Beispiel hat

sich mein Selbstwertgefühl verbessert. Ich

kann besser Zeit alleine verbringen als

früher, ich verletze mich kaum noch selbst

und schaffe es meist, mich gesund zu

ernähren.

Trotzdem werte ich mich häufig noch

selbst ab. Fühle mich fehlerhaft und

schlechter als andere. In starken

Momenten versuche ich mich aber auch,

als ‚besonders‘ zu betrachten und stolz zu

sein auf all die Fortschritte, die ich

gemacht habe. Ich habe aber auch Angst,

dass andere Menschen mich durch meine

sogenannten ‚Störungen‘ anders

betrachten. Mein Tourette-Syndrom 1 und

Symptome wie Dissoziationen 2 und

1 Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische

Erkrankung, die sich in motorischen und sprachlichen

Tics äußert. Tics sind spontane, nicht unterdrückbare

und unwillkürlich auftretende sprachliche Äusserungen

oder Bewegungen. Dies können wiederholtes

Augenblinzeln, Naserümpfen, Grimassieren, das

Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten, das

Nachahmen von Tiergeräuschen, Fluchen oder

wiederholtes Aussprechen von obszönen

Schimpfwörtern u. v. m. sein.

2 Dissoziative Störungen werden normalerweise durch

überwältigenden Stress oder Trauma ausgelöst. Zum

Beispiel können Betroffene in ihrer Kindheit

missbraucht oder misshandelt worden sein. Sie können

traumatische Ereignisse erlebt oder miterlebt haben, wie

beispielsweise Unfälle oder Katastrophen. Oder sie

durchleben innere Konflikte, die so unerträglich sind,


Psychische und seelische Behinderung

vernarbte Arme und manchmal starkes

Untergewicht sind auffällig bei mir. Da

mache ich mir oft Sorgen, dass Menschen

mich nicht ernst nehmen, mich nicht auf

Augenhöhe behandeln oder nicht mit mir

befreundet sein wollen.

Ich versuche aus der Selbstabwertung

rauszukommen, indem ich Sachen sammel,

die ich an mir mag. Indem ich, wenn

möglich, mit Leuten rumhänge, bei denen

ich mich gut fühle. Indem ich eigene Hobbys

und Interessen finde. Am besten auch

welche, die ich auch alleine machen kann.

Ich hab angefangen, mir solche Hobbys und

Sachen, die ich an mir mag, zu tätowieren,

damit ich mich immer an sie erinnere. Ich

überlege wie und wer ich sein will und

versuche möglichst viel davon zu

verwirklichen. Ich mache mir klar, dass ich

es auch selbst in der Hand habe wie es mir

geht. Dass ich Einfluss nehmen kann. Zum

Beispiel, in dem ich mir Hilfe hole, wie z. B.

in der Psychiatrie oder, wie zur Zeit, in

meiner therapeutischen Wohngruppe.

Ich war im Verlauf der letzten Jahre auf

unterschiedlichen Klinik-Stationen. Da habe

ich viele gute und auch doofe Erfahrungen

gemacht. Insgesamt hat mich die Therapie

dort weitergebracht und mir geholfen. Zu

den schlechteren Erfahrungen gehört, wenn

ich bei einzelnen Pfleger*innen oder

Ärzt*innen das Gefühl hatte, nicht ernst

genommen zu werden. Wenn ich nicht als

individuelle Persönlichkeit gesehen wurde,

sondern als Krankheit: ‚Frau FaulenzA hat

Diagnose XY und ihre Einwände, Ängste,

Wut, Handlungswünsche sind Symptome

ihrer Krankheit.‘

Mit Zwang umzugehen finde ich auch

schwierig. Wenn ich eine Ausgangssperre

hatte, weil ich als nicht stabil genug

eingeschätzt wurde, hat mich das aggressiv

gemacht. Auch wenn mir die Ruhe

dass ihre Psyche gezwungen ist, inkompatible oder

unakzeptable Informationen und Gefühle von

bewussten Denkvorgängen zu trennen.

wahrscheinlich schon gutgetan hat. Und

gleich neben dem Entspannungsraum war

das ‚Fixierbettzimmer‘. Das fand ich immer

sehr gruselig, auch wenn ich noch nicht das

‚Vergnügen‘ hatte.

Manche sahen es auch als therapeutisch

sinnvoll an, ein ‚normales‘ Leben zu leben.

Die wollten, dass ich mindestens 20 Stunden

lohnarbeiten gehe, weil das einem ja auch

psychisch so guttäte. Die Patient*innen

wieder arbeitsfähig zu bekommen ist oft das

wichtigste Ziel Psychiatrien. Es gab sogar

‚Arbeitstherapie‘. Gegen die habe ich mich

immer sehr gesträubt. Das war wie

Ergotherapie, nur dass wir nicht Sachen

machen durften, worauf wie Lust hatten. Die

Therapeut*innen haben uns Aufgaben

zugeteilt. Die Erzeugnisse wurden dann auf

Basaren verkauft. Denn dass man nicht für

sich selbst arbeitet, war ein wichtiges

Prinzip. Man sollte ja Kapitalismus lernen.

Mein Job war es zum Beispiel Lavendel

Säckchen herzustellen. Das fand ich okay..

Besser als zu töpfern, denn das kann ich

nicht leiden. Da habe ich mich extra doof

angestellt.

Die meisten Pfleger*innen und

Therapeut*innen, die ich in meinen

Psychiatrieaufenthalten hatte, waren aber

echt mega sweet und lieb. Super hilfsbereit

und einfühlsam. Oft wurde ich aus scheinbar

ganz ausweglosen Gefühlszuständen und

Situationen gerettet. Dafür bin ich sehr

dankbar. Wer weiß, wo ich heute stehen

würde, wenn sie nicht gewesen wären?

Kunsttherapie fand ich zum Beispiel

spannend. Das ging richtig deep. Auch wenn

ich eigentlich gar nicht malen kann. Alleine

das Gefühl, mal ein Stück weit

Verantwortung für mich abgegeben zu

können, tat mir gut. So hatte ich einen safen

Rahmen um neue Strategien

auszuprobieren, in denen ich mich noch

nicht sicher fühle. Der Austausch und der

Zusammenhalt mit den Mitpatient*innen war


Psychische und seelische Behinderung

auch oft wohltuend. Ich fand es spannend

plötzlich mit so vielen unterschiedlichen

Leuten aus unterschiedlichen

gesellschaftlichen Schichten und Szenen

zusammengewürfelt zu sein. Ich mochte zum

Beispiel den hohen Working Class Anteil

gern. So unterschiedlich viele Patient*innen

auch waren, hatten wir aber alle ähnliche

psychische Probleme und das schweißte

irgendwie zusammen. Wir kümmerten uns

umeinander und akzeptieren uns so wie wir

waren. Alle hier waren gewohnt, als

‚verrückt‘ zu gelten. So wurde zum Beispiel

auch mein ‚Transfrau sein‘ von den meisten

selbstverständlich akzeptiert, von Leuten,

die nicht in der feministischen Szene aktiv

sind. Während ich mich mit sogenannten

‚Radikalfeministinnen‘ streiten muss, ob ich

nun ein Mann bin oder nicht.

Heute wohne ich in einer therapeuthischen

WG und gehe zusätzlich zu einer ambulanten

Therapeutin, mit der ich tiefenpsychologisch

an Traumas arbeite. Mittlerweile fühle ich

mich endlich stabil und stark genug, um

diese schmerzvollen und tief liegenden

Themen anzugehen. Und um die Kraft nicht

zu verlieren, achte ich ganz besonders

darauf, all die Sachen weiterzuverfolgen, die

mir guttun. Skateboard fahren, Fußball

spielen und als Fan Babelsberg 03

anzufeuern sind neue Hobbys für mich, die

mir viel Kraft und Motivation geben. Auch

hilft Tagebuch zu schreiben. Entweder um

mich mit einem Thema auseinanderzusetzen

oder auch nur um es als Stichpunkt zu

notieren. Dann kann ich es in diesem

Moment loslassen und weiß, dass ich mich

ihm an anderer Stelle widmen werde. Mit

Freund*innen Zeit verbringen, oder zu teilen

ist wichtig für mich. Aber mir tut es auch

gut, ein Repertoire an Methoden zu haben,

die ich auch alleine umsetzen kann, wenn es

mir schlecht geht. Die versuche ich dann zu

machen, selbst wenn ich gerade keine Lust

darauf habe: Aufräumen, eine Serie schauen,

einen Liebeskitsch-Roman lesen, Jonglieren,

etwas kochen, Nordic Walking, eine

Postkarte schreiben zum Beispiel.

Für Momente, wo ich auf nichts Lust habe

und mich nicht zu etwas entschließen kann

habe ich mir meine ‚Selfcare Uhr‘

ausgedacht. Da bin ich ganz stolz drauf.

Ich habe kreisförmig angeordnet, wie

die Ziffern einer Uhr, Tätigkeiten

aufgeschrieben, die mir guttun. In der Mitte

hab ich einen Zeiger gebastelt, den ich eins

weiterdrehe, wenn ich eine Tätigkeit

gemacht habe. Gerade steht er bei mir auf

‚Tagebuch schreiben‘. Wenn ich das heute

oder morgen mache, drehe ich ihn eins

weiter auf ‚malen‘. Dann ist irgendwann

demnächst ‚Malen‘ angesagt. So kommt

auch keines der Hobbys zu kurz. Das finde

ich besonders für die Dinge hilfreich, zu

denen ich mich schwer motivieren kann.

Skills aus dem sogenannten DBT Programm.

(Dialektisch Behaviorale Therapie) helfen

mir, mit sehr starken Emotionen und

Anspannungszuständen zurechtzukommen.

Skills sind alle Tätigkeiten, die helfen und

mir nicht langfristig schaden. Das kann also

auch einfach ‚Serie schauen‘ sein, einen

Stressball kneten, oder alles Mögliche. Wenn

man im Netz Skills-Liste sucht, findet man

viele Tipps und Vorschläge was einem guttun

könnte.

Ich hatte schon mehrere schwere Krisen und

jeweils auch tolle Unterstützung von

Freund*innen.

Sie haben mich zu Vorgesprächen oder in die

Rettungsstelle begleitet, mich besucht und

mir ‚verbotene Lebensmittel‘ auf die Station

geschmuggelt. Manche ließen ihr Handy

nachts laut für mich und haben mich auch

sonst mit Gesprächen unterstützt. Ich hab

das Glück tolle Freund*innen zu haben und

bin ihnen unglaublich dankbar für alles!

Credit: FaulenZa



Cripple Punk

Cripple Punk, wörtlich

„Krüppelpunk“, ist eine

soziale Bewegung, die ins

Leben gerufen wurde, um

unterschiedliche

Darstellungen von Menschen

mit Behinderungen sichtbar

zu machen, die sich nicht

nur auf ihrer

Beeinträchtigung beziehen.

Als Tyler Trewhella 2014 ein

Profil auf Tumblr eröffnete und ein Foto

von sich vor einem Diner postete, hatte

sie keine Ahnung, dass dieses Bild ihr

Vermächtnis werden würde. Das Foto

zeigt sie mit einem Stock in der Hand

und einer Zigarette im Mund, bekleidet

mit Boots, einer Jeansjacke mit

Buttons/Patches und einem Hut mit

Ohrenklappen. Auf einem kleinen

Banner über dem Bild sollte

ursprünglich „Diner Punk“ stehen, aber

sie beschloss, es in„Krüppel-Punk“ zu

ändern. Mit einem Augenzwinkern

betitelte sie den Beitrag mit „I'm

starting a movement“.

Das Posting zog eine Flut von Hassmails

nach sich. Die Reaktionen der zumeist

nichtbehinderten Nutzer*innen waren

ein perfektes Beispiel für

Behindertenfeindlichkeit. Die anonymen

Kommentator*innen waren der Ansicht,

sie hätten das Recht, Tylers Rauchen

mit der Behinderung in Verbindung zu

bringen und verurteilten sie

entsprechend. So erhielt Tyler eine

Reihe von Nachrichten, in denen

behauptet wurde, dass, wenn Tyler

„nicht rauchen würde, [sie] den Geh-

Stock nicht brauchen würde“; dass eine

Behinderung nichts sei, worauf man

stolz sein könne, oder dass eine

Bewegung, die „gesunde Menschen

ausschließt“, kein Punk sei. Trewhella

machte Screenshots von den

Nachrichten, fügte sie dem Beitrag

hinzu und schrieb: „Deshalb brauchen

wir Cripple Punk“. Andere Menschen

mit Behinderungen begannen, den

Beitrag zu rebloggen, ihre eigenen

Selfies hinzuzufügen und die Beiträge

mit Cripple Punk zu markieren. Zu

Trewhellas Überraschung war plötzlich

eine Bewegung geboren.

Als Tyler erkannte, dass sie die Leitfigur

dieser neuen Bewegung war, stellte sie

ein paar Regeln und Grundsätze auf:

„Krüppelpunk ist ausschließlich von

körperlich Behinderten für körperlich

Behinderte“, schrieb sie. „Krüppelpunk

lehnt den Mythos vom ‚guten Krüppel‘

ab. Krüppelpunk ist für den verbitterten

Krüppel, den uninspirierten Krüppel,

den rauchenden Krüppel, den

trinkenden Krüppel, den süchtigen


Cripple Punk

Krüppel, den Krüppel, der/die nicht

‚alles ausprobiert‘ hat [...] Krüppelpunk

ist kein*e Bittsteller*in für die

Nichtbehinderten.“

Im Gegensatz zu den üblichen

inspirierenden Darstellungen von

Behinderung erlaubte diese Etikette

behinderten Menschen, bitter, chaotisch

und ehrlich zu sein.

Die Fragebox in Tyler Trewhellas Blog

wurde zu einem öffentlichen Forum, in

dem die Menschen ebenso oft Witze

machten, wie sie Rat suchten.

Tyler starb 2017, ein Verlust sowohl für

alle selbsternannte Cripple Punks als

auch für die Behinderten-Community.

Aber die Bewegung/Community ist

immer noch lebendig. Nicht nur

aufgrund der Tatsache, dass einige

Menschen immer noch stolz den Namen

Cripple Punk tragen, sondern auch

aufgrund der Art und Weise, wie

Menschen mit Behinderungen in den

Jahren seither online über sich selbst

gesprochen haben.

Auch das Recht, Mobilitätshilfen ohne

Scham zu benutzen und sie als Teil des

Selbst und der eigenen Identität zu

betrachten, wird betont. Cripple Punk

bekämpft den verinnerlichten

Validismus und unterstützt voll und

ganz diejenigen, die damit für ihre

Rechte einstehen und für diese Rechte

kämpfen.

Cripple Media

Emily Flores war in ihren frühen

Teenagerjahren eine aktive Tumblr-

Nutzerin, die gerade anfing, sich eine

eigene Gemeinschaft zu suchen. Sie

erinnert sich, dass sie zum ersten Mal

auf Cripple Punk stieß, und sie hat

immer noch Screenshots von einigen

der Beiträge auf ihrem Handy. „Als ich

sah, wie unverblümt und einfach nur

krass das war, hat mich das sehr

beeindruckt“, erzählt sie. Im Jahr 2018

Emily Flores

war Emily 15 Jahre alt. Und sie war es

leid, zu erleben, dass Menschen wie sie

von nicht-behinderten Erwachsenen

nicht ernst oder wahrgenommen

wurden.

Also gründete sie mit Cripple Media 1

eine Plattform für junge Menschen mit

Behinderung, die aus ihrer eigenen

Perspektive schreiben.

Die Website veröffentlicht eine Reihe

von kulturellen Kommentaren,

persönlichen Essays, Interviews und

Lifestyle-Tipps. Zu den Beiträgen

gehören Reflexionen über Behinderung

und Körperbild,

Behindertenfeindlichkeit und

Polizeibrutalität sowie der Aufstieg von

behinderten Influencer*innen. Die

Autor*innen sind im Teenageralter oder

Anfang zwanzig, und ihre Ideen sind oft

nuanciert und gut recherchiert, ob sie

1 https://cripplemedia.com


Cripple Punk

nun über Kampfrollstühle in Dungeons

& Dragons oder das Fehlen von

behinderten Kabinettsmitgliedern in

Bidens Regierung berichten.

Cripple ist das allererste

Medienunternehmen, in dem junge

Kreative mit Behinderungen die

Sichtweise auf behinderte Menschen

verändern können – und zwar so, dass

sie ehrlicher, genauer, wirkungsvoller

und jugendlicher wird. „Wir tun dies,

indem wir Geschichten erzählen und

berichten, die von uns selbst handeln,

über Themen berichten, die uns

betreffen, Inhalte erstellen, die für uns

repräsentativ sind, und eine

Gemeinschaft fördern, die lange Zeit

ignoriert wurde.“

»Alles machte

plötzlich Sinn.«

Bevor sie den Cripple Punk für sich

entdeckte, empfand Emily oft ein

komplexes Spektrum von Gefühlen, die

sie nicht einordnen konnte. Es ärgerte

sie, zu Veranstaltungen über

Muskeldystrophie geschleppt zu

werden, wo Erwachsene ihr sagten, wie

mutig sie sei. „Ich wusste nicht, warum

ich nicht einfach glücklich sein und

dankbar sein konnte“, sagt sie. Als sie

in die High School kam, hatte sie keine

Freund*innen und spürte, dass jede

Interaktion mit anderen Menschen von

Mitleid geprägt war. Sie hatte das

Gefühl, dass ihre Betreuer*innen und

nicht sie selbst die Hauptperson in

ihrem Leben waren. Als sie über

Cripple Punk las, „ergab plötzlich alles

einen Sinn“, sagt sie, „jede Emotion, die

ich in meiner Jugend empfunden hatte,

ergab einen Sinn“.

„Das war der Zeitpunkt, an dem ich

mich als behindert identifizierte“,

erklärt Emily, „und das war der

Zeitpunkt, an dem ich anfing, wirklich

stolz auf meine Behinderung zu sein,

und anfing, stolz auf meine

Gemeinschaft zu sein.“ Sie hatte nie ein

Foto von sich selbst mit ihrem Rollstuhl

gepostet, und jetzt sah sie nicht nur

Bilder von Menschen im Rollstuhl,

sondern von Menschen im Rollstuhl, die

die Freiheit hatten, sich so darzustellen,

wie sie wollten.

Plötzlich konnte sie ihre eigene Zukunft

sehen, eine Zukunft, die sie sich nur

schwer vorstellen konnte, weil sie so

selten authentische Darstellungen von

Menschen mit Behinderungen gesehen

hatte.

Cripple Punk entstand als natürlicher

Nebeneffekt der jahrzehntelangen

Behindertenarbeit und des

Behindertenaktivismus. Das Ethos des

Cripple Punk ist jedem/jeder vertraut,

der/die die Geschichte der

Behindertenrechtsbewegung verfolgt

hat oder mit der Arbeit von

„Krüppeltheoretiker*innen“ in

Berührung gekommen ist.

Auch in Deutschland bildeten sich Mitte

der 1977er Jahr eigens sogenannte

„Krüppelgruppen“ 2 .

Anstatt in Lehrbücher verbannt zu

werden, erreichte die Krüppelpunk-

2 Krüppelgruppen, gegründet von der

Krüppelbewegung (neue Generation der

Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren),

erstmals 1977 in Bremen (von Horst Frehe und

Franz Christoph), weitere Krüppelgruppen in

Hamburg, Marburg (Krüppelinitiative Marburg,

KRIM, Anfang der 1980er Jahre) und München,

offensive Verwendung des veralteten Begriffs

„Krüppel“ als provokanter Hinweis auf die

anhaltende Stigmatisierung von Menschen mit

Behinderung als Mitleidsobjekte, reine Betroffenen-

Gruppen (ohne nichtbehinderte Funktionär*innen

oder Unterstützer*innen) nach dem Vorbild der

Frauengruppen, Entwicklung des

„Krüppelstandpunkts“, politisches Selbstverständnis

von „Behinderung“, gegen Bevormundung und

Normalitätserwartungen der Gesellschaft,

Initiierung spektakulärer und provokanter

Protestaktionen, Herausgabe der „Krüppelzeitung –

von Krüppel für Krüppel“ 1979-1985.


Cripple Punk

Philosofie junge Menschen wie Emily

Flores in einem vertrauten Umfeld und

in einer leicht verständlichen Sprache.

Für eine Reihe behinderter junger

Menschen, die einen Großteil ihrer Zeit

online verbrachten, eröffneten Accounts

wie der von Tyler Trewhella neue

Möglichkeiten zum Erlernen/Aneignen

von Behindertenaktivismus.

Erin Novakowski

Erin Novakowski, ein weiteres

Mitglied des Cripple Media-Teams 3 ,

erinnert sich ebenfalls daran, wie

behinderte Menschen in den sozialen

Medien ihre Sicht auf sich selbst und

ihr Leben verändert haben. Als

Rollstuhlfahrerin konnte sie sich nicht

vorstellen, jemals figurbetonte Kleidung

oder Röcke tragen zu können. Als sie

begann, Fotos von Menschen mit

Behinderungen zu sehen, die alle

möglichen Outfits trugen, wurde ihr

3 https://cripplemedia.com/team/erin-novakowski/

klar, dass sie nicht mit den übergroßen

Sweatshirts vorlieb nehmen musste, auf

die sie sich bisher beschränkt hatte.

Ebenso wie Emily Flores und Erin

Novakowski von der Sichtbarkeit

behinderter Menschen in den sozialen

Medien betroffen waren, geben sie dies

bei Cripple Media und im Internet an

andere weiter. Novakowski hat etwa

eine halbe Million Follower auf TikTok,

wo sie anfangs Witze über Rollstühle

machte und später alles postete, was sie

wollte. „Man bekommt eine 19-Jährige

zu sehen, die einen Rollstuhl benutzt

und einfach ihr Leben lebt und alberne

Dinge tut. Ich denke, das ist wirklich

vorteilhaft“, sagt sie.

Erin hat sich das Krüppelpunk-Prinzip

zu eigen gemacht, sich nicht an

nichtbehinderte Menschen anzupassen.

Je mehr Zeit sie auf TikTok verbracht

hat, desto klarer wurde ihr, dass sie den

Personen, die sie wegen ihrer

Behinderung beleidigen, keinen

Respekt mehr entgegenbringen sollte.

„Wenn ich auf die Posts zurückblicke,

die ich gemacht habe, als ich jünger

war, habe ich immer darauf geachtet,

dass ich sehr freundlich und respektvoll

war“, berichtet sie. Jetzt freut sie sich,

wenn sie auf ableistische Kommentare

in ihren Videos selbstbewusst reagieren

kann. Gelegentlich nutzt sie diese als

pädagogische Maßnahme. Ein anderes

Mal antwortet sie einfach mit „Ich habe

deine Mutter gefickt, du bist scheiße“.

„Es ist schwer für uns, in den Film, die

Mode oder die Mainstream-Medien

einzutauchen und uns so darstellen zu

lassen, wie wir eigentlich dargestellt

werden wollen“, sagt Erin Novakowski.

»Mit den sozialen Medien haben

wir die Kontrolle darüber, was wir

zeigen und was wir mit der Welt

teilen.«


Cripple Punk

Lauren Melissa, eine der nicht

jugendlichen Redakteurinnen bei

Cripple Media, weiß, wie wichtig es für

junge Menschen ist, diese

Möglichkeiten zu haben, sich selbst

darzustellen. „Vor allem jungen

behinderten Menschen wird vermittelt,

dass sie die Erwartungen nicht erfüllen

und dass der einzige Weg, diese

Erwartungen zu erfüllen, darin besteht,

genau das zu tun, was andere ihnen

vorschreiben“, erklärt sie. „Indem wir

ihnen diese Räume zur Verfügung

stellen, bereiten wir Jugendliche darauf

vor, für sich selbst einzutreten und

später ein selbstbestimmtes Leben zu

führen, anstatt nur von Erwachsenen zu

lernen.“

Das Internet hat mehr Möglichkeiten

für Interessenvertretung und

Aktivismus geschaffen, von

behindertengerechten Blogs, die lange

vor dem Cripple Punk entstanden, bis

hin zu Tags wie #CripTheVote und

#HighRiskCovid19. „Wir können

vielleicht aus den verschiedensten

Gründen nicht immer das Haus

verlassen. Aber das bedeutet nicht, dass

unsere Erfahrungen weniger relevant

sind oder die Rechte, die wir haben

sollten, weniger wichtig sind“, erzählt

Melissa. „Es ist sehr aufregend zu

sehen, welche Art von Arbeit behinderte

Menschen online leisten können, um

Bewusstsein, Akzeptanz und

Sichtbarkeit zu schaffen und für

Behindertengerechtigkeit zu kämpfen.

Ein Jahr vor Trewhellas Tod habe ich sie

gebeten, Cripple Punk zu definieren. Ich

denke, es ist das, was der/die einzelne

daraus macht“ findet Melissa und führt

weiter aus. „Sie berichtete mir, dass es

nicht um eine bestimmte Sache geht. Es

ist eine Gegenreaktion auf die

ableistische Gesellschaft, ein Streben

nach Selbstakzeptanz, eine

gegenkulturelle Bewegung, eine Familie

– und manchmal eine Modenschau.“

Punkshows werden oft mit den

Richtlinien ‚kein rassistisches,

klassifiziertes, sexistisches,

homophobes oder transphobes

Verhalten‘ am unteren Rand der

Showplakate oder Facebook-

Einladungen beworben, und dennoch

wird selten auf die

Behindertenfeindlichkeit innerhalb der

Community eingegangen. Körperlich

Behinderte können nicht immer an

einem Moshpit teilnehmen, weil sie

Gefahr laufen, alte Verletzungen zu

verstärken oder neue zu verursachen.

Es kann sein, dass es keinen Platz gibt,

an dem man sitzen und die Band sehen

kann, und bei kleineren DIY-Kellershows

fehlen oft Rampen oder

Treppenaufzüge.

Kulturelle Teilhabe

Greg Benedetto 4 ist ein Punk aus

Toronto, der Shows bucht und in der

Band S.H.I.T. spielt. Benedetto sagt,

dass er bei der Planung von Konzerten

„selten“ Anfragen zur Barrierefreiheit

erhält. "Die meisten Leute, die danach

fragen, fragen nach der Zugänglichkeit

einer Veranstaltung für ältere

Menschen, bevor sie nach der

physischen Zugänglichkeit fragen", sagt

er. Das liegt nicht daran, dass die

Barrierefreiheit nicht berücksichtigt

wird, sondern daran, dass nicht alle

zugänglichen Räume für bestimmte

Veranstaltungen geeignet sind. „Derzeit

gibt es in Toronto zwei barrierefreie

Veranstaltungsorte mit

geschlechtsneutralen Waschräumen –

The Garrison und D-Beatstro“, sagt er.

„Eine ganze Reihe anderer

Veranstaltungsorte, die wir nutzen

könnten wie bspw. Silver Dollar,

4 https://www.instagram.com/gregben/


Cripple Punk

Coalition, Smiling Buddha, The

Horseshoe Tavern usw. haben eine

Vielzahl von Hindernissen: Sei es eine

Treppe zum Eingang, eine Treppe zum

Waschraum usw. Je nach Größe und

Anforderungen einer Show und der

Verfügbarkeit von Räumlichkeiten

bemühen wir uns immer um einen

Veranstaltungsort, der altersgerecht

und barrierefrei ist, aber da es nur

wenige gibt, ist das nicht immer

möglich.“ 5

Die Teilhabe an einem kulturellen

Leben ist, der

Behindertenrechtskonvention 6 der

vereinten Nationen (UN-BRK) zufolge,

ein Grundrecht aller Menschen, die mit

Beeinträchtigungen in jeglichen Formen

zu kämpfen haben.

Eine barrierefreie Veranstaltung ist als

ein ganzheitliches Konzept zu

verstehen. Dies beginnt bei der

barrierefreien Informations-Beschaffung

durch Internetseiten, Flyer oder

Zeitungsartikel. Hier gilt, dass die

Informationen für alle Menschen

gleichermaßen zur Verfügung gestellt

werden sollten. Im konkreten bedeutet

dies, dass beispielsweise eine

Internetseite über Inhalte mit einfach

formulierter Sprache verfügen sollte,

um Menschen mit geistigen

Einschränkungen Informationen über

die Veranstaltung liefern zu können.

Weiterführend ist eine inklusive

Veranstaltung eine solche, die dafür

aufkommt, dass bauliche Maßnahmen

(z.B. Wege, Tribünen, Beschilderung,

Toiletten) getroffen werden, um einen

barrierefreien Zugang zu der

kulturellen Veranstaltung zu

ermöglichen (vgl. Bernatzki, et al.,

2015, S.113 ff).

5 Quelle: https://brokenpencil.com/features/up-thedisabled-punx/

6 http://www.behindertenrechtskonvention.info/

teilnahme-am-kulturellen-leben-3939/

Viele haben es schon mal gesehen: Ein

großes Konzert. Die Maßnahmen, die

bei solchen Veranstaltungen getroffen

werden, um beispielsweise Menschen

mit Rollstuhl die Teilhabe an der

Veranstaltung zu ermöglichen, sind

meist offensichtlich. Es werden

Tribünen errichtet, von denen aus

Rollstuhlfahrer die Möglichkeit haben,

das Konzert ungehindert zu sehen.

Doch genügen die bisherigen

Maßnahmen? Was muss getan werden,

um inklusive Veranstaltungen

gewährleisten zu können? Wie sieht ein

Besuch von Rollstuhlfahrer*innen in der

Realität aus?

Rollstuhl-Skater David Lebuser schreibt

in seinem Blog 7 über sein Leben als

Rollstuhl-Skater, über seine Reisen mit

Freundin Lisa und über selbstbesuchte

Konzerte.

Der passionierte Punkrocker geht oft

auf Konzerte. Er verfolgt den Ansatz,

sich nicht durch seine Behinderung

einschränken zu lassen. Wenn er auf ein

Konzert in seiner Heimatstadt

Dortmund geht, kennt er die meisten

Konzert-Clubs. Er weiß, in welchen

Clubs steile Treppen sind, oder welcher

nicht über behindertengerechten

Toiletten verfügt.

Er verfolgt die Strategie, den gestellten

Barrieren auszuweichen.

Wenn David beispielsweise einen

Konzert-Club besuchen möchte, welcher

über keine Toilette verfügt, auf die er

irgendwie kommen kann, dann geht er

im Voraus auf eine öffentliche Toilette.

Auch wenn er die momentane Lage

öfter mal als „ätzend“ empfindet, ist

ihm das Ambiente und die Musik

wichtiger, als dass der Club zu 100%

barrierefrei ist.

Wenn es durch den Veranstalter die

Möglichkeit gibt, dass David ein

Konzert auf der Tribüne erleben kann,

7 https://lisa-and-david.net


Cripple Punk

dann nimmt er diese auch wahr. Es sei

oft so, dass Veranstalter zwar eine

Rollstuhlfahrer-Tribüne hinstellen, aber

dann keinen rollstuhlfahrerfreundlichen

Weg dorthin haben. Somit habe er zwar

die Möglichkeit, ein Konzert überhaupt

sehen zu können. Dennoch fühlt er sich

auf diesen Tribünen eher abgegrenzt,

als dass er sich integriert fühlt. Er sagt,

dass dies also eher einer Exklusion

entspricht. Die meisten Probleme

entstehen aber durch die

Sicherheitskräfte. Diese sind oft nicht

geschult in dem Umgang mit Menschen,

die in einem Rollstuhl sitzen. Oftmals

werden Wege versperrt.

Sein genereller Grundgedanke in

Richtung der Vereinbarkeit von

Konzerten und Inklusion, besteht darin,

dass Securities und Türsteher – als

direktes Bindeglied zwischen

Veranstalter*in und Besucher*in – durch

Menschen mit Einschränkungen

geschult werden müssten. Nur dann

können sie es wirklich verstehen, was

es heißt, in einem Rollstuhl zu sitzen

und mit Barrieren kämpfen zu müssen.

„Es bringt nichts, wenn Menschen

eingestellt werden, die irgendwelche

Paragrafen oder Vorschriften erzählen.

Der persönliche Umgang mit den

betroffenen kommt dabei viel zu kurz“. 8

David fühlt sich meistens

frei

„Glücklich macht mich heute vor allem

das Reisen, das Skaten und dass ich

mich dadurch sehr frei fühle“, sagt

David. Das ist fast ein bisschen

komisch, findet er, denn ohne Rollstuhl

hätte er das alles gar nicht erlebt.

Trotzdem fühlt er sich auch manchmal

eingeschränkt. Allerdings dann nicht

von steilen Wegen oder

8 zitiert nach: https://inklusion.hypotheses.org/3144

Bordsteinkanten, denn die sind für ihn

weniger ein Problem. Aber wenn der

Busfahrer nur eine Person mit Rollstuhl

im Bus mitnehmen will und seine

Freundin Lisa auf den nächsten Bus

warten soll, dann wird David auch mal

wütend.

David hat 2021 seinen

sozialversicherungspflichtigen Job an

den Nagel gehängt und zusammen mit

Freundin Lisa Schmitt die Energie in

das gemeinnützige Projekt SIT’N’SKATE

gesteckt. Dieses Projekt will unter dem

Motto „Destroying Stereotypes“ mit

gängigen Klischees über

Rollstuhlfahrer*innen als hilfsbedürftige

Opfer aufräumen.

„Es ist schön sich den Themen widmen

zu können, für die man brennt, für die

man Leidenschaft und tiefe

Überzeugung hat und dennoch fällt

natürlich jede Menge Arbeit damit an,

diese Arbeit und sein Leben zu

finanzieren.“

SIT’N’SKATE ist ein gemeinnütziges

Projekt der SUPR SPORTS gGmbH und

hat die Vision die Gesellschaft

inklusiver zu gestalten und

vorherrschende Vorurteile zu zerstören.

Auf den regelmäßigen Rollstuhl Skate

Treffen steht Teilhabe und

Gemeinschaft im Vordergrund und man

lernt über die niederschwellige

Bewegungserfahrung den Rollstuhl

besser zu beherrschen. So wird man

sicherer im Alltag und tankt

Selbstbewusstsein.

Mit den Bildern von

Rollstuhlfahrer*innen im Skatepark

wollen die Projektleiter*innen

außerdem die Sicht auf behinderte

Menschen verändern. „Wir zeigen, dass

man mit dem Rollstuhl mehr machen

kann und behinderte Menschen nicht

hilflos und zu bemitleiden sind. Sie sind

individuell und bunt, wie alle anderen

Menschen auch.“



SIT’N’SKATE

Destroying Stereotypes!

Fotocredit: Anna Spindelndreier

Hallo David. Schön, dass du dich

an unserem Schwerpunktthema

beteiligst. Wie kam es zu

Gründung des SIT'N'SKATE-

Projektes, das mittlerweile ja ein

Verein ist?

SIT'N'SKATE 1 war anfangs

„nur“ eine Initiative, bzw. ein Name

für das gemeinsame Engagement von

Lisa und mir. Ich habe ja seit 2013

Angebote und Veranstaltungen zum

Rollstuhl Skaten angeboten und als

wir gemeinsam weiter gemacht haben,

haben wir SIT’N’SKATE gegründet.

Zwischenzeitlich waren wir

freiberuflich als so eine Art

Trainer*innen unterwegs, dann hatten

wir eine GbR gegründet. Da wir aber

immer eine soziale, gemeinnützige

Ausrichtung verfolgt haben, sind wir

dann mit dem Hamburger

1 https://www.sitnskate.de/

Sozialunternehmen SUPR SPORTS 2

zusammen gekommen. Dort ist

SIT’N’SKATE nun als gemeinnützig

anerkannt und kann sowohl

Ressourcen von SUPR SPORTS

bekommen, also auch in deren Sinne

sich für Inklusion allgemein in sozialen

Sport Projekten einsetzen.

„Destroying Stereotypes“ lautet

euer Motto für SIT'N'SKATE. Mit

welchen Vorurteilen warst und bist

du konfrontiert?

Als behinderter Mensch, in

meinem Fall als Rollstuhlfahrer, hat

man mit verschiedensten Vorurteilen

zu tun. Als Kern vieler Vorurteile

haben wir mal die „geringe

2 SUPR SPORTS ist ein gemeinnütziges

Sozialunternehmen, welches sich in erster Linie

an soziale Sportprojekte wendet. Es bietet eine

offene Plattform für Qualifizierung, Vernetzung

und Sichtbarkeit: https://www.suprsports.de/


SIT’N’SKATE

Erwartungshaltung“ ausgemacht. Das

bedeutet, verallgemeinert und

vereinfacht, dass, wenn jemand einen

Mensch mit Behinderung sieht, er

nicht viel von ihm und seinen Leben

erwartet. Man denkt oft erst mal daran

wie traurig das ist, wie sehr er leiden

muss und was er alles nicht kann.

Diese Annahmen haben dann oft auch

echte Diskriminierung zur Folge.

Ein Beispiel ist, wenn eine Stadt eine

Sportanlage plant, dann wird diese oft

nicht in allen Bereichen barrierefrei

geplant, weil man sich schlicht nicht

Destroying Stereotypes!

Mit Fotos und Videos 3 von

Rollstuhlfahrer*innen aus dem

Skatepark wollen wir der Gesellschaft

zeigen, dass vieles möglich ist und

man mit Behinderung ein

individuelles, aktives und tollen Leben

haben kann. Uns ist klar, dass das

nicht für jeden zutrifft, aber

andersherum leidet halt auch nicht

jeder an seiner Behinderung und das

muss den Leuten unserer Meinung

nach klar werden.

Schaubild 1: David Lebuser; Fotocredit: Anna Spindelndreier

vorstellen kann, dass behinderte

Menschen diese nutzen können. Dabei

blendet man oft dann auch aus, dass

es nicht immer nur um aktive Teilhabe

geht, sondern dass

Rollstuhlfahrer*innen ja vielleicht auch

einfach mal zuschauen wollen oder

jemand begleiten könnten. Deswegen

wollen wir vor allem hier ein

Gegengewicht setzen.

Wie gehst du mit

Stigmatisierungen um?

Ich versuche zu zeigen, dass das

Label „Behindert“ oder

„Rollstuhlfahrer“ nicht negativ belegt

ist. Außerdem versuche ich zu

sensibilisieren, z. B. wenn es um den

Sprachgebrauch zu geht. Dabei ist mir

aber wichtig keine weiteren Barrieren

aufzubauen, sondern locker und

3 https://youtu.be/Gv0JLNDuW0s


SIT’N’SKATE

flexibel zu bleiben. Ähnlich wie mit

den Vorurteilen muss man dort

natürlich aktiv dran arbeiten.

Führen diese auch mal zu

Selbstzweifel/Depressionen oder zu

mehr Ansporn, es allen zeigen zu

wollen?

Natürlich mache ich auch

sämtliche Gefühlslagen durch und bin

mal müde, mal top motiviert. Ich hatte

in den letzten Jahren oft depressive

Phasen, Schlafstörungen, Zweifel und

war oft nah am Burnout. Das kam aber

weniger durch meine Behinderung an

sich, sondern aufgrund des Workloads

und der sehr emotionalen Arbeit. Als

Aktivist und auch als SIT’N’SKATE-

Gründer bin ich ja sehr nah am Thema,

rund um die Uhr. Es gibt für mich oft

keinen Feierabend im eigentlichen

Sinne, denn ich hänge meine

Behinderung ja nicht ins Schließfach.

So kommt es oft dazu, dass sich

Freizeit und Arbeit ungesund

vermischen und es ist und bleibt

schwierig da einen Strich zu ziehen.

Am Ende ist aber natürlich jede

negative Erfahrung ein Ansporn noch

mehr für die eigenen Rechte zu

kämpfen und jeder Erfolg zahlt auf das

persönliche Wohlfinde Konto ein.

Leider gibt es halt Phasen, in denen

man das Gefühl hat, dass die

negativen Erlebnisse, wie alltägliche

Diskriminierung, Mehraufwand usw.,

überwiegen und dieses Konto kann

dadurch schnell ins Minus geraten. Ich

habe für mich zum Glück einen guten

Weg gefunden wie ich immer wieder

positive Erfahrungen sammeln kann:

skaten gehen, am besten mit

Freund*innen und dann zumindest

auch mal nicht mit der Mission

„Inklusion“, sondern einfach mit der

Mission „Gut fühlen“.

Destroying Stereotypes!

»Es gibt für mich oft keinen

Feierabend im eigentlichen Sinne,

denn ich hänge meine

Behinderung ja nicht ins

Schließfach.«

David, Lisa, ihr seid ja nicht nur

Wheelchairskate-Profis, sondern

auch Botschafter*innen der

Inklusion. Wie konkret lassen sich

denn Möglichkeiten und Methoden

für von stigmatiserungsbedrohte

Menschen bspw. im Rollstuhl in

der Praxis verbessern?

Das kann man pauschal nur

schwer beantworten. Zum Einen muss

dringend die Politik endlich reagieren

und bessere Regelungen für

Barrierefreiheit, Teilhabe und gegen

Diskriminierung definieren. Unsere

Teilhabegesetze haben den Namen im

internationalen Vergleich nicht

verdient und dienen oft nur als Schutz

nach Außen. So kann die Regierung

zeigen, dass man ja was für Menschen

mit Behinderung getan hat, weil steht

ja auf dem Gesetz. Wenn man aber

reinschaut, dann fehlen viele wichtige

Dinge, wie Barrierefreiheit in der

Privatwirtschaft bspw..

Wir sind guter Dinge, dass sich hier

nun auch was bewegt, aber der

Prozess ist viel zu langsam und wir

hängen einfach schon 30 Jahre

hinterher im Vergleich zur USA,

Schweden, UK oder Österreich.

Und dann denken wir natürlich, dass

wir selbst und andere Aktivist*innen,

gemeinnützige Projekte, vor allem

Bottom Up 4 , eine wichtige Wirkung

entfalten, Dinge auch schnell zu

verbessern.

4 Bottom-up-Projektplanung bedeutet, dass das

Team die Projektziele und die entsprechenden

Aufgaben identifiziert, die dann in verschiedene

Aktivitäten und Aufgaben unterteilt werden.


SIT’N’SKATE

Mit unseren Angeboten bspw. machen

wir Kinder und Jugendliche im

Rollstuhl fit für den Alltag und geben

ihnen auch eine große Prise Resilienz,

Selbstbewusstsein und

Selbstständigkeit mit.

Man kommt hier ab und an in ein

Dilemma, denn auf der einen Seite

finden wir, dass Staat und Gesellschaft

sich nicht auf die oft ehrenamtliche

Arbeit von engagierten Bürger*innen

ausruhen können, auf der anderen

Seite ist man aber als kleine

Organisation einfach wendiger und

schneller und kann Missstände so oft

direkt und schnell beseitigen, was

dann wieder als Best Practice für das

Großeganze dienen kann.

Wir hoffen jedenfalls, dass wir unseren

Teil dazu beitragen können, dass sich

die Situation für behinderte Menschen

in unserer Gesellschaft auch wirklich

Destroying Stereotypes!

verbessert und sind von der Wirkung

unserer Projekte auch überzeugt.

Und wie kannst du das öffentliche

Interesse für Menschen mit

Behinderungen bezogen auf

Gleichstellung, Gleichberechtigung

und Selbstbestimmung richten?

Wir versuchen sehr auf

Sichtbarkeit zu drängen, was aber

nicht einfach ist. Und auch hier gibt es

ja ein Dilemma, in dem wir uns immer

wieder finden. Denn auf der einen

Seite wollen wir zeigen wie toll und

positiv ein Leben mit Behinderung sein

kann, aber auf der anderen Seite

müssen wir auch Probleme sichtbar

machen. Denn uns bringt selbst die

größte Sichtbarkeit ja nur etwas, wenn

sich Menschen am Ende auch

hinterfragen und sich für unsere Ziele

einsetzen.

Drop_In_by_Bowlshit_Pascal_Lieleg


SIT’N’SKATE

»Der kleine Kellerschuppen

hingegen ist vielleicht nicht

optimal zugänglich und kann es

vielleicht auch nicht für alle

ermöglichen, aber sprechen hilft

und dann kann man gemeinsam

an Lösungen arbeiten – das ist

Inklusion!«

Um nun das öffentliche Interesse zu

steigern, versuchen wir über unsere

eigenen Kanäle attraktive Angebote

anzubieten, online aber auch bei

Veranstaltungen. Außerdem freuen wir

uns, wenn Magazine, Medien, TV und

Co auf uns zukommen und dem Thema

so eine Bühne geben. Besonders freue

ich mich, dass wir auch immer öfter

außerhalb der „Special Interest“

Behinderten Themen gefragt werden.

Besonders freut mich das gesteigerte

Interesse im Mainstream, aber

persönlich am allermeisten freue ich

mich über das Interesse in Punkrockund

Skateboard-Medien. Einfach weil

das die Welt ist, in der ich mich seit

jeher bewege und ich es wichtig finde,

dass wir auch innerhalb der Subkultur

wichtige und schwierige Themen

behandeln können. Vor allem, wenn

wir das nicht in unseren offenen und

auf Solidarität setzenden Szenen

schaffen, wie wollen wir das dann in

der Gesamtgesellschaft tun?

Welchen Ansatz verfolgst du

dabei?

Ich hoffe, dass wir

Mitstreiter*innen gewinnen können

und dass mehr Menschen einfach auf

Barrierefreiheit und Teilhabe achten.

Wenn Booker von Shows bei den

Destroying Stereotypes!

Venues fragen, ob der Laden denn

auch barrierefrei ist, könnte das für

uns schon einiges bewirken. Oder

wenn Veranstalter vermehrt darauf

achten, dass ihre Angebote auch

Menschen mit Behinderung anspricht,

bzw. sie direkt mit behinderten

Menschen in den Austausch gehen. Ich

jedenfalls freue mich viel mehr über

einen kleinen Kellerschuppen, der

mich fragt, ob und wie sie denn

Teilhabe ermöglichen können, als über

die Super Konzert Arena, die zwar

nach DIN-Norm barrierefrei ist, aber

in der Planung niemals mit einem

behinderten Menschen gesprochen

hat. Denn dort fühle ich mich oft

einfach an den Rand gedrängt.

Inklusiv ist es jedenfalls nicht, wenn

ich fernab von allen anderen Gästen

auf einem Balkon stehe und mein Bier

nur mithilfe von Begleitung aufgefüllt

werden kann. Der kleine

Kellerschuppen hingegen ist vielleicht

nicht optimal zugänglich und kann es

vielleicht auch nicht für alle

ermöglichen, aber sprechen hilft und

dann kann man gemeinsam an

Lösungen arbeiten – das ist Inklusion!

David, du und Lisa reisen oft und

gerne. Ein wichtiges Thema ist die

Barrierefreiheit, die dir/euch

immer wieder begegnen. Was ist

bezogen auf den Alltag in dieser

Hinsicht besonders

nervig/störend?

Beim Reisen gibt es einige

Dinge, die echt nervig sind.

Angefangen von den nicht

ebenerdigen Zügen im Fernverkehr,

der Anmeldepflicht bei der Bahn (und

ja, sie können deine Fahrt einfach

ablehnen), und dass Hotels in

Deutschland es nicht schaffen,

verlässliche Informationen zu

Barrierefreiheit online zu stellen.


SIT’N’SKATE

Und ob nun auf Reisen oder im Alltag

ist es natürlich ätzend, dass man

einfach in sehr, sehr vielen Läden,

Geschäfte, Cafés und Restaurants

nicht reinkommt. Wobei, das ist beim

Reisen sogar oftmals besser. Denn wie

schon erwähnt gibt es schon eine

ganze Reihe an Ländern, die

Barrierefreiheit besser geregelt haben.

In den USA bspw. Dort ist aber die

Hilfsmittelversorgung schlechter und

die allgemeine Gesundheitsversorgung

teurer. Dort können wir einfach in

Hotels einchecken, sogar online das

rollstuhlgerechte Zimmer buchen und

es gibt nur wenige Läden, die nicht

barrierefrei sind und kein Rollstuhlklo

haben.

»Die physische Barrierefreiheit ist

immer noch nicht politisch

geregelt!«

Eine schöne Geschichte, die ich gerne

erzähle, ist von unserer ersten

Zugfahrt in den USA. Wir sind damals

von Boston nach NYC mit dem Zug

gefahren. Da wir uns in Deutschland

immer anmelden müssen, sind wir ein

paar Tage vorher zum Bahnhof an den

Ticketschalter und fragten, was wir

tun müssten. Die Dame am

Ticketschalter schaute mich verdutzt

an und meinte: „Ticket kaufen und

rechtzeitig vor Abfahrt da sein.“

In London sind sämtliche Taxis

rollstuhlgerecht und elektrobetrieben,

sonst bekommen sie gar keine

Zulassung mehr. In Deutschland hieß

es gerade erst wieder von MOIA, es

gäbe keine barrierefreie und

elektrische Lösung, weswegen man

das auch nicht anbieten könne. Wenn

man dann recherchiert (ich kann hier

den Blog und Beiträge von Christiane

Destroying Stereotypes!

Link 5 empfehlen), erfährt man, dass

genau das gleiche auch in London

gesagt worden ist. Da aber die

Regierung klar gesagt hat, wir regeln

das und ihr müsst Lösungen schaffen,

war dies auf einmal problemlos

möglich. Auch hier muss es als einfach

den politischen Willen geben!

Die physische Barrierefreiheit ist

immer noch nicht politisch geregelt!

Nein, vor allem eben nicht in der

Privatwirtschaft. Die Gesetze in

Deutschland haben große und lange

Namen, aber dahinter sind sie oft leer.

So ist in den Gesetzen

„BehindertenGleichstellungsGesetz

(BGG), Bundesteilhabegesetzt (BTHG)

und

Barrierefreiheits(!)Stärkungs(!!!)Geset

z (BFSG) keine Barrierefreiheit

geregelt, die nicht öffentliche Gebäude

regelt. Also müssen wir unseren Kaffee

im Rathaus trinken und wann spielt

eigentlich mal eine Punkband im

Bezirksamt? Also was ich damit sagen

will ist, dass wir gerade die Orte des

täglichen Lebens barrierefrei machen

müssen, und ich weiß nicht, was

andere Menschen in ihrer Freizeit so

machen, aber ich versuche möglichst

selten in Behörden abzuhängen zu

müssen.

Rollstühle werden in Deutschland

von Ärzt*innen als Heil- und

Hilfsmittel verordnet und von den

Krankenkassen finanziert. Warum

musst du deine zum größten Teil

selbst finanzieren?

Das ist ein komplexes und

schwieriges Thema. Auf der einen

Seite bekommt man in Deutschland ja

alle notwendigen Untersuchungen und

Hilfsmittel grundsätzlich bezahlt. In

den USA bspw. nicht, dort ist

5 https://www.behindertenparkplatz.de/


SIT’N’SKATE

Behinderung oft auch ein

Armutsgrund. Wobei auch hierzulande

behinderte Menschen gerne arm

gehalten werden, sei es durch

Vermögensregulierung (wenn sie

Sozialleistungen bekommen dürfen sie

nicht sparen…) oder durch geringe

Löhne in Werkstätten. Aber zurück zu

den Hilfsmitteln. Es ist so, dass man

grundsätzlich gut finden kann und

muss, dass man hierzulande keine

teuren Rechnungen für die wirklich

wichtigen und dringend erforderlichen

Sachen befürchten muss. Aber wenn

man dann genauer hinschaut, tun sich

wieder viele Probleme auf. Auf der

einen Seite ist Inklusion und Teilhabe

am Sport in aller Munde und es ist

auch durchaus gesellschaftlich und

politisch gewollt, dass Menschen mit

Behinderung einen Zugang zu Sport

haben. Dass sie dafür aber Hilfsmittel

brauchen, dass dann wiederum nicht.

So bekommt man in Deutschland nur

unter sehr schweren Bedingungen ein

Hilfsmittel wie einen Sportrollstuhl

bezahlt. Nun kann man hier sagen,

dass die Solidargemeinschaft nicht für

die Hobbyausübung eines Einzelnen

aufkommen muss, aber gehen wir

tiefer in die Thematik, so fällt etwas

erschreckenderes auf.

Ich möchte das an zwei kurzen

Beispielen erklären:

Ein Mensch hat einen Unfall, er

bekommt einen Rollstuhl für seinen

Alltag. Dann möchte er gerne Sport

machen, damit er fit und gesund bleibt

und seinen Rollstuhl auch im Alltag

gut bewegen kann. Normalerweise

fördert die Krankenkasse ja sogar die

Sportbestrebungen ihrer

Mitglieder*innen, z. B. mit einer

Smartwatch als Prämie. Aber für

Menschen mit Behinderung sieht das

anders aus. Den Sportrollstuhl

bekommt er nicht bezahlt, mit etwas

Destroying Stereotypes!

Glück springt ein anderer

Kostenträger ein, aber das ist

hochbürokratisch und oft auch sehr

willkürlich und undurchsichtig. Dann

kauft er sich einen Sportrollstuhl,

macht Sport und wird fit und

selbstständig. Dadurch kann er nun

vielleicht wieder besser am Leben

teilhaben, arbeiten gehen und der

Gesellschaft etwas zurückgeben. Da

müsste die Krankenkasse sich freuen

oder? Nun braucht er irgendwann

einen neuen Rollstuhl für den Alltag

und bekommt den natürlich auch

wieder bezahlt. Aber weil er nun ja viel

fitter ist, bekommt er einen deutlich

schlechteren, denn das reiche ja aus,

um die Wegstrecke im sogenannten

nicht näher definierten Nahbereich zu

berollen.

Bsp. 2: Die Geschichte beginnt

gleichermaßen: Mensch, Unfall,

Rollstuhlversorgung, aber diesmal

macht er keinen Sport, lässt sich

vielleicht sogar gehen und

verschlechtert seine Situation

dadurch. Auch er braucht bald einen

neuen Rollstuhl und hier muss die

Krankenkasse nun auf einmal viel

mehr ausgeben, da er sich mit dem

alten Modell kaum noch bewegen

kann.

Es werden also Mehrausgaben

notwendig und es ist toll, dass diese

auch bezahlt werden. Aber ich glaube

fest daran, dass, wenn wir Menschen

ermutigen und unterstützen ein

aktives Leben zu führen, wir unterm

Strich mehr von haben, sowohl im

Geldtopf der Kassen, als auch als

Gesellschaft, was eh viel wichtiger ist

als Geld.

Und so bezahlte ich meine

Skaterollstühle bislang auch selbst,

wobei ich ja fairerweise erwähnen

muss, dass ich mit meinen


SIT’N’SKATE

Alltagsrollstühlen sehr viel Glück hatte

und ich gerade erst wieder eine gute

Versorgung bekommen habe.

Aber ein Handbike oder Zuggerät?

Oder eine Adaption um den Rollstuhl

ins Auto zu bekommen? Nein das

müssen sie selbst zahlen, denn damit

würde man ja aus den undefinierten

Nahbereich ausbrechen.

Worauf kommt es an, um den

Rollstuhl auf deine Bedürfnisse

anzupassen?

Grundsätzlich ist es erst mal

wichtig, dass ein Rollstuhl gut

angepasst und ausgemessen ist. Leider

sehe ich häufig viel zu breite

Rollstühle und viel zu passive. Passiv

bedeutet hier vor allem wo die Achse

ist. Ist die Achse unterm Hintern,

dreht der Rollstuhl leichter, kippt aber

auch einfacher. Viele verstehen diese

Einstellung falsch und machen den

Rollstuhl möglichst unkippbar.

Dadurch dreht der Rollstuhl aber

schwer und man kann ihn kaum über

unebene Wege oder gar Kanten

manövrieren.

Für mich persönlich sind dann noch

individuelle Dinge wichtig, wie Farbe,

Style und Akzente. Viele trauen sich

nicht Veränderungen am Rollstuhl zu

machen, aber es kann die Akzeptanz

und die Außenwirkung extrem

verbessern, wenn das Teil auch zu dir

passt.

David, gehen wir noch mal zurück,

in die Zeit, wo du nach einem Sturz

mit der Diagnose

Querschnittlähmung konfrontiert

warst. In der Folgezeit ging es dir

darum, wieder

selbständig/unabhängig zu sein.

Wie hast du dieses Ziel erreichen

können?

Destroying Stereotypes!

Nun mein Unfall war ein

drastisches Ereignis, dass mein Leben

komplett umgekrempelt hat. Die erste

Konfrontation mit der Diagnose hat

mich fertig gemacht. Auch wenn ich

mich stark gegeben habe für meine

Familie und meinen

Freund*innenkreis, so habe ich jeden

Tag in den Schlaf geheult. Den Prozess

der Verarbeitung darf man nicht

unterschätzen und er ist bei jedem

Menschen komplett anders. Ich bilde

mir ein, dass mein großes Glück die

gerade laufenden Paralympics waren.

Dadurch konnte ich mir direkt

attraktiven Sport im Rollstuhl

reinziehen, was ich zuvor nie

wahrgenommen habe und das hat

meine Akzeptanz definitiv positiv

beeinflusst, auch wenn ich nicht direkt

Juhu geschrieben habe.

In der Reha wollte ich vor allem wieder

eins: Selbstständig sein und keine Hilfe

brauchen. Dazu habe ich gelernt mit

dem Rollstuhl über Hindernisse zu

fahren, wie man auf Klo geht und man

sich umsetzt. Dass es mir sogar Spaß

gemacht hat, mein neues Gerät

auszuprobieren hat natürlich auch

geholfen und spätestens seit ich den

Skatepark für mich entdeckt habe, war

die Mobilität im Rollstuhl für mich kein

Problem. Doch ich habe noch lange auch

versucht wieder ein paar Schritte laufen

zu können. Und das ist auch völlig

normal und auch völlig okay. Ich möchte

nur gerne an alle appellieren, das

Laufen nicht immer als höchstes Gut

darzustellen, denn das macht es viel

schwieriger mit der Situation

klarzukommen. Viel wichtiger ist die

Mobilität und ob die am Ende zu Fuß

oder auf Rädern stattfindet, ist

grundsätzlich zweitrangig. Ich habe für

mich irgendwann dann entschieden,

dass der Aufwand, den ich dafür

betreibe, vielleicht irgendwann mal ein

paar Schritte gehen zu können, nicht in


SIT’N’SKATE

Relation steht, mit dem, was ich schon

als Rollstuhlfahrer kann. So habe ich

dann einfach gesagt, ich komm klar, ich

bin selbstständig und ich nutze meine

Zeit lieber zum Leben, skaten, reisen

und so weiter. Aber da muss jede*r

ihre/seine Ziele selbst definieren.

Deine ehrgeizigen Ziele führten zu

einem drohenden Burn-Out. Hast du

dich absichtlich mit Arbeit/Projekten

vollgepackt, um dich nicht mit

deiner Behinderung

auseinanderzusetzen?

Nach meinem Unfall, in der Reha,

hatte ich tatsächlich eine recht

euphorische Phase. Ich habe mir meinen

Therapieplan voll gestopft, wollte alles

mitnehmen und habe dann auch direkt

danach mit der Umschulung

angefangen, um wieder arbeiten zu

gehen. Heute wünschte ich mir

manchmal schon, ich hätte mir hin und

wieder mehr Zeit gelassen. Aber der

drohende Burnout kam erst viel später

und hatte damit nichts zu tun. Ich habe

von 2008 bis 2012 ja den Sport erst mal

nur so für mich gemacht, als Hobby, erst

2012 wurde es dann auch zu meinem

Hauptsport und löste Rollstuhlbasketball

langsam ab. Das kam durch meine erste

Teilnahme an einem Rollstuhl Skate

Contest in den USA und ich wollte dann

den Sport auch in Deutschland

bekannter machen. 2013 haben wir

damit gestartet und seit dem versuche

ich mit verschiedenen Projekten,

Vereinen und Verbänden an der Vision

einer inklusiven Skateboard Szene zu

arbeiten. Dass ich mich damit auch

schon mal zu sehr belaste, liegt aber

eher an der Wichtigkeit der Thematik

für mich selbst. Wie schon gesagt, man

legt seine Behinderung nicht zum

Feierabend ab und so stolpert man

schon mal selbst bei einem bierseligen

Punkrockkonzert in eine neue

spannende Idee, die man dann auch

umsetzen möchte. Letztes Jahr musste

Destroying Stereotypes!

ich aber die Reißleine ziehen. Ich habe

meinen Brotjob im Kindersanitätshaus

4ma3ma, der bis dato meinen

Lebensunterhalt bezahlt hat,

aufgegeben, um mehr Ressourcen

freizumachen für die Dinge, die ich mit

voller Leidenschaft und Elan

voranbringen möchte. Und wo ich eben

einen Mehrwehrt durch meine Arbeit

sehe und an die positive Wirkung

glaube. Das hat mir sehr gutgetan und

das hat auch SIT’N’SKATE sehr gut

getan. Dennoch muss ich wieder mal

aufpassen und auch mal Nein sagen,

aber eben nur um die Power für die

Dinge zu haben, die ich bereits mache.

Was sind deine/eure konkreten

Pläne für dieses Jahr?

Dieses Jahr wollen wir unsere

regelmäßigen Rollstuhl-Skate-Angebote

ausbauen. Wir haben nun neben

Hamburg und Dortmund auch Treffen in

Bremen und Hannover geplant.

Außerdem haben wir Kooperationen mit

dem DRIV, dem nationalen Skateboard

Verband, und bringen dort Skaten mit

Behinderung bis nach Italien. Mit dem

Skateboard e. V. in Hamburg sorgen wir

für inklusive Skateparks in der Stadt

und auch anderswo versuche ich

weiterhin diese Themen zu unterstützen.

Ob nun im Fachbereich WCMX 6 des

Deutschen Rollstuhl Sportverbands, bei

SUPR SPORTS, SIT’N’SKATE oder mit

anderen Vereinen. Ich bin sehr froh,

dass sich ein schlagkräftiges und

inklusives Team entwickelt, mit dem wir

gemeinsam diese Themen voranbringen

können.

6 WCMX ist ein Rollstuhlsport, bei dem im

Skatepark-Tricks gemacht werden, wie

Skateboarding oder BMX, meistens in einem

Skatepark. Erfunden wurde der Sport von Aaron

Fotheringham. In Deutschland war David Lebuser

der erste, der diesen Sport bekannt machte.



Diskurs: Handicap vs. Behinderung

Bist du

behindert oder

hast du ein

Handicap?

Immer häufiger wird das Wort

„Handicap“ benutzt, um den Begriff der

„Behinderung“ zu vermeiden. Es gab

und es gibt immer noch sehr viel

verschiedene Meinungen und Ansichten

darüber, ob und wie Menschen

beschrieben werden sollten, die nicht

der Norm entsprechen. Und genau hier

beginnt das Problem. Warum benötigen

wir überhaupt diese Begriffe, um

andere Menschen zu beschreiben? Das

Problem der (Fremd)Definition über

Menschen, die von anderen gelabelt

oder stigmatisiert werden mit einem als

negativ behafteten Begriff, den sie sich

selbst nicht ausgesucht haben.

Die Begriffe „Behinderung“ und

„Handicap“ decken ein breites

Spektrum von Menschen und Realitäten

ab. So umfassen bspw. Menschen mit

Down-Syndrom und

Querschnittsgelähmte bei weitem nicht

die gesamte Komplexität von

Behinderung ab. Es ist daher

notwendig, Behinderung in einer

anderen Weise zu definieren, wenn wir

die unterschiedlichen Realitäten

verstehen wollen, die von den

betroffenen Menschen erlebt werden.

Artikel 2 des Gesetzes vom 11. Februar

2005 über gleiche Rechte und Chancen,

Teilhabe und Staatsbürgerschaft von

Menschen mit Behinderungen bietet

eine erste Definition von Behinderung:

„Für die Zwecke dieses Gesetzes ist

eine Behinderung definiert als jede

Einschränkung der Tätigkeit oder der

Teilhabe an der Gesellschaft, die eine

Person in ihrem Umfeld infolge einer

erheblichen, dauerhaften oder

dauerhaften Beeinträchtigung einer

oder mehrerer körperlicher,


Diskurs: Handicap vs. Behinderung

sensorischer, geistiger, kognitiver oder

psychischer Funktionen, einer

Mehrfachbehinderung oder einer

behindernden Störung erleidet.“

Doch wie der Psychiater und

Arbeitsmediziner Claude Veil feststellt:

„Behinderte Menschen sind eine soziale

Gruppe mit unpräzisen Konturen“.

Die Begriffe für behinderte Menschen

haben in vielen Sprachen eine negative

Konnotation. Sei es „Les Invalides“

(vom lateinischen Wort „invalidus“ für

krank, hinfällig, kraftlos) in Frankreich,

oder „Las personas con minusvalias“

(Personen mit niedrigem Wert) in

Spanien. Auch in Deutschland sprach

man lange Zeit von den Behinderten

oder gar von Schwerbeschädigten.

Immer häufiger ist inzwischen ein

anderes Wort für Menschen mit

Behinderung zu lesen: Handicap oder

gehandicapt.

Der Ausgleich zwischen zwei

ungleichen Teilnehmer*innen – oder wie

bei Hand-in-Cap von Gegenständen –

spiegelt sich 1754 wider, als der Begriff

im Pferderennen auftaucht.1883 ging

das Wort Handicap in den allgemeinen

Sprachgebrauch über. Es steht seitdem

für die Gleichstellung zweier Personen

mit unterschiedlichem Ausgangslevel.

Erst 1915 wurde Handicap mit

Behinderung in Verbindung gebracht.

Zunächst wurden nur Kinder mit einer

körperlichen Behinderung als

handicapped bezeichnet, ehe der

Begriff in den 1950er Jahren auch für

Erwachsene und Menschen mit

Lernschwierigkeiten galt.

Heute ist Handicap als fester

Bestandteil der Alternativ-Begriffe für

Behinderung und in der Welt des Sports

zu finden. Dort wird er am häufigsten

beim Golf verwendet. Es besagt die

Differenz zwischen den benötigten

Schlägen und der Anzahl der Schläge,

die ein*e sehr gute*r Spieler*in zum

Beenden des Platzes benötigt. Handicap

bezeichnet also die Spielstärke, die

Qualität eine*r Golfspieler*in. Je höher

das Handicap, desto schlechter.

Während der Begriff „behindert“

heutzutage als Schimpfwort benutzt

wird, um andere abzuwerten, finden

Betroffene, dass der Begriff

„Behinderung“ ein Merkmal von vielen

einer Person beschreibt. Wichtig ist

ihnen nur, dass das Wort „Mensch“

mitbenutzt wird, da mit dem Begriff

Behinderte ansonsten das Bild einer

festen Gruppe entsteht, die in

Wirklichkeit vielfältig ist. Durch die

Fremddefinition „Der/die Behinderte“

würde die betroffene Person auf ein

Merkmal reduziert werden, das alle

anderen Eigenschaften dominiert.

Demgegenüber „verschwindet bei

Handicap der Mensch vollkommen und

der Fokus wird auf eine (vermeintliche)

Schwäche gelegt“, meint z. B. Jonas

Karpa und unterstützt

Formulierungsvorschläge der

Leidmedien-Community unter

leidmedien.de/begriffe.

Meiner Meinung nach sind beide

Begriffe (Behinderung und Handicap)

unangemessen. Beide Begriffe lenken

den Fokus auf ein Verhalten, ein

Merkmal, das nicht der

gesellschaftlichen Norm entspricht. Ein

Mensch mit einer Spastik etwa, der/die

im öffentlichen Leben, im Alltag zu

sehen ist, wird vielleicht von anderen

als „betrunken“ wahrgenommen, als

„Spasti“ definiert, vielleicht sogar als

„unangenehm“ empfunden, weil das

Gangbild nicht der Norm entspricht. Die

Einordnung erfolgt aufgrund

körperlicher Merkmale, Verhalten und

Sprache, die insgesamt „anders“ ist, als

üblich, als gewohnt, als dass, was

mensch sonst so kennt. Durch die

Herausbildung, der Herausstellung


Diskurs: Handicap vs. Behinderung

dieser Merkmale, beginnen wir

Menschen fremd zu definieren, zu

kategorisieren, zu stigmatisieren. Diese

Abwertung führt in der Folge zu

Ausschlüssen, Diskriminierungen und

Sanktionen. Aber ist ein Mensch, der

mit einer oder zwei Bein-Prothese(n) die

100 Meter schneller läuft, als du und

ich, überhaupt „behindert“? Ein Mensch

in einem Rollstuhl wird behindert, etwa,

wenn er/sie Barrieren vorfindet, eine

Treppe, was er/sie daran hindert in eine

Arztpraxis, in ein Geschäft zu gelangen.

Aber ist ein Mensch in einem Rollstuhl

behindert, wenn er/sie in einer

rollstuhlgerechten Wohnung selbständig

und unabhängig leben kann? Fakt ist,

wir alle machen Unterschiede. Wir

machen Unterschiede, weil wir

Menschen, Verhaltensweisen, die wir

sehen und beobachten, in unserer

Wahrnehmung bewusst und unbewusst

einordnen und dabei Kriterien

aufstellen, die wir nach unseren

eigenen Wertevorstellungen

überprüfen. Alles wird überprüft:

Mimik, Gestik, Mobilität, das Lachen,

die Sprache, die Kommunikation…und

dann entscheiden wir, ob uns jemensch

sympathisch ist, „komisch“ ist,

gleichgesinnt oder anders. Wir

bewerten und werten ab. Tag für Tag

werden im Kindergarten oder der

Schule, innerhalb des Freundeskreises

und der Familie, im Zug und der

Straßenbahn, beim Nachbarn oder im

Blumenladen, Menschen diskriminiert

und ausgeschlossen. Es wird klar

vermittelt, dass nicht jedes Leben gleich

viel Wert besitzt. Worte wie „behindert“,

„schwul“ oder „Opfer“ werden wie

selbstverständlich als Schimpfwörter

eingesetzt.

Inklusion – Exklusion

Die Gesellschaft hat einen Einfluss auf

die Entstehung einer

Behindertenidentität. Menschen mit

Behinderungen sind sowohl moralisch

als auch materiell schlecht integriert.

Sie leiden unter Diskriminierung, aber

auch unter mangelnden an ihre

Situation angepassten Infrastrukturen.

Für eine soziale und behindertenpädagogische

Lösung wird seit einigen

Jahren deshalb viel von Inklusion

gesprochen. Inklusionspädagogik hat

Hochkonjunktur.

Dabei reagieren die vorherrschenden

Konzepte einer inklusiven Pädagogik

auf die Herausforderungen der „Neuen

Sozialen Frage“ oft nach einem

bestimmten Muster: Sie wollen der

exkludierenden Gesellschaft mit

pädagogischen Mitteln begegnen, die

die Situation der Benachteiligten

verbessern sollen, die strukturellen


Diskurs: Handicap vs. Behinderung

gesellschaftlichen Bedingungen aber

unangetastet lassen. Es gibt für

Menschen mit Behinderungen immer

noch stationäre Unterbringungen, die

keine Inklusion zulassen. Ein

strukturelles Problem, wonach

Menschen „behindert“ werden, weil sie

im Rahmen ihrer persönlichen

Interessen und Rechte oft nicht frei

entscheiden dürfen wie sie leben,

wohnen, arbeiten essen und von wem

sie welche Hilfsangebote (etwa bei der

Körperpflege) in Anspruch nehmen

wollen. Mit dieser stationären

Wohnform sind Menschen mit einer

Behinderung also

abhängiger/unselbständiger als

Menschen mit einer Behinderung, die

bspw. in einer sogenannten „inklusiven

Wohngemeinschaften“ leben, wo

Menschen mit und Menschen ohne

Behinderung/Handicap zusammen unter

einem Dach leben.

Ein Blick in die entsprechenden

Gesetzestexte und Vorschriften:

„Menschen mit Behinderung müssen

gleichberechtigt die Möglichkeit haben,

ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu

entscheiden, wo und mit wem sie leben.

Sie dürfen nicht auf eine besondere

Wohnform verpflichtet sein“, besagt

Artikel 19 der UN-

Behindertenrechtskonvention, die seit

2009 auch für die Bundesrepublik gilt.

Und im Sozialgesetzbuch (SGB IX,

Paragraf 9, Absatz 3) heißt es:

„Leistungen, Dienste und Einrichtungen

lassen den Leistungsberechtigten

möglichst viel Raum zu

eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer

Lebensumstände und fördern ihre

Selbstbestimmung.“

Einfacher ausgedrückt: Menschen mit

Handicap/Behinderung sollen – soweit

möglich – frei wählen können, wo, wie

und mit wem sie wohnen. Obwohl sich

durch diese Gesetze die rechtliche

Situation für Menschen mit

Behinderung verbessert hat, fehlt es

weiterhin an geeignetem Wohnraum

und finanziellen Mitteln.

Zusammenfassung und

Fazit

Was ist der Unterschied zwischen einer

Beeinträchtigung und einer

Behinderung? Ist die gleichrangige

Aufzählung von Behinderung und

chronischer Krankheit sinnvoll?

Meiner Meinung nach geht es in den

oben ausformulierten Beispielen um

Abhängigkeiten. Meine Auffassung

deckt sich mit der in Großbritannien

bevorzugten Meinung. Dort bevorzugen

viele Brit*innen den Begriff „Menschen,

die von der Gesellschaft behindert

werden“, anstatt sich einfach auf

„behinderte Menschen“ zu beziehen,

was bedeutet, dass Behinderung von

der Gesellschaft geschaffen wird und

nicht von den Menschen, die mit ihr

leben. Menschen mit Behinderungen

verwandeln ein negatives Image, das

durch die Umkehrung der

Stigmatisierung geschaffen wurde, in

eine positive Identität. Die Ausgrenzung

aus der Gesellschaft hat für sie

Auswirkungen auf Bildung, Karriere

und Gemeinschaftsleben. Sie

beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und

kann dazu führen, dass sie ein

schlechtes Selbstbild haben, obwohl

eine Person mit einer körperlichen

Behinderung das gleiche

Bildungspotenzial und die gleichen

intellektuellen Fähigkeiten haben kann

wie eine Person ohne Behinderung.

Der Grad einer Behinderung oder eines

Handicaps ist nicht ausschlaggebend

für eine gesellschaftliche Teilhabe.

Dennoch wird dieser Grad immer dann

angewandt, um Menschen nach ihren

Fähigkeiten, Talenten usw. einzuordnen.

Das hat auch rechtliche Gründe, etwa


Diskurs: Handicap vs. Behinderung

dann, wenn du mit einem

entsprechenden Nachweis steuerliche

Vergünstigungen in Form eines

Behindertenpauschalbetrages

bekommst. Ich sehe die soziale

Komponente als wesentlich wichtiger

an. Wenn wir Menschen nicht nach

ihrem Aussehen, ihrer

Beeinträchtigung, ihrem „Merkmal“

einordnen und fremd definieren,

sondern den Grad der Abhängigkeit

bemessen, können wir konkret

Fähigkeiten/Talente stärken und

fördern. Etwa, damit ein Mensch, der

im Rollstuhl sitzt, unabhängiger von

anderen wird. Unser Anliegen sollte es

also sein, den Grad der Abhängigkeit zu

verringern. Doch zurzeit sind es immer

noch Ärzte/Ärztinnen, die den Grad der

Behinderung feststellen. Bei jedem

Verfahren wird der komplette

Gesundheitszustand der/des Patient*in

unter die Lupe genommen. Offiziell

heißt es im „Bundesministerium für

Arbeit und Soziales“ hierzu:

»Die Zielsetzung der

Anhaltspunkte bleibt

unverändert: Sie dienen den

versorgungsärztlichen

Gutachtern als Richtlinie und

Grundlage für eine

sachgerechte, einwandfreie

und bei gleichen

Sachverhalten einheitliche

Bewertung der

verschiedensten

Auswirkungen von

Gesundheitsstörungen unter

besonderer Berücksichtigung

einer sachgerechten Relation

untereinander.«

Das bedeutet nichts anderes, als dass

mensch den Gutachter*innen und

Ärzt*innen ausgeliefert ist. Wenn wir

den Fokus auf die soziale

(Un)Abhängigkeit lenken, weg von

physischer und psychischen

Merkmalen, können wir mithelfen,

gesellschaftliche Teilhabe zu fördern

und stärken, wenn wir bereit sind,

unser Abhängigkeitsverhältnis zu

anderen zu verringern. Das

Abhängigkeitsverhältnis eines

Kleinkindes ist noch sehr viel größer.

Doch nehmen wir Rücksicht auf die

Bedürfnisse, die Förderung des

prosozialen Verhaltens, stärken wir

individuell erlernbare Fähigkeiten, die

den Unabhängigkeitsprozess

voranbringen. Da sich in diesen

wechselseitigen Beziehungen

wiederholte Erfahrungen in sozialen

Interaktionen ausbilden, ist der Erwerb

von Kompetenzen, die der für alle

Beteiligten positiven Gestaltung von

Interaktionen dienlich sind, eine

wichtige Entwicklungsaufgabe. Für

mich ist es also wichtiger, die

Unabhängigkeit eines Menschen zu

fördern und stärken, als den Fokus auf

äußerlich sichtbare Merkmale zu

lenken, die lediglich dazu führen, das

eigene Wertesystem zu überprüfen und

andere Menschen auszuschließen, als

teilhaben zu lassen.

Diskussionspapier

»DU BIST WOHL BEHINDERT, ODER

WAS!?«

Begriffsklärung: Wer bin ich? Wie

bezeichne ich mich?

Projekt zur Stärkung von Identität und

Selbsthilfepotenzialen

Diese Datei herunterladen

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%20bist%20wohl%20behindert%20oder

%20was.pdf



Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener

Markus ‚Magenbitter‘ Blatz ist

39 Jahre alt, wohnt in Berlin,

zeichnet Cartoons und Comix

(bspw,. das PFF-Comic) mit

subkulturellen Themen oder

gestaltet Artworks für Bands.

Markus selbst ist auch großer

Fan von Comics und von

Punk- und Ska-Musik. Früher

war Markus auch als Bassist

in Bands aktiv, musste aber

aufhören, weil er vor 8 Jahren

am Chronischen

Erschöpfungs-Syndrom

erkrankte. Seitdem ist er stark

eingeschränkt. Markus ist

mittlerweile

Erwerbsminderungsrentner

und arbeitet nur noch wenig

als Grafiker. Wir unterhielten

uns mit Markus über die

Folgen der Krankheit und wie

er damit umzugehen gelernt

hat.

»Du merkst, da ist was absolut nicht in Ordnung mit deiner Gesundheit, aber

niemand hat eine Erklärung dafür.«

Markus, du bist ME/CFS-Betroffener.

Die Myalgische

Enzephalomyelitis/das Chronische

Fatigue-Syndrom 1 ist eine schwere

neuroimmunologische Erkrankung,

die kaum erforscht ist. Niemand

kann besser beschreiben, wie es sich

anfühlt, diese Krankheit zu haben,

als Betroffene selbst. Wann hast du

gemerkt, dass da etwas nicht

stimmt?

1 Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische

Fatigue-Syndrom ist eine schwere

neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem

hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Weltweit

sind etwa 17 Mio. Menschen betroffen. In

Deutschland sind es geschätzt bis zu 250.000,

darunter 40.000 Kinder und Jugendliche. Damit ist

ME/CFS relativ weit verbreitet. Die WHO stuft

ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein.

2014, mit 31 Jahren, war ich

plötzlich immer sehr erschöpft, auch

nach einfachsten Aktivitäten. Ich dachte

zuerst, ich wäre nur überarbeitet, aber

auch nach Erholung wurde es nicht

besser. Dazu kamen Probleme mit der

Verarbeitung von Reizen oder

Geräuschen. Der Kopf ist dann schnell

„voll“, und man kann nichts mehr

aufnehmen. Aber die Verläufe sind sehr

unterschiedlich und sehen bei jedem

Betroffenen anders aus.

Das schwierige ist, dass ME/CFS nicht im

Labor nachweisbar ist, laut Blutbild ist

man scheinbar kerngesund. Generell ist

die Krankheit zu wenig erforscht, die

Wissenschaft ist noch auf der Suche nach

dem Krankheitsmechanismus.


Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener

Nachdem ME/CFS in Gesundheitswesen

und Politik lange nicht großartig

wahrgenommen wurde, ist es jetzt als

eine häufige Spätfolge von Corona (Long

Covid/Post Covid Syndrom) endlich im

Fokus.

Wie bist du mit der Diagnose

umgegangen?

Es hat geschlagene 3 Jahre

gedauert, bis ich endlich die Diagnose

hatte, an einer von zwei Fachkliniken in

Deutschland, die sich damit auskennen.

Vorher gab ess eine Odyssee von Arzt zu

Arzt, und keiner konnte etwas finden.

Das war total surreal: Du merkst, da ist

was absolut nicht in Ordnung mit deiner

Gesundheit, aber niemand hat eine

Erklärung dafür.

Schlussendlich die Diagnose zu

bekommen, war dann eine Erleichterung,

da ich endlich wusste, was Sache war.

Wie hat dein Umfeld auf die

Symptome und die Diagnose

reagiert?

Da die Krankheit allgemein kaum

bekannt ist, gab es erst mal viele

Fragezeichen: „Hä – und was ist das

jetzt?“, also für mich viel

Erklärungsbedarf und

Überzeugungsarbeit.

„Chronisches Erschöpfungssyndrom“

klingt ein wenig nach Burn-Out oder

Herbstdepression. ME/CFS ist aber eine

schwere organische Erkrankung, die zu

starken Einschränkungen wie

Berufsunfähigkeit oder auch

Bettlägerigkeit führen kann. Das muss

man den Leuten erst mal vermitteln, und

es dauert eine Weile bis ankommt, dass

ich zum Beispiel keine 1000 m mehr

laufen kann, ohne mich zu überlasten

und hinterher davon eine Stunde

ausruhen muss.

Inzwischen haben es aber alle

einigermaßen kapiert und sind

entsprechend rücksichtsvoll, fragen mich

zum Beispiel nicht mehr, ob ich beim

Umzug helfen kann, was zu Beginn der

Erkrankung noch vorkam.

Was wünschst du dir als Betroffener

vom sozialen Umfeld im Umgang mit

der Krankheit?

Inzwischen weiß mein soziales

Umfeld ja um die Erkrankung, und dass

ich nicht lange gehen und stehen kann

und mich mal für Pausen zurückziehen

muss. Wichtig wäre halt, dass breit über

die Thematik aufgeklärt wird, damit die

Allgemeinheit weiß, dass ME/CFS

ähnlich wie Multiple Sklerose eine üble,

zur Behinderung führende Krankheit ist,

also dass die Schwere des

Krankheitsbildes anerkannt wird.

Die Krankheit ist nicht heilbar, die

Symptome können gelindert werden.

Gibt es etwas, was dir hilft, die

akuten emotionalen/psychischen

Phasen in der Bewältigung

durchzustehen?

Im Alltag komme ich gut zurecht.

Schwieriger wird es in ungewohnten

Umgebungen, zum Beispiel wenn wir mit

der Familie in Urlaub fahren. Oder wenn

ich mich überlaste und nicht an

gemeinsamen Unternehmungen

teilnehmen kann, ist es frustrierend, aber

ich kann auch nichts dagegen machen.

Im Vergleich zu anderen Betroffenen

kann ich mich schnell wieder erholen.

Solche Erschöpfungszustände dauern bei

mir nur 1–2 Tage, bei anderen schon mal

mehrere Wochen oder Monate. Ich weiß

also, dass es nur vorübergehend ist und

auch wieder bergauf geht.

Und für die Seele: Ich hab eine

Psychotherapie gemacht, um die

Situation zu verarbeiten. Das hat sehr

geholfen.


Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener

Allerdings passiert es, dass

Ärzt*innen Menschen mit komplexen

Beschwerden, für die sich mit den

klassischen Methoden keine Ursache

finden lässt, manchmal zu schnell für

psychisch krank halten. Hast du

dennoch den Eindruck, die Diagnose

ist zutreffend oder hast du öfter

daran gezweifelt?

Ja, Ärzt*innen schieben einen

schnell in die „Psycho-Ecke“, mir wurde

von meiner damaligen Hausärztin auch

eine Depression unterstellt, in einer

Reha-Klinik eine mögliche

Persönlichkeitsstörung – das ist schon

verdammt verletzend, was man da

teilweise zu hören bekommt.

Eine Weile lang war ich mir auch noch

unsicher, ob da etwas dran sein könnte.

Aber man ist ja nicht blöd und kennt

seinen Körper, ich habe mich nicht

depressiv gefühlt, sondern krank. Als ich

dann mit anderen Betroffenen Kontakt

hatte, denen es größtenteils genauso

erging, und mit einer auf ME/CFS

spezialisierten Ärztin, war ich mir sicher,

dass ich eine organische Krankheit habe

und nichts Psychisches.

Patient*innen hingegen fühlen sich

vom Arzt /der Ärztin nicht ernst

genommen, missverstanden, als

psychisch krank abgetan. Denkst du,

dass viele Ärzt*innen auch

inkompetent sind und oft keine

Ursachenforschung betrieben, im

Sinne, dir helfen zu wollen? Welche

Erfahrungen hast du diesbezüglich

gemacht?

Das trifft voll und ganz gut, habe ich

ja in der vorherigen Antwort beschrieben.

Was solche Krankheiten wie ME/CFS,

Fibromyalgie oder Reizdarmsyndrom

angeht (alle noch nicht erforscht), haben

die Herren und Damen in Weiß große

Vorurteile. Das wurde ihnen

wahrscheinlich so beigebracht, und ein

Umdenken findet trotz entsprechender

Studien und Hinweise auf organische

Ursachen dieser Krankheitsbilder nur

langsam statt. Die „5-Minuten-Medizin“

trägt halt auch dazu bei, dass Ärzt*innen

ihre Patient*innen in kurzer Zeit abfertigen

müssen, wenn ihre Praxen rentabel laufen

sollen.

Es sind natürlich nicht alle so, ich habe

auch mit sehr korrekten Mediziner*innen

zu tun gehabt, die mich ernst genommen

haben, aber die waren eher die Ausnahme.

Markus, hast du viel zum Thema

gelesen oder recherchiert, um selbst

mehr über die Krankheit zu erfahren?

Was hat dir das gebracht?

Ja, da sich die wenigsten Ärzte damit

auskennen, werden viele von uns Patienten

selbst aktiv und informieren sich durch

Broschüren von Selbsthilfe-Organisationen

oder im Internet. Ich habe sogar auf eigene

Kosten Laboruntersuchungen machen

lassen, die die Krankenkasse nicht bezahlt,

um weitere Dinge abzuklären. Das ist total

bescheuert. Eigentlich sollten ja die

Fachleute diese Arbeit machen, und nicht

wir Betroffene, aber wenn einem niemand

hilft, wird man halt selbst aktiv.

Eine prominente ME/CFS-Patientin ist

übrigens die Politikerin Marina Weisband

(früher Piraten-Partei), gerade wegen der

Ukraine oft in den Medien. Und ältere

Fußballfans kennen vielleicht noch den

ehemaligen Bundesliga-Spieler Olaf

Bodden (u. a. 1860 München). Er musste

wegen der Krankheit seine Fußballer-

Laufbahn beenden und ist heute ein

Pflegefall.

Bereits nach geringer körperlicher

oder geistiger Anstrengung sind

Begleitsymptome (Erschöpfung,

Müdigkeit) stark ausgeprägt. Wie

koordinierst/planst du Abläufe in

deinem Alltag?

Wir ME/CFS-Patient*innen müssen

unsere Energie gut einteilen, Aktivitäten

und Gehstrecken sorgfältig planen. Ich


Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener

kann nicht am Nachmittag mit meinen

Kindern auf den Spielplatz und dann

abends noch auf ein Punk-Konzert gehen,

nur eine „anstrengende“ Unternehmung

am Tag ist möglich. Dieses Fatigue-

Management nennt man „Pacing“.

Wer an CFS leidet, hat den Antrieb,

wird aber von seinem Körper daran

gehindert, wieder aktiver zu werden.

Mensch will, kann aber nicht. Da

scheint ja nur eines zu helfen: absolute

Ruhe und Untätigkeit. Auf was musst

du alles verzichten und was nervt dich

am meisten?

Stimmt, das echt furchtbar, so zum

nichts tun verurteilt sein. Ich habe mich in

meinen Comics und Zines immer gern als

gemütlichen Couch-Potato dargestellt, bin

aber in vielen Dingen recht aktiv und

fleißig. Es ist schon erschreckend, was man

alles nicht mehr machen kann: Tanzen,

Schwimmen, Sport, in einer Band sein,

wild mit meinen Kindern spielen. Aber

irgendwann gewöhnt man sich halt an

diese Untätigkeit. Es geht ja nicht anders.

Immerhin kann ich meine Ruhezeiten

nutzen, indem ich Musik und Hörbücher

höre oder TV schaue (lesen strengt leider

an und geht nur mal eine Viertelstunde

lang). Viele schwerer Betroffene können

nicht mal das, da wäre Fernsehen zu

überfordernd. Zum Beispiel helfe

manchmal einer anderen CFS-Patientin in

meiner Wohngegend, die kann gar kein

Licht mehr verarbeiten, lebt komplett in

Dunkelheit und kann nur noch sehr

eingeschränkt sprechen. Das sind dann

krass harte Zustände.

Demgegenüber bist du ein kreativer

Mensch. Arbeitest du in Zeiteinheiten

und wie langwierig kann ein Projekt

dauern, an dem du arbeitest?

Genau, wenn ich als Grafiker arbeite

und zeichne, mache ich das nur in 20-

Minuten-Einheiten und danach wieder 20

Minuten Pause. So komme ich auf etwa 2

Stunden am Tag. Daneben habe ich mit

meiner Freundin ja noch zwei Kinder.

Letztere und der Haushalt „fressen“ auch

einiges an Energie.

Ich schaffe also nur etwa 25 % vom

Arbeitstag eines gesunden Menschen. An

meinem letzten Fanzine P.F.F. Nr. 4 habe

ich 3 Jahre gesessen! Deshalb mache ich

lieber kleine Projekte. Ich hätte zwar Bock

mal wieder eine längere Comicgeschichte

zu zeichnen, aber wahrscheinlich würde

das 5 Jahre dauern. Und wer weiß, ob wir

uns dann im Atomkrieg mit Russland

befinden, oder ob durch eine Covid-

Variante „Omega“ wieder harter Lockdown

ist und alle Zeichenblöcke zu Klopapier

umfunktioniert werden müssen. So was ist

mir also leider zu langwierig. Dann lieber

hier mal ein Cartoon und da mal ein Flyer.

Was hast du für persönliche Ziele und

Wünsche?

Momentan bekomme ich nur eine

sehr kleine Erwerbsminderungsrente und

muss, so gut es geht, dazuverdienen.

Dadurch hab ich wenig Zeit für

Spaßprojekte wie Fanzines und Comics

zeichnen, das ist schade. Da gibt es noch

zwei Optionen von Behördenseite, die

meine Situation verbessern würden, das

muss ich wahrscheinlich einklagen – mal

schauen, wie das ausgeht.

Ansonsten wäre natürlich Hammer, wenn

endlich jemand ein Medikament gegen

ME/CFS entwickeln würde, und ich wieder

gesund werden könnte. Manche

Forscher*innen arbeiten daran, aber es

wird finanziell noch zu wenig gefördert.

Ansonsten danke für dein Interesse, du

hast dich ja echt schlau gemacht zur

Thematik!

Und an die Underdog-Leser*innenschaft:

checkt mal meine Comics aus:

www.Magenbitter.net

P.S. Tipp: Ihr seid krank und kein*e

Arzt/Ärztin findet etwas? Es gibt an

manchen Uni-Kliniken Zentren für seltene

oder unerkannte Krankheiten, die spielen

dann Dr. House und kriegen vielleicht raus,

wo der Schuh drückt.



Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk

Sean Gray (Bildmitte) und BIRTH (DEFECTS)

»Meine Behinderung ist meine Welt, und ich habe nie etwas

anderes gekannt.«

Sean Gray ist Betreiber und

Gründer der Website „Is This

Venue Accessible?“ 1 , die

Informationen über die

Zugänglichkeit von

Veranstaltungsorten auf der

ganzen Welt katalogisiert. Er

ist außerdem Betreiber von

Accidental Guest Recordings,

spielt in der Band Birth

(Defects) 2 und schreibt für

Presseorgane wie Pitchfork.

1 http://itvaccessible.com/

2 https://birthdefectsyouth.bandcamp.com/

Sean wuchs in der typischen Vorstadt von

Ellicott City, Maryland, auf. Mit 15 fing er

an, sich für Punk zu interessieren. Er

hatte einen Freund, der zufälligerweise

in einer Band war. Er hörte sein

Demotape in seinem Zimmer; schließlich

lud er ihn zu einem Konzert ein, auf dem

er selbst pielte. Der Gig war in einer

alten Kirche, die sich freitags in einen

Treffpunkt verwandelte. Sean hatte über

diese Art von DIY-Konzerten gelesen, sie

aber nie selbst erlebt. Wie viele andere

Jugendliche war er immer nur in große


Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk

Arenen gewesen. Die Vorstellung, dass

man selbst eine Show veranstalten

könnte – und dass die Leute dann auch

kommen würden – schien unwirklich.

Sein Vater setzte ihn an der Location ab.

Als Sean draußen stand, nahm er alles in

sich auf: Die Leute, die vor dem

Veranstaltungsort standen; die Bands, die

ausluden. Es fühlte sich anders, im Sinne

von besonders, an. Er wusste sofort, dass

dies etwas war, an dem er teilnehmen

wollte. Er kannte hier eigentlich

niemanden, und seine Freunde waren

schon drinnen. Sean hörte, wie die Band

anfing und machte sich auf den Weg zum

Eingang. Drinnen schaute er nach oben.

Er konnte nicht in den Konzertraum. Bis

dorthin gab es drei Stockwerke mit

Treppen.

Diagnose CP

Sean hat Cerebralparese, oder was man

gemeinhin als CP bezeichnet. Einfach

ausgedrückt, ist CP eine Art

Hirnschaden, der alles beeinträchtigen

kann, vom Gehen bis zum Sprechen. Es

wird angenommen, dass er wie viele

andere bei der Geburt CP entwickelt

habe. Als er etwa zwei oder drei Jahre alt

war, bemerkten seine Eltern und Ärzte,

dass er bestimmte für sein Alter typische

Entwicklungsschritte nicht vollzog, und

nach einigen Tests wurde er mit CP

diagnostiziert. In der Folge sind seine

Gehfähigkeit und motorische Fähigkeiten

beeinträchtigt. Im Alter von vier Jahren

benutzte er zum ersten Mal eine

Gehhilfe. Wie viele Menschen mit einer

Behinderung lernte Sean, sich an die

Welt um ihn herum anzupassen, auch

wenn es nicht wirklich viel „Anpassung“

gab. Diese Behinderung war seine Welt,

und er hat nie etwas anderes gekannt.

Einsamkeit und

Abgrenzung

Sean besuchte eine öffentliche Schule. Er

wurde in jungen Jahren eingeschult und

konnte mit Gleichaltrigen zusammen

aufwachsen. Für manche Menschen kann

das Aufwachsen mit einer Behinderung

extreme Einsamkeit oder die Abgrenzung

von der Gemeinschaft bedeuten. Sean

habe das zum Glück nie so empfunden.

Er war nicht so aktiv wie die meisten

nicht behinderten Kinder, aber im Großen

und Ganzen musste er sich auch nie

damit auseinandersetzen, der „Andere“

zu sein.

Sean goes PUNK

Sein Vater hatte eine riesige

Plattensammlung und sorgte dafür, dass

Sean das mitbekam. Im Alter von sechs

Jahren zeigte er ihm alles von den

RAMONES bis zu YES. Mit acht Jahren


Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk

kaufte Seans Vater ihm die erste richtige

Stereoanlage, die Schallplatten abspielen

konnte und zwei Kassettenspieler hatte,

damit er Tapes überspielen konnte. Sean

fing an, Mixtapes zu machen.

Als Teenager fing er an, sich für Punk zu

interessieren und hing in dem örtlichen

Plattenladen herum. Er hatte das Gefühl,

Teil von etwas zu sein, aber tief im

Inneren wusste er, dass er das große

Ganze nicht sah. Es gab Dinge, die er

vermisste. Die meisten seiner

Highschool-

Freunde

hatten keine

Ahnung,

warum er in

der

Mittagspause

über Black

Flag, Flipper,

Huggy Bear

oder Merzbow

sprach. Er

machte Mix-

Tapes für

seine Freunde,

aber kaum

jemand konnte damit was anfangen.

Glücklicherweise war sein einziger

richtiger Freund in einer Punkband und

sorgte dafür, dass Sean über alles

Bescheid wusste, was sie veranstalteten –

vor allem über ihre DIY-Shows. Bei dieser

oben erwähnten Kirchenveranstaltung

hatte Sean das Gefühl, dass er nichts tun

konnte. Die drei Treppen schienen

aussichtslos, und alle außer ihm waren

im Saal. Draußen standen ein paar Punk-

Kids, aber Sean hatte zu viel Angst, sie

um Hilfe beim Treppensteigen zu bitten.

In diesem Alter war es ihm peinlich, um

Hilfe zu bitten. Er wollte andere Leute

nicht belasten. So hörte Sean den

größten Teil des Auftritts seines

Freundes, ohne im Saal zu sein.

Irgendwann saß er draußen, als diese

beiden Punk-Kids vorbeikamen und

sagten: „Wow, eine Gehhilfe, was zum

Teufel macht die hier?“ Sean tat so, als

würde er sie ignorieren, konnte es aber

nicht mehr ertragen. Schließlich rief er

seinen Vater an, damit er ihn abholen

kommt.

Zuerst war er traurig, dass er die Band

seines

Freundes nicht

sehen konnte.

Aber das

anfängliche

Gefühl der

Begeisterung

für Punk und

DIY war immer

noch da, und

er wusste, dass

er einen Weg

finden würde,

sich aktiv zu

beteiligen.

Damals sagte

ich zu sich: ‚Wenn ich nicht zu den

Leuten gehen kann, werde ich die Leute

dazu bringen, zu mir zu kommen.‘

Sean begann, sich intensiver mit der

Punk- und DIY-Kultur zu beschäftigen. Er

las Zines und interessierte sich für

Labelarbeit. Das war etwas, das er

wollte, und er wusste, dass er so etwas

schaffen könnte, um seine eigenen

Erfahrungen mit Punk und DIY zu

machen.

Bald darauf fing Sean an, Shows in

Lokalen in Baltimore zu buchen, in denen

Bands seines neu gegründeten Labels


Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk

auftraten; jedes Lokal hatte eine Treppe.

Sean versuchte, barrierefreie

Veranstaltungsorte zu finden, aber es gab

nicht viele. Der Charm City Art Space,

ein kollektiv geführter DIY-

Veranstaltungsort, der bis heute existiert,

war einer der wenigen Orte. Obwohl es

ihm um Inklusion ging, befand sich der

Veranstaltungsort in einem Keller mit

einem Geländer, das nicht sehr stabil war.

Sean hatte sich damit abgefunden. Wenn

er einen nicht barrierefreien

Veranstaltungsort buchen musste, hatte

er immer Freund*innen, die ihm helfen

würden, wenn es nötig war. Zumindest

hatte er sich das eingeredet. Aber am

Ende war da immer noch ein Gefühl des

Schmerzes; es war verletzend, jemanden

bitten zu müssen, ihm zu helfen, seine

Zeit für ihn zu vergeuden. „Das ist halt

mein Leben“, dachte Sean. „Ich muss

einfach damit klarkommen.“ Da er sein

eigenes Label hatte und die Auftritte

selbst buchen konnte, hatte Sean das

Gefühl, die Kontrolle zu haben.

Behindertenfeindlichkeit

Das soll nicht heißen, dass alles in

Ordnung war. Im Punk geht es um

Außenseiter*innen, die durch ihre

Unterschiede vereint sein können. Aber

so hat es sich für Sean nicht immer

angefühlt. „Auf Konzerten starrten mich

die Leute immer noch an. Oft konnte ich

den Veranstaltungsort betreten und

trotzdem nichts sehen, weil gemosht oder

gedrängelt wurde oder die Räume zu eng

waren. Ich hatte Angst, dass meine

Gehhilfe jemandem in die Quere kommen

könnte, und ich hatte stets das Gefühl,

nur eine Last für andere zu sein. An

vielen Orten gab es keine Bühnen, sodass

ich nicht einfach irgendwo an der Seite

stehen konnte. Manchmal, wenn ich für

die Band eines Freundes arbeitete und

Merch verkaufte, spielten die Leute mit

meiner Gehhilfe, als wäre sie ein

Spielzeug. Manchmal habe ich sie darauf

angesprochen und ihnen gesagt, dass sie

mir gehört, aber manchmal habe ich es

einfach ignoriert und es auf sich beruhen


Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk

lassen. Selbst wenn ich Kommentare

losließ, tat es innerlich weh. Es war eine

schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich

anders war. Ich habe mich oft

zurückgehalten, weil ich keinen Ärger

machen wollte. Und ich hatte das Gefühl,

dass ich die einzige Person war, die diese

Probleme hatte. Durch mein Schweigen

hatte ich fast das Gefühl, dass ich mich in

gewisser Weise dem

Behindertenfeindlichkeitsdenken

anpasste. Dass ich mich genauso wie die

Behinderten sehen wollte und meine

Behinderung in der nichtbehinderten

Umgebung um mich herum fast

verleugnete.“

DIY und Inklusion

Viele Leute denken, dass Seans

Geschichte eine Erfolgsgeschichte ist,

weil er weitestgehend unabhängig und

mobil ist, viel unterwegs ist, etwas

unternimmt und aktiv ist. Oft hat er

jedoch auf Veranstaltungen von Leuten,

die er nicht kennt, zu hören bekommen,

wie toll es ist, dass er sich als Mensch mit

Behinderung geoutet hat, und dass es

ihm scheißegal sei, was die Leute

denken. „Zuerst fühlte es sich gut an,

diese Kommentare zu hören, aber

irgendwann merkte ich, dass es genauso

weh tat, wie, wenn sich die Leute über

meinen Rollator lustig machten. Selbst

jetzt habe ich manchmal noch das Gefühl,

dass ich wegen meiner Behinderung wie

ein Kind behandelt werde, dass

bemitleidet wird.“

Je älter Sean wird, desto mehr wurde ihm

bewusst, wie viel Glück er hat, dass er

Punk und DIY für sich entdeckt hat,

Gutes und Schlechtes erleben darf. „Mir

ist auch klar, dass ich, wenn ich schon

das Privileg habe, etwas anderes zu

erleben, zumindest versuchen sollte, den

mangelnden Diskurs über Behinderungen

in unserer Community anzusprechen.

Wenn jemand körperlich nicht zu einer

Show gehen kann, entsteht ein Gefühl

der Ablehnung.“

Dass die DIY-Community so sehr auf

Inklusion setzt, macht dies obsolet. Das

liegt auch daran, dass Sean ein positiv

denkender Mensch ist und zunächst

vordergründig alle möglichen Vorteile

sieht, aber:„Zuerst dachte ich, dass

meine Behinderung keine große Sache

sei, weil sie nicht beachtet wurde, aber

mit der Zeit habe ich gemerkt, dass

niemand etwas sagt, weil es nicht ‚ihr

Problem‘ ist, oder weil sie mein Handicap

vielleicht nicht sehen wollen.“

Es hat den Anschein, dass Menschen mit

Behinderungen nicht ernst genommen

werden, weil das Thema Behinderung

nicht zu den Top-Themen gehört – nicht

nur in den Mainstream-Medien, sondern

auch in der DIY-Blase. Viele glauben

vielleicht, dass sich die Verhältnisse für

Menschen mit Behinderungen

normalisiert haben, seit es den

Americans with Disabilities Act 3 und

3 Der Americans with Disabilities Act (ADA) wurde

1990 in Kraft gesetzt. Das ADA ist ein

Bürgerrechtsgesetz, das die Diskriminierung von

Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des

öffentlichen Lebens verbietet, darunter Arbeitsplätze,

Schulen, Verkehrsmittel und alle öffentlichen und

privaten Orte, die der Öffentlichkeit zugänglich sind.

Mit diesem Gesetz soll sichergestellt werden, dass

Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte

und Möglichkeiten haben wie alle anderen. Das ADA

gewährt Menschen mit Behinderungen den gleichen

Schutz wie Menschen, die aufgrund ihrer Rasse,

Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer nationalen

Herkunft, ihres Alters oder ihrer Religion

benachteiligt sind. Es garantiert die

Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen

in öffentlichen Unterkünften, bei der Beschäftigung,


Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk

andere Richtlinien gibt, aber das ist bei

weitem nicht der Fall.

Sean weiß, dass es für die meisten

Locations fast unmöglich ist, die Räume

optimal für alle zugänglich zu machen.

Aber es gibt andere Möglichkeiten,

Räume zu schaffen, die für Menschen mit

Behinderungen besser zugänglich sind.

„Ich habe an einigen Orten Schilder

gesehen, auf denen steht: ‚Wenn Sie Hilfe

brauchen, um in den Veranstaltungsort

zu gelangen, fragen Sie die Person an der

Tür‘, was ein guter Anfang ist – obwohl

wir verstehen müssen, dass es für viele

Menschen mit Behinderungen

Überwindung kostet, um Hilfe zu bitten.“

Und Sean hat auch eine Bitte, wie

Veranstalter*innen Situationen

verbessern können. Wenn

Veranstalter*innen das nächste Mal eine

Spendensammlung für den

Veranstaltungsort machen, könnten diese

prüfen, ob sie mit dem Geld bessere

Geländer installieren können. Und: Wenn

Leute eine Veranstaltung buchen, könnte

auf dem Flyer und/oder auf der

Facebook-Einladung angegeben werden,

ob der Veranstaltungsort barrierefrei ist

oder nicht. Das wäre schon mal ein

Anfang und eine große Hilfe, die auch die

solidarische Unterstützung aufzeigen

kann, die Nicht-Behinderte Behinderte

Menschen entgegenbringen.

„Ich weiß, dass meine Erfahrungen durch

meine eigene Perspektive und mein

Privileg geprägt sind“, erzählt Sean.

Behinderung ist ein Spektrum und jede*r

erlebt Behinderung und die damit

einhergehende erlebte Diskriminierung

anders.“

Raus aus der Tabuzone

Das Tabuisieren von Behinderungen geht

weit über die Veranstaltungsorte hinaus,

dabei gebe es so viel mehr zu

diskutieren. „Wir müssen unsere eigenen

DIY-Gemeinschaften in den Fokus

nehmen und uns konkret äußern, um

Situationen/Verhältnisse zu verbessern,

was nicht nur für Veranstaltungsorte gilt,

sondern auch was für die Inklusion in

Werkstätten, Plattenläden usw. getan

werden kann. Musik und Kunst sind von

Natur aus sozial, und wenn wir nicht

versuchen, alle einzubeziehen, schadet

das nicht nur der

Behindertengemeinschaft, sondern auch

jeder anderen Gemeinschaft. Meine

Stimme ist eine von vielen. Es ist an der

Zeit, einen ernsthaften Dialog zu führen,

denn das, was mir als Fünfzehnjährigem

passiert ist, kommt öfter vor, als man

denkt.“

»Mir ist auch klar, dass ich, wenn ich

schon das Privileg habe, etwas

anderes zu erleben, zumindest

versuchen sollte, den mangelnden

Diskurs über Behinderungen in

unserer Community anzusprechen.

Wenn jemand körperlich nicht zu

einer Show gehen kann, entsteht ein

Gefühl der Ablehnung.«

im Verkehr, bei staatlichen und kommunalen

Dienstleistungen und in der Telekommunikation. Das

ADA ist in fünf Titel (oder Abschnitte) unterteilt, die

sich auf verschiedene Bereiche des öffentlichen

Lebens beziehen.



Punkrock und Behinderung: Image

und Teil einer verkrüppelten

Subkultur

Ian Dury

Dieser Artikel

befasst sich mit

Punk und

Behinderung, und

zwar speziell in der

Verortung in der

(Post)Subkultur. Er

zielt darauf ab,

unser Verständnis

sowohl von Punk

selbst als auch von

der Subkulturtheorie

zu erweitern. An

Beispielen wie Ian

Dury, Johnny Rotten,

PKN verdeutlichen

wir Aspekte von

Selbstermächtigung

und Aktionsfelder

von Musikern mit

Behinderungen, die

damit Behinderung

enttabuisieren

und/oder sich

hieraus ein Image

gebastelt haben, um

zu provozieren.

Behinderung ist eines der

grundlegendsten – und doch eines der

am wenigsten erforschten –

Forschungsfelder des Punk-Milieus.

Wir sollten anerkennen, dass

Andersartigkeit und Authentizität in

einigen populären Musikformen

privilegierte Kategorien sind. Es ist

richtig, dass Punk in den Anfangstagen

eine exotische Außenseiter-Subkultur

war, aber wir sollten ihn trotz seiner

Privilegierung von Modi der

Unartikularität nicht allzu sehr

reduzieren oder abtun. Für einige


behinderte Menschen bot und bietet

Punk Teilhabe durch Ausdruck,

Ermächtigung, Sichtbarkeit, Humor und

Attitüde, und das alles in einem Akt der

soziokulturellen Befreiung.

Als Punk gefährlich war

Punk war in der Anfangszeit

gesellschaftlich sehr umstritten, und eine

Zeit lang war es sogar gefährlich, sich als

Punk zu „outen“ und dazuzugehören.

Gewalttätige, körperliche

Auseinandersetzungen waren an der

Tagesordnung. Nicht jeder behinderte

Jugendliche wollte die eigene

Entfremdung in den Vordergrund stellen

oder die Abneigung oder das Unbehagen,

das man durch das Punk-Sein erzeugte,

noch verstärken. Punk und die

Radikalität, die nonkonforme Attitüde

und Kleidung in Verbindung mit der

Zurschaustellung der abweichenden

Identität, einfach die gesellschaftliche

Ablehnung gegenüber Punk, schreckte

behinderte Jugendliche ab, „Punk“ zu

sein.

Ian Dury 1 drückt einen gewissen Wunsch

nach Konformität als einen Weg für

einige Menschen mit Behinderungen aus,

auch wenn er im selben Song andeutet,

dass dies eine Verleugnung der eigenen

Identität bedeutet:

„I want to be normal in body and soul /

And normal in thought word and deed

And everyone here will whistle and cheer /

And be happy to see me succeed.“

(„Hey, Hey, Take Me Away“ von Ian Dury &

The Blockheads)

1 Ian Dury wurde am 12. Mai 1942 im britischen

Upminster in Essex geboren. Mit sieben Jahren

erkrankt der Sänger, Songschreiber und Schauspieler

an Kinderlähmung. Die zurück bleibende

Behinderung begleitet ihn Zeit seines Lebens.

Obwohl körperlich gehandicapt, lässt sich der junge

Ian nicht unterkriegen und versucht, das Beste aus

seiner Situation zu machen. Als Ian Dury & The

Blockheads erscheint 1977 das Album “New Boots

And Panties" und entwickelt sich zu einem großen

Erfolg. Am 27. März 2000 verstirbt Ian Dury im Alter

von 57 Jahren an Krebs.

Welche Beziehung besteht zwischen

Subkulturen, Musik und Behinderung?

Das, was wir ‚Behinderung‘ nennen, hat

das Potenzial, unser gewohntes Denken

über Individualität, Normalität

herauszufordern. Die Hippies der 60er

Jahre labelten sich mitunter als „Freaks“

und haben die gesellschaftliche Annahme

für sich ausgenutzt, dass Freaks die

„Normalität“ des Mainstreams aufgrund

ihrer wahrgenommenen (visuellen)

Differenz bedrohen. Die Verwendung der

Bezeichnung „Freak“ durch die

Gegenkultur diente den Interessen der

Außenseiter*innen, indem sie Freakigkeit

auf subtile Weise mit Andersartigkeit und

sozialer Unanständigkeit gleichsetzte.

Diese selbst gemachte Abwertung

vermengte Differenz, Abweichung und

Behinderung, indem sie das Etikett aus

früheren Definitionen von Freakigkeit als

„angeboren“ ableitet. Die Entstehung

einer „Freak-Kultur“ in den 1960er

Jahren spielte mit Ängsten vor

erworbenen Beeinträchtigungen, denn es

wurde postuliert, dass jeder durch die

Übernahme radikaler Einstellungen zu

einem gegenkulturellen Freak werden

könne, so wie jeder Mensch potenziell

jederzeit eine Beeinträchtigung

erwerben könne.

Freak-Kultur

Aus der Gegenkultur heraus können wir

im Frühwerk von jemandem wie Neil

Young, von den Buffalo Springfield-Songs

an, eine Auseinandersetzung mit den

Erfahrungen von Behinderung erkennen.

Songs wie „Nowadays Clancy can't even

sing“ thematisieren Multiple Sklerose,

„Expecting to fly“ und „Mr Soul“

Epilepsie. Doch die „Freaks“ und Hippies

der Woodstock-Generation waren Kids

der Middle Class, gesund, sexuell

attraktiv, jung, privilegiert, mobil. Wegen

der Übereinstimmung zwischen der

„Freak-Kultur“ als Gegenkultur und der

Gegenkultur als Freak-Show galt die

befreiende Identitätspolitik als


Schlüsselelement der Gegenkultur, die

ihrerseits die Behindertenbewegung

maßgeblich mitgestalten sollte.

Geschmackloseste Platte

aller Zeiten

The Elastic Band

The Elastic Band hatte nicht wirklich die

Möglichkeit, ihren Song „Spazz“

öffentlich zu spielen. Nach der

Veröffentlichung von ‚Spazz‘ im Jahre

1967 auf ATCO sah es zunächst ganz gut

aus für die Band. „Etwa zur gleichen Zeit

bereitete unser Manager eine Reise nach

Europa vor, um die Veröffentlichung bei

EMI's Stateside Label zu promoten. Ein

paar Tage später wurde uns geraten,

nicht nach Europa zu reisen, weil es dort

gefährlich wäre, weil die Leute dachten,

dass ‚Spazz‘ sich über geistig

Zurückgebliebene lustig machte. Die

Leute drohten, uns zu steinigen, als wir

aus dem Flugzeug stiegen.“ 2

„You're walkin down the street

You keep missin your feet

But you never find a place to go

Never find a place to go until someday

Man, you never even knew what hit ya

2 Zitiert in Paterson 2007

I said what hit ya was the back of your

hand

That's right

Uh huh

I said get off of the street

Get off of the street, boy

People gonna think, yes they're gonna

think

People gonna people gonna think you're

SPAZZ!“

(„Spazz“/ „Spasti“ von THE ELASTIC BAND;

1967)

‚Spazz‘ wurde als „eine der

geschmacklosesten Platten aller Zeiten“

bezeichnet. Der Song wurde zunächst

von Radiosendern verboten und bei der

Erstveröffentlichung im Jahr 1967 mitten

im Stream abgesetzt. Damals

entschuldigte sich der DJ sogar bei

seinen Zuhörer*innen für das Spielen die

Aufnahme. ‚Spazz‘ repräsentiert mit

Refrain und dem Songtitel eine

abwertende und konfrontative Version

der öffentlichen Erfahrung von

Behinderung. Außerdem bezieht sich der

Text wohl auf die psychoaktive,

narkotische Erfahrung der Gegenkultur.

Die stimmliche Qualität des Sängers

David Cortopassi wird vom

Musikjournalisten Peter Lindblad in der

Sprache der Beeinträchtigung

beschrieben: „Er nuschelt

unzusammenhängend, als ob er

betrunken umkippt oder in irgendeiner

Weise hirngeschädigt ist(...)verstümmelt,

kaum zu verstehen(...)Schaum vor dem

Mund.“ 3 Tatsächlich ähneln die ersten

Klänge der Single, bevor die Musik

einsetzt, Fragmente einer

unverständlichen Stimme, die einer

Person mit Sprachbehinderung gleicht.

„Ich gebe es nur ungern zu, aber das bin

nur ich, der ein bisschen inkohärent

klingt“, erklärte Cortopassi Jahrzehnte

später. 4

3 Lindblad 2009

4 Zitiert in Paterson 2007


Und in der Tat war die

Unartikulierbarkeit Teil der neuen Szene.

In den Vereinigten Staaten manifestierte

sich dies in Richard Hell und den

Voidoids, die „Blank generation“ sangen -

im Gegensatz zur gegenkulturellen Beat

Generation der 1950er und 1960er Jahre

- so ausdruckslos, dass Hell in einigen

Refrains das Wort „blank" einfach

wegließ und damit im wahrsten Sinne

des Wortes (sic!) stillschweigend eine

Aussage über die (Nicht-)Identität

machte: „Blank generation / --

generation“.

Musikalisch galt ‚Spazz‘ als ein Vorläufer

der Blank Generation 5 des New Yorker

Proto-Punk Mitte der 1970er Jahr, in der

sich eine weniger ruhige, konfrontativere

und subkulturell spektakuläre „Freak-

Kultur“ herauszubilden begann, eine

Kultur des körperlichen Exzesses, der

Wut und des Verhaltens, die zu, von und

mit bestimmten Teilen der (jungen)

Behinderten sprach.

In Großbritannien hieß die dritte Single

der Sex Pistols ‚Pretty vacant‘, mit dem

5 Der Begriff Blank Generation ist angelehnt an das

Debüt-Studioalbum der amerikanischen Punkrock-

Band Richard Hell and the Voidoids aus dem Jahr

1977 (SIRE Records). ‘Blank Generation’ war das

Sittengemälde einer untergegangenen Zivilisation.

Man war fertig mit der bürgerlichen Welt, ohne jede

Bereitschaft, sich an einer solchen zu beteiligen oder

gar eine neue zu erbauen. Geschweige denn, darüber

in einen Diskurs zu treten. Richard Hell beschreibt

mit dem Begriff und dem Albumtitel eine

drogengeschwängerte, fatalistische Subkultur, die vor

allem eines nicht sein wollte: integrativ.

Refrain „We're so pretty, oh so pretty,

vacant“ und dem Ende „And we don't

caa-aare!“

Natürlich waren dies alles recht clevere,

sogar eindeutige Aussagen: Richard

Hells stummer Widerspruch und ein Weg

für Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten,

den öffentlichen Mediendiskurs zu

umgehen, indem er wiederholt vacant

wie das Tabuwort ‚cunt‘ artikulierte:

„vay-CUNT“.

Anti-Ästhethik

Dave Calvert schreibt über die „Anti-

Ästhetik“ des Punk und seine

Anziehungskraft auf Behinderte (in

einem Kontext auf Menschen mit

Lernschwierigkeiten):

„Die Theatralität des Punk bietet weitere

Möglichkeiten, über die sozial

marginalisierte Position von Menschen

mit Lernbehinderungen nachzudenken

und auf sie zu reagieren, nicht zuletzt

deshalb, weil in dieser besonderen

Antiästhetik bereits ein Eindruck von der

Identität von Lernbehinderten vermittelt

wurde.“ 6

Hit me...

Im Laufe seiner zeitweise erfolgreichen

Karriere schrieb Ian Dury die Texte zu

etwa zwanzig Liedern, die sich in

irgendeiner Weise mit dem Thema

Behinderung befassten oder darauf

Bezug nahmen. Darunter Hitsingles wie

„What a waste“ (1978) und „Hit me with

your rhythm stick“ (1979). Als er auf dem

Höhepunkt seiner Popularität 1979

gegen den Rat seiner Plattenfirma ein T-

Shirt für das Video zu seiner einzigen

britischen Nr.-1-Single „Hit me with your

rhythm stick“ trug, war das ein großer

Erfolg. Das Shirt entblößte die schlaffe

Muskulatur seines linken Arms. Seine

körperliche Andersartigkeit war

daraufhin landauf, landab auf den

Fernsehbildschirmen zu sehen. Im

darauffolgenden Jahr, 1980, nahm er

6 Calvert 2010, 518-519


„Hey, hey, take me away“ auf, ein recht

eindeutiger Song über das Leben in

einem Internat für behinderte Kinder, mit

einem kraftvollen, direkten Klagen und

einer Wut, die von sexuellem Missbrauch,

institutioneller Gewalt und

Selbstverachtung erzählt:

»(...)I want to be normal in body and soul

And normal in thought, word and in deed

And everyone here will whistle and cheer

And be happy to see me succeed(…)«

Dies belegt seine kompromisslose

Bereitschaft, die Beeinträchtigung als

das zu benennen, was sie ist, indem er

seinen Blick auf die Schwierigkeiten und

Nachteile des Krüppeldaseins richtete.

Am deutlichsten wird dieser Blick in oben

erwähntem Song, in dem Ian seine

eigenen Erinnerungen an die

Heimunterbringung in der Kindheit

verarbeitet. Im darauf folgenden Jahr,

anlässlich des UN-Jahres der

Behinderten 1981, veröffentlichte Dury

seinen direktesten Protestsong

„Spasticus Autisticus“, dessen

Entstehungsgeschichte in der

Pressemitteilung zur Single beschrieben

wird.

„Ich dachte mir den Namen einer Band

aus, die sich Spastic and the Autistics

nannte, deren Bandmitglieder entweder

aus psychiatrischen Kliniken oder aus

wirklich grausam kranken Orten

rekrutiert wurden, und wir brachten es

in Gang.“

Daraus wurde eher ein Lied als eine

Band, eine skandierende Reklamation

des damals alltäglichen Begriffs der

Ablehnung und Beleidigung, „Spastiker“,

mit einer nachhallenden Coda, die an die

Massenidentifikation „I'm Spartacus!“

am Ende von Stanley Kubricks Filmepos

Spartacus von 1960 erinnerte: „I'm

Spasticus!“. Es überrascht vielleicht

nicht, dass die Single von einigen der

damals führenden britischen

Behindertenorganisationen kritisiert und

von der BBC (teilweise) verboten wurde.

Als seine Popularität zusammen mit

seinem Image als behinderter Künstler

wuchs, schienen sich Durys Konzerte in

Behindertenkongresse und

Solidaritätsveranstaltungen zu

verwandeln. Ein Blockhead-Bandmitglied

erinnert sich: „Er schrieb über

diejenigen, über die noch nie ein

[Pop-]Lied geschrieben worden

war(...)Viele Leute, die die Dinge erlebt

hatten, von denen Ian sang, kamen zu

unseren Konzerten und wollten

Autogramme. Man hörte die Leute sagen:

‚Er schreibt über mich‘.“ (zitiert in Dury

2003, 95).

»She don’t want a baby that looks like

that

I don’t want a baby that looks like me

Body—I’m not an animal

Body—I’m an abortion.«

Bodies; Sex Pistols‘ (1978)

Johnny Rottens hypnotischer Blick


Johnny Rottens performative Strategie

bei den Sex Pistols war eine

parodistische Imitation von Behinderung

und doch hatte diese einen kausaleren

Zusammenhang, den Jon Savage

erkannte: „Wie andere, die später zu

spirituellen Performern wurden, litt

Lydon in seiner Kindheit an einer

schweren Krankheit“ 7 , und es sind seine

frühen Jahre, in denen wir nach einem

Verständnis von Rottens Punk-Porealität

suchen müssen. Der starrende Blick und

die buckelige Körperhaltung wurden

durch eine Meningitis in der Kindheit

verursacht. Wie er in seiner

Autobiografie „Rotten“ erklärt: „Ich war

von meinem siebten bis achten

Lebensjahr ein Jahr lang im

Krankenhaus. Sie zogen Flüssigkeit aus

meiner Wirbelsäule, das hat meine

Wirbelsäule gekrümmt. Ich habe eine Art

Buckel entwickelt. Bei den Pistols gibt es

all diese Eigenheiten von mir, die daher

rühren, dass ich in einem Krankenhaus

versagt habe. Das Starren kommt daher,

dass ich schlecht sehen kann, auch als

Folge der Meningitis.“ 8

Später erkrankte er auch an Epilepsie,

was sich auf seine Bühnenperformance

auswirkte wie er 1994 erklärte:

„Ich bin auch Epileptiker, aber ich nehme

keine Medikamente. Ich bin nicht der

Traum eines Beleuchtungsregisseurs,

wenn ich auf Tournee bin – es gibt eine

riesige Liste von Dingen, die nicht

gemacht werden können. Manchmal

lassen mich bestimmte

Beleuchtungsarten vergessen, wo ich bin,

und lösen [sic] einen Gedächtniskrampf

aus. Ich lasse mein Textbuch immer auf

der Bühne auf dem Boden liegen, wenn

die Beleuchtung mitten im Song seltsame

Dinge macht. Ich habe einen schlechten

Gleichgewichtssinn, und wenn ich mich

7 Savage, Jon. 1991. England’s Dreaming: Sex Pistols

and Punk Rock. S.115

8 Lydon, John. 1994. Rotten: No Irish, No Blacks, No

Dogs, S. 17-18

drehe, kann ich mir das Leben schwer

machen.“ 9

Interessant ist auch, dass Ian Dury in

Rotten etwas „Verkrüppeltes“ erkannte.

Als 1976 die Sex Pistols Ian Dury & The

Blockheads supporteten, glaubte Ian in

Teilen von Rottens Stil und

Körperhaltung seine eigene Darstellung

zu sehen und beschwerte sich besorgt

beim Manager der Pistols, McLaren, in

der Annahme, Johnny Rotten mache sich

lustig über Ian. Unabhängig dessen war

Rottens Performance eine Art Krüppel-

Pop-Darstellung und zugleich Ausdruck

seiner eigenen körperlichen

Beeinträchtigung. Zusammenfassend

können wir also festhalten, dass Ian und

Johnny gemeinsam die neue

Körpersprache der Cripple-Punk-

Performance erfanden, mit einer Energie,

die aus der gegenseitigen Rivalität

entstand, und einer Authentizität, die

daraus resultierte, dass jeder von ihnen

eine Art Krüppel war.

Daneben wurden auch Dokumentarfilme

über kleinere, zeitgenössische

Punkbands gedreht. Heavy Load war

eine englische Punkrock-Band. Die

Mitglieder der Band trafen sich bei

Southdown Housing, einer

gemeinnützigen Wohngemeinschaft für

Menschen mit psychischen Problemen

und Lernschwierigkeiten, und setzte sich

zusammen aus Nutzern und

Mitarbeitern. Die Band spielte in dem

gleichnamigen Film „Heavy Load“ aus

dem Jahr 2008 mit, der die Bemühungen

der Band dokumentierte, aus den

Veranstaltungen der Behindertenzentren

in das größere Mainstream-Konzertnetz

vorzudringen.

9 Ebd., S. 323


Ein zweiter Dokumentarfilm über eine

neuere Generation von Punkbands mit

Behinderungen folgte einem ähnlichen

Pfad. In „The Punk Syndrome“ (2012)

geht es um die finnische Punkband Pertti

Kurikan Nimipäivät, deren Mitglieder

ebenfalls alle eine Lernbehinderung

sowie das Down Syndrom haben. Sänger

Kari Aalto erklärt auf der Homepage:

„Dieser Film erzählt von der Band(...)es

geht um einen Zurückgebliebenen, der

Punk ist, und drei Zurückgebliebene, die

Punkmusik spielen“. 10

PKN

Die Band vertrat Finnland beim

Eurovision Song Contest in Wien. Die

vier Männer mittleren Alters von PKN

haben das Down-Syndrom, das Williams-

Syndrom und andere geistige

Behinderungen. Sie haben sich in der

finnischen Punkszene eine solide

Fangemeinde erspielt und tourten 2013

10 https://pkn.rocks/en/the-punk-syndrome/

sogar zum South by Southwest Festival

in Austin, Texas.

Aber die Band hat Punk-Credibility und

gelangte 2012 mit und im

Dokumentarfilm „The Punk Syndrome“

zu großer Bekanntheit. Der Film folgt

den Auftritten der Band in

heruntergekommenen Rockclubs in

Finnland und anderen Ländern.

Es war eine innovative

Herangehensweise, um Vorbehalte und

Vorurteile zu Menschen mit geistigen

Behinderungen zu überwinden.

Das finnische „Figurennoten“-System 11

hilft Menschen mit Lernschwierigkeiten

beim Musizieren. Das System wurde in

den 1990er Jahren im Resonaari Special

Music Center in Helsinki entwickelt, wo

drei PKN-Mitglieder etwa 10 Jahre lang

das Musikspielen übten. Laut seinem

Entwickler, dem Musiktherapeuten

Kaarlo Uusitalo, hat das System die

Förderpädagogik in Finnland

revolutioniert.

„Vor zwanzig Jahren gab es in Finnland

für Menschen mit geistigen

Behinderungen keine vernünftige

Möglichkeit, spielen zu lernen“, sagt

Uusitalo. „Sie hatten große

Schwierigkeiten, Dinge zu verstehen,

große motorische Schwierigkeiten und

große Probleme, sich Dinge zu merken –

keine der traditionellen Lehrmethoden

funktionierte. Jetzt gibt es in Finnland

etwa 1.000 Menschen mit geistigen

Behinderungen, die ein Instrument

lernen“. 12

11 Figure notes ordnet Farben und Formen, die auf

Klaviertasten oder den Bünden am Hals einer Gitarre

angebracht sind, ähnlichen Zeichen in einer Partitur

zu. Nach und nach können die Schüler mithilfe der

Farben spielen und möglicherweise lernen, Noten zu

lesen. Geistig behinderte Menschen können sich

geometrische Formen und Farben oft leichter merken

als Zahlen oder Buchstaben, so die Forscher. Das

System hat sich auf der ganzen Welt verbreitet.

12 Quelle:

https://theworld.org/stories/2015-05-23/finlandsdisabled-punk-band-didnt-win-eurovision-they-wonmore


Der Erfolg von PKN hat auch einen

kulturellen Wandel hin zu einer größeren

Akzeptanz von Menschen mit

Behinderungen angeregt. Das ist etwas,

was PKN bereits in ihren Liedern fordert.

Zuschauer*innen gerne den Mittelfinger

wie mensch es von einer Punkband

erwartet.

Als PKN zum Sieger der finnischen

Qualifikation erklärt wurde, zeigte die

Band eine Mischung aus

von links: Pertti Kurikka (Gitarre), Sami Helle (Bass), Kari Aalto (Gesang) und Toni Välitalo

(drums)

Wut gegen alles

Sie singen über Dinge, die sie

wütend machen. Und das sind viele

Dinge: verlogene Politiker,

Diskriminierung von Behinderten und die

alltäglichen Dinge, die sie am Leben in

ihrer Wohngruppe stören.

In dem Lied „Aina mun pitää/Always I

Have To“, mit dem sie ihren Platz beim

Eurovision Song Contest gewonnen

haben, schimpft Sänger Kari Aalto: „Ich

muss immer putzen, ich muss immer

abwaschen, ich muss immer zur

Arbeit gehen, ich muss immer zum

Arzt gehen“ (übersetzt ins Deutsche).

PKN ist inspirierend, aber die

Bandmitglieder sind insoweit Punks, weil

sie nicht versuchen, es allen recht zu

machen. Sie fluchen und sie betrinken

sich. Und vor allem Aalto zeigt den

Selbstbewusstsein und Arroganz..

„Wie es im Leben so ist, gewinnt

immer der Beste“, prahlte Aalto auf der

Bühne.

Fazit

Die Geschichte des Punk und die

Bedeutung der Subkultur steht eng im

Zusammenhang mit Behinderung. Dies

bestätigt die anhaltende Relevanz von

einer „verkrüppelten Punk-Subkultur“

und eine Rechtfertigung dafür, wie Punk

und Behinderung die Subkultur geprägt

hat und immer noch prägt.

Demgegenüber sind Sichtbarkeit von

Behinderung in Subkulturen nicht frei

von Vorurteilen, Abwertung und offen zu

tragen kommender

Behindertenfeindlichkeit, die Teilhabe

und Inklusion erschweren oder gar nicht

erst zulassen.



FHEELS ist ein gutes Beispiel für

gelebte Inklusion

Felix Brückner ist Sänger und Gitarrist der Band FHEELS 1 .

FHEELS wurde 2015 von Felix und Schlagzeuger Justus gegründet, als

beide an der Hamburger School of Music studierten und erste

Eigenkompositionen vorspielten.

FHEELS bewegen sich musikalisch durch Rock, Jazz und Psychedelic

Prog, bauen Brücken zwischen Rock-Vergangenheit und zeitgenössischer

Moderne, vereinen Anspruch und Eingängigkeit ebenso wie kreativen

Wagemut und musikalische Raffinesse. Sänger und Gitarrist Felix ist

seit einem Snowboarding-Unfall mit 17 Jahren querschnittgelähmt.

Felix wünscht sich, dass die Menschen seine Behinderung als etwas

Selbstverständliches annehmen, ihn als Musiker wahrnehmen und er

keine überzogenen Respektbekundungen oder Mitleid bekommen will.

Darüber hinaus engagiert Felix sich bei der „Initiative Barrierefrei

Feiern“, die Veranstalter*innen von Festivals zum Thema

Barrierefreiheit beraten.

1 https://www.facebook.com/Fheels.Band/


»Darüber hinaus musste ich schneller erwachsen werden, weil ich

nun(...)Verantwortung für 2/3 meines Körpers übernehmen muss, die ich nicht

mehr spüre.«

Felix, du bis seit einem Snowboard-

Unfall querschnittgelähmt. Woran

erinnerst du dich?

Dafür muss ich ganz kurz die

Situation erläutern. Ich war im Skilager

mit meiner damaligen Abiturstufe und

zusammen mit zwei anderen Schülern,

die ebenfalls Snowboarder waren, abseits

der Piste unterwegs. Warum abseits der

Piste? Weil es, wenn man einigermaßen

stabil auf dem Brett unterwegs ist,

einfach mehr Spaß macht.

Leider begleitete uns dabei auch unser

jugendlicher Leichtsinn denn wir haben

uns vorher nicht genau das Gelände

angeschaut, in dem wir unterwegs

waren. So landete ich sehr überrascht an

einem Felsvorsprung, der schlicht zu

hoch war (ca.7-10 m), um darüber zu

springen. Also hielt ich an, schnallte mein

Board ab und versuchte mich bergauf

wegzubewegen. Aufgrund des lockeren

Tiefschnees rutschte ich aber letztlich ab

und fiel über den Vorsprung in die Tiefe.

Den Aufprall bekam ich schon nicht mehr

mit, weil ich direkt für ein paar Minuten

bewusstlos war. Das nächste, an das ich

mich erinnern kann, waren die Schreie

einer meiner Begleiter, die aufgrund

einer etwas anders gewählten Linie an

diesem Fels vorbeifahren konnten.

Auf die Aufforderung hin aufzustehen,

spürte ich das erste Mal, dass ich dies

nicht mehr kann und brach verzweifelt in

Tränen aus. Der zweite meiner Begleiter

alarmierte inzwischen die Bergrettung,

die umgehend den nächstgelegenen

Hubschrauber organisierten. Bei der

Landung wurde so viel Schnee

aufgewirbelt, dass ich kaum Luft bekam

und Angst hatte zu ersticken. Das ist mir

tatsächlich sehr stark im Kopf geblieben.

Von der Unfallstelle ging es dann direkt

nach Bozen für eine Not-OP und nach ein

paar Tagen zurück nach Deutschland für

6 Monate Reha in Bayreuth.

War dir das Risiko, während des

Sports jederzeit zu verunfallen, stets

bewusst?

Nicht wirklich, ich war viele Jahre

vorher schon auf Abfahrtsski in den

verschiedensten Skigebieten auf und

abseits der Piste unterwegs. Noch dazu

war ich 16, selbstbewusst und sehr

sportlich, was noch mehr als ohnehin in

diesem Alter zum Gefühl von

Unverwundbarkeit führte. Der Fakt, dass

ich nicht mit Helm und Protektoren

unterwegs war, unterstreicht das ganz

gut.

Was hat sich seit der Diagnose

Querschnittlähmung in deinem Leben

konkret verändert?

Das erste, was mir dazu einfällt, ist

tatsächlich das neue Körpergefühl. Bei

mir ist es so, dass ich brustabwärts

komplett (d. h. ohne Gefühl oder

motorische Fähigkeiten) gelähmt bin. Das

bedeutet wiederum, dass ich nicht mehr

in der Lage bin Rumpf/ Bauchmuskulatur

anzusteuern und bspw. das Sitzen

komplett neu erlernen musste.

In den ersten Tagen im Rollstuhl hatte ich

deshalb permanente Angst bei der

kleinsten Bewegung oder Erschütterung,

aus meinem Gefährt zu fallen und dann

hilflos dazuliegen. Durch

Krankengymnastik, Rollstuhl- und

Krafttraining sowie viele Stunden im


Rollstuhl veränderte sich das aber zum

Glück relativ schnell.

Darüber hinaus musste ich schneller

erwachsen werden, weil ich nun, so blöd

es klingt, Verantwortung für 2/3 meines

Körpers übernehmen muss, die ich nicht

mehr spüre. Jugendliche Trinkexzesse

haben sich bspw. deshalb sehr in Grenzen

gehalten.

Fotocredit: Photospokus

Es gibt ja verschiedene Phasen in der

Bewältigungsstrategie. Welche davon

waren bei dir emotional/psychisch am

meisten ausgeprägt?

Nach Tagen der Trauer,

Verzweiflung, Wut, lebensmüden

Gedanken und unerfüllten Hoffnungen

auf Besserung, war meine

Bewältigungsstrategie und Therapie

größtenteils die Selbsterfahrung und

Begegnung mit anderen behinderten

Menschen. Bspw. führte die

„Mobilisierung“ meinerseits – d. h., dass

ich in den Rollstuhl gesetzt wurde – nach

einigen Tagen zu einer Perspektive von

zukünftiger Selbstständigkeit, die ich, im

Bett liegend, nicht mehr hatte.

Außerdem hatte ich das Glück Menschen

mit viel schwereren Behinderungen

kennenzulernen, die ihr gesamtes Leben

auf ständige Hilfe angewiesen sein

werden und trotzdem so von

unerschütterlicher Lebensfreude und

Motivation strotzten, dass ich mir dachte,

wer bist du Felix, jetzt den Kopf in den

Sand zu stecken.

So führte das Eine zum Anderen, und ich

gelangte mehr und mehr zum wichtigsten

Punkt meiner Bewältigung: Der

Akzeptanz meiner Behinderung in Allem,

was das bedeutet.

Heute bin ich extrem froh über meine

jugendliche Entscheidung, weil das, was

ich mir damals gewünscht habe,

tatsächlich in Erfüllung ging. Ich bin

komplett autonom in der Lage mein

Leben zu führen. So habe ich mehrere

Monate alleine in New York und Rio

gelebt und sooo viele, sooo lebenswerte

Erfahrungen in den letzten Jahren

machen dürfen, dass es sich extrem

gelohnt hat, nicht aufzugeben.

Freund*innen und Familie, aber auch

andere Betroffene gestalten den

individuellen Verarbeitungsprozess

wesentlich mit. Wie war das bei dir?

Vor allem meine Familie, die

permanent an meiner Seite war und zu

der ich nach meiner Reha zurückkehren

konnte (nicht selbstverständlich). Weil sie

unser Haus umgebaut hatten, war das

rückblickend eine riesige emotionale, als

auch strukturelle Stütze. Auch mein

Freundeskreis, der sich nur geringfügig

veränderte, half mir sehr, unter anderem


meine Jugend und alles, was damit

einhergeht, wieder (er)leben zu können.

»Ich bin durch meine Selbsterfahrung

an den Punkt gelangt, dass man

immer erst die Lebenswirklichkeit

teilen muss, um Dinge zu beurteilen.«

Welche positiven Aspekte hast du

dem Alltag im Rollstuhl bislang

abgewinnen können?

Grundsätzlich würde ich sagen,

dass meine Behinderung mein Leben

weder in eine negative noch in eine

positive Richtung sonderlich beeinflusst

hat. Ich führe einen sehr normalen Alltag,

der sich fast gar nicht von dem

nichtbehinderter Menschen

unterscheidet und weder besser noch

schlechter ist.

Das bedeutet wiederum auch, dass die

positiven Aspekte meines Lebens nicht

von meinem Rollstuhl abhängig sind oder

beeinflusst werden.

Eine Sache gibt es vielleicht auf

persönlicher Ebene. Ich bin durch meine

Selbsterfahrung, dass das Leben mit

einer Behinderung nicht vorbei ist, so wie

ich das in meiner jugendlichen Naivität

annahm, an den Punkt gelangt, dass man

immer erst die Lebenswirklichkeit teilen

muss, um Dinge zu beurteilen.

Nur so ist es möglich zu verstehen und

diese Perspektive hilft mir im Alltag.

Wie hast du dir deine Unabhängigkeit

und Selbständigkeit bewahrt?

Durch einen sehr normalen

Lebenslauf mit dem Willen zur Autonomie

würde ich sagen. Ich bin tatsächlich nach

meinem Unfall sehr bewusst wieder an

meine alte, nicht barrierefreie Schule

zurückgekehrt. Konnte dort durch meine

Freunde, die mich teilweise in jeder

Pause zwischen den Stockwerken hoch

und runter getragen haben, mein Abi in

meiner alten Klasse fertig machen.

Danach war schnell klar, dass ich

studieren möchte, bin mit 19 in meine

erste Studentenbude nach Jena gezogen

und war so zur Selbstständigkeit

gezwungen. Über weitere Stationen wie

New York, Rio und aktuell Hamburg, hat

sich das nie wieder verändert und war so,

wie gesagt, eigentlich ein sehr normaler

Abnabelungsprozess mit Willen zur

Autonomie gegen das Bild des

hilfsbedürftigen Menschen mit

Behinderung.

Fotocredit: Photospokus

In welchen konkreten Momenten

fühltest du dich

diskriminiert/ausgegrenzt?

Das ist ein sehr weites Feld, aber

vielleicht bleiben wir bei der

Kulturlandschaft. Hier ist es nach wie vor


und grundsätzlich so, dass man davon

ausgehen muss auf Barrieren zu treffen.

Sowohl als Musiker ist es schlicht Alltag,

auf die Bühne getragen zu werden, weil

es so gut wie keine barrierefreien

Aufgänge gibt, als auch als Gast, der

entweder gar nicht erst reinkommt oder

im inneren es Clubs feststellt, nicht auf

Toilette gehen zu können.

Auf die Situation einstellen kann man

sich nicht, weil fehlende Barrierefreiheit

schlicht nicht kommuniziert wird. Das

heißt, und deshalb sagen sich viele

Menschen mit Behinderung „ich bleib

Zuhause“, man muss sich immer darauf

einstellen, sich in einer sehr

unangenehmen Situation wiederzufinden.

Ich nenne mich selbst „Worst Casler“,

weil ich das sehr lange so akzeptiert

habe, um nicht auf mein kulturelles

Leben verzichten zu müssen. Mittlerweile

bin ich durch meine Arbeit in der Band

als auch innerhalb der „Initiative

Barrierefrei Feiern“ an den Punkt gelangt

mich aktivistisch für Veränderungen

einzusetzen. Es sind in erster Linie erst

mal die Barrieren im Kopf die bei

Veranstaltenden durch Aufklärungsarbeit

genommen werden müssen.

»Ich nenne mich selbst „Worst Casler“,

weil ich das sehr lange so akzeptiert

habe, um nicht auf mein kulturelles

Leben verzichten zu müssen.«

Der Ex-Snowboarder Patrick Mayer

hat nach seiner Querschnittlähmung

Kufen für Rollstühle produziert.

Spornt dich das an, weiterhin

Snowboard fahren zu können?

Um ehrlich zu sein nein, weil sich

meine Interessen einfach verändert

haben und ich dadurch kein großes

Bedürfnis empfinde wieder aufs „Board“

zu steigen. Nichtsdestotrotz ist das

Engagement von Patrick super!

In dem Dokumentarfilm „Love & Sex

& Rocknrollstuhl“ 2 berichten vier

Menschen über ihre Sehnsucht nach

Nähe und Erotik. Viele denken bei

Behinderung nur an Leid und

Verzicht. Wie ist deine Erfahrung und

dein Umgang als Betroffener mit

Befangenheit und einer

Fremddefinition hin zu einer

Stigmatisierung?

Diese Stigmatisierungen und

Klischees sind und waren etwas sehr

Normales. Ich für meinen Teil habe mich

sehr lange einfach damit abgefunden und

so dafür gesorgt, dass sie mich nicht

mehr verletzen.

In den letzten Jahren hat sich das aber

verändert, weil ich mich in der Lage sehe

Dinge zumindest in meinem

überschaubaren Einflussbereich

anzustoßen. Falsche Fremddefinitionen

und Stigmata sind die Symptome von

fehlender Inklusion, fehlenden

Berührungspunkten, fehlendem

Perspektivwechsel, schlicht fehlender

Normalität von Menschen mit

Behinderung im Alltag von Menschen

ohne Behinderung. Diese Normalität

kann nur verändert werden, wenn wir in

allen Bereichen vom Mindset der

Menschen, angefangen bishin zu

baulicher Infrastruktur barrierefreie

werden und dafür setze ich mich ein.

Wie willst du das Thema „Sexualität

und Behinderung“ aus der Problem-

Ecke herausholen?

2 http://susanna-wuestneck.de/film/love-sexrocknrollstuhl/


Man muss Dinge präsent machen,

man muss sie in den Alltag von Menschen

ohne Behinderung holen, man muss die

Auseinandersetzung forcieren um zu

einem neuen „normal“ zu gelangen.

Deshalb habe ich mich dazu entschlossen

ein sehr erotisches aber nicht

pornografisches Video 3 zu drehen und die

Rückmeldungen haben gezeigt, dass

genau das uns gelungen ist. Menschen

Bilder zu zeigen, die in der Normalität

ihres Alltags sonst nicht zu sehen sind.

automatisch Mitdenken der Bedürfnisse

und letzten Endes gelangen wir so zum

heiligen Gral der gelebten Inklusion.

Wie du bereits mehrfach erwähnt hast,

setzt du dich für mehr Barrierefreiheit

ein. Wo gibt es in Hamburg, bezogen auf

subkulturelle Veranstaltungen, großen

Nachholbedarf?

Ich würde sagen, es gibt in Bezug

auf die gesamte Kultur, selbst im

subventionierten Bereich des Theaters,

Fotocredit: Yosua Pandelaki

Was sind die größten Hindernisse auf

dem Weg zu mehr Inklusion?

Fehlende Barrierefreiheit! Wenn es

behinderten Menschen möglich wäre ihr

Leben mit der Flexibilität, Spontanität

und Autonomie zu leben, wie das

Menschen ohne Behinderung können,

würde es automatisch zu einem viel

normaleren Miteinander kommen. Das

bedingt wiederum einen viel intensiveren

Austausch, einen Perspektivwechsel, das

3 FHEELS - Sharp Dressed Animal:

https://youtu.be/nwB9ZtktMvw

noch Nachholbedarf. Warum dürfen

Menschen mit Behinderung sich ihren

Sitz-Stehplatz nicht aussuchen? Warum

dürfen sie nicht den Haupteingang

nutzen, sondern müssen durch den

Eingang, der sonst nur für Equipment

genutzt wird geschleust werden? Warum

können behinderte Menschen 2022 in

den etabliertesten Klubs mit Kapazitäten

von mehreren tausend Besucher*innen

nach wie vor nicht die Toilette nutzen?

Da gibt’s noch sooooo viel zu tun!


The Future Is Accessible

Annie Segarra (Jahrgang 1990), auch unter

den Namen Annie Elainey bekannt,

verbrachte viele Jahre mit der Erkenntnis,

nicht ‚normal‘ zu sein, ohne eine

ärztliche Diagnose. Erst mit über 20

Jahren wurde bei ihr das Ehlers-Danlos-

Syndrom (EDS) diagnostiziert, eine

genetische Gewebestörung, die Gelenke,

Haut und mehrere innere Organe betreffen

kann.

In der Schule machte sie im

Sportunterricht schnell schlapp und wusste

nie warum. Sie konnte nicht so schnell

rennen wie die anderen Kinder. Manchmal

wurde sie nach dem Duschen ohnmächtig. Als

sie trainierte, wurde ihr Gesicht extrem

rot. Es dauerte Jahre, bis ihr klar wurde,

dass nichts davon „normal“ war.

„All dies waren Anzeichen dafür, dass mit

meiner Gesundheit etwas nicht stimmte“,

erzählt Annie. „Außenstehende würden es

abtun wie: ‚Ja, das passiert jeder, sie

hat eben nicht die

beste Kondition. Sie

muss nur abnehmen.“

Mit 23 Jahren bekam

sie beim Gehen starke

Schmerzen. Als sie 24

Jahre alt war,

benutzte sie erstmals

einen Rollstuhl. Doch

es dauerte noch bis zu

ihrem 26. Lebensjahr,

bis bei ihr EDS

diagnostiziert wurde.

Diese Erfahrung, von

der sie berichtet,

dass mehrere

Ärzt*innen sie ohne

Diagnose abspeisten

und ihre geäußerten

Schmerzen ignorierten,

ist heute die


The Future Is Accessible

treibende Kraft hinter dem, was sie jeden

Tag tut. Annie ist Aktivistin,

Influencerin mit 25.000 YouTube-

Abonnent*innen, über 29.000 Twitter- und

30.000 Instagram-Follower*innen. Sie

spricht offen über ihre Behinderung, über

andere chronischen Krankheiten, über Queer

und Behinderung und hat Kampagnen zum

Thema Barrierefreiheit gestartet.

»Nachdem ich meine Diagnose

erhalten hatte, war ich wirklich

aufgeregt, Inhalte über EDS und

meine Erfahrungen zu erstellen“, sagte

sie. „Die Inhalte, die ich erstelle, sollen

sichtbar für alle sein.«

Sichtbarkeit ist ein

wichtiger Bestandteil

von allem, was Annie

tut – ob es darum

geht, andere

Behindertenaktivist*in

nen auf YouTube zu

interviewen oder Fotos

von sich selbst mit

Mobilitätshilfen zu

posten.

Annie, erkläre uns deine

Behinderung und was sie mit dir

macht...

Ich leide an einer genetisch

bedingten, degenerativen und

unheilbaren Krankheit namens Ehlers-

Danlos-Syndrom, die sich bei jedem

Betroffenen anders und in einem breiten

Spektrum auswirkt; sie verursacht in der

Regel körperliche Behinderungen

(hypermobile, schlaffe und brüchige

Gelenke), chronische Schmerzen und

eine sehr lange Liste damit verbundener

Krankheiten und gesundheitlicher

Probleme. EDS führt dazu, dass das von

uns produzierte Kollagen (das wichtigste

Strukturprotein in der Haut und in

anderen Bindegeweben) gestört ist. Im

Grunde genommen funktioniert der

„Klebstoff“, der meinen Körper und alles,

was darin ist, zusammenhalten soll,

nicht.

Ich leide derzeit unter den Symptomen

des Posturalen Orthostatischen

Tachykardie-Syndroms (POTS) /

Dysautonomie, Schlafstörungen (Phasen

von Schlaflosigkeit und extremer

Erschöpfung/übermäßigem Schlafen),

chronischer Müdigkeit, chronischer

Migräne, Magen-Darm-Problemen,

Neurodivergenz, Depressionen,

Angstzuständen, sensorischen

Verarbeitungsproblemen, Myalgien,

Atembeschwerden, Seh- und

Hörstörungen, kognitiven


The Future Is Accessible

Beeinträchtigungen (schlechtes

Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit)

und wahrscheinlich noch anderen, an die

ich mich im Moment nicht erinnere.

Warum benutzt du einen Rollstuhl?

Ich kann aufgrund von chronischen

Schmerzen, Gelenkkomplikationen und

Dysautonomie nur sehr eingeschränkt

gehen. Im Allgemeinen kann ich es nicht

ertragen, länger als ein paar Minuten am

Stück zu stehen; meine Gelenke haben

Schwierigkeiten, der Belastung

standzuhalten, und die Schmerzen

nehmen zu, wenn ich stehe und je länger

ich stehe.

Zu bestimmten Zeiten kann ich aufgrund

einer kürzlich erlittenen Verletzung oder

eines erhöhten Schmerzpegels nicht

einmal für einen Moment stehen. Um

länger als eine Minute mobil zu sein, um

mit weniger Schmerzen mobil zu sein

und aus Sicherheitsgründen (Vermeidung

von Stürzen und Verrenkungen) muss ich

einen Rollstuhl benutzen.

Manchmal benutze ich einen Stock

und/oder trage Knöchel- und

Knieschienen. Wenn ich weiß, dass ich

nicht länger als eine Minute aufstehen

muss und mich schnell setzen kann,

wenn ich einen Raum betrete (z. B. ein

leeres Restaurant, das Haus eines

Freundes usw. mit einem Parkplatz direkt

am Eingang).

Zurzeit benutze ich hauptsächlich einen

Elektrorollstuhl, da meine Handgelenke,

Ellbogen und Schultern zu

lasch/zerbrechlich geworden sind, um

mich in einem manuellen Rollstuhl zu

schieben.

Annie, was ich an dir schätze, ist die

Vielseitigkeit deines Charakters. Und

einer der Aspekte, die ich wirklich

schätze, ist dein Engagement und

deinem offenen Umgang über

Behinderung zu sprechen. Das teilst

du auch über die sozialen Netzwerke.

Wie kam es dazu, dass du

angefangen hast, deine Geschichte

und die Geschichten anderer

Menschen zu erzählen?

Ich glaube, ich war 15 Jahre alt,

als ich anfing, mich auf das

Geschichtenerzählen zu konzentrieren.

Und jetzt bin ich über 30. Seit über 15

Jahren dokumentiere ich also Dinge zu

u.a. „Queer und Behinderung“,

„Behindertenfeindlichkeit“ in einem

Videoformat auf YouTube 1 . Und davor

habe ich auch viel geschrieben. Aber ja,

das Geschichtenerzählen war schon

immer meine liebste Art, mich

mitzuteilen und Dinge festzuhalten, mich

an Dinge zu erinnern, was mir sehr

wichtig ist. Ich habe nicht das beste

Gedächtnis, also versuche ich ständig,

meine Beobachtungen und Gedanken

festzuhalten und die Dinge, die um mich

herum passieren, aufzuzeichnen. Ich

möchte diese Erlebnisse und

Erinnerungen so gut wie möglich

festhalten. Das geht sogar so weit, dass

ich bis heute ein ‚Dankbarkeits-

Tagebuch‘ führe, in das ich jeden Tag

mindestens drei Punkte eintrage, die sich

auf Dinge beziehen, für die ich an diesem

Tag dankbar bin, die an diesem Tag

geschehen sind. So etwas Kleines wie:

„Heute habe ich mit meiner Mutter in

ihrem Schlafzimmer abgehangen und wir

haben einen Harry-Potter-Marathon

geschaut.“ Und ich tue das mit dem

Gedanken, dass ich Jahre später in

diesen Erinnerungen blättern und mich

daran erfreuen kann.

Abgesehen von dem sehr positiven

Aspekt für die geistige Gesundheit und

der Möglichkeit, Dinge, die ich erlebt

habe, wieder in Erinnerung zu rufen, ist

das Geschichtenerzählen eine Form der

Kommunikation und die Möglichkeit,

1 https://www.youtube.com/channel/

UCznS4Pk3VcTIfDUuWrQtdzQ


The Future Is Accessible

diese Erfahrungen mit Menschen zu

teilen, die ähnliche Erfahrungen gemacht

haben wie ich. Das sind also vor allem

meine Gemeinschaften von Menschen,

die gemeinschaftsbezogene Erfahrungen

teilen. Das wäre die LGBT-Community,

die Latino-Comunity, die Behinderten-

Community.

Und das Sprechen über die eigene

Lebenserfahrung kann den

Betroffenen ermöglichen, mehr

Erfahrungen zu machen, über die sie

diskutieren können. Zum Beispiel

zum Thema Dysphorie 2 . Warum war

es dir wichtig, dieses Thema zu

diskutieren?

Nun, Dysmorphie, die Abkürzung

für körperdysmorphe Störung, ist das,

was ich in der Vergangenheit erlebt habe

und immer noch erlebe. Es ist immer ein

potenzieller Auslöser in meinem

Hinterkopf, etwas, das mit einer

2 Als Dysphorie wird eine Störung des emotionalen

Erlebens (Affektivität) bezeichnet, die durch eine

ängstlich-bedrückte, traurig-gereizte Stimmungslage

charakterisiert ist. Die Betroffenen erleben sich dabei

als unzufrieden, schlecht gelaunt, misslaunig oder

missgestimmt, mürrisch oder verärgert bzw. werden

so wahrgenommen. Es handelt sich meist um eine

„banale Alltagsverstimmung“

Essstörung verwoben ist, die ich in

meinem Leben oft erlebt habe. Ich würde

sagen, dass die Dysmorphie, die ich

erlebte, wahrscheinlich im Alter von 10

bis 12 Jahren begann und sich bis heute

fortsetzt. Es war eine traumatische

Reaktion auf den Missbrauch, den ich als

Kind erlebt habe. Ich hatte eine Art

Tiefpunkt meiner psychischen

Gesundheit erreicht, und zwar so sehr,

dass ich mein Studium abbrechen

musste, um mich auf meine psychische

Gesundheit zu konzentrieren. Und ich

habe eine Essstörungsbehandlung

gemacht und mich selbst therapiert.

Irgendwann, ich glaube, als ich 20 Jahre

alt war, erreichte ich einen euphorischen

Punkt in Bezug auf meine psychische

Gesundheit. Ich kann mich daran

erinnern, wie ich eines Tages aufwachte,

in den Spiegel schaute und sagte: ‚Wow,

ich hasse mich heute nicht.‘ Und bei

dieser Erkenntnis wurde ich richtig

euphorisch. Und ich wollte das unbedingt

mit den Menschen teilen. Also habe ich

meinen alten Blog mit dem Titel „Stop

Hating Your Body“ 3 gestartet, in dem

Menschen ihre Geschichten einreichen

und mitteilen konnten, wo sie auf ihrer

Reise stehen. Und viele davon waren

auch Erfolgsgeschichten. ‚Ich habe an

meiner psychischen Gesundheit

gearbeitet und fühle mich jetzt so viel

besser mit mir selbst.‘ Und einige Leute

befanden sich mitten in ihrer Reise. Von

da an wurde ich eingeladen, vor

Student*innen zu sprechen, und zwar

ganz gezielt. Ich erzählte meine

Geschichte, wie ich als Kind mit

Dysmorphien zurechtkam und wie diese

belastenden Gedanken aussahen. Und

das war der Moment, in dem ich anfing,

diese negativen Gedanken zu

hinterfragen. Und meinen Prozess, wie

ich anfing, sie zu überwinden und meine

psychische Gesundheit zu verbessern.

3 https://stophatingyourbody.tumblr.com/


The Future Is Accessible

ihre Geschichten nicht aus Eigennutz

erzählen. Die Menschen wollen ihre

Geschichten teilen, weil sie hoffen, dass

ihre Geschichte jemand anderem helfen

kann.

Und du bist ein großes Vorbild für

andere, da bin ich mir sicher. Denn

für mich klingt es so, als ob die

Diskussionen, die du geführt hast, es

Nicht-Behinderte Menschen

ermöglicht hat, etwas über diese

Themen zu erfahren.

Und du hast Betroffene die

Möglichkeit und eine Plattform

gegeben, sich auszusprechen und

eine Bestätigung oder Wertschätzung

zu geben.

Ja. Ich glaube, dass die Leute, so

wie ich, die Möglichkeit haben wollten,

ihre Geschichten zu erzählen. Ich glaube,

das gerade Betroffene ihre Geschichten

oft mit anderen teilen wollen. Wie ich

schon sagte, ist es so kathartisch, diese

Teile von sich selbst mitzuteilen, vor

allem in der Hoffnung, dass die eigene

Geschichte bei anderen Menschen etwas

auslöst. Ich glaube, dass viele Menschen

Annie, du hast viele verschiedene

Arten von Behinderungen. Ich denke,

du hast diese vielleicht selbst

entdeckt. Sie sind nicht alle zur

gleichen Zeit aufgetaucht. Vielleicht

könntest du ein bisschen mehr über

wichtige Aspekte anderer

Behinderungen sprechen, die du

hast, und wie du sie

zusammenbringst. Wie ist es dir

gelungen, damit im Laufe der Zeit

klarzukommen?

Es gibt einfach so viel zu

verarbeiten. Als du erwähnt hast, ich sei

eine vielseitige Person, ist es genau das,

was ich mir wünsche: Dass die

Gesellschaft das auch so sieht, besonders

wenn Behinderung ein so großer Teil des

offenen Dialogs ist, an dem ich

teilnehme. Es wird leider immer noch

dieses eindimensionale, abwertende Bild

von Menschen mit Behinderung

geschaffen. Der Banner, unter dem ich

ständig stehe, ist

„Behindertenbeauftragte“. Das kann sich

manchmal sehr eindimensional anfühlen.

Ich denke auch, dass es immer noch

so ist, dass die Leute uns nicht

trauen, nicht vertrauen. Und oft sind

die Leute direkt vor deiner Nase und

versuchen, dich abzuwerten oder

dich zu diskreditieren, dir Sachen

unterstellen….

Also, es gibt immer wieder

Kommentare und Äußerungen wie: ‚Du

bist nicht behindert. Du tust nur so, als

wärst du behindert.‘ In deren Köpfen

macht es also nicht klick, dass sie

behinderten Menschen nicht trauen. Sie

sagen einfach, du bist nicht behindert.


The Future Is Accessible

Du bist eine Lügnerin, eine Betrügerin.

Das ist auch ein mediales

Darstellungsproblem. Jedes Mal, wenn

man in einem Film oder ganz speziell in

einer Novelle sieht, wie ein*e

Rollstuhlfahrer*in aus dem Rollstuhl

kommt und geht, dann diese Behauptung

untermauert und zurechtgelegt wird:

‚Siehste, die haben die ganze Zeit nur so

getan.‘ Die nur darauf warten, diese

These zu belegen. Ich spreche oft

darüber, weil es zu meinen täglichen

Erfahrungen gehört, wegen so etwas

Angst zu haben oder sich anderen

gegenüber erklären zu müssen. Denn ich

kann ganz normal durch mein Haus

gehen. Ein großer Teil des Grundes,

warum ich einen Rollstuhl benutze, sind

die chronischen Schmerzen. Ich kann es

nicht ertragen, längere Zeit auf den

Beinen zu sein. Ich laufe also immer nur

ein paar Minuten in meinem Haus

herum. Und selbst wenn ich zu Hause

herumlaufe, lehne ich mich oft an, oder

ich hebe mein Bein hoch und lege mein

Knie auf einen Stuhl oder ein Bett oder

was auch immer. Ich tue viele

entlastende Dinge, um den Druck von

meinen Beinen zu nehmen.

Wir versuchen, unser Bestes zu tun, um

uns selbst zu pflegen und auf unsere

geistige Gesundheit zu achten. Und das

ist alles, was ich auch von anderen

Menschen verlangen kann. Ich möchte

meine Erfahrungen weitergeben, damit

andere Menschen sich selbst überprüfen

und sehen, wo sie stehen und ob sie sich

mit dem, was sie tun, glücklich und

sicher fühlen. Und wenn es möglich ist,

das zu ändern, was man tun kann. Und

abgesehen davon, ja. Ich hoffe einfach,

dass die Dinge eines Tages viel

friedlicher/konfliktfreier sein werden.

Annie, ich möchte dich abschließend

bitten, über deine Vision für die

Zukunft zu sprechen. Was du für dich

selbst gutes tun möchtest und was

wir tun müssen, um den Dialog

zwischen vielen verschiedenen

Gemeinschaften weiter zu öffnen.

Also, meine Vision ist langfristig

und ich denke für die ganze Welt, und

deshalb war ich froh, dass wir das in

diesem Gespräch für einzelne Personen

genauso wie für die breite Masse geklärt

haben.

Ich hoffe, dass behinderte Menschen

wie ich nicht so empfinden müssen,

dass sie nicht in einer Existenz leben

müssen, in der wir das Gefühl haben,

dass wir im übertragenen Sinne um

Beachtung betteln müssen, sondern

akzeptiert werden wie wir sind:

normal und vielseitig!

https://www.instagram.com/annieelainey/


AIB #135

64 DIN-A-4 Seiten; € 3,50.-

AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

https://www.antifainfoblatt.de/

Mit dem Schwerpunkt-Thema „Die

Extreme Rechte und der Ukraine-Krieg“

untersuchen die Autor*innen extrem

rechte

Verknüpfungen/Allianzen/Positionen in

der Ukraine, in Russland und in Europa.

Zunächst greift Carolin Wiedemann auf

jene völkische, rassistische Positionen

zurück, die in Teilen bereits seit der

Corona-Pandemie unter

Querdenker*innen, aber auch bis in die

Mitte der Gesellschaft verbreitet ist.

Denis von „Operation-solidarity.org“

erklärt im Interview, dass „nur ein

Bruchteil (der ukrainischen Streitkräfte)

der extremen Rechten angehört“ und

prophezeit, dass – solle Russland den

Krieg gewinnen – es in der Ukraine keine

Aussicht auf eine unabhängige Politik

geben wird. Was bedeutet der russische

Einmarsch in der Ukraine für die

Friedensbewegung/Antikriegsbewegung

in Deutschland? Sebastian Bähr

analysiert den Schockzustand, stellt

Initiativen und Aktionstage vor. Wier sich

europäische Parteien und Politiker*innen

zum russischen Angriffskrieg

positionieren fasst Ulrich Schneider

zusammen. Interessant ist, dass die

„wichtigsten europäischen

Rechtsparteien keine Probleme hatten,

sich der veränderten weltpolitischen

Lage anzupassen“.

Gesamteindruck:

Dem russischen

Verteidigungsministerium zufolge hat

Kiew seit Kriegsbeginn über 6.800

„ausländische Söldner“ aus 63 Ländern

rekrutiert. Obwohl viele Freiwillige aus

humanitären Gründen in die Ukraine

reisen, schließt dies nicht die Einreise

von Personen mit extremistischeren

Ansichten und ihrer eigenen Agenda aus.

Es gibt weitere Berichte zu bekannt

gewordenen Anheuerversuche von

Neonazis, ehemaligen

Fremdenlegionären und dem Neonazi-

Netzwerk Blood and Honour, den

bewaffneten Kampf gegen den

„neobolschewistischen Abschaum“

aufzunehmen und in der ukrainischen

Legion zu kämpfen.

Hauptanziehungspunkte für militante

Neonazis sind ukrainische Freiwilligen-

Bataillone, die offen extrem rechtes

Gedankengut propagieren, wie das

Regiment Asow, der Rechte Sektor und

die Organisation Ukrainischer

Nationalisten. Innerhalb der

ukrainischen Streitkräfte formierte sich

ein extrem rechtes Netzwerk. Als der

Konflikt deeskalierte, wurden diese

Bataillone, in manchen Fällen unter

Druck, in die regulären Streitkräfte

eingegliedert. Auf diesem Weg erlangte

die extreme Rechte die Kontrolle über

die Sicherheitskräfte des Landes bzw.

stellte ihre starke Präsenz innerhalb

derselben sicher: der ukrainischen

Armee und der verschiedenen

Polizeibehörden einschließlich der

Stadtpolizei und der Nationalgarde, zu

der u. a. das Regiment Asow gehört.

Die Asow-Bewegung formierte sich um

die Partei Nationalkorps, die von Asow-


Veteranen gegründet wurde. Mit der Zeit

entpolitisierte sich das Regiment Asow

zunehmend. Seine Rolle ist für viele

Rechte eher eine symbolische, obwohl

natürlich weiterhin Kontakte zwischen

der extremen Rechten und dem

Regiment bestehen. Seit 2014 hat seine

Radikalität jedoch signifikant

abgenommen. Demgegenüber kämpfen

auch viele pro-russische Neonazis für

bspw. die offen neonazistischen

Aufklärungstruppe Rusitsch, die

Kaiserliche Legion oder die Wagner-

Gruppe. Während die russische

Propaganda das Neonazi-Problem in der

Ukraine übertrieben darstellt, tut der

Westen so, als würden diese Neo-Nazis

nicht existieren. In der Folge könnten

nach dem Krieg Kampfverbände

Veteranenstatus genießen, den sie in so

viel politisches Kapital wie möglich zu

verwandeln versuchen werden. Extrem

rechte Kämpfer haben bereits jetzt eine

große Popularität in den Sozialen Medien

erlangt. Und Waffenlieferungen könnten

in den Händen der extrem rechten

Verbände bis nach Europa gelangen. Der

Schwerpunkt verdeutlicht das perfide

System im Krieg, das extreme Kräfte für

sich ausnutzen. Krieg ist eben auch ein

Informationskrieg: Propaganda und PR.

Das wissen extrem rechte Kämpfer und

Verbände für sich auszunutzen.

BROT #7

132 DIN-A-5 Seiten; € 3,00.-

brotfanzine@gmx.de

Thommy entschuldigt sich für die

längere BROT-Pause und streamt

mittlerweile Musik, als Vinyl aufzulegen.

Yannig will, dass Putin im nächsten Wald

verscharrt wird und hat sich ein Tidal-

Probeabo geholt.

Ponys auf Pump müssen komische

Fragen beantworten, sind selten lustig

und überhaupt: Was soll der Scheiß?! Jan

Sobe langweilt mit seinem Vortrag über

die Pariser Kommune.

Wer bis zum Schluss durchhält, ist

Anarchist*in oder hat Einschlafprobleme.

Yannig interviewt Roger, Sabrina von

#PunkToo und debattieren über

Sexismus und wie es besser werden

kann. Wobei ich es merkwürdig finde,

dass es hier viel um Online-Aktivismus

und darüber reden geht, als praktische

Aktionen oder praxisnahe

Handlungen/Beispiele zu benennen.

Yannig skizziert die Black- und PoC-Punk-

Story, die wir ja auch bereits in

UNDERDOG #67 „erzählt“ haben.

TRÜMMERRATEN holen ihre Klientel am

Tresen ab, während Paw Lee daran

arbeitet, Profi-Saunist zu werden. Ins

Schwitzen kommen auch Maks, Jesper,

Karla, die aus Langeweile, wegen Geld

und ein bisschen Romantik in den Hafen

der Ehe gefahren sind.

Gesamteindruck:

Das neue Brot hat lange gedauert, fertig

gebacken zu werden, leidet aber nicht an

der Qualität. Brot in Krisenzeiten ist

gleichzeitig auch Lust und Ehrgeiz,

diesen zu trotzen. Das hamburgische

Brot kommt im großen Umfang daher,

dass es in mehreren Lesestunden sättigt

und immer noch hungrig macht. Hungrig

auf DIY, Punk und Ehe oder zumindest

auf Songs über Tiere, Schlager und

Ponys. Mal bierernst, mal gewollt lustig,

aber mit Herz, Hirn und Hefe. Das neue

BROT ist wie das Los eines Deutschen,

der im Ausland lebt und kein gutes Brot

findet. Also selber machen, immer auf

der Suche nach Rezept-Verfeinerungen.

Der letzte Punk

v. Abo Alsleben

DIY 04277 Books, Leipzig 2022, 396

Seiten; €12

www.aboalsleben.de

Über den Autoren: Abo Alsleben

ist ein selbsternannter Hedonist aus

Leipzig-Connewitz. Alsleben ist

musikalisch aktiv in der Punkrock-Band

S.U.F.F. Von ihm erschienen u.a. die

Bücher: „Tschüss Deutschland“, „Ahoi


Connewitz“ und „Punkrock Hooliganz“ –

die drei Romane sind eine Hommage an

den Leipziger Stadtteil Connewitz und

seine alternativen Bewohner*innen. 2020

erschien sein Buch „Mayhem live in

Leipzig – Wie ich den Black Metal nach

Ostdeutschland brachte“ im Bookra-

Verlag.

Über das Buch: Dieter »Otze« Ehrlich

war Sänger der legendären Punkband

SCHLEIMKEIM, die er 1980 zusammen

mit seinem Bruder Klaus in Stotternheim

bei Erfurt gegründet hatte. Es kam zu

wenigen, aber legendären Auftritten,

begleitet von Skandalen und

Gefängnisaufenthalten. Nachdem Otze

1998 seinen Vater mit einer Axt

erschlagen hatte, wurde er in eine

psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er

2005 unter ungeklärten Umständen ums

Leben kam. Anne und Franks Buch ist

aber auch zum anderen die

Charakterstudie eines Menschen, der

innerlich zerrissen und unangepasst war.

Des Weiteren war und ist ihr Buch auch

der Anlass für Abo Alsleben, Otzes

spannende und extrem verstörende

Lebensgeschichte mit eigenen offenen

Fragen zu klären: Wie konnte das alles

passieren? Wie könnte sein Leben

gelaufen sein? Wie war das mit der Band,

mit der Forensik, den staatlichen

Repressionen? Diese Fragen waren die

Grundlage für Abo Alslebens Roman, eine

reale und fiktive Geschichte zu

verknüpfen. Internetrecherchen zur

Person und zur (Anti)Psychiatrie runden

sein Roman ab. Damit keine Zweifel

aufkommen: Abo Alsleben kannte Otze

nicht, die Musik war nicht die seine. Der

Roman ist keine Biografie. Es ist sein

Versuch, Otzes interessante

Lebensgeschichte in Form eines Romans

niederzuschreiben.

Gesamteindruck:

Um Lügen-Vorwürfe vorzubeugen,

benutzt Abo Alsleben andere, aber

ähnlich klingende Namen. Aus Dieter

‚Otze‘ Ehrlich wird Dietrich „Öse“

Aufrecht, aus SCHLEIMKEIM wird

SCHMEISSKEIM. Was gleich bleibt, sind

die bekannten Fakten Otzes Stationen

vom Punk zum Staatsfeind und zum

eigenen Feind in einem System, in dem

für Otze kein Platz zu sein schien. Abo

Alslebens Protagonist ist Einzelgänger

und Zappelphilipp, der – getrieben vom

Freiheitsdrang und einem rebellischen

Geist – sich in einer widerständigen

Gegenkultur wohler fühlt, als in einem

ungeliebten Beruf und einer sinnlosen

Arbeit. Auf der einen Seite wird im

Roman deutlich, wie der Staat auch das

Private regelte und überwachte, weil das

DDR-Regime Anpassung, Einordnung,

Normerfüllung und ordentliches

Auftreten verlangte und ein Anders Sein

(Kleidung, Auftreten und Musik)

drangsalierte und sanktionierte. Auf der

anderen Seite beschreibt Abo Alsleben

auch die Widerständigkeit und Nischen,

die Punks und Andersdenkende suchten

und fanden. Im letzten Kapitel geht es

Abo Alsleben offenbar auch um eine

deutliche Kritik am System Psychiatrie.

Gefangen und ausgeliefert in einem

System, das den Protagonisten der

Geschichte zugrunde richtet. „Der letzte

Punk“ ist eine fesselnde und in einer von

Selbstzerstörung und Ausgeliefertsein

geprägten Lebensgeschichte, die in einer

einfachen, mitunter klischeehaften

Sprache auch an das Scheitern erinnert,

an das Kaputt machen und Kaputt sein

zwischen DDR von unten und über den

menschlichen Abgrund hinaus.

LOTTA #86

64 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.-

Lotta, Am Förderturm 27, 46049

Oberhausen

www.lotta-magazin.de

Hessen hat ein strukturelles

Problem mit Rassismus und rechter

Gewalt. Der aktuelle Schwerpunkt wirft

einen kritischen Blick auf staatliche

Institutionen, skizziert extrem recht

Vorfälle, liefert Erkenntnisse zu „NSU


2.0“ und erschreckende Beispiele wie

rechte Chatgruppen und Polizist*innen,

Bundeswehrsoldaten, Richter

Kontinuitätslinien rechten Terrors

unterstützen. Caro Keller von NSU-Watch

schildert im Interview, welche Rolle

Hessen im NSU-Komplex spielt und gibt

einen Ausblick auf das Projekt „Kein Weg

vorbei“, das einen kritischen Blick auf die

hessischen Zustände wirft. Den

Hintergründen zum NSU 2.0 und den

Versuchen, den Angeklagten im

laufenden Prozess zum Einzeltäter zu

erklären, widmen sich Sebastian Hell

und Simon Tolvaj. Sonja Brasch

analysiert die Arbeit der „BAO Hessen R“

hinter den Floskeln der staatlichen

Öffentlichkeitsarbeit. Die Gruppe

„Pressestelle“ stellt vor, wie sie mit

eigenen Recherchen am Aufbau einer

Gegenöffentlichkeit zu staatlichen

Narrativen in Nordhessen arbeitet.

Gesamteindruck:

Die rechts-terroristischen Morde von

Hanau und der Mord an dem Kasseler

Regierungspräsidenten Walter Lübcke

machten Hessen zu einem „Hotspot“

rassistischer und extrem rechter

Anschläge. Dabei haben Verschweigen

und Verdrängen von rechten Gewalttaten

in Hessen Tradition. Die LOTTA-

Redaktion hat in ihren Ausgaben immer

wieder Fälle skizziert, die offenlegen, wie

Neonazis sich abseits von rechten

Strukturen „problemlos unter dem Radar

der Öffentlichkeit und der

Sicherheitsbehörden bewegen“. Der

Schwerpunkt zeigt aber auch, wie

wichtig es ist,

Betroffenen/Überlebenden/Angehörigen

eine öffentliche Stimme zu geben und

den Fokus auf ihre Perspektiven zu

legen. Es muss eine Solidarität

entstehen, in der die Öffentlichkeit mehr

über die Betroffenen erfährt, als über die

Täter*innen. Wenn Journalist*innen und

Medien das nicht tun, müssen Menschen

dazu befähigt und ermuntert werden, das

selbst zu tun, was „pressestelle“ seit

Januar 2020 als Teil ihrer Arbeit ansieht

und workshops anbietet. Kraftvollstes

Beispiel sind die Angehörigen der

Menschen, die in Hanau ermordet

wurden, sowie die Überlebenden des

rechsterroristischen Anschlags. Sie

schufen sich ihren eigenen Raum und

setzten die Politik unter Druck, dass ein

Untersuchungsausschuss eingesetzt

werden musste. Langsam setzt sich die

Einsicht durch, dass solidarisch kämpfen

heißt, die unterschiedlichen Ebenen von

Betroffenheit anzuerkennen und

einander zu unterstützen. Auch breite

Bündnisse können dabei mithelfen, dem

rechten Treiben auf der Straße, in den

Behörden wirksam etwas

entgegenzusetzen.

OX #162

164 DIN-A-4-Seiten; € 6,90.- + CD

OX-Fanzine, Postfach 110420, 42664

Solingen

www.ox-fanzine.de

Alex Gräbedlinger wird geil, wenn

andere Menschen nach einem Schluck

Weizenbier mit der Zunge schnalzen oder

mit einem Strohhalm den Rest des

Milkshakes schlürfen. Dafür gerät

Kollege Tom van Laak bei

Mückengeräuschen in Panik und

wechselt vom Schlaf- in den Jagdmodus.

Nach dem Ausstieg von Dirk „Diggen“

Jora bei SLIME und dem Neuzugang Tex

als Sänger gab und gibt es viele Online-

Diskussionen darüber, ob und wie SLIME

unter diesen Namen weiter existieren

dürfen und/oder ob das nun Deutsch

Rock oder noch Punk sei und ob Slime

überhaupt noch als Sprachrohr der

„linken Szene“ funktionieren kann. Für

Tex, Alex, Elf, Christian und Nici ist es

ein Neuanfang, Slime 2.0, und keine

Wiederholung, was vor allem auch daran

liegt, dass Tex bisher als

Singer/Songwriter unterwegs war und

als Texter ein Stück weit Authentizität

einbringt. Julia Segantini spricht mit Ren

von PETROL GIRLS über ihren Alltag in


Wien und über die Songinhalte des neuen

Albums, über Femizid ,

Abtreibungsgegner*innen und über

betrunkene cis-Männer in Kneipen. Mit

„Tranny“ gibt es einen Vorabdruck des

gleichnamigen Buches von Laura Jane

Grace (AGAINST ME!), die ihr Leben,

Jugend und das Coming-Out als Trans-

Person skizziert, erstmals ins deutsche

übersetzt. Neben SLIME gibt es mit

MUFF POTTER und anschließend mit

Nagel ein längeres Interview über

Selbstoptimierung, DIY, zu WASTED

PAPER und über das Leben und

Schreiben von

Bordsteinkantengeschichten.

Sänger und Gitarrist David von

KLISCHEE erinnert im von Triebi Instabil

geführten Interview über die Bandzeit,

aber auch von Punk in Hannover und die

dogmatischen Cliquenverhältnisse und

Spannungen zwischen Norder und der

Kidpunk-, Gossenpunks. Später ziehen

THE SOAP GIRLS blank und erklären

ihren Grrrl Slut-Style als

freiheitsliebendes Ding.

Gesamteindruck:

In der prall gefüllten Ausgabe sind für

mich vor allem die vielen Kurzinfos

interessant, die Rubriken zu Punkalben

aus der Vergangenheit und überhaupt:

was die Alten so zu sagen haben. Denn

Punk Historie ist und bleibt spannend,

wenn mensch erfährt, wie gefährlich,

aber auch wie unglaublich festgefahren

die Community so war. Nach wie vor

stellt sich mir aber auch die

Sinnhaftigkeit nach den vielen ein- bis

halbseitigen Interviews, währenddessen

insbesondere die längeren mit SLIME

und MUFF POTTER, sowie das

KLISCHEE-Interview die Highlights sind.

Auch immer gut: die Rubriken und die

Pro- und Contra-Debatten zu einem

ausgewählten Thema und Kalle Stilles

witzig-bissige Kolumnen. Also: den Inhalt

mehr straffen und mehr intensiv geführte

Interviews, dann klappt das auch mit der

Qualitätssteigerung!

PLASTIC BOMB #119

48 DIN-A-4-Seiten; € 5,00.-

Plastic Bomb, Heckenstr. 35, 47058

Duisburg

https://www.plastic-bomb.eu/

wordpress/

Ronja fühlt sich wie in einem

Deutschpunk-Text der 80er Jahre und

auch Basti resümiert, dass „wir der

atomaren Vernichtung in den 80er Jahren

nicht mehr so nah sind wie jetzt“.

THE DEAD END KIDS sind „eine Bande

von Chaoten, die sich in der Schule

kennengelernt haben“. Die Band mit den

2 Engeln für Charlie plaudern über

Glitzer_Power, Corona und über den

Nutzen von sozialen Medien für eine

Band. Carsten, Lars und Udo reflektieren

ihre 33 Jahre Bandgeschichte als

POPPERKLOPPER und dem

Luxusproblem, aus dem reichhaltigen

Repertoire ein Live_Set

zusammenzustellen. Chris Scholz weiß

nicht so recht, worüber er schreiben soll,

gibt es seiner Meinung doch zu viele

Pointen auf das Elend der Welt und

kommt dann vom Krieg in den Irak zum

Grab von Helmut Kohl. Demgegenüber

schaufelt Basti nun nicht mehr nur in der

Gruft nach seltsamen Geschichten,

sondern sendet direkt aus dem Grab und

hat dafür einen eigenen youtube-Kanal

eingerichtet. Philipp seziert Björn

Fischers Buch „Rock-O-Rama - Als die

Deutschen kamen“ und entdeckt einige

Kritikpunkte und unterstellt dem Autoren

Vernachlässigung in der Recherche

durch Wiederholungen und

Verharmlosung von neonazistischen

Umtrieben des Protagonisten, während

Einordnungen andere überlassen

werden, als selbst (politisch) Stellung zu

beziehen. Ronja startet mit „21st Century

Digital Punks“ eine neue Interview-Reihe

mit jungen Punks, um zu erfahren wie

diese die Szene (sic!) erleben, was sie

bewegt und sich wünschen. Insbesondere

Anas Erzählungen sind geprägt von

einem (Über)Leben auf der Straße und


der Suche nach einem Leben, wie sich

das vorstellt, nahezukommen.

Die Dödelhaie schwimmen wieder, Ronja

ist in der Piercing-Hölle, hat eine Daten-

CD von ihrem Hirn und OIRO starten mit

„Coole Narben“ den Versuch, „in den

Dialog zu treten, laut zu denken, andere

Stimmen zu finden“. Wenn das der

Führer wüsste…

Gesamteindruck:

Knallbunt und immer mit einem

chaotischen Charme überrascht die

aktuelle Ausgabe auch mit neuen Ideen,

die allerdings nicht immer überzeugen.

So scheitert Ronja mit dem

abgekupferten Versuch, „Dinge, die total

hot sind, wenn man reich ist…“ dem

MAD-Anspruch gerecht zu werden, stellt

aber mit der neuen Interview-Reihe mit

jungen Punks ein sehr interessantes

Projekt vor, das nicht so dogmatisch und

verkrampft wirkt wie die das ständige

Propagieren zur #PunkToo-Kampagne.

Ansonsten gibt es ein Kessel Buntes mit

unterhaltsamen Interviews, aber auch

mit überflüssigen Artikeln. So hätten

Bastis Eigenwerbung zum eigenen

youtube-Kanal wie auch Chris Scholz’

Kolumne mit anderen qualitativen

Inahlten gefüllt werden können, denn die

Seiten sind eh schon knapp bemessen.

PLOP #101

80 Seiten DIN-A-5-Seiten, S/W &

Farbe; €6,- (inkl. Porto)

https://www.plop-fanzine.de

Das aktuelle PLOP-Comiczine

beinhaltet eine Vielzahl an Comics,

Zeichnungen, Textbeiträge und einem

tollen DIN-A-4-Poster. Diese Ausgabe ist

die erste gedruckte mit farbigen

Beiträgen. Das garantiert zwar noch

nicht eine Qualitätssteigerung, erweckt

aber den Eindruck von Professionalität

und gesteigerten Ansprüchen. Mir

gefallen die kleinen Details und

Zeichnungen (u.a. von Haggi) in den

Textbeiträgen (Lesergesabbel, Inhalt)

außerordentlich gut. Die Technuiken der

Zeichner*innen sind sehr

unterschiedlich. Mahmoud Hamidy nutzt

im mehrseitigen Comic teilweise reale

Fotos und zeigt in verschwommenen

Bildern, die mitunter skizzenartig sind,

eine Anti-Heldengeschichte, die weiter

gezählt werden wird. Dieter Berrs Comic

indes kann mich nicht überzeugen, denn

seine Arbeit wirkt zu künstlichunästhetisch.

Bei Peter Schaafs Sci-Fi-

Fortsetzungscomic Darnak stelle ich

Tiefgang und ein Gespür für eine

spannende Geschichte mit skurrilen

Figuren fest, die mich an die Morloks aus

„Die Zeitmaschine“ erinnern. Die Idee

von Andreas Alt, seine Motive für ein seit

fünf Jahren andauerndes

autobiografisches Comicprojekt mit Text

und Zeichnungen darzustellen, ist sehr

gelungen. Auch gut, das zeitgemäße

Gretel-ohne-Hänsel-Märchen von Markus

Herbert als Fortsetzungscomic. Am

stärksten empfinde ich Stefan Lausls

Comic. Detaillierte und ausgeschmückte

Panels mit viel Text und viel

Zynismus/Sarkasmus. Grandios!

Künstlerisch am besten hat mir der

farbige Comic „Feed the Beast“ von Blue

Print gefallen. Der wäre es wert, als

eigenständiger Comic in DIN-A-4-Format

veröffentlicht zu werden.

Gesamteindruck:

Der Relaunch ist geglückt. Ein sehr gutes

Comic-Fanzine, das meinetwegen ganz

auf einseitige Zeichnungen verzichten,

und mehrere abgeschlossene Kurz-

Geschichten präsentieren könnte. Die

Anzahl der teilnehmenden Comic-

Zeichner*innen/Autor*innen ist

erstaunlich hoch. Die Mischung aus

farbigen Comics in Verbindungen mit

Textbeiträgen (Rezensionen, Kolumnen)

ist ein Beleg für sehr persönliche

Einblicke (Andreas Alt), für viel Fantasie

und Humor, die die eigene Kreativität

beflügelt und für gute Unterhaltung

sorgt.


Proud to be Punk #35

100 DIN-A-5-Seiten; € 3,00.-

jan.sobe@t-online.de

Jan verspürt das Bedürfnis, den

„besorgniserregenden Krieg“ in

irgendeiner Form zu thematisieren und

verwendet eine Anzeige von ‚Mission

Lifetime‘, die Bezug auf Geflüchtete

nimmt. Weiter nimmt Jan auch Bezug

zum 20-jährigen P.t.b.P.-Jubiläum und

teilt den Leser*innen seine Zweifel mit,

ob es heutzutage überhaupt noch Sinn

ergibt, Reviews zu schreiben und zu

veröffentlichen, freut sich aber über neue

Fanzines, die publiziert werden.

Einen großen Teil nimmt das von ihm

benannte „Jubiläums-Special“ ein, wo

Außenstehende ihren persönlichen Bezug

zum P.t.b.P.-herleiten und allgemein über

das Fanzine sinnieren. Für mich ist diese

Form der Rückbesinnung total

überflüssig, selbst wenn Jan andere zu

Wort kommen lässt. Ich finde, es gibt

viele gute Gründe, um sich mit den

eigenen Talenten zu befassen – und das

ohne schlechtes Gewissen! Natürlich

gehört auch ein realistischer Blick und

eine gute Selbstreflexion dazu –

schließlich soll eine Auseinandersetzung

mit den eigenen Potenzialen nicht dazu

führen, am Ende an Selbstüberschätzung

zu leiden. Aber die eigene Werkschau zu

repräsentieren halte ich vor diesen

Fragen unangemessen: Wem nützt es?

Was kann es?

Des Weiteren räumt Jan Geralf Pochop

satte 14 Seiten ein, um von dessen Stasi-

Verhaftung, der Rehabilitation zu

berichten, um Situationen mit rechter

Gewalt in den 1990er Jahren zu

schildern, sowie der Vorliebe für

„exotischen Punk“ und Reisen, um

andere subkulturelle Szenen

kennenzulernen.

Gesamteindruck:

Neben den üblichen, gewohnten

Standard-Rubriken gibt es erneut einige

intensive Buchvorstellungen und mit

Geralf Pochop ein ebenfalls intensives

Aufarbeiten der eigenen

Lebensgeschichte. Jans Ausarbeitungen

sind akribisch und detailreich

wiedergegeben, umfassen Aspekte

regionaler „Szene“-News, Bildungspolitik

und Zeitgeschichte mit Punkbezug.

RAUDITUM #7

72 DIN-A-5-Seiten; €3,00.-

www.facebook.com/rauditumfanzine

DE WESSI ist einigermaßen

wieder fit, hat aber noch depressive

Phasen und ein schlechtes Gewissen DE

WESSI gegenüber, der bekanntlich die

vorherige Ausgabe im Alleingang

produziert hat.

RAWSIDE dann in einem tiefer gehenden

Gespräch mit u. a. Henne, der von DE

WESSI Fragen zum Gefängnisaufenthalt

beantwortet, das dazu geführte frühere

OX-Interview als BILD-Methode kritisiert

und sich zu zweifelhaften Personen aus

anderen Bands wie Wattie (THE

EXPLOITED; Choke (STARS &

STRIPES/SLAPSHOT), mit denen

RAWSIDE Bühne und Backstage-Raum

teilten oder teilen werden, erklärt.

UGLY interviewt Uwe Umbruch auf 10

Seiten zu dessen Punk-Sozialisation und

allen Bands, in denen Uwe spielte und

spielt und erzählt, was ihn an Punk

immer noch „vom Hocker reißt“. Daran

schließt ein weiterer Höhepunkt an. Auf

über 9 Seiten berichten Alex von der

„Lauta Crew“ und Jens Abel (Restloch,

Striking Surface) von ihren Wegen in die

Subkultur, Begegnungen und

Erfahrungen mit rechten Umtrieben,

sowie die zurückliegenden

Veranstaltungen der Lauta Crew. Des

Weiteren sinniert UGLY in seinen

„unsortierten Gedankenfragmenten“

über „Auto, Menschen und Natur“ bzw.

die Probleme durch Autos, Politik und

Lobbyeismus sowie der Versuch,

Lösungen für eine autofreie/autoarme

Zukunft zu formulieren, die er selbst als

Utopie abstempelt.

Gesamteindruck:


Ein paar Bands stellen sich vor, wobei

das BULLSYEYE-Bandinfo 1:1 aus dem

www übernommen worden ist. Warum

werden diese Bands vorgestellt und dann

gibt es nur ein allgemeines Bandinfo, was

jede* im www nachlesen kann? Diese Art

der Bandvorstellung ist überflüssig. Die

eigentlichen Highlights sind die

Interviews mit Uwe Umbruch und das

mit Jens und Alex. Was mir auch gut

gefällt ist, dass bei kritischen Fragen

noch mal nachgehakt wird und auch noch

andere Betroffene „ins Boot geholt“

werden, um Vorurteile/Vorbehalte

auszuräumen oder zu bestätigen. Die

Band zur CD-Beilage (ZSA ZSA GABORS)

wird auch interviewt, wobei die Aussagen

zu den einzelnen Songs auch als Liner

Notes im kleinen Booklet enthalten sind

und so gesehen auch nicht unbedingt

notwendig sind, nochmals – anders

formuliert – abgedruckt zu werden.

Insgesamt aber eine gute Mischung aus

Unterhaltung, Biografien/Rückblenden

und antifaschistischer Note.

ROMP #50

40 DIN-A-4-Seiten; € 2,50.-

Romp Zine, Steinenstraße 17, 6004

Luzern, Schweiz

https://www.romp.ch/

Der Verein «Pro Steinenstrasse»

setzt sich für den Erhalt des

schützenswerten Ortsbildes an der

Steinenstrasse ein. Es soll in seiner

Ursprünglichkeit und Einzigartigkeit

erhalten bleiben. Von der Gentrifizierung

betroffen ist auch der Info- und

Plattenladen ROMP. Der aktuelle Stand

der Dinge ist im 10. Teil immer noch sehr

verwirrend, weil es viel um rechtliche,

baubehördliche Inhalte, um Einsprüche

und um Geklüngel, wo mensch schon mal

die Übersicht verlieren kann. Thrasher

von MegaMosh und Trasher Prod. erklärt

was Punker wie Metaller unterscheide

/verbindet und wünscht sich, dass die

Horde Trashers mit den lichtscheuen

Punks nach den Konzerten zusammen

feiert. In Graz herrscht kein punkfreundliches

Klima. Dennoch gibt es ein

paar Bands sowie Adressen, Locations,

wo punk subkulturelle Angebote in

Anspruch nehmen kann. Sascha, Ralle,

Pete und Dima von FRONTALANGRIFF

skizzieren ihre noch relativ kurze

Band(entstehungs)geschichte und

möchten „wieder ein schönes aggressives

Projekt in die Deutschpunk-Musikwelt

setzen“.

Mille von Red And Anarchist Sounds

erklärt das Radio-Konzept. Dann gibt es

ein Update zur Lage in Myanmar, wo es

durch die Militärdiktatur auch ein Jahr

nach der Machtübernahme für die

subkulturelle Community immer

schwieriger wird, sich offen zu zeigen,

weshalb sich Online-

Widerstandsbewegungen vernetzen. Für

The Fired ist Punk der Background und

„der rebellische Teil in uns“. Der

Herausgeber erinnert in „Geschichten

aus den 80ern“ an Schibi, einem

Weggefährten und Mitbewohner, der

offensichtlich für seine Drogengeschäfte

eine Telefonzelle als Büro

zweckentfremdet hatte und seine

Alkoholausdünstungen in Kombination

mit Schweißfüße „reines Giftgas“ waren.

Gesamteindruck:

Mit Abstand die beste Ausgabe seit

langem. Die aktuelle Ausgabe bietet

Persönliches, Politisches, in Verbindung

mit DIY und widerständiger Subkultur

aus der Nähe und aus aller Welt. Ein sehr

differenzierter Blick auf Menschen, die

Radio machen, in einer Band spielen,

Veranstaltungen organisieren und Punk

im Sinne der DIY-Idee aktiv mitgestalten.

Tierbefreiung #114

85 DIN-A-4-Seiten; €4,00.-

die tierbefreier e.V., Postfach 160132,

40564 Düsseldorf

www.tierbefreiershop.de

Kinder lieben Tiere. Das klingt

erstmal platt und es ist auch nur ein

Gefühl, das ich habe. Ausgelöst durch


viele private Beobachtungen der

Interaktion zwischen Kindern und

anderen Tieren. Und auch manche

tierliche Individuen behandeln Kinder

anders als erwachsene Menschen. Gibt

es eine besondere Verbindung zwischen

ihnen? Und wenn ja, wie viel

schrecklicher ist es dann, dass sie von

Anfang an lernen, dass Tiere angeblich

zum Essen da sind? Beziehungsweise

nicht mal wissen, was sie da teilweise so

gerne essen?

Die Redaktion geht diesen Fragen nach.

Mirjan Rebhan konnte vier Kinder von 10

bis 14 Jahren nach ihren Gründen, vegan

zu sein/leben, befragen. Tom

Zimmermann rezensiert das Kinderbuch

„Tim liebt Tiere“ der Pädagogin Anna-

Lena Wibbecke, die mit der Hauptfigur

ein „Vorbild“ für vegan lebende Kinder

geschaffen hat. Anna Huber widmet sich

dem perfiden System der Tierindustrie

und der Werbung, Kinder an die

Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere zu

gewöhnen. Daran mitverantwortlich sind

auch die Eltern und das direkte Umfeld

der Kinder, die das Leid verharmlosen,

verniedlichen, verdrängen und

verschleiern. Von Tier-Mobilees,

Spielzeug, Kinderbücher mit Bauernhof-

Idylle, Bärchenwurst über Zoo, Zirkus

und Tiere in Animationsfilme. Die

Konditionierung auf Ausbeutung und

Benutzung kann durchbrochen werden,

wenn Eltern in ihrer Verantwortung

aufzeigen, dass Tiere fühlende

Lebewesen sind und keine Waren.

Michael Kohler greift diesen Aspekt auf

und schildert wie Ausbeutung den

Kindern schadet. Ab welchem Alter sind

Kinder in der Lage, Mitgefühl zu

empfinden? Abhängig von ethischmoralischen

Vorstellungen entwickeln

sich Kinder in Phasen. Je nach dem

Erziehungsstil und der

emotionalen/sozialen Bindung können

Respekt, Empathie wachsen. Während

Lobbygruppen Einfluss nehmen auf

Bildungseinrichtungen, bedarf es eines

konzentrierten und nachhaltigen

zivilgesellschaftlichen Engagements, den

Tierschutzgedanken im Bildungssystem

zu integrieren.

Gesamteindruck:

Eine kritische Auseinandersetzung mit

dem Mensch-Tier-Verhältnis muss

selbstverständlich werden und

Bestandteils ein in Erziehung, Bildung,

Forschung, Lehre. Im Internet gibt es

praktische Tipps. PETA hat ein eigenes

Portal für Kids eingerichtet (petakids.de).

Umfangreiches Begleitmaterial für den

Schulunterricht bietet zudem

beispielsweise der „Bund gegen

Missbrauch der Tiere“. Nicht nur für

Fachkräfte, sondern auch für Eltern,

eignen sich darüber hinaus Bilderbücher,

die den richtigen Umgang mit Tieren

thematisieren oder das Verhältnis von

Mensch und Tier beleuchten. Hierbei

können Kindern spielerisch Werte wie

Achtsamkeit und Mitgefühl vermittelt

werden. Auch lässt sich die Thematik auf

einfache Weise in den Alltag integrieren.

So kann man zum Beispiel den Einkauf

im Supermarkt zum Anlass nehmen, um

sich selbst und dem Nachwuchs einmal

die Frage zu stellen, woher eigentlich

das Essen kommt (z.B. das Fleisch, die

Wurst, die Milch oder die Eier), welche

Lebensmittel mit tierischen Produkten

hergestellt werden und warum manche

Menschen vegetarisch oder vegan leben

und somit auf diese Waren verzichten.

Ich hätte mir diese gebündelten und

weitere Projekt-Tipps, Literatur-Hinweise

in der aktuellen Ausgabe gewünscht,

dieses grundlegende Interesse an

Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber

nichtmenschlichen Tieren zu fördern.

TRUST #214

68 DIN-A-4 Seiten; €4,00.-

Trust Verlag, Dolf Hermannstädter,

Postfach 110762, 28087 Bremen

https://trust-zine.de/

Dolf zitiert sich aus einer

vergangenen Kolumne selbst und hat


Lust auf Sommer. Jan Röhlk interessiert

sich neuerdings für Tonstudios und fragt

sich, bei welcher Studio-Session er gerne

mal „Mäuschen“ gespielt hätte. Darüber

hinaus informiert Jan die Leser*innen

über Bücher mit und ohne Punkbezug

aus L.A. und liefert gleichzeitig noch

seine Begleit-Playlist mit.

Bela lassen viele der aktuell gehypten

Post-Punkbands kalt. Sein Herz erwärmt

wird aber bei DEAD FINKS. Claas

Reiners spricht mit Frank Turner über

dessen schwierige Beziehung zum Vater,

dem Umgang mit Drogen und immer

wieder darüber wie ihm seine Frau

geholfen hat, Krisen/Ängste zu

überwinden.

Jan R. führt die TRUST-Frankfurt-

Connection mit einem Interview mit

Daniel PJ1 fort, der – wenn er nicht in

Frankfurt lebt und arbeitet – zu einem

NAKED RAYGUN-Gig fliegt, in einem

Sabbatjahr die Welt bereist, während Jan,

alias 1 L, ihn mit Details konfrontiert, die

Daniel selbst gar nicht mehr wusste.

Caro von THE DEAD END KIDS schätzt

die Band als reflektiert ein, erklärt, dass

die Bandmitglieder privat thematisieren,

was sie ankotzt, und dass sie eine

persönliche Note haben. Zum Abschluss

verschwendet Nils eine Seite mit 4

Fragen an Bruno vom IEPERFEST und

bela stellt einige seiner favorisierten UK

82er Anarcho-Punkbands und -platten

vor.

Gesamteindruck:

Jans LA-Musik- und Film-

Buchbesprechungen und das von ihm

persönlich geführte Gesprächsinterview

mit Daniel PJ1 sind erneut sehr

detailbesessen und ausgeschmückt und

sind neben belas Plattentipps zum Thema

Uk-82-AnarchoPunk wie die sehr

persönlichen Einblicke in Frank Turners

Leben die Lese-Highlights. Dennoch täte

Jan gut daran, seine Aufzeichnungen mal

in komprimierter Form abzudrucken. Der

Rest ist Standard und kommt nicht über

einen Infotainment-Status hinaus.


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