UNDERDOG#69
Schwerpunkt: Punk und Behinderung Unser Schwerpunkt-Thema skizziert zum einen die sogenannte „Cripple Punk-Bewegung“, in der Betroffene Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung beziehen.
Schwerpunkt: Punk und Behinderung
Unser Schwerpunkt-Thema skizziert zum einen die sogenannte „Cripple Punk-Bewegung“, in der Betroffene Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung beziehen.
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UNDERDOG
Ausgabe 69 Sommer 2022 €2,50
Ahoi!
Unser Schwerpunkt-Thema skizziert zum einen die
sogenannte „Cripple Punk-Bewegung“, in der Betroffene
Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar
machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung
beziehen. Sean Gray liefert mit seinem Erfahrungsbericht
einen Diskurs über Inklusion, Zugang, DIY und Punk.
Parallel dazu haben wir uns mit Rollstuhl-Skater David
Lebuser über sein Engagement für barrierefreie Konzerte
unterhalten und darüber, was es heißt in einem Rollstuhl
zu sitzen und mit Barrieren kämpfen zu müssen.
Zusammen mit Lisa und Fotografin Anna Spindelndreier
haben sie das Projekt SIT'N'SKATE ins Leben gerufen, um
mit Aktionen, stylischen Bildern und Lifestyle die Sicht auf
Menschen mit Behinderung zu verbessern und
Stereotypen zu zerstören.
Darüber hinaus diskutieren wir die Begrifflichkeiten
„Behinderung und Handicap“ und skizzieren im Artikel
„Punkrock und Behinderung“ anhand von Fallbeispielen
Aspekte von Selbstermächtigung und Aktionsfelder von
Musikern mit Behinderungen.
Annie Segarra erzählt von ihrem Leben, von ihrer
Diagnose des Ehlers-Danlos-Syndroms und Misshandlung
durch medizinisches Fachpersonal, sowie von ihrer Reise
mit Körperdysmorphie als queere behinderte Person.
FaulenZa gilt aufgrund verschiedener psychiatrischen
Diagnosen als krank und behindert und gibt in „Mad
Pride“ persönliche Einblicke aus ihrem Therapie-Alltag.
Felix Brückner ist Sänger und Gitarrist der Band FHEELS.
Dass er im Rollstuhl sitzt, spielt dabei keine Rolle. Wir
unterhielten uns mit ihm über die veränderten
Lebensumstände. Abschließend unterhielten wir uns mit
Markus MAGENBITTER über seine schwere
neuroimmunologische Erkrankung und wie das
„Chronische Fatigue-Syndrom“ seinen Alltag bestimmt.
Viel Spaß beim Lesen!
Inhalt 3
Mad Pride – Kolumne von FaulenZa 4
Cripple Punk 8
Sit’n’Skate – Destroying Stereotypes 16
Diskurs: Handicap vs. Behinderung 26
Magenbitter – ME/CFS-Betroffener 32
Inklusion auf Konzerten 37
Punkrock und Behinderung 44
Felix Brückner (Fheels) 53
The Future Is Accessible – Annie Segarra 59
Zine-Reviews 65
Abo 75
Impressum
UNDERrDOG
V.i.S.d.P. Fred Spenner
Stolles Weg 1
D-27801 Dötlingen
+49(0)4431-72771
info@underdog-fanzine.de
www.underdog-fanzine.de
Verkaufspreis:
Innerhalb Deutschlands:
€2.50.- + €1,60.- (Porto)
Abo für 4 Ausgaben: €10.- (im Voraus)
Europa:
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4er-Abo: 15.- (im Voraus)
https://www.underdog-fanzine.de/
shop/abo/
Dank an: Felix, David, Annie, Sean,
Markus
Bezugsquellen
Deutschland:
GRANDIOSO-Versand&Mailorder, MAD
BUTCHER RECORDS, KINK RECORDS ,
ROTER SHOP, BLACK MOSQUITO
Mailorder, PEST&CHOLERA,
RIOT BIKE RECORDS, FLIGHT 13
Records, SN-Rex, INCREDIBLE NOISE
RECORDS, RilRec., NO SPIRIT Mailorder,
Cheap Trash Records Stuttgart, Black
Plastic Bremen, TRUE REBEL RECORDS,
Schweiz:
ROMP Info- und Plattenladen Luzern
Österreich:
Dagdas DIY Shows, Infoladen Kukuma,
Akademie der bildenden Künste Wien
Infoläden: Infoladen Bremen, Archiv
für alternatives Schrifttum, Infoladen
Frankfurt
UNDERDOG #70:
Deadline: 01.11.2022
Anzeigenschluss: 15.11.2022
Erscheinungsdatum: 01.12.2022
Hinweis:
Die Deutsche Nationalbibliothek stellt
diese Publikation in Frankfurt und
Leipzig bereit und ist im Internet
abrufbar unter:
http://d-nb.info/1036440567
Psychische und seelische Behinderung
Mad Pride – Zwischen
Wertschätzung und Abwertung
»Ich gelte durch verschiedene
psychiatrische Diagnosen als
krank und behindert.«
Schon oft war ich in psychiatrischen
Kliniken und anfangs war ich ganz
schüchtern damit, Leuten davon zu
erzählen. Bei meinem ersten stationären
Aufenthalt habe ich selbst bei meinen
engsten Freund*innen gezögert, ihnen
davon zu erzählen.
»Ich überlege wie und wer ich sein will
und versuche möglichst viel davon zu
verwirklichen.«
Mittlerweile bin ich – was das angeht –
selbstbewusster geworden. Sich
Unterstützung holen und an sich zu
arbeiten ist etwas, was Kraft und Mut
kostet. Das ist etwas Gutes. Ich möchte
nicht, dass das als etwas angesehen wird,
wofür mensch sich schämen muss. Man
kann sogar stolz darauf sein!
Ich habe in meinem Leben viel Scheiße
erlebt und trotzdem habe ich
therapeutisch ganz beachtliche
Fortschritte geschafft. Zum Beispiel hat
sich mein Selbstwertgefühl verbessert. Ich
kann besser Zeit alleine verbringen als
früher, ich verletze mich kaum noch selbst
und schaffe es meist, mich gesund zu
ernähren.
Trotzdem werte ich mich häufig noch
selbst ab. Fühle mich fehlerhaft und
schlechter als andere. In starken
Momenten versuche ich mich aber auch,
als ‚besonders‘ zu betrachten und stolz zu
sein auf all die Fortschritte, die ich
gemacht habe. Ich habe aber auch Angst,
dass andere Menschen mich durch meine
sogenannten ‚Störungen‘ anders
betrachten. Mein Tourette-Syndrom 1 und
Symptome wie Dissoziationen 2 und
1 Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische
Erkrankung, die sich in motorischen und sprachlichen
Tics äußert. Tics sind spontane, nicht unterdrückbare
und unwillkürlich auftretende sprachliche Äusserungen
oder Bewegungen. Dies können wiederholtes
Augenblinzeln, Naserümpfen, Grimassieren, das
Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten, das
Nachahmen von Tiergeräuschen, Fluchen oder
wiederholtes Aussprechen von obszönen
Schimpfwörtern u. v. m. sein.
2 Dissoziative Störungen werden normalerweise durch
überwältigenden Stress oder Trauma ausgelöst. Zum
Beispiel können Betroffene in ihrer Kindheit
missbraucht oder misshandelt worden sein. Sie können
traumatische Ereignisse erlebt oder miterlebt haben, wie
beispielsweise Unfälle oder Katastrophen. Oder sie
durchleben innere Konflikte, die so unerträglich sind,
Psychische und seelische Behinderung
vernarbte Arme und manchmal starkes
Untergewicht sind auffällig bei mir. Da
mache ich mir oft Sorgen, dass Menschen
mich nicht ernst nehmen, mich nicht auf
Augenhöhe behandeln oder nicht mit mir
befreundet sein wollen.
Ich versuche aus der Selbstabwertung
rauszukommen, indem ich Sachen sammel,
die ich an mir mag. Indem ich, wenn
möglich, mit Leuten rumhänge, bei denen
ich mich gut fühle. Indem ich eigene Hobbys
und Interessen finde. Am besten auch
welche, die ich auch alleine machen kann.
Ich hab angefangen, mir solche Hobbys und
Sachen, die ich an mir mag, zu tätowieren,
damit ich mich immer an sie erinnere. Ich
überlege wie und wer ich sein will und
versuche möglichst viel davon zu
verwirklichen. Ich mache mir klar, dass ich
es auch selbst in der Hand habe wie es mir
geht. Dass ich Einfluss nehmen kann. Zum
Beispiel, in dem ich mir Hilfe hole, wie z. B.
in der Psychiatrie oder, wie zur Zeit, in
meiner therapeutischen Wohngruppe.
Ich war im Verlauf der letzten Jahre auf
unterschiedlichen Klinik-Stationen. Da habe
ich viele gute und auch doofe Erfahrungen
gemacht. Insgesamt hat mich die Therapie
dort weitergebracht und mir geholfen. Zu
den schlechteren Erfahrungen gehört, wenn
ich bei einzelnen Pfleger*innen oder
Ärzt*innen das Gefühl hatte, nicht ernst
genommen zu werden. Wenn ich nicht als
individuelle Persönlichkeit gesehen wurde,
sondern als Krankheit: ‚Frau FaulenzA hat
Diagnose XY und ihre Einwände, Ängste,
Wut, Handlungswünsche sind Symptome
ihrer Krankheit.‘
Mit Zwang umzugehen finde ich auch
schwierig. Wenn ich eine Ausgangssperre
hatte, weil ich als nicht stabil genug
eingeschätzt wurde, hat mich das aggressiv
gemacht. Auch wenn mir die Ruhe
dass ihre Psyche gezwungen ist, inkompatible oder
unakzeptable Informationen und Gefühle von
bewussten Denkvorgängen zu trennen.
wahrscheinlich schon gutgetan hat. Und
gleich neben dem Entspannungsraum war
das ‚Fixierbettzimmer‘. Das fand ich immer
sehr gruselig, auch wenn ich noch nicht das
‚Vergnügen‘ hatte.
Manche sahen es auch als therapeutisch
sinnvoll an, ein ‚normales‘ Leben zu leben.
Die wollten, dass ich mindestens 20 Stunden
lohnarbeiten gehe, weil das einem ja auch
psychisch so guttäte. Die Patient*innen
wieder arbeitsfähig zu bekommen ist oft das
wichtigste Ziel Psychiatrien. Es gab sogar
‚Arbeitstherapie‘. Gegen die habe ich mich
immer sehr gesträubt. Das war wie
Ergotherapie, nur dass wir nicht Sachen
machen durften, worauf wie Lust hatten. Die
Therapeut*innen haben uns Aufgaben
zugeteilt. Die Erzeugnisse wurden dann auf
Basaren verkauft. Denn dass man nicht für
sich selbst arbeitet, war ein wichtiges
Prinzip. Man sollte ja Kapitalismus lernen.
Mein Job war es zum Beispiel Lavendel
Säckchen herzustellen. Das fand ich okay..
Besser als zu töpfern, denn das kann ich
nicht leiden. Da habe ich mich extra doof
angestellt.
Die meisten Pfleger*innen und
Therapeut*innen, die ich in meinen
Psychiatrieaufenthalten hatte, waren aber
echt mega sweet und lieb. Super hilfsbereit
und einfühlsam. Oft wurde ich aus scheinbar
ganz ausweglosen Gefühlszuständen und
Situationen gerettet. Dafür bin ich sehr
dankbar. Wer weiß, wo ich heute stehen
würde, wenn sie nicht gewesen wären?
Kunsttherapie fand ich zum Beispiel
spannend. Das ging richtig deep. Auch wenn
ich eigentlich gar nicht malen kann. Alleine
das Gefühl, mal ein Stück weit
Verantwortung für mich abgegeben zu
können, tat mir gut. So hatte ich einen safen
Rahmen um neue Strategien
auszuprobieren, in denen ich mich noch
nicht sicher fühle. Der Austausch und der
Zusammenhalt mit den Mitpatient*innen war
Psychische und seelische Behinderung
auch oft wohltuend. Ich fand es spannend
plötzlich mit so vielen unterschiedlichen
Leuten aus unterschiedlichen
gesellschaftlichen Schichten und Szenen
zusammengewürfelt zu sein. Ich mochte zum
Beispiel den hohen Working Class Anteil
gern. So unterschiedlich viele Patient*innen
auch waren, hatten wir aber alle ähnliche
psychische Probleme und das schweißte
irgendwie zusammen. Wir kümmerten uns
umeinander und akzeptieren uns so wie wir
waren. Alle hier waren gewohnt, als
‚verrückt‘ zu gelten. So wurde zum Beispiel
auch mein ‚Transfrau sein‘ von den meisten
selbstverständlich akzeptiert, von Leuten,
die nicht in der feministischen Szene aktiv
sind. Während ich mich mit sogenannten
‚Radikalfeministinnen‘ streiten muss, ob ich
nun ein Mann bin oder nicht.
Heute wohne ich in einer therapeuthischen
WG und gehe zusätzlich zu einer ambulanten
Therapeutin, mit der ich tiefenpsychologisch
an Traumas arbeite. Mittlerweile fühle ich
mich endlich stabil und stark genug, um
diese schmerzvollen und tief liegenden
Themen anzugehen. Und um die Kraft nicht
zu verlieren, achte ich ganz besonders
darauf, all die Sachen weiterzuverfolgen, die
mir guttun. Skateboard fahren, Fußball
spielen und als Fan Babelsberg 03
anzufeuern sind neue Hobbys für mich, die
mir viel Kraft und Motivation geben. Auch
hilft Tagebuch zu schreiben. Entweder um
mich mit einem Thema auseinanderzusetzen
oder auch nur um es als Stichpunkt zu
notieren. Dann kann ich es in diesem
Moment loslassen und weiß, dass ich mich
ihm an anderer Stelle widmen werde. Mit
Freund*innen Zeit verbringen, oder zu teilen
ist wichtig für mich. Aber mir tut es auch
gut, ein Repertoire an Methoden zu haben,
die ich auch alleine umsetzen kann, wenn es
mir schlecht geht. Die versuche ich dann zu
machen, selbst wenn ich gerade keine Lust
darauf habe: Aufräumen, eine Serie schauen,
einen Liebeskitsch-Roman lesen, Jonglieren,
etwas kochen, Nordic Walking, eine
Postkarte schreiben zum Beispiel.
Für Momente, wo ich auf nichts Lust habe
und mich nicht zu etwas entschließen kann
habe ich mir meine ‚Selfcare Uhr‘
ausgedacht. Da bin ich ganz stolz drauf.
Ich habe kreisförmig angeordnet, wie
die Ziffern einer Uhr, Tätigkeiten
aufgeschrieben, die mir guttun. In der Mitte
hab ich einen Zeiger gebastelt, den ich eins
weiterdrehe, wenn ich eine Tätigkeit
gemacht habe. Gerade steht er bei mir auf
‚Tagebuch schreiben‘. Wenn ich das heute
oder morgen mache, drehe ich ihn eins
weiter auf ‚malen‘. Dann ist irgendwann
demnächst ‚Malen‘ angesagt. So kommt
auch keines der Hobbys zu kurz. Das finde
ich besonders für die Dinge hilfreich, zu
denen ich mich schwer motivieren kann.
Skills aus dem sogenannten DBT Programm.
(Dialektisch Behaviorale Therapie) helfen
mir, mit sehr starken Emotionen und
Anspannungszuständen zurechtzukommen.
Skills sind alle Tätigkeiten, die helfen und
mir nicht langfristig schaden. Das kann also
auch einfach ‚Serie schauen‘ sein, einen
Stressball kneten, oder alles Mögliche. Wenn
man im Netz Skills-Liste sucht, findet man
viele Tipps und Vorschläge was einem guttun
könnte.
Ich hatte schon mehrere schwere Krisen und
jeweils auch tolle Unterstützung von
Freund*innen.
Sie haben mich zu Vorgesprächen oder in die
Rettungsstelle begleitet, mich besucht und
mir ‚verbotene Lebensmittel‘ auf die Station
geschmuggelt. Manche ließen ihr Handy
nachts laut für mich und haben mich auch
sonst mit Gesprächen unterstützt. Ich hab
das Glück tolle Freund*innen zu haben und
bin ihnen unglaublich dankbar für alles!
Credit: FaulenZa
Cripple Punk
Cripple Punk, wörtlich
„Krüppelpunk“, ist eine
soziale Bewegung, die ins
Leben gerufen wurde, um
unterschiedliche
Darstellungen von Menschen
mit Behinderungen sichtbar
zu machen, die sich nicht
nur auf ihrer
Beeinträchtigung beziehen.
Als Tyler Trewhella 2014 ein
Profil auf Tumblr eröffnete und ein Foto
von sich vor einem Diner postete, hatte
sie keine Ahnung, dass dieses Bild ihr
Vermächtnis werden würde. Das Foto
zeigt sie mit einem Stock in der Hand
und einer Zigarette im Mund, bekleidet
mit Boots, einer Jeansjacke mit
Buttons/Patches und einem Hut mit
Ohrenklappen. Auf einem kleinen
Banner über dem Bild sollte
ursprünglich „Diner Punk“ stehen, aber
sie beschloss, es in„Krüppel-Punk“ zu
ändern. Mit einem Augenzwinkern
betitelte sie den Beitrag mit „I'm
starting a movement“.
Das Posting zog eine Flut von Hassmails
nach sich. Die Reaktionen der zumeist
nichtbehinderten Nutzer*innen waren
ein perfektes Beispiel für
Behindertenfeindlichkeit. Die anonymen
Kommentator*innen waren der Ansicht,
sie hätten das Recht, Tylers Rauchen
mit der Behinderung in Verbindung zu
bringen und verurteilten sie
entsprechend. So erhielt Tyler eine
Reihe von Nachrichten, in denen
behauptet wurde, dass, wenn Tyler
„nicht rauchen würde, [sie] den Geh-
Stock nicht brauchen würde“; dass eine
Behinderung nichts sei, worauf man
stolz sein könne, oder dass eine
Bewegung, die „gesunde Menschen
ausschließt“, kein Punk sei. Trewhella
machte Screenshots von den
Nachrichten, fügte sie dem Beitrag
hinzu und schrieb: „Deshalb brauchen
wir Cripple Punk“. Andere Menschen
mit Behinderungen begannen, den
Beitrag zu rebloggen, ihre eigenen
Selfies hinzuzufügen und die Beiträge
mit Cripple Punk zu markieren. Zu
Trewhellas Überraschung war plötzlich
eine Bewegung geboren.
Als Tyler erkannte, dass sie die Leitfigur
dieser neuen Bewegung war, stellte sie
ein paar Regeln und Grundsätze auf:
„Krüppelpunk ist ausschließlich von
körperlich Behinderten für körperlich
Behinderte“, schrieb sie. „Krüppelpunk
lehnt den Mythos vom ‚guten Krüppel‘
ab. Krüppelpunk ist für den verbitterten
Krüppel, den uninspirierten Krüppel,
den rauchenden Krüppel, den
trinkenden Krüppel, den süchtigen
Cripple Punk
Krüppel, den Krüppel, der/die nicht
‚alles ausprobiert‘ hat [...] Krüppelpunk
ist kein*e Bittsteller*in für die
Nichtbehinderten.“
Im Gegensatz zu den üblichen
inspirierenden Darstellungen von
Behinderung erlaubte diese Etikette
behinderten Menschen, bitter, chaotisch
und ehrlich zu sein.
Die Fragebox in Tyler Trewhellas Blog
wurde zu einem öffentlichen Forum, in
dem die Menschen ebenso oft Witze
machten, wie sie Rat suchten.
Tyler starb 2017, ein Verlust sowohl für
alle selbsternannte Cripple Punks als
auch für die Behinderten-Community.
Aber die Bewegung/Community ist
immer noch lebendig. Nicht nur
aufgrund der Tatsache, dass einige
Menschen immer noch stolz den Namen
Cripple Punk tragen, sondern auch
aufgrund der Art und Weise, wie
Menschen mit Behinderungen in den
Jahren seither online über sich selbst
gesprochen haben.
Auch das Recht, Mobilitätshilfen ohne
Scham zu benutzen und sie als Teil des
Selbst und der eigenen Identität zu
betrachten, wird betont. Cripple Punk
bekämpft den verinnerlichten
Validismus und unterstützt voll und
ganz diejenigen, die damit für ihre
Rechte einstehen und für diese Rechte
kämpfen.
Cripple Media
Emily Flores war in ihren frühen
Teenagerjahren eine aktive Tumblr-
Nutzerin, die gerade anfing, sich eine
eigene Gemeinschaft zu suchen. Sie
erinnert sich, dass sie zum ersten Mal
auf Cripple Punk stieß, und sie hat
immer noch Screenshots von einigen
der Beiträge auf ihrem Handy. „Als ich
sah, wie unverblümt und einfach nur
krass das war, hat mich das sehr
beeindruckt“, erzählt sie. Im Jahr 2018
Emily Flores
war Emily 15 Jahre alt. Und sie war es
leid, zu erleben, dass Menschen wie sie
von nicht-behinderten Erwachsenen
nicht ernst oder wahrgenommen
wurden.
Also gründete sie mit Cripple Media 1
eine Plattform für junge Menschen mit
Behinderung, die aus ihrer eigenen
Perspektive schreiben.
Die Website veröffentlicht eine Reihe
von kulturellen Kommentaren,
persönlichen Essays, Interviews und
Lifestyle-Tipps. Zu den Beiträgen
gehören Reflexionen über Behinderung
und Körperbild,
Behindertenfeindlichkeit und
Polizeibrutalität sowie der Aufstieg von
behinderten Influencer*innen. Die
Autor*innen sind im Teenageralter oder
Anfang zwanzig, und ihre Ideen sind oft
nuanciert und gut recherchiert, ob sie
1 https://cripplemedia.com
Cripple Punk
nun über Kampfrollstühle in Dungeons
& Dragons oder das Fehlen von
behinderten Kabinettsmitgliedern in
Bidens Regierung berichten.
Cripple ist das allererste
Medienunternehmen, in dem junge
Kreative mit Behinderungen die
Sichtweise auf behinderte Menschen
verändern können – und zwar so, dass
sie ehrlicher, genauer, wirkungsvoller
und jugendlicher wird. „Wir tun dies,
indem wir Geschichten erzählen und
berichten, die von uns selbst handeln,
über Themen berichten, die uns
betreffen, Inhalte erstellen, die für uns
repräsentativ sind, und eine
Gemeinschaft fördern, die lange Zeit
ignoriert wurde.“
»Alles machte
plötzlich Sinn.«
Bevor sie den Cripple Punk für sich
entdeckte, empfand Emily oft ein
komplexes Spektrum von Gefühlen, die
sie nicht einordnen konnte. Es ärgerte
sie, zu Veranstaltungen über
Muskeldystrophie geschleppt zu
werden, wo Erwachsene ihr sagten, wie
mutig sie sei. „Ich wusste nicht, warum
ich nicht einfach glücklich sein und
dankbar sein konnte“, sagt sie. Als sie
in die High School kam, hatte sie keine
Freund*innen und spürte, dass jede
Interaktion mit anderen Menschen von
Mitleid geprägt war. Sie hatte das
Gefühl, dass ihre Betreuer*innen und
nicht sie selbst die Hauptperson in
ihrem Leben waren. Als sie über
Cripple Punk las, „ergab plötzlich alles
einen Sinn“, sagt sie, „jede Emotion, die
ich in meiner Jugend empfunden hatte,
ergab einen Sinn“.
„Das war der Zeitpunkt, an dem ich
mich als behindert identifizierte“,
erklärt Emily, „und das war der
Zeitpunkt, an dem ich anfing, wirklich
stolz auf meine Behinderung zu sein,
und anfing, stolz auf meine
Gemeinschaft zu sein.“ Sie hatte nie ein
Foto von sich selbst mit ihrem Rollstuhl
gepostet, und jetzt sah sie nicht nur
Bilder von Menschen im Rollstuhl,
sondern von Menschen im Rollstuhl, die
die Freiheit hatten, sich so darzustellen,
wie sie wollten.
Plötzlich konnte sie ihre eigene Zukunft
sehen, eine Zukunft, die sie sich nur
schwer vorstellen konnte, weil sie so
selten authentische Darstellungen von
Menschen mit Behinderungen gesehen
hatte.
Cripple Punk entstand als natürlicher
Nebeneffekt der jahrzehntelangen
Behindertenarbeit und des
Behindertenaktivismus. Das Ethos des
Cripple Punk ist jedem/jeder vertraut,
der/die die Geschichte der
Behindertenrechtsbewegung verfolgt
hat oder mit der Arbeit von
„Krüppeltheoretiker*innen“ in
Berührung gekommen ist.
Auch in Deutschland bildeten sich Mitte
der 1977er Jahr eigens sogenannte
„Krüppelgruppen“ 2 .
Anstatt in Lehrbücher verbannt zu
werden, erreichte die Krüppelpunk-
2 Krüppelgruppen, gegründet von der
Krüppelbewegung (neue Generation der
Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren),
erstmals 1977 in Bremen (von Horst Frehe und
Franz Christoph), weitere Krüppelgruppen in
Hamburg, Marburg (Krüppelinitiative Marburg,
KRIM, Anfang der 1980er Jahre) und München,
offensive Verwendung des veralteten Begriffs
„Krüppel“ als provokanter Hinweis auf die
anhaltende Stigmatisierung von Menschen mit
Behinderung als Mitleidsobjekte, reine Betroffenen-
Gruppen (ohne nichtbehinderte Funktionär*innen
oder Unterstützer*innen) nach dem Vorbild der
Frauengruppen, Entwicklung des
„Krüppelstandpunkts“, politisches Selbstverständnis
von „Behinderung“, gegen Bevormundung und
Normalitätserwartungen der Gesellschaft,
Initiierung spektakulärer und provokanter
Protestaktionen, Herausgabe der „Krüppelzeitung –
von Krüppel für Krüppel“ 1979-1985.
Cripple Punk
Philosofie junge Menschen wie Emily
Flores in einem vertrauten Umfeld und
in einer leicht verständlichen Sprache.
Für eine Reihe behinderter junger
Menschen, die einen Großteil ihrer Zeit
online verbrachten, eröffneten Accounts
wie der von Tyler Trewhella neue
Möglichkeiten zum Erlernen/Aneignen
von Behindertenaktivismus.
Erin Novakowski
Erin Novakowski, ein weiteres
Mitglied des Cripple Media-Teams 3 ,
erinnert sich ebenfalls daran, wie
behinderte Menschen in den sozialen
Medien ihre Sicht auf sich selbst und
ihr Leben verändert haben. Als
Rollstuhlfahrerin konnte sie sich nicht
vorstellen, jemals figurbetonte Kleidung
oder Röcke tragen zu können. Als sie
begann, Fotos von Menschen mit
Behinderungen zu sehen, die alle
möglichen Outfits trugen, wurde ihr
3 https://cripplemedia.com/team/erin-novakowski/
klar, dass sie nicht mit den übergroßen
Sweatshirts vorlieb nehmen musste, auf
die sie sich bisher beschränkt hatte.
Ebenso wie Emily Flores und Erin
Novakowski von der Sichtbarkeit
behinderter Menschen in den sozialen
Medien betroffen waren, geben sie dies
bei Cripple Media und im Internet an
andere weiter. Novakowski hat etwa
eine halbe Million Follower auf TikTok,
wo sie anfangs Witze über Rollstühle
machte und später alles postete, was sie
wollte. „Man bekommt eine 19-Jährige
zu sehen, die einen Rollstuhl benutzt
und einfach ihr Leben lebt und alberne
Dinge tut. Ich denke, das ist wirklich
vorteilhaft“, sagt sie.
Erin hat sich das Krüppelpunk-Prinzip
zu eigen gemacht, sich nicht an
nichtbehinderte Menschen anzupassen.
Je mehr Zeit sie auf TikTok verbracht
hat, desto klarer wurde ihr, dass sie den
Personen, die sie wegen ihrer
Behinderung beleidigen, keinen
Respekt mehr entgegenbringen sollte.
„Wenn ich auf die Posts zurückblicke,
die ich gemacht habe, als ich jünger
war, habe ich immer darauf geachtet,
dass ich sehr freundlich und respektvoll
war“, berichtet sie. Jetzt freut sie sich,
wenn sie auf ableistische Kommentare
in ihren Videos selbstbewusst reagieren
kann. Gelegentlich nutzt sie diese als
pädagogische Maßnahme. Ein anderes
Mal antwortet sie einfach mit „Ich habe
deine Mutter gefickt, du bist scheiße“.
„Es ist schwer für uns, in den Film, die
Mode oder die Mainstream-Medien
einzutauchen und uns so darstellen zu
lassen, wie wir eigentlich dargestellt
werden wollen“, sagt Erin Novakowski.
»Mit den sozialen Medien haben
wir die Kontrolle darüber, was wir
zeigen und was wir mit der Welt
teilen.«
Cripple Punk
Lauren Melissa, eine der nicht
jugendlichen Redakteurinnen bei
Cripple Media, weiß, wie wichtig es für
junge Menschen ist, diese
Möglichkeiten zu haben, sich selbst
darzustellen. „Vor allem jungen
behinderten Menschen wird vermittelt,
dass sie die Erwartungen nicht erfüllen
und dass der einzige Weg, diese
Erwartungen zu erfüllen, darin besteht,
genau das zu tun, was andere ihnen
vorschreiben“, erklärt sie. „Indem wir
ihnen diese Räume zur Verfügung
stellen, bereiten wir Jugendliche darauf
vor, für sich selbst einzutreten und
später ein selbstbestimmtes Leben zu
führen, anstatt nur von Erwachsenen zu
lernen.“
Das Internet hat mehr Möglichkeiten
für Interessenvertretung und
Aktivismus geschaffen, von
behindertengerechten Blogs, die lange
vor dem Cripple Punk entstanden, bis
hin zu Tags wie #CripTheVote und
#HighRiskCovid19. „Wir können
vielleicht aus den verschiedensten
Gründen nicht immer das Haus
verlassen. Aber das bedeutet nicht, dass
unsere Erfahrungen weniger relevant
sind oder die Rechte, die wir haben
sollten, weniger wichtig sind“, erzählt
Melissa. „Es ist sehr aufregend zu
sehen, welche Art von Arbeit behinderte
Menschen online leisten können, um
Bewusstsein, Akzeptanz und
Sichtbarkeit zu schaffen und für
Behindertengerechtigkeit zu kämpfen.
Ein Jahr vor Trewhellas Tod habe ich sie
gebeten, Cripple Punk zu definieren. Ich
denke, es ist das, was der/die einzelne
daraus macht“ findet Melissa und führt
weiter aus. „Sie berichtete mir, dass es
nicht um eine bestimmte Sache geht. Es
ist eine Gegenreaktion auf die
ableistische Gesellschaft, ein Streben
nach Selbstakzeptanz, eine
gegenkulturelle Bewegung, eine Familie
– und manchmal eine Modenschau.“
Punkshows werden oft mit den
Richtlinien ‚kein rassistisches,
klassifiziertes, sexistisches,
homophobes oder transphobes
Verhalten‘ am unteren Rand der
Showplakate oder Facebook-
Einladungen beworben, und dennoch
wird selten auf die
Behindertenfeindlichkeit innerhalb der
Community eingegangen. Körperlich
Behinderte können nicht immer an
einem Moshpit teilnehmen, weil sie
Gefahr laufen, alte Verletzungen zu
verstärken oder neue zu verursachen.
Es kann sein, dass es keinen Platz gibt,
an dem man sitzen und die Band sehen
kann, und bei kleineren DIY-Kellershows
fehlen oft Rampen oder
Treppenaufzüge.
Kulturelle Teilhabe
Greg Benedetto 4 ist ein Punk aus
Toronto, der Shows bucht und in der
Band S.H.I.T. spielt. Benedetto sagt,
dass er bei der Planung von Konzerten
„selten“ Anfragen zur Barrierefreiheit
erhält. "Die meisten Leute, die danach
fragen, fragen nach der Zugänglichkeit
einer Veranstaltung für ältere
Menschen, bevor sie nach der
physischen Zugänglichkeit fragen", sagt
er. Das liegt nicht daran, dass die
Barrierefreiheit nicht berücksichtigt
wird, sondern daran, dass nicht alle
zugänglichen Räume für bestimmte
Veranstaltungen geeignet sind. „Derzeit
gibt es in Toronto zwei barrierefreie
Veranstaltungsorte mit
geschlechtsneutralen Waschräumen –
The Garrison und D-Beatstro“, sagt er.
„Eine ganze Reihe anderer
Veranstaltungsorte, die wir nutzen
könnten wie bspw. Silver Dollar,
4 https://www.instagram.com/gregben/
Cripple Punk
Coalition, Smiling Buddha, The
Horseshoe Tavern usw. haben eine
Vielzahl von Hindernissen: Sei es eine
Treppe zum Eingang, eine Treppe zum
Waschraum usw. Je nach Größe und
Anforderungen einer Show und der
Verfügbarkeit von Räumlichkeiten
bemühen wir uns immer um einen
Veranstaltungsort, der altersgerecht
und barrierefrei ist, aber da es nur
wenige gibt, ist das nicht immer
möglich.“ 5
Die Teilhabe an einem kulturellen
Leben ist, der
Behindertenrechtskonvention 6 der
vereinten Nationen (UN-BRK) zufolge,
ein Grundrecht aller Menschen, die mit
Beeinträchtigungen in jeglichen Formen
zu kämpfen haben.
Eine barrierefreie Veranstaltung ist als
ein ganzheitliches Konzept zu
verstehen. Dies beginnt bei der
barrierefreien Informations-Beschaffung
durch Internetseiten, Flyer oder
Zeitungsartikel. Hier gilt, dass die
Informationen für alle Menschen
gleichermaßen zur Verfügung gestellt
werden sollten. Im konkreten bedeutet
dies, dass beispielsweise eine
Internetseite über Inhalte mit einfach
formulierter Sprache verfügen sollte,
um Menschen mit geistigen
Einschränkungen Informationen über
die Veranstaltung liefern zu können.
Weiterführend ist eine inklusive
Veranstaltung eine solche, die dafür
aufkommt, dass bauliche Maßnahmen
(z.B. Wege, Tribünen, Beschilderung,
Toiletten) getroffen werden, um einen
barrierefreien Zugang zu der
kulturellen Veranstaltung zu
ermöglichen (vgl. Bernatzki, et al.,
2015, S.113 ff).
5 Quelle: https://brokenpencil.com/features/up-thedisabled-punx/
6 http://www.behindertenrechtskonvention.info/
teilnahme-am-kulturellen-leben-3939/
Viele haben es schon mal gesehen: Ein
großes Konzert. Die Maßnahmen, die
bei solchen Veranstaltungen getroffen
werden, um beispielsweise Menschen
mit Rollstuhl die Teilhabe an der
Veranstaltung zu ermöglichen, sind
meist offensichtlich. Es werden
Tribünen errichtet, von denen aus
Rollstuhlfahrer die Möglichkeit haben,
das Konzert ungehindert zu sehen.
Doch genügen die bisherigen
Maßnahmen? Was muss getan werden,
um inklusive Veranstaltungen
gewährleisten zu können? Wie sieht ein
Besuch von Rollstuhlfahrer*innen in der
Realität aus?
Rollstuhl-Skater David Lebuser schreibt
in seinem Blog 7 über sein Leben als
Rollstuhl-Skater, über seine Reisen mit
Freundin Lisa und über selbstbesuchte
Konzerte.
Der passionierte Punkrocker geht oft
auf Konzerte. Er verfolgt den Ansatz,
sich nicht durch seine Behinderung
einschränken zu lassen. Wenn er auf ein
Konzert in seiner Heimatstadt
Dortmund geht, kennt er die meisten
Konzert-Clubs. Er weiß, in welchen
Clubs steile Treppen sind, oder welcher
nicht über behindertengerechten
Toiletten verfügt.
Er verfolgt die Strategie, den gestellten
Barrieren auszuweichen.
Wenn David beispielsweise einen
Konzert-Club besuchen möchte, welcher
über keine Toilette verfügt, auf die er
irgendwie kommen kann, dann geht er
im Voraus auf eine öffentliche Toilette.
Auch wenn er die momentane Lage
öfter mal als „ätzend“ empfindet, ist
ihm das Ambiente und die Musik
wichtiger, als dass der Club zu 100%
barrierefrei ist.
Wenn es durch den Veranstalter die
Möglichkeit gibt, dass David ein
Konzert auf der Tribüne erleben kann,
7 https://lisa-and-david.net
Cripple Punk
dann nimmt er diese auch wahr. Es sei
oft so, dass Veranstalter zwar eine
Rollstuhlfahrer-Tribüne hinstellen, aber
dann keinen rollstuhlfahrerfreundlichen
Weg dorthin haben. Somit habe er zwar
die Möglichkeit, ein Konzert überhaupt
sehen zu können. Dennoch fühlt er sich
auf diesen Tribünen eher abgegrenzt,
als dass er sich integriert fühlt. Er sagt,
dass dies also eher einer Exklusion
entspricht. Die meisten Probleme
entstehen aber durch die
Sicherheitskräfte. Diese sind oft nicht
geschult in dem Umgang mit Menschen,
die in einem Rollstuhl sitzen. Oftmals
werden Wege versperrt.
Sein genereller Grundgedanke in
Richtung der Vereinbarkeit von
Konzerten und Inklusion, besteht darin,
dass Securities und Türsteher – als
direktes Bindeglied zwischen
Veranstalter*in und Besucher*in – durch
Menschen mit Einschränkungen
geschult werden müssten. Nur dann
können sie es wirklich verstehen, was
es heißt, in einem Rollstuhl zu sitzen
und mit Barrieren kämpfen zu müssen.
„Es bringt nichts, wenn Menschen
eingestellt werden, die irgendwelche
Paragrafen oder Vorschriften erzählen.
Der persönliche Umgang mit den
betroffenen kommt dabei viel zu kurz“. 8
David fühlt sich meistens
frei
„Glücklich macht mich heute vor allem
das Reisen, das Skaten und dass ich
mich dadurch sehr frei fühle“, sagt
David. Das ist fast ein bisschen
komisch, findet er, denn ohne Rollstuhl
hätte er das alles gar nicht erlebt.
Trotzdem fühlt er sich auch manchmal
eingeschränkt. Allerdings dann nicht
von steilen Wegen oder
8 zitiert nach: https://inklusion.hypotheses.org/3144
Bordsteinkanten, denn die sind für ihn
weniger ein Problem. Aber wenn der
Busfahrer nur eine Person mit Rollstuhl
im Bus mitnehmen will und seine
Freundin Lisa auf den nächsten Bus
warten soll, dann wird David auch mal
wütend.
David hat 2021 seinen
sozialversicherungspflichtigen Job an
den Nagel gehängt und zusammen mit
Freundin Lisa Schmitt die Energie in
das gemeinnützige Projekt SIT’N’SKATE
gesteckt. Dieses Projekt will unter dem
Motto „Destroying Stereotypes“ mit
gängigen Klischees über
Rollstuhlfahrer*innen als hilfsbedürftige
Opfer aufräumen.
„Es ist schön sich den Themen widmen
zu können, für die man brennt, für die
man Leidenschaft und tiefe
Überzeugung hat und dennoch fällt
natürlich jede Menge Arbeit damit an,
diese Arbeit und sein Leben zu
finanzieren.“
SIT’N’SKATE ist ein gemeinnütziges
Projekt der SUPR SPORTS gGmbH und
hat die Vision die Gesellschaft
inklusiver zu gestalten und
vorherrschende Vorurteile zu zerstören.
Auf den regelmäßigen Rollstuhl Skate
Treffen steht Teilhabe und
Gemeinschaft im Vordergrund und man
lernt über die niederschwellige
Bewegungserfahrung den Rollstuhl
besser zu beherrschen. So wird man
sicherer im Alltag und tankt
Selbstbewusstsein.
Mit den Bildern von
Rollstuhlfahrer*innen im Skatepark
wollen die Projektleiter*innen
außerdem die Sicht auf behinderte
Menschen verändern. „Wir zeigen, dass
man mit dem Rollstuhl mehr machen
kann und behinderte Menschen nicht
hilflos und zu bemitleiden sind. Sie sind
individuell und bunt, wie alle anderen
Menschen auch.“
SIT’N’SKATE
Destroying Stereotypes!
Fotocredit: Anna Spindelndreier
Hallo David. Schön, dass du dich
an unserem Schwerpunktthema
beteiligst. Wie kam es zu
Gründung des SIT'N'SKATE-
Projektes, das mittlerweile ja ein
Verein ist?
SIT'N'SKATE 1 war anfangs
„nur“ eine Initiative, bzw. ein Name
für das gemeinsame Engagement von
Lisa und mir. Ich habe ja seit 2013
Angebote und Veranstaltungen zum
Rollstuhl Skaten angeboten und als
wir gemeinsam weiter gemacht haben,
haben wir SIT’N’SKATE gegründet.
Zwischenzeitlich waren wir
freiberuflich als so eine Art
Trainer*innen unterwegs, dann hatten
wir eine GbR gegründet. Da wir aber
immer eine soziale, gemeinnützige
Ausrichtung verfolgt haben, sind wir
dann mit dem Hamburger
1 https://www.sitnskate.de/
Sozialunternehmen SUPR SPORTS 2
zusammen gekommen. Dort ist
SIT’N’SKATE nun als gemeinnützig
anerkannt und kann sowohl
Ressourcen von SUPR SPORTS
bekommen, also auch in deren Sinne
sich für Inklusion allgemein in sozialen
Sport Projekten einsetzen.
„Destroying Stereotypes“ lautet
euer Motto für SIT'N'SKATE. Mit
welchen Vorurteilen warst und bist
du konfrontiert?
Als behinderter Mensch, in
meinem Fall als Rollstuhlfahrer, hat
man mit verschiedensten Vorurteilen
zu tun. Als Kern vieler Vorurteile
haben wir mal die „geringe
2 SUPR SPORTS ist ein gemeinnütziges
Sozialunternehmen, welches sich in erster Linie
an soziale Sportprojekte wendet. Es bietet eine
offene Plattform für Qualifizierung, Vernetzung
und Sichtbarkeit: https://www.suprsports.de/
SIT’N’SKATE
Erwartungshaltung“ ausgemacht. Das
bedeutet, verallgemeinert und
vereinfacht, dass, wenn jemand einen
Mensch mit Behinderung sieht, er
nicht viel von ihm und seinen Leben
erwartet. Man denkt oft erst mal daran
wie traurig das ist, wie sehr er leiden
muss und was er alles nicht kann.
Diese Annahmen haben dann oft auch
echte Diskriminierung zur Folge.
Ein Beispiel ist, wenn eine Stadt eine
Sportanlage plant, dann wird diese oft
nicht in allen Bereichen barrierefrei
geplant, weil man sich schlicht nicht
Destroying Stereotypes!
Mit Fotos und Videos 3 von
Rollstuhlfahrer*innen aus dem
Skatepark wollen wir der Gesellschaft
zeigen, dass vieles möglich ist und
man mit Behinderung ein
individuelles, aktives und tollen Leben
haben kann. Uns ist klar, dass das
nicht für jeden zutrifft, aber
andersherum leidet halt auch nicht
jeder an seiner Behinderung und das
muss den Leuten unserer Meinung
nach klar werden.
Schaubild 1: David Lebuser; Fotocredit: Anna Spindelndreier
vorstellen kann, dass behinderte
Menschen diese nutzen können. Dabei
blendet man oft dann auch aus, dass
es nicht immer nur um aktive Teilhabe
geht, sondern dass
Rollstuhlfahrer*innen ja vielleicht auch
einfach mal zuschauen wollen oder
jemand begleiten könnten. Deswegen
wollen wir vor allem hier ein
Gegengewicht setzen.
Wie gehst du mit
Stigmatisierungen um?
Ich versuche zu zeigen, dass das
Label „Behindert“ oder
„Rollstuhlfahrer“ nicht negativ belegt
ist. Außerdem versuche ich zu
sensibilisieren, z. B. wenn es um den
Sprachgebrauch zu geht. Dabei ist mir
aber wichtig keine weiteren Barrieren
aufzubauen, sondern locker und
3 https://youtu.be/Gv0JLNDuW0s
SIT’N’SKATE
flexibel zu bleiben. Ähnlich wie mit
den Vorurteilen muss man dort
natürlich aktiv dran arbeiten.
Führen diese auch mal zu
Selbstzweifel/Depressionen oder zu
mehr Ansporn, es allen zeigen zu
wollen?
Natürlich mache ich auch
sämtliche Gefühlslagen durch und bin
mal müde, mal top motiviert. Ich hatte
in den letzten Jahren oft depressive
Phasen, Schlafstörungen, Zweifel und
war oft nah am Burnout. Das kam aber
weniger durch meine Behinderung an
sich, sondern aufgrund des Workloads
und der sehr emotionalen Arbeit. Als
Aktivist und auch als SIT’N’SKATE-
Gründer bin ich ja sehr nah am Thema,
rund um die Uhr. Es gibt für mich oft
keinen Feierabend im eigentlichen
Sinne, denn ich hänge meine
Behinderung ja nicht ins Schließfach.
So kommt es oft dazu, dass sich
Freizeit und Arbeit ungesund
vermischen und es ist und bleibt
schwierig da einen Strich zu ziehen.
Am Ende ist aber natürlich jede
negative Erfahrung ein Ansporn noch
mehr für die eigenen Rechte zu
kämpfen und jeder Erfolg zahlt auf das
persönliche Wohlfinde Konto ein.
Leider gibt es halt Phasen, in denen
man das Gefühl hat, dass die
negativen Erlebnisse, wie alltägliche
Diskriminierung, Mehraufwand usw.,
überwiegen und dieses Konto kann
dadurch schnell ins Minus geraten. Ich
habe für mich zum Glück einen guten
Weg gefunden wie ich immer wieder
positive Erfahrungen sammeln kann:
skaten gehen, am besten mit
Freund*innen und dann zumindest
auch mal nicht mit der Mission
„Inklusion“, sondern einfach mit der
Mission „Gut fühlen“.
Destroying Stereotypes!
»Es gibt für mich oft keinen
Feierabend im eigentlichen Sinne,
denn ich hänge meine
Behinderung ja nicht ins
Schließfach.«
David, Lisa, ihr seid ja nicht nur
Wheelchairskate-Profis, sondern
auch Botschafter*innen der
Inklusion. Wie konkret lassen sich
denn Möglichkeiten und Methoden
für von stigmatiserungsbedrohte
Menschen bspw. im Rollstuhl in
der Praxis verbessern?
Das kann man pauschal nur
schwer beantworten. Zum Einen muss
dringend die Politik endlich reagieren
und bessere Regelungen für
Barrierefreiheit, Teilhabe und gegen
Diskriminierung definieren. Unsere
Teilhabegesetze haben den Namen im
internationalen Vergleich nicht
verdient und dienen oft nur als Schutz
nach Außen. So kann die Regierung
zeigen, dass man ja was für Menschen
mit Behinderung getan hat, weil steht
ja auf dem Gesetz. Wenn man aber
reinschaut, dann fehlen viele wichtige
Dinge, wie Barrierefreiheit in der
Privatwirtschaft bspw..
Wir sind guter Dinge, dass sich hier
nun auch was bewegt, aber der
Prozess ist viel zu langsam und wir
hängen einfach schon 30 Jahre
hinterher im Vergleich zur USA,
Schweden, UK oder Österreich.
Und dann denken wir natürlich, dass
wir selbst und andere Aktivist*innen,
gemeinnützige Projekte, vor allem
Bottom Up 4 , eine wichtige Wirkung
entfalten, Dinge auch schnell zu
verbessern.
4 Bottom-up-Projektplanung bedeutet, dass das
Team die Projektziele und die entsprechenden
Aufgaben identifiziert, die dann in verschiedene
Aktivitäten und Aufgaben unterteilt werden.
SIT’N’SKATE
Mit unseren Angeboten bspw. machen
wir Kinder und Jugendliche im
Rollstuhl fit für den Alltag und geben
ihnen auch eine große Prise Resilienz,
Selbstbewusstsein und
Selbstständigkeit mit.
Man kommt hier ab und an in ein
Dilemma, denn auf der einen Seite
finden wir, dass Staat und Gesellschaft
sich nicht auf die oft ehrenamtliche
Arbeit von engagierten Bürger*innen
ausruhen können, auf der anderen
Seite ist man aber als kleine
Organisation einfach wendiger und
schneller und kann Missstände so oft
direkt und schnell beseitigen, was
dann wieder als Best Practice für das
Großeganze dienen kann.
Wir hoffen jedenfalls, dass wir unseren
Teil dazu beitragen können, dass sich
die Situation für behinderte Menschen
in unserer Gesellschaft auch wirklich
Destroying Stereotypes!
verbessert und sind von der Wirkung
unserer Projekte auch überzeugt.
Und wie kannst du das öffentliche
Interesse für Menschen mit
Behinderungen bezogen auf
Gleichstellung, Gleichberechtigung
und Selbstbestimmung richten?
Wir versuchen sehr auf
Sichtbarkeit zu drängen, was aber
nicht einfach ist. Und auch hier gibt es
ja ein Dilemma, in dem wir uns immer
wieder finden. Denn auf der einen
Seite wollen wir zeigen wie toll und
positiv ein Leben mit Behinderung sein
kann, aber auf der anderen Seite
müssen wir auch Probleme sichtbar
machen. Denn uns bringt selbst die
größte Sichtbarkeit ja nur etwas, wenn
sich Menschen am Ende auch
hinterfragen und sich für unsere Ziele
einsetzen.
Drop_In_by_Bowlshit_Pascal_Lieleg
SIT’N’SKATE
»Der kleine Kellerschuppen
hingegen ist vielleicht nicht
optimal zugänglich und kann es
vielleicht auch nicht für alle
ermöglichen, aber sprechen hilft
und dann kann man gemeinsam
an Lösungen arbeiten – das ist
Inklusion!«
Um nun das öffentliche Interesse zu
steigern, versuchen wir über unsere
eigenen Kanäle attraktive Angebote
anzubieten, online aber auch bei
Veranstaltungen. Außerdem freuen wir
uns, wenn Magazine, Medien, TV und
Co auf uns zukommen und dem Thema
so eine Bühne geben. Besonders freue
ich mich, dass wir auch immer öfter
außerhalb der „Special Interest“
Behinderten Themen gefragt werden.
Besonders freut mich das gesteigerte
Interesse im Mainstream, aber
persönlich am allermeisten freue ich
mich über das Interesse in Punkrockund
Skateboard-Medien. Einfach weil
das die Welt ist, in der ich mich seit
jeher bewege und ich es wichtig finde,
dass wir auch innerhalb der Subkultur
wichtige und schwierige Themen
behandeln können. Vor allem, wenn
wir das nicht in unseren offenen und
auf Solidarität setzenden Szenen
schaffen, wie wollen wir das dann in
der Gesamtgesellschaft tun?
Welchen Ansatz verfolgst du
dabei?
Ich hoffe, dass wir
Mitstreiter*innen gewinnen können
und dass mehr Menschen einfach auf
Barrierefreiheit und Teilhabe achten.
Wenn Booker von Shows bei den
Destroying Stereotypes!
Venues fragen, ob der Laden denn
auch barrierefrei ist, könnte das für
uns schon einiges bewirken. Oder
wenn Veranstalter vermehrt darauf
achten, dass ihre Angebote auch
Menschen mit Behinderung anspricht,
bzw. sie direkt mit behinderten
Menschen in den Austausch gehen. Ich
jedenfalls freue mich viel mehr über
einen kleinen Kellerschuppen, der
mich fragt, ob und wie sie denn
Teilhabe ermöglichen können, als über
die Super Konzert Arena, die zwar
nach DIN-Norm barrierefrei ist, aber
in der Planung niemals mit einem
behinderten Menschen gesprochen
hat. Denn dort fühle ich mich oft
einfach an den Rand gedrängt.
Inklusiv ist es jedenfalls nicht, wenn
ich fernab von allen anderen Gästen
auf einem Balkon stehe und mein Bier
nur mithilfe von Begleitung aufgefüllt
werden kann. Der kleine
Kellerschuppen hingegen ist vielleicht
nicht optimal zugänglich und kann es
vielleicht auch nicht für alle
ermöglichen, aber sprechen hilft und
dann kann man gemeinsam an
Lösungen arbeiten – das ist Inklusion!
David, du und Lisa reisen oft und
gerne. Ein wichtiges Thema ist die
Barrierefreiheit, die dir/euch
immer wieder begegnen. Was ist
bezogen auf den Alltag in dieser
Hinsicht besonders
nervig/störend?
Beim Reisen gibt es einige
Dinge, die echt nervig sind.
Angefangen von den nicht
ebenerdigen Zügen im Fernverkehr,
der Anmeldepflicht bei der Bahn (und
ja, sie können deine Fahrt einfach
ablehnen), und dass Hotels in
Deutschland es nicht schaffen,
verlässliche Informationen zu
Barrierefreiheit online zu stellen.
SIT’N’SKATE
Und ob nun auf Reisen oder im Alltag
ist es natürlich ätzend, dass man
einfach in sehr, sehr vielen Läden,
Geschäfte, Cafés und Restaurants
nicht reinkommt. Wobei, das ist beim
Reisen sogar oftmals besser. Denn wie
schon erwähnt gibt es schon eine
ganze Reihe an Ländern, die
Barrierefreiheit besser geregelt haben.
In den USA bspw. Dort ist aber die
Hilfsmittelversorgung schlechter und
die allgemeine Gesundheitsversorgung
teurer. Dort können wir einfach in
Hotels einchecken, sogar online das
rollstuhlgerechte Zimmer buchen und
es gibt nur wenige Läden, die nicht
barrierefrei sind und kein Rollstuhlklo
haben.
»Die physische Barrierefreiheit ist
immer noch nicht politisch
geregelt!«
Eine schöne Geschichte, die ich gerne
erzähle, ist von unserer ersten
Zugfahrt in den USA. Wir sind damals
von Boston nach NYC mit dem Zug
gefahren. Da wir uns in Deutschland
immer anmelden müssen, sind wir ein
paar Tage vorher zum Bahnhof an den
Ticketschalter und fragten, was wir
tun müssten. Die Dame am
Ticketschalter schaute mich verdutzt
an und meinte: „Ticket kaufen und
rechtzeitig vor Abfahrt da sein.“
In London sind sämtliche Taxis
rollstuhlgerecht und elektrobetrieben,
sonst bekommen sie gar keine
Zulassung mehr. In Deutschland hieß
es gerade erst wieder von MOIA, es
gäbe keine barrierefreie und
elektrische Lösung, weswegen man
das auch nicht anbieten könne. Wenn
man dann recherchiert (ich kann hier
den Blog und Beiträge von Christiane
Destroying Stereotypes!
Link 5 empfehlen), erfährt man, dass
genau das gleiche auch in London
gesagt worden ist. Da aber die
Regierung klar gesagt hat, wir regeln
das und ihr müsst Lösungen schaffen,
war dies auf einmal problemlos
möglich. Auch hier muss es als einfach
den politischen Willen geben!
Die physische Barrierefreiheit ist
immer noch nicht politisch geregelt!
Nein, vor allem eben nicht in der
Privatwirtschaft. Die Gesetze in
Deutschland haben große und lange
Namen, aber dahinter sind sie oft leer.
So ist in den Gesetzen
„BehindertenGleichstellungsGesetz
(BGG), Bundesteilhabegesetzt (BTHG)
und
Barrierefreiheits(!)Stärkungs(!!!)Geset
z (BFSG) keine Barrierefreiheit
geregelt, die nicht öffentliche Gebäude
regelt. Also müssen wir unseren Kaffee
im Rathaus trinken und wann spielt
eigentlich mal eine Punkband im
Bezirksamt? Also was ich damit sagen
will ist, dass wir gerade die Orte des
täglichen Lebens barrierefrei machen
müssen, und ich weiß nicht, was
andere Menschen in ihrer Freizeit so
machen, aber ich versuche möglichst
selten in Behörden abzuhängen zu
müssen.
Rollstühle werden in Deutschland
von Ärzt*innen als Heil- und
Hilfsmittel verordnet und von den
Krankenkassen finanziert. Warum
musst du deine zum größten Teil
selbst finanzieren?
Das ist ein komplexes und
schwieriges Thema. Auf der einen
Seite bekommt man in Deutschland ja
alle notwendigen Untersuchungen und
Hilfsmittel grundsätzlich bezahlt. In
den USA bspw. nicht, dort ist
5 https://www.behindertenparkplatz.de/
SIT’N’SKATE
Behinderung oft auch ein
Armutsgrund. Wobei auch hierzulande
behinderte Menschen gerne arm
gehalten werden, sei es durch
Vermögensregulierung (wenn sie
Sozialleistungen bekommen dürfen sie
nicht sparen…) oder durch geringe
Löhne in Werkstätten. Aber zurück zu
den Hilfsmitteln. Es ist so, dass man
grundsätzlich gut finden kann und
muss, dass man hierzulande keine
teuren Rechnungen für die wirklich
wichtigen und dringend erforderlichen
Sachen befürchten muss. Aber wenn
man dann genauer hinschaut, tun sich
wieder viele Probleme auf. Auf der
einen Seite ist Inklusion und Teilhabe
am Sport in aller Munde und es ist
auch durchaus gesellschaftlich und
politisch gewollt, dass Menschen mit
Behinderung einen Zugang zu Sport
haben. Dass sie dafür aber Hilfsmittel
brauchen, dass dann wiederum nicht.
So bekommt man in Deutschland nur
unter sehr schweren Bedingungen ein
Hilfsmittel wie einen Sportrollstuhl
bezahlt. Nun kann man hier sagen,
dass die Solidargemeinschaft nicht für
die Hobbyausübung eines Einzelnen
aufkommen muss, aber gehen wir
tiefer in die Thematik, so fällt etwas
erschreckenderes auf.
Ich möchte das an zwei kurzen
Beispielen erklären:
Ein Mensch hat einen Unfall, er
bekommt einen Rollstuhl für seinen
Alltag. Dann möchte er gerne Sport
machen, damit er fit und gesund bleibt
und seinen Rollstuhl auch im Alltag
gut bewegen kann. Normalerweise
fördert die Krankenkasse ja sogar die
Sportbestrebungen ihrer
Mitglieder*innen, z. B. mit einer
Smartwatch als Prämie. Aber für
Menschen mit Behinderung sieht das
anders aus. Den Sportrollstuhl
bekommt er nicht bezahlt, mit etwas
Destroying Stereotypes!
Glück springt ein anderer
Kostenträger ein, aber das ist
hochbürokratisch und oft auch sehr
willkürlich und undurchsichtig. Dann
kauft er sich einen Sportrollstuhl,
macht Sport und wird fit und
selbstständig. Dadurch kann er nun
vielleicht wieder besser am Leben
teilhaben, arbeiten gehen und der
Gesellschaft etwas zurückgeben. Da
müsste die Krankenkasse sich freuen
oder? Nun braucht er irgendwann
einen neuen Rollstuhl für den Alltag
und bekommt den natürlich auch
wieder bezahlt. Aber weil er nun ja viel
fitter ist, bekommt er einen deutlich
schlechteren, denn das reiche ja aus,
um die Wegstrecke im sogenannten
nicht näher definierten Nahbereich zu
berollen.
Bsp. 2: Die Geschichte beginnt
gleichermaßen: Mensch, Unfall,
Rollstuhlversorgung, aber diesmal
macht er keinen Sport, lässt sich
vielleicht sogar gehen und
verschlechtert seine Situation
dadurch. Auch er braucht bald einen
neuen Rollstuhl und hier muss die
Krankenkasse nun auf einmal viel
mehr ausgeben, da er sich mit dem
alten Modell kaum noch bewegen
kann.
Es werden also Mehrausgaben
notwendig und es ist toll, dass diese
auch bezahlt werden. Aber ich glaube
fest daran, dass, wenn wir Menschen
ermutigen und unterstützen ein
aktives Leben zu führen, wir unterm
Strich mehr von haben, sowohl im
Geldtopf der Kassen, als auch als
Gesellschaft, was eh viel wichtiger ist
als Geld.
Und so bezahlte ich meine
Skaterollstühle bislang auch selbst,
wobei ich ja fairerweise erwähnen
muss, dass ich mit meinen
SIT’N’SKATE
Alltagsrollstühlen sehr viel Glück hatte
und ich gerade erst wieder eine gute
Versorgung bekommen habe.
Aber ein Handbike oder Zuggerät?
Oder eine Adaption um den Rollstuhl
ins Auto zu bekommen? Nein das
müssen sie selbst zahlen, denn damit
würde man ja aus den undefinierten
Nahbereich ausbrechen.
Worauf kommt es an, um den
Rollstuhl auf deine Bedürfnisse
anzupassen?
Grundsätzlich ist es erst mal
wichtig, dass ein Rollstuhl gut
angepasst und ausgemessen ist. Leider
sehe ich häufig viel zu breite
Rollstühle und viel zu passive. Passiv
bedeutet hier vor allem wo die Achse
ist. Ist die Achse unterm Hintern,
dreht der Rollstuhl leichter, kippt aber
auch einfacher. Viele verstehen diese
Einstellung falsch und machen den
Rollstuhl möglichst unkippbar.
Dadurch dreht der Rollstuhl aber
schwer und man kann ihn kaum über
unebene Wege oder gar Kanten
manövrieren.
Für mich persönlich sind dann noch
individuelle Dinge wichtig, wie Farbe,
Style und Akzente. Viele trauen sich
nicht Veränderungen am Rollstuhl zu
machen, aber es kann die Akzeptanz
und die Außenwirkung extrem
verbessern, wenn das Teil auch zu dir
passt.
David, gehen wir noch mal zurück,
in die Zeit, wo du nach einem Sturz
mit der Diagnose
Querschnittlähmung konfrontiert
warst. In der Folgezeit ging es dir
darum, wieder
selbständig/unabhängig zu sein.
Wie hast du dieses Ziel erreichen
können?
Destroying Stereotypes!
Nun mein Unfall war ein
drastisches Ereignis, dass mein Leben
komplett umgekrempelt hat. Die erste
Konfrontation mit der Diagnose hat
mich fertig gemacht. Auch wenn ich
mich stark gegeben habe für meine
Familie und meinen
Freund*innenkreis, so habe ich jeden
Tag in den Schlaf geheult. Den Prozess
der Verarbeitung darf man nicht
unterschätzen und er ist bei jedem
Menschen komplett anders. Ich bilde
mir ein, dass mein großes Glück die
gerade laufenden Paralympics waren.
Dadurch konnte ich mir direkt
attraktiven Sport im Rollstuhl
reinziehen, was ich zuvor nie
wahrgenommen habe und das hat
meine Akzeptanz definitiv positiv
beeinflusst, auch wenn ich nicht direkt
Juhu geschrieben habe.
In der Reha wollte ich vor allem wieder
eins: Selbstständig sein und keine Hilfe
brauchen. Dazu habe ich gelernt mit
dem Rollstuhl über Hindernisse zu
fahren, wie man auf Klo geht und man
sich umsetzt. Dass es mir sogar Spaß
gemacht hat, mein neues Gerät
auszuprobieren hat natürlich auch
geholfen und spätestens seit ich den
Skatepark für mich entdeckt habe, war
die Mobilität im Rollstuhl für mich kein
Problem. Doch ich habe noch lange auch
versucht wieder ein paar Schritte laufen
zu können. Und das ist auch völlig
normal und auch völlig okay. Ich möchte
nur gerne an alle appellieren, das
Laufen nicht immer als höchstes Gut
darzustellen, denn das macht es viel
schwieriger mit der Situation
klarzukommen. Viel wichtiger ist die
Mobilität und ob die am Ende zu Fuß
oder auf Rädern stattfindet, ist
grundsätzlich zweitrangig. Ich habe für
mich irgendwann dann entschieden,
dass der Aufwand, den ich dafür
betreibe, vielleicht irgendwann mal ein
paar Schritte gehen zu können, nicht in
SIT’N’SKATE
Relation steht, mit dem, was ich schon
als Rollstuhlfahrer kann. So habe ich
dann einfach gesagt, ich komm klar, ich
bin selbstständig und ich nutze meine
Zeit lieber zum Leben, skaten, reisen
und so weiter. Aber da muss jede*r
ihre/seine Ziele selbst definieren.
Deine ehrgeizigen Ziele führten zu
einem drohenden Burn-Out. Hast du
dich absichtlich mit Arbeit/Projekten
vollgepackt, um dich nicht mit
deiner Behinderung
auseinanderzusetzen?
Nach meinem Unfall, in der Reha,
hatte ich tatsächlich eine recht
euphorische Phase. Ich habe mir meinen
Therapieplan voll gestopft, wollte alles
mitnehmen und habe dann auch direkt
danach mit der Umschulung
angefangen, um wieder arbeiten zu
gehen. Heute wünschte ich mir
manchmal schon, ich hätte mir hin und
wieder mehr Zeit gelassen. Aber der
drohende Burnout kam erst viel später
und hatte damit nichts zu tun. Ich habe
von 2008 bis 2012 ja den Sport erst mal
nur so für mich gemacht, als Hobby, erst
2012 wurde es dann auch zu meinem
Hauptsport und löste Rollstuhlbasketball
langsam ab. Das kam durch meine erste
Teilnahme an einem Rollstuhl Skate
Contest in den USA und ich wollte dann
den Sport auch in Deutschland
bekannter machen. 2013 haben wir
damit gestartet und seit dem versuche
ich mit verschiedenen Projekten,
Vereinen und Verbänden an der Vision
einer inklusiven Skateboard Szene zu
arbeiten. Dass ich mich damit auch
schon mal zu sehr belaste, liegt aber
eher an der Wichtigkeit der Thematik
für mich selbst. Wie schon gesagt, man
legt seine Behinderung nicht zum
Feierabend ab und so stolpert man
schon mal selbst bei einem bierseligen
Punkrockkonzert in eine neue
spannende Idee, die man dann auch
umsetzen möchte. Letztes Jahr musste
Destroying Stereotypes!
ich aber die Reißleine ziehen. Ich habe
meinen Brotjob im Kindersanitätshaus
4ma3ma, der bis dato meinen
Lebensunterhalt bezahlt hat,
aufgegeben, um mehr Ressourcen
freizumachen für die Dinge, die ich mit
voller Leidenschaft und Elan
voranbringen möchte. Und wo ich eben
einen Mehrwehrt durch meine Arbeit
sehe und an die positive Wirkung
glaube. Das hat mir sehr gutgetan und
das hat auch SIT’N’SKATE sehr gut
getan. Dennoch muss ich wieder mal
aufpassen und auch mal Nein sagen,
aber eben nur um die Power für die
Dinge zu haben, die ich bereits mache.
Was sind deine/eure konkreten
Pläne für dieses Jahr?
Dieses Jahr wollen wir unsere
regelmäßigen Rollstuhl-Skate-Angebote
ausbauen. Wir haben nun neben
Hamburg und Dortmund auch Treffen in
Bremen und Hannover geplant.
Außerdem haben wir Kooperationen mit
dem DRIV, dem nationalen Skateboard
Verband, und bringen dort Skaten mit
Behinderung bis nach Italien. Mit dem
Skateboard e. V. in Hamburg sorgen wir
für inklusive Skateparks in der Stadt
und auch anderswo versuche ich
weiterhin diese Themen zu unterstützen.
Ob nun im Fachbereich WCMX 6 des
Deutschen Rollstuhl Sportverbands, bei
SUPR SPORTS, SIT’N’SKATE oder mit
anderen Vereinen. Ich bin sehr froh,
dass sich ein schlagkräftiges und
inklusives Team entwickelt, mit dem wir
gemeinsam diese Themen voranbringen
können.
6 WCMX ist ein Rollstuhlsport, bei dem im
Skatepark-Tricks gemacht werden, wie
Skateboarding oder BMX, meistens in einem
Skatepark. Erfunden wurde der Sport von Aaron
Fotheringham. In Deutschland war David Lebuser
der erste, der diesen Sport bekannt machte.
Diskurs: Handicap vs. Behinderung
Bist du
behindert oder
hast du ein
Handicap?
Immer häufiger wird das Wort
„Handicap“ benutzt, um den Begriff der
„Behinderung“ zu vermeiden. Es gab
und es gibt immer noch sehr viel
verschiedene Meinungen und Ansichten
darüber, ob und wie Menschen
beschrieben werden sollten, die nicht
der Norm entsprechen. Und genau hier
beginnt das Problem. Warum benötigen
wir überhaupt diese Begriffe, um
andere Menschen zu beschreiben? Das
Problem der (Fremd)Definition über
Menschen, die von anderen gelabelt
oder stigmatisiert werden mit einem als
negativ behafteten Begriff, den sie sich
selbst nicht ausgesucht haben.
Die Begriffe „Behinderung“ und
„Handicap“ decken ein breites
Spektrum von Menschen und Realitäten
ab. So umfassen bspw. Menschen mit
Down-Syndrom und
Querschnittsgelähmte bei weitem nicht
die gesamte Komplexität von
Behinderung ab. Es ist daher
notwendig, Behinderung in einer
anderen Weise zu definieren, wenn wir
die unterschiedlichen Realitäten
verstehen wollen, die von den
betroffenen Menschen erlebt werden.
Artikel 2 des Gesetzes vom 11. Februar
2005 über gleiche Rechte und Chancen,
Teilhabe und Staatsbürgerschaft von
Menschen mit Behinderungen bietet
eine erste Definition von Behinderung:
„Für die Zwecke dieses Gesetzes ist
eine Behinderung definiert als jede
Einschränkung der Tätigkeit oder der
Teilhabe an der Gesellschaft, die eine
Person in ihrem Umfeld infolge einer
erheblichen, dauerhaften oder
dauerhaften Beeinträchtigung einer
oder mehrerer körperlicher,
Diskurs: Handicap vs. Behinderung
sensorischer, geistiger, kognitiver oder
psychischer Funktionen, einer
Mehrfachbehinderung oder einer
behindernden Störung erleidet.“
Doch wie der Psychiater und
Arbeitsmediziner Claude Veil feststellt:
„Behinderte Menschen sind eine soziale
Gruppe mit unpräzisen Konturen“.
Die Begriffe für behinderte Menschen
haben in vielen Sprachen eine negative
Konnotation. Sei es „Les Invalides“
(vom lateinischen Wort „invalidus“ für
krank, hinfällig, kraftlos) in Frankreich,
oder „Las personas con minusvalias“
(Personen mit niedrigem Wert) in
Spanien. Auch in Deutschland sprach
man lange Zeit von den Behinderten
oder gar von Schwerbeschädigten.
Immer häufiger ist inzwischen ein
anderes Wort für Menschen mit
Behinderung zu lesen: Handicap oder
gehandicapt.
Der Ausgleich zwischen zwei
ungleichen Teilnehmer*innen – oder wie
bei Hand-in-Cap von Gegenständen –
spiegelt sich 1754 wider, als der Begriff
im Pferderennen auftaucht.1883 ging
das Wort Handicap in den allgemeinen
Sprachgebrauch über. Es steht seitdem
für die Gleichstellung zweier Personen
mit unterschiedlichem Ausgangslevel.
Erst 1915 wurde Handicap mit
Behinderung in Verbindung gebracht.
Zunächst wurden nur Kinder mit einer
körperlichen Behinderung als
handicapped bezeichnet, ehe der
Begriff in den 1950er Jahren auch für
Erwachsene und Menschen mit
Lernschwierigkeiten galt.
Heute ist Handicap als fester
Bestandteil der Alternativ-Begriffe für
Behinderung und in der Welt des Sports
zu finden. Dort wird er am häufigsten
beim Golf verwendet. Es besagt die
Differenz zwischen den benötigten
Schlägen und der Anzahl der Schläge,
die ein*e sehr gute*r Spieler*in zum
Beenden des Platzes benötigt. Handicap
bezeichnet also die Spielstärke, die
Qualität eine*r Golfspieler*in. Je höher
das Handicap, desto schlechter.
Während der Begriff „behindert“
heutzutage als Schimpfwort benutzt
wird, um andere abzuwerten, finden
Betroffene, dass der Begriff
„Behinderung“ ein Merkmal von vielen
einer Person beschreibt. Wichtig ist
ihnen nur, dass das Wort „Mensch“
mitbenutzt wird, da mit dem Begriff
Behinderte ansonsten das Bild einer
festen Gruppe entsteht, die in
Wirklichkeit vielfältig ist. Durch die
Fremddefinition „Der/die Behinderte“
würde die betroffene Person auf ein
Merkmal reduziert werden, das alle
anderen Eigenschaften dominiert.
Demgegenüber „verschwindet bei
Handicap der Mensch vollkommen und
der Fokus wird auf eine (vermeintliche)
Schwäche gelegt“, meint z. B. Jonas
Karpa und unterstützt
Formulierungsvorschläge der
Leidmedien-Community unter
leidmedien.de/begriffe.
Meiner Meinung nach sind beide
Begriffe (Behinderung und Handicap)
unangemessen. Beide Begriffe lenken
den Fokus auf ein Verhalten, ein
Merkmal, das nicht der
gesellschaftlichen Norm entspricht. Ein
Mensch mit einer Spastik etwa, der/die
im öffentlichen Leben, im Alltag zu
sehen ist, wird vielleicht von anderen
als „betrunken“ wahrgenommen, als
„Spasti“ definiert, vielleicht sogar als
„unangenehm“ empfunden, weil das
Gangbild nicht der Norm entspricht. Die
Einordnung erfolgt aufgrund
körperlicher Merkmale, Verhalten und
Sprache, die insgesamt „anders“ ist, als
üblich, als gewohnt, als dass, was
mensch sonst so kennt. Durch die
Herausbildung, der Herausstellung
Diskurs: Handicap vs. Behinderung
dieser Merkmale, beginnen wir
Menschen fremd zu definieren, zu
kategorisieren, zu stigmatisieren. Diese
Abwertung führt in der Folge zu
Ausschlüssen, Diskriminierungen und
Sanktionen. Aber ist ein Mensch, der
mit einer oder zwei Bein-Prothese(n) die
100 Meter schneller läuft, als du und
ich, überhaupt „behindert“? Ein Mensch
in einem Rollstuhl wird behindert, etwa,
wenn er/sie Barrieren vorfindet, eine
Treppe, was er/sie daran hindert in eine
Arztpraxis, in ein Geschäft zu gelangen.
Aber ist ein Mensch in einem Rollstuhl
behindert, wenn er/sie in einer
rollstuhlgerechten Wohnung selbständig
und unabhängig leben kann? Fakt ist,
wir alle machen Unterschiede. Wir
machen Unterschiede, weil wir
Menschen, Verhaltensweisen, die wir
sehen und beobachten, in unserer
Wahrnehmung bewusst und unbewusst
einordnen und dabei Kriterien
aufstellen, die wir nach unseren
eigenen Wertevorstellungen
überprüfen. Alles wird überprüft:
Mimik, Gestik, Mobilität, das Lachen,
die Sprache, die Kommunikation…und
dann entscheiden wir, ob uns jemensch
sympathisch ist, „komisch“ ist,
gleichgesinnt oder anders. Wir
bewerten und werten ab. Tag für Tag
werden im Kindergarten oder der
Schule, innerhalb des Freundeskreises
und der Familie, im Zug und der
Straßenbahn, beim Nachbarn oder im
Blumenladen, Menschen diskriminiert
und ausgeschlossen. Es wird klar
vermittelt, dass nicht jedes Leben gleich
viel Wert besitzt. Worte wie „behindert“,
„schwul“ oder „Opfer“ werden wie
selbstverständlich als Schimpfwörter
eingesetzt.
Inklusion – Exklusion
Die Gesellschaft hat einen Einfluss auf
die Entstehung einer
Behindertenidentität. Menschen mit
Behinderungen sind sowohl moralisch
als auch materiell schlecht integriert.
Sie leiden unter Diskriminierung, aber
auch unter mangelnden an ihre
Situation angepassten Infrastrukturen.
Für eine soziale und behindertenpädagogische
Lösung wird seit einigen
Jahren deshalb viel von Inklusion
gesprochen. Inklusionspädagogik hat
Hochkonjunktur.
Dabei reagieren die vorherrschenden
Konzepte einer inklusiven Pädagogik
auf die Herausforderungen der „Neuen
Sozialen Frage“ oft nach einem
bestimmten Muster: Sie wollen der
exkludierenden Gesellschaft mit
pädagogischen Mitteln begegnen, die
die Situation der Benachteiligten
verbessern sollen, die strukturellen
Diskurs: Handicap vs. Behinderung
gesellschaftlichen Bedingungen aber
unangetastet lassen. Es gibt für
Menschen mit Behinderungen immer
noch stationäre Unterbringungen, die
keine Inklusion zulassen. Ein
strukturelles Problem, wonach
Menschen „behindert“ werden, weil sie
im Rahmen ihrer persönlichen
Interessen und Rechte oft nicht frei
entscheiden dürfen wie sie leben,
wohnen, arbeiten essen und von wem
sie welche Hilfsangebote (etwa bei der
Körperpflege) in Anspruch nehmen
wollen. Mit dieser stationären
Wohnform sind Menschen mit einer
Behinderung also
abhängiger/unselbständiger als
Menschen mit einer Behinderung, die
bspw. in einer sogenannten „inklusiven
Wohngemeinschaften“ leben, wo
Menschen mit und Menschen ohne
Behinderung/Handicap zusammen unter
einem Dach leben.
Ein Blick in die entsprechenden
Gesetzestexte und Vorschriften:
„Menschen mit Behinderung müssen
gleichberechtigt die Möglichkeit haben,
ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu
entscheiden, wo und mit wem sie leben.
Sie dürfen nicht auf eine besondere
Wohnform verpflichtet sein“, besagt
Artikel 19 der UN-
Behindertenrechtskonvention, die seit
2009 auch für die Bundesrepublik gilt.
Und im Sozialgesetzbuch (SGB IX,
Paragraf 9, Absatz 3) heißt es:
„Leistungen, Dienste und Einrichtungen
lassen den Leistungsberechtigten
möglichst viel Raum zu
eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer
Lebensumstände und fördern ihre
Selbstbestimmung.“
Einfacher ausgedrückt: Menschen mit
Handicap/Behinderung sollen – soweit
möglich – frei wählen können, wo, wie
und mit wem sie wohnen. Obwohl sich
durch diese Gesetze die rechtliche
Situation für Menschen mit
Behinderung verbessert hat, fehlt es
weiterhin an geeignetem Wohnraum
und finanziellen Mitteln.
Zusammenfassung und
Fazit
Was ist der Unterschied zwischen einer
Beeinträchtigung und einer
Behinderung? Ist die gleichrangige
Aufzählung von Behinderung und
chronischer Krankheit sinnvoll?
Meiner Meinung nach geht es in den
oben ausformulierten Beispielen um
Abhängigkeiten. Meine Auffassung
deckt sich mit der in Großbritannien
bevorzugten Meinung. Dort bevorzugen
viele Brit*innen den Begriff „Menschen,
die von der Gesellschaft behindert
werden“, anstatt sich einfach auf
„behinderte Menschen“ zu beziehen,
was bedeutet, dass Behinderung von
der Gesellschaft geschaffen wird und
nicht von den Menschen, die mit ihr
leben. Menschen mit Behinderungen
verwandeln ein negatives Image, das
durch die Umkehrung der
Stigmatisierung geschaffen wurde, in
eine positive Identität. Die Ausgrenzung
aus der Gesellschaft hat für sie
Auswirkungen auf Bildung, Karriere
und Gemeinschaftsleben. Sie
beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und
kann dazu führen, dass sie ein
schlechtes Selbstbild haben, obwohl
eine Person mit einer körperlichen
Behinderung das gleiche
Bildungspotenzial und die gleichen
intellektuellen Fähigkeiten haben kann
wie eine Person ohne Behinderung.
Der Grad einer Behinderung oder eines
Handicaps ist nicht ausschlaggebend
für eine gesellschaftliche Teilhabe.
Dennoch wird dieser Grad immer dann
angewandt, um Menschen nach ihren
Fähigkeiten, Talenten usw. einzuordnen.
Das hat auch rechtliche Gründe, etwa
Diskurs: Handicap vs. Behinderung
dann, wenn du mit einem
entsprechenden Nachweis steuerliche
Vergünstigungen in Form eines
Behindertenpauschalbetrages
bekommst. Ich sehe die soziale
Komponente als wesentlich wichtiger
an. Wenn wir Menschen nicht nach
ihrem Aussehen, ihrer
Beeinträchtigung, ihrem „Merkmal“
einordnen und fremd definieren,
sondern den Grad der Abhängigkeit
bemessen, können wir konkret
Fähigkeiten/Talente stärken und
fördern. Etwa, damit ein Mensch, der
im Rollstuhl sitzt, unabhängiger von
anderen wird. Unser Anliegen sollte es
also sein, den Grad der Abhängigkeit zu
verringern. Doch zurzeit sind es immer
noch Ärzte/Ärztinnen, die den Grad der
Behinderung feststellen. Bei jedem
Verfahren wird der komplette
Gesundheitszustand der/des Patient*in
unter die Lupe genommen. Offiziell
heißt es im „Bundesministerium für
Arbeit und Soziales“ hierzu:
»Die Zielsetzung der
Anhaltspunkte bleibt
unverändert: Sie dienen den
versorgungsärztlichen
Gutachtern als Richtlinie und
Grundlage für eine
sachgerechte, einwandfreie
und bei gleichen
Sachverhalten einheitliche
Bewertung der
verschiedensten
Auswirkungen von
Gesundheitsstörungen unter
besonderer Berücksichtigung
einer sachgerechten Relation
untereinander.«
Das bedeutet nichts anderes, als dass
mensch den Gutachter*innen und
Ärzt*innen ausgeliefert ist. Wenn wir
den Fokus auf die soziale
(Un)Abhängigkeit lenken, weg von
physischer und psychischen
Merkmalen, können wir mithelfen,
gesellschaftliche Teilhabe zu fördern
und stärken, wenn wir bereit sind,
unser Abhängigkeitsverhältnis zu
anderen zu verringern. Das
Abhängigkeitsverhältnis eines
Kleinkindes ist noch sehr viel größer.
Doch nehmen wir Rücksicht auf die
Bedürfnisse, die Förderung des
prosozialen Verhaltens, stärken wir
individuell erlernbare Fähigkeiten, die
den Unabhängigkeitsprozess
voranbringen. Da sich in diesen
wechselseitigen Beziehungen
wiederholte Erfahrungen in sozialen
Interaktionen ausbilden, ist der Erwerb
von Kompetenzen, die der für alle
Beteiligten positiven Gestaltung von
Interaktionen dienlich sind, eine
wichtige Entwicklungsaufgabe. Für
mich ist es also wichtiger, die
Unabhängigkeit eines Menschen zu
fördern und stärken, als den Fokus auf
äußerlich sichtbare Merkmale zu
lenken, die lediglich dazu führen, das
eigene Wertesystem zu überprüfen und
andere Menschen auszuschließen, als
teilhaben zu lassen.
Diskussionspapier
»DU BIST WOHL BEHINDERT, ODER
WAS!?«
Begriffsklärung: Wer bin ich? Wie
bezeichne ich mich?
Projekt zur Stärkung von Identität und
Selbsthilfepotenzialen
Diese Datei herunterladen
http://www.isl-ev.de/attachments/
article/2452/Diskussionspapier%20Du
%20bist%20wohl%20behindert%20oder
%20was.pdf
Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener
Markus ‚Magenbitter‘ Blatz ist
39 Jahre alt, wohnt in Berlin,
zeichnet Cartoons und Comix
(bspw,. das PFF-Comic) mit
subkulturellen Themen oder
gestaltet Artworks für Bands.
Markus selbst ist auch großer
Fan von Comics und von
Punk- und Ska-Musik. Früher
war Markus auch als Bassist
in Bands aktiv, musste aber
aufhören, weil er vor 8 Jahren
am Chronischen
Erschöpfungs-Syndrom
erkrankte. Seitdem ist er stark
eingeschränkt. Markus ist
mittlerweile
Erwerbsminderungsrentner
und arbeitet nur noch wenig
als Grafiker. Wir unterhielten
uns mit Markus über die
Folgen der Krankheit und wie
er damit umzugehen gelernt
hat.
»Du merkst, da ist was absolut nicht in Ordnung mit deiner Gesundheit, aber
niemand hat eine Erklärung dafür.«
Markus, du bist ME/CFS-Betroffener.
Die Myalgische
Enzephalomyelitis/das Chronische
Fatigue-Syndrom 1 ist eine schwere
neuroimmunologische Erkrankung,
die kaum erforscht ist. Niemand
kann besser beschreiben, wie es sich
anfühlt, diese Krankheit zu haben,
als Betroffene selbst. Wann hast du
gemerkt, dass da etwas nicht
stimmt?
1 Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische
Fatigue-Syndrom ist eine schwere
neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem
hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Weltweit
sind etwa 17 Mio. Menschen betroffen. In
Deutschland sind es geschätzt bis zu 250.000,
darunter 40.000 Kinder und Jugendliche. Damit ist
ME/CFS relativ weit verbreitet. Die WHO stuft
ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein.
2014, mit 31 Jahren, war ich
plötzlich immer sehr erschöpft, auch
nach einfachsten Aktivitäten. Ich dachte
zuerst, ich wäre nur überarbeitet, aber
auch nach Erholung wurde es nicht
besser. Dazu kamen Probleme mit der
Verarbeitung von Reizen oder
Geräuschen. Der Kopf ist dann schnell
„voll“, und man kann nichts mehr
aufnehmen. Aber die Verläufe sind sehr
unterschiedlich und sehen bei jedem
Betroffenen anders aus.
Das schwierige ist, dass ME/CFS nicht im
Labor nachweisbar ist, laut Blutbild ist
man scheinbar kerngesund. Generell ist
die Krankheit zu wenig erforscht, die
Wissenschaft ist noch auf der Suche nach
dem Krankheitsmechanismus.
Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener
Nachdem ME/CFS in Gesundheitswesen
und Politik lange nicht großartig
wahrgenommen wurde, ist es jetzt als
eine häufige Spätfolge von Corona (Long
Covid/Post Covid Syndrom) endlich im
Fokus.
Wie bist du mit der Diagnose
umgegangen?
Es hat geschlagene 3 Jahre
gedauert, bis ich endlich die Diagnose
hatte, an einer von zwei Fachkliniken in
Deutschland, die sich damit auskennen.
Vorher gab ess eine Odyssee von Arzt zu
Arzt, und keiner konnte etwas finden.
Das war total surreal: Du merkst, da ist
was absolut nicht in Ordnung mit deiner
Gesundheit, aber niemand hat eine
Erklärung dafür.
Schlussendlich die Diagnose zu
bekommen, war dann eine Erleichterung,
da ich endlich wusste, was Sache war.
Wie hat dein Umfeld auf die
Symptome und die Diagnose
reagiert?
Da die Krankheit allgemein kaum
bekannt ist, gab es erst mal viele
Fragezeichen: „Hä – und was ist das
jetzt?“, also für mich viel
Erklärungsbedarf und
Überzeugungsarbeit.
„Chronisches Erschöpfungssyndrom“
klingt ein wenig nach Burn-Out oder
Herbstdepression. ME/CFS ist aber eine
schwere organische Erkrankung, die zu
starken Einschränkungen wie
Berufsunfähigkeit oder auch
Bettlägerigkeit führen kann. Das muss
man den Leuten erst mal vermitteln, und
es dauert eine Weile bis ankommt, dass
ich zum Beispiel keine 1000 m mehr
laufen kann, ohne mich zu überlasten
und hinterher davon eine Stunde
ausruhen muss.
Inzwischen haben es aber alle
einigermaßen kapiert und sind
entsprechend rücksichtsvoll, fragen mich
zum Beispiel nicht mehr, ob ich beim
Umzug helfen kann, was zu Beginn der
Erkrankung noch vorkam.
Was wünschst du dir als Betroffener
vom sozialen Umfeld im Umgang mit
der Krankheit?
Inzwischen weiß mein soziales
Umfeld ja um die Erkrankung, und dass
ich nicht lange gehen und stehen kann
und mich mal für Pausen zurückziehen
muss. Wichtig wäre halt, dass breit über
die Thematik aufgeklärt wird, damit die
Allgemeinheit weiß, dass ME/CFS
ähnlich wie Multiple Sklerose eine üble,
zur Behinderung führende Krankheit ist,
also dass die Schwere des
Krankheitsbildes anerkannt wird.
Die Krankheit ist nicht heilbar, die
Symptome können gelindert werden.
Gibt es etwas, was dir hilft, die
akuten emotionalen/psychischen
Phasen in der Bewältigung
durchzustehen?
Im Alltag komme ich gut zurecht.
Schwieriger wird es in ungewohnten
Umgebungen, zum Beispiel wenn wir mit
der Familie in Urlaub fahren. Oder wenn
ich mich überlaste und nicht an
gemeinsamen Unternehmungen
teilnehmen kann, ist es frustrierend, aber
ich kann auch nichts dagegen machen.
Im Vergleich zu anderen Betroffenen
kann ich mich schnell wieder erholen.
Solche Erschöpfungszustände dauern bei
mir nur 1–2 Tage, bei anderen schon mal
mehrere Wochen oder Monate. Ich weiß
also, dass es nur vorübergehend ist und
auch wieder bergauf geht.
Und für die Seele: Ich hab eine
Psychotherapie gemacht, um die
Situation zu verarbeiten. Das hat sehr
geholfen.
Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener
Allerdings passiert es, dass
Ärzt*innen Menschen mit komplexen
Beschwerden, für die sich mit den
klassischen Methoden keine Ursache
finden lässt, manchmal zu schnell für
psychisch krank halten. Hast du
dennoch den Eindruck, die Diagnose
ist zutreffend oder hast du öfter
daran gezweifelt?
Ja, Ärzt*innen schieben einen
schnell in die „Psycho-Ecke“, mir wurde
von meiner damaligen Hausärztin auch
eine Depression unterstellt, in einer
Reha-Klinik eine mögliche
Persönlichkeitsstörung – das ist schon
verdammt verletzend, was man da
teilweise zu hören bekommt.
Eine Weile lang war ich mir auch noch
unsicher, ob da etwas dran sein könnte.
Aber man ist ja nicht blöd und kennt
seinen Körper, ich habe mich nicht
depressiv gefühlt, sondern krank. Als ich
dann mit anderen Betroffenen Kontakt
hatte, denen es größtenteils genauso
erging, und mit einer auf ME/CFS
spezialisierten Ärztin, war ich mir sicher,
dass ich eine organische Krankheit habe
und nichts Psychisches.
Patient*innen hingegen fühlen sich
vom Arzt /der Ärztin nicht ernst
genommen, missverstanden, als
psychisch krank abgetan. Denkst du,
dass viele Ärzt*innen auch
inkompetent sind und oft keine
Ursachenforschung betrieben, im
Sinne, dir helfen zu wollen? Welche
Erfahrungen hast du diesbezüglich
gemacht?
Das trifft voll und ganz gut, habe ich
ja in der vorherigen Antwort beschrieben.
Was solche Krankheiten wie ME/CFS,
Fibromyalgie oder Reizdarmsyndrom
angeht (alle noch nicht erforscht), haben
die Herren und Damen in Weiß große
Vorurteile. Das wurde ihnen
wahrscheinlich so beigebracht, und ein
Umdenken findet trotz entsprechender
Studien und Hinweise auf organische
Ursachen dieser Krankheitsbilder nur
langsam statt. Die „5-Minuten-Medizin“
trägt halt auch dazu bei, dass Ärzt*innen
ihre Patient*innen in kurzer Zeit abfertigen
müssen, wenn ihre Praxen rentabel laufen
sollen.
Es sind natürlich nicht alle so, ich habe
auch mit sehr korrekten Mediziner*innen
zu tun gehabt, die mich ernst genommen
haben, aber die waren eher die Ausnahme.
Markus, hast du viel zum Thema
gelesen oder recherchiert, um selbst
mehr über die Krankheit zu erfahren?
Was hat dir das gebracht?
Ja, da sich die wenigsten Ärzte damit
auskennen, werden viele von uns Patienten
selbst aktiv und informieren sich durch
Broschüren von Selbsthilfe-Organisationen
oder im Internet. Ich habe sogar auf eigene
Kosten Laboruntersuchungen machen
lassen, die die Krankenkasse nicht bezahlt,
um weitere Dinge abzuklären. Das ist total
bescheuert. Eigentlich sollten ja die
Fachleute diese Arbeit machen, und nicht
wir Betroffene, aber wenn einem niemand
hilft, wird man halt selbst aktiv.
Eine prominente ME/CFS-Patientin ist
übrigens die Politikerin Marina Weisband
(früher Piraten-Partei), gerade wegen der
Ukraine oft in den Medien. Und ältere
Fußballfans kennen vielleicht noch den
ehemaligen Bundesliga-Spieler Olaf
Bodden (u. a. 1860 München). Er musste
wegen der Krankheit seine Fußballer-
Laufbahn beenden und ist heute ein
Pflegefall.
Bereits nach geringer körperlicher
oder geistiger Anstrengung sind
Begleitsymptome (Erschöpfung,
Müdigkeit) stark ausgeprägt. Wie
koordinierst/planst du Abläufe in
deinem Alltag?
Wir ME/CFS-Patient*innen müssen
unsere Energie gut einteilen, Aktivitäten
und Gehstrecken sorgfältig planen. Ich
Magenbitter – Comiczeichner und ME/CFS-Betroffener
kann nicht am Nachmittag mit meinen
Kindern auf den Spielplatz und dann
abends noch auf ein Punk-Konzert gehen,
nur eine „anstrengende“ Unternehmung
am Tag ist möglich. Dieses Fatigue-
Management nennt man „Pacing“.
Wer an CFS leidet, hat den Antrieb,
wird aber von seinem Körper daran
gehindert, wieder aktiver zu werden.
Mensch will, kann aber nicht. Da
scheint ja nur eines zu helfen: absolute
Ruhe und Untätigkeit. Auf was musst
du alles verzichten und was nervt dich
am meisten?
Stimmt, das echt furchtbar, so zum
nichts tun verurteilt sein. Ich habe mich in
meinen Comics und Zines immer gern als
gemütlichen Couch-Potato dargestellt, bin
aber in vielen Dingen recht aktiv und
fleißig. Es ist schon erschreckend, was man
alles nicht mehr machen kann: Tanzen,
Schwimmen, Sport, in einer Band sein,
wild mit meinen Kindern spielen. Aber
irgendwann gewöhnt man sich halt an
diese Untätigkeit. Es geht ja nicht anders.
Immerhin kann ich meine Ruhezeiten
nutzen, indem ich Musik und Hörbücher
höre oder TV schaue (lesen strengt leider
an und geht nur mal eine Viertelstunde
lang). Viele schwerer Betroffene können
nicht mal das, da wäre Fernsehen zu
überfordernd. Zum Beispiel helfe
manchmal einer anderen CFS-Patientin in
meiner Wohngegend, die kann gar kein
Licht mehr verarbeiten, lebt komplett in
Dunkelheit und kann nur noch sehr
eingeschränkt sprechen. Das sind dann
krass harte Zustände.
Demgegenüber bist du ein kreativer
Mensch. Arbeitest du in Zeiteinheiten
und wie langwierig kann ein Projekt
dauern, an dem du arbeitest?
Genau, wenn ich als Grafiker arbeite
und zeichne, mache ich das nur in 20-
Minuten-Einheiten und danach wieder 20
Minuten Pause. So komme ich auf etwa 2
Stunden am Tag. Daneben habe ich mit
meiner Freundin ja noch zwei Kinder.
Letztere und der Haushalt „fressen“ auch
einiges an Energie.
Ich schaffe also nur etwa 25 % vom
Arbeitstag eines gesunden Menschen. An
meinem letzten Fanzine P.F.F. Nr. 4 habe
ich 3 Jahre gesessen! Deshalb mache ich
lieber kleine Projekte. Ich hätte zwar Bock
mal wieder eine längere Comicgeschichte
zu zeichnen, aber wahrscheinlich würde
das 5 Jahre dauern. Und wer weiß, ob wir
uns dann im Atomkrieg mit Russland
befinden, oder ob durch eine Covid-
Variante „Omega“ wieder harter Lockdown
ist und alle Zeichenblöcke zu Klopapier
umfunktioniert werden müssen. So was ist
mir also leider zu langwierig. Dann lieber
hier mal ein Cartoon und da mal ein Flyer.
Was hast du für persönliche Ziele und
Wünsche?
Momentan bekomme ich nur eine
sehr kleine Erwerbsminderungsrente und
muss, so gut es geht, dazuverdienen.
Dadurch hab ich wenig Zeit für
Spaßprojekte wie Fanzines und Comics
zeichnen, das ist schade. Da gibt es noch
zwei Optionen von Behördenseite, die
meine Situation verbessern würden, das
muss ich wahrscheinlich einklagen – mal
schauen, wie das ausgeht.
Ansonsten wäre natürlich Hammer, wenn
endlich jemand ein Medikament gegen
ME/CFS entwickeln würde, und ich wieder
gesund werden könnte. Manche
Forscher*innen arbeiten daran, aber es
wird finanziell noch zu wenig gefördert.
Ansonsten danke für dein Interesse, du
hast dich ja echt schlau gemacht zur
Thematik!
Und an die Underdog-Leser*innenschaft:
checkt mal meine Comics aus:
www.Magenbitter.net
P.S. Tipp: Ihr seid krank und kein*e
Arzt/Ärztin findet etwas? Es gibt an
manchen Uni-Kliniken Zentren für seltene
oder unerkannte Krankheiten, die spielen
dann Dr. House und kriegen vielleicht raus,
wo der Schuh drückt.
Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk
Sean Gray (Bildmitte) und BIRTH (DEFECTS)
»Meine Behinderung ist meine Welt, und ich habe nie etwas
anderes gekannt.«
Sean Gray ist Betreiber und
Gründer der Website „Is This
Venue Accessible?“ 1 , die
Informationen über die
Zugänglichkeit von
Veranstaltungsorten auf der
ganzen Welt katalogisiert. Er
ist außerdem Betreiber von
Accidental Guest Recordings,
spielt in der Band Birth
(Defects) 2 und schreibt für
Presseorgane wie Pitchfork.
1 http://itvaccessible.com/
2 https://birthdefectsyouth.bandcamp.com/
Sean wuchs in der typischen Vorstadt von
Ellicott City, Maryland, auf. Mit 15 fing er
an, sich für Punk zu interessieren. Er
hatte einen Freund, der zufälligerweise
in einer Band war. Er hörte sein
Demotape in seinem Zimmer; schließlich
lud er ihn zu einem Konzert ein, auf dem
er selbst pielte. Der Gig war in einer
alten Kirche, die sich freitags in einen
Treffpunkt verwandelte. Sean hatte über
diese Art von DIY-Konzerten gelesen, sie
aber nie selbst erlebt. Wie viele andere
Jugendliche war er immer nur in große
Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk
Arenen gewesen. Die Vorstellung, dass
man selbst eine Show veranstalten
könnte – und dass die Leute dann auch
kommen würden – schien unwirklich.
Sein Vater setzte ihn an der Location ab.
Als Sean draußen stand, nahm er alles in
sich auf: Die Leute, die vor dem
Veranstaltungsort standen; die Bands, die
ausluden. Es fühlte sich anders, im Sinne
von besonders, an. Er wusste sofort, dass
dies etwas war, an dem er teilnehmen
wollte. Er kannte hier eigentlich
niemanden, und seine Freunde waren
schon drinnen. Sean hörte, wie die Band
anfing und machte sich auf den Weg zum
Eingang. Drinnen schaute er nach oben.
Er konnte nicht in den Konzertraum. Bis
dorthin gab es drei Stockwerke mit
Treppen.
Diagnose CP
Sean hat Cerebralparese, oder was man
gemeinhin als CP bezeichnet. Einfach
ausgedrückt, ist CP eine Art
Hirnschaden, der alles beeinträchtigen
kann, vom Gehen bis zum Sprechen. Es
wird angenommen, dass er wie viele
andere bei der Geburt CP entwickelt
habe. Als er etwa zwei oder drei Jahre alt
war, bemerkten seine Eltern und Ärzte,
dass er bestimmte für sein Alter typische
Entwicklungsschritte nicht vollzog, und
nach einigen Tests wurde er mit CP
diagnostiziert. In der Folge sind seine
Gehfähigkeit und motorische Fähigkeiten
beeinträchtigt. Im Alter von vier Jahren
benutzte er zum ersten Mal eine
Gehhilfe. Wie viele Menschen mit einer
Behinderung lernte Sean, sich an die
Welt um ihn herum anzupassen, auch
wenn es nicht wirklich viel „Anpassung“
gab. Diese Behinderung war seine Welt,
und er hat nie etwas anderes gekannt.
Einsamkeit und
Abgrenzung
Sean besuchte eine öffentliche Schule. Er
wurde in jungen Jahren eingeschult und
konnte mit Gleichaltrigen zusammen
aufwachsen. Für manche Menschen kann
das Aufwachsen mit einer Behinderung
extreme Einsamkeit oder die Abgrenzung
von der Gemeinschaft bedeuten. Sean
habe das zum Glück nie so empfunden.
Er war nicht so aktiv wie die meisten
nicht behinderten Kinder, aber im Großen
und Ganzen musste er sich auch nie
damit auseinandersetzen, der „Andere“
zu sein.
Sean goes PUNK
Sein Vater hatte eine riesige
Plattensammlung und sorgte dafür, dass
Sean das mitbekam. Im Alter von sechs
Jahren zeigte er ihm alles von den
RAMONES bis zu YES. Mit acht Jahren
Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk
kaufte Seans Vater ihm die erste richtige
Stereoanlage, die Schallplatten abspielen
konnte und zwei Kassettenspieler hatte,
damit er Tapes überspielen konnte. Sean
fing an, Mixtapes zu machen.
Als Teenager fing er an, sich für Punk zu
interessieren und hing in dem örtlichen
Plattenladen herum. Er hatte das Gefühl,
Teil von etwas zu sein, aber tief im
Inneren wusste er, dass er das große
Ganze nicht sah. Es gab Dinge, die er
vermisste. Die meisten seiner
Highschool-
Freunde
hatten keine
Ahnung,
warum er in
der
Mittagspause
über Black
Flag, Flipper,
Huggy Bear
oder Merzbow
sprach. Er
machte Mix-
Tapes für
seine Freunde,
aber kaum
jemand konnte damit was anfangen.
Glücklicherweise war sein einziger
richtiger Freund in einer Punkband und
sorgte dafür, dass Sean über alles
Bescheid wusste, was sie veranstalteten –
vor allem über ihre DIY-Shows. Bei dieser
oben erwähnten Kirchenveranstaltung
hatte Sean das Gefühl, dass er nichts tun
konnte. Die drei Treppen schienen
aussichtslos, und alle außer ihm waren
im Saal. Draußen standen ein paar Punk-
Kids, aber Sean hatte zu viel Angst, sie
um Hilfe beim Treppensteigen zu bitten.
In diesem Alter war es ihm peinlich, um
Hilfe zu bitten. Er wollte andere Leute
nicht belasten. So hörte Sean den
größten Teil des Auftritts seines
Freundes, ohne im Saal zu sein.
Irgendwann saß er draußen, als diese
beiden Punk-Kids vorbeikamen und
sagten: „Wow, eine Gehhilfe, was zum
Teufel macht die hier?“ Sean tat so, als
würde er sie ignorieren, konnte es aber
nicht mehr ertragen. Schließlich rief er
seinen Vater an, damit er ihn abholen
kommt.
Zuerst war er traurig, dass er die Band
seines
Freundes nicht
sehen konnte.
Aber das
anfängliche
Gefühl der
Begeisterung
für Punk und
DIY war immer
noch da, und
er wusste, dass
er einen Weg
finden würde,
sich aktiv zu
beteiligen.
Damals sagte
ich zu sich: ‚Wenn ich nicht zu den
Leuten gehen kann, werde ich die Leute
dazu bringen, zu mir zu kommen.‘
Sean begann, sich intensiver mit der
Punk- und DIY-Kultur zu beschäftigen. Er
las Zines und interessierte sich für
Labelarbeit. Das war etwas, das er
wollte, und er wusste, dass er so etwas
schaffen könnte, um seine eigenen
Erfahrungen mit Punk und DIY zu
machen.
Bald darauf fing Sean an, Shows in
Lokalen in Baltimore zu buchen, in denen
Bands seines neu gegründeten Labels
Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk
auftraten; jedes Lokal hatte eine Treppe.
Sean versuchte, barrierefreie
Veranstaltungsorte zu finden, aber es gab
nicht viele. Der Charm City Art Space,
ein kollektiv geführter DIY-
Veranstaltungsort, der bis heute existiert,
war einer der wenigen Orte. Obwohl es
ihm um Inklusion ging, befand sich der
Veranstaltungsort in einem Keller mit
einem Geländer, das nicht sehr stabil war.
Sean hatte sich damit abgefunden. Wenn
er einen nicht barrierefreien
Veranstaltungsort buchen musste, hatte
er immer Freund*innen, die ihm helfen
würden, wenn es nötig war. Zumindest
hatte er sich das eingeredet. Aber am
Ende war da immer noch ein Gefühl des
Schmerzes; es war verletzend, jemanden
bitten zu müssen, ihm zu helfen, seine
Zeit für ihn zu vergeuden. „Das ist halt
mein Leben“, dachte Sean. „Ich muss
einfach damit klarkommen.“ Da er sein
eigenes Label hatte und die Auftritte
selbst buchen konnte, hatte Sean das
Gefühl, die Kontrolle zu haben.
Behindertenfeindlichkeit
Das soll nicht heißen, dass alles in
Ordnung war. Im Punk geht es um
Außenseiter*innen, die durch ihre
Unterschiede vereint sein können. Aber
so hat es sich für Sean nicht immer
angefühlt. „Auf Konzerten starrten mich
die Leute immer noch an. Oft konnte ich
den Veranstaltungsort betreten und
trotzdem nichts sehen, weil gemosht oder
gedrängelt wurde oder die Räume zu eng
waren. Ich hatte Angst, dass meine
Gehhilfe jemandem in die Quere kommen
könnte, und ich hatte stets das Gefühl,
nur eine Last für andere zu sein. An
vielen Orten gab es keine Bühnen, sodass
ich nicht einfach irgendwo an der Seite
stehen konnte. Manchmal, wenn ich für
die Band eines Freundes arbeitete und
Merch verkaufte, spielten die Leute mit
meiner Gehhilfe, als wäre sie ein
Spielzeug. Manchmal habe ich sie darauf
angesprochen und ihnen gesagt, dass sie
mir gehört, aber manchmal habe ich es
einfach ignoriert und es auf sich beruhen
Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk
lassen. Selbst wenn ich Kommentare
losließ, tat es innerlich weh. Es war eine
schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich
anders war. Ich habe mich oft
zurückgehalten, weil ich keinen Ärger
machen wollte. Und ich hatte das Gefühl,
dass ich die einzige Person war, die diese
Probleme hatte. Durch mein Schweigen
hatte ich fast das Gefühl, dass ich mich in
gewisser Weise dem
Behindertenfeindlichkeitsdenken
anpasste. Dass ich mich genauso wie die
Behinderten sehen wollte und meine
Behinderung in der nichtbehinderten
Umgebung um mich herum fast
verleugnete.“
DIY und Inklusion
Viele Leute denken, dass Seans
Geschichte eine Erfolgsgeschichte ist,
weil er weitestgehend unabhängig und
mobil ist, viel unterwegs ist, etwas
unternimmt und aktiv ist. Oft hat er
jedoch auf Veranstaltungen von Leuten,
die er nicht kennt, zu hören bekommen,
wie toll es ist, dass er sich als Mensch mit
Behinderung geoutet hat, und dass es
ihm scheißegal sei, was die Leute
denken. „Zuerst fühlte es sich gut an,
diese Kommentare zu hören, aber
irgendwann merkte ich, dass es genauso
weh tat, wie, wenn sich die Leute über
meinen Rollator lustig machten. Selbst
jetzt habe ich manchmal noch das Gefühl,
dass ich wegen meiner Behinderung wie
ein Kind behandelt werde, dass
bemitleidet wird.“
Je älter Sean wird, desto mehr wurde ihm
bewusst, wie viel Glück er hat, dass er
Punk und DIY für sich entdeckt hat,
Gutes und Schlechtes erleben darf. „Mir
ist auch klar, dass ich, wenn ich schon
das Privileg habe, etwas anderes zu
erleben, zumindest versuchen sollte, den
mangelnden Diskurs über Behinderungen
in unserer Community anzusprechen.
Wenn jemand körperlich nicht zu einer
Show gehen kann, entsteht ein Gefühl
der Ablehnung.“
Dass die DIY-Community so sehr auf
Inklusion setzt, macht dies obsolet. Das
liegt auch daran, dass Sean ein positiv
denkender Mensch ist und zunächst
vordergründig alle möglichen Vorteile
sieht, aber:„Zuerst dachte ich, dass
meine Behinderung keine große Sache
sei, weil sie nicht beachtet wurde, aber
mit der Zeit habe ich gemerkt, dass
niemand etwas sagt, weil es nicht ‚ihr
Problem‘ ist, oder weil sie mein Handicap
vielleicht nicht sehen wollen.“
Es hat den Anschein, dass Menschen mit
Behinderungen nicht ernst genommen
werden, weil das Thema Behinderung
nicht zu den Top-Themen gehört – nicht
nur in den Mainstream-Medien, sondern
auch in der DIY-Blase. Viele glauben
vielleicht, dass sich die Verhältnisse für
Menschen mit Behinderungen
normalisiert haben, seit es den
Americans with Disabilities Act 3 und
3 Der Americans with Disabilities Act (ADA) wurde
1990 in Kraft gesetzt. Das ADA ist ein
Bürgerrechtsgesetz, das die Diskriminierung von
Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des
öffentlichen Lebens verbietet, darunter Arbeitsplätze,
Schulen, Verkehrsmittel und alle öffentlichen und
privaten Orte, die der Öffentlichkeit zugänglich sind.
Mit diesem Gesetz soll sichergestellt werden, dass
Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte
und Möglichkeiten haben wie alle anderen. Das ADA
gewährt Menschen mit Behinderungen den gleichen
Schutz wie Menschen, die aufgrund ihrer Rasse,
Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer nationalen
Herkunft, ihres Alters oder ihrer Religion
benachteiligt sind. Es garantiert die
Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen
in öffentlichen Unterkünften, bei der Beschäftigung,
Ein Erfahrungsbericht über Inklusion, Zugang, DIY und Punk
andere Richtlinien gibt, aber das ist bei
weitem nicht der Fall.
Sean weiß, dass es für die meisten
Locations fast unmöglich ist, die Räume
optimal für alle zugänglich zu machen.
Aber es gibt andere Möglichkeiten,
Räume zu schaffen, die für Menschen mit
Behinderungen besser zugänglich sind.
„Ich habe an einigen Orten Schilder
gesehen, auf denen steht: ‚Wenn Sie Hilfe
brauchen, um in den Veranstaltungsort
zu gelangen, fragen Sie die Person an der
Tür‘, was ein guter Anfang ist – obwohl
wir verstehen müssen, dass es für viele
Menschen mit Behinderungen
Überwindung kostet, um Hilfe zu bitten.“
Und Sean hat auch eine Bitte, wie
Veranstalter*innen Situationen
verbessern können. Wenn
Veranstalter*innen das nächste Mal eine
Spendensammlung für den
Veranstaltungsort machen, könnten diese
prüfen, ob sie mit dem Geld bessere
Geländer installieren können. Und: Wenn
Leute eine Veranstaltung buchen, könnte
auf dem Flyer und/oder auf der
Facebook-Einladung angegeben werden,
ob der Veranstaltungsort barrierefrei ist
oder nicht. Das wäre schon mal ein
Anfang und eine große Hilfe, die auch die
solidarische Unterstützung aufzeigen
kann, die Nicht-Behinderte Behinderte
Menschen entgegenbringen.
„Ich weiß, dass meine Erfahrungen durch
meine eigene Perspektive und mein
Privileg geprägt sind“, erzählt Sean.
Behinderung ist ein Spektrum und jede*r
erlebt Behinderung und die damit
einhergehende erlebte Diskriminierung
anders.“
Raus aus der Tabuzone
Das Tabuisieren von Behinderungen geht
weit über die Veranstaltungsorte hinaus,
dabei gebe es so viel mehr zu
diskutieren. „Wir müssen unsere eigenen
DIY-Gemeinschaften in den Fokus
nehmen und uns konkret äußern, um
Situationen/Verhältnisse zu verbessern,
was nicht nur für Veranstaltungsorte gilt,
sondern auch was für die Inklusion in
Werkstätten, Plattenläden usw. getan
werden kann. Musik und Kunst sind von
Natur aus sozial, und wenn wir nicht
versuchen, alle einzubeziehen, schadet
das nicht nur der
Behindertengemeinschaft, sondern auch
jeder anderen Gemeinschaft. Meine
Stimme ist eine von vielen. Es ist an der
Zeit, einen ernsthaften Dialog zu führen,
denn das, was mir als Fünfzehnjährigem
passiert ist, kommt öfter vor, als man
denkt.“
»Mir ist auch klar, dass ich, wenn ich
schon das Privileg habe, etwas
anderes zu erleben, zumindest
versuchen sollte, den mangelnden
Diskurs über Behinderungen in
unserer Community anzusprechen.
Wenn jemand körperlich nicht zu
einer Show gehen kann, entsteht ein
Gefühl der Ablehnung.«
im Verkehr, bei staatlichen und kommunalen
Dienstleistungen und in der Telekommunikation. Das
ADA ist in fünf Titel (oder Abschnitte) unterteilt, die
sich auf verschiedene Bereiche des öffentlichen
Lebens beziehen.
Punkrock und Behinderung: Image
und Teil einer verkrüppelten
Subkultur
Ian Dury
Dieser Artikel
befasst sich mit
Punk und
Behinderung, und
zwar speziell in der
Verortung in der
(Post)Subkultur. Er
zielt darauf ab,
unser Verständnis
sowohl von Punk
selbst als auch von
der Subkulturtheorie
zu erweitern. An
Beispielen wie Ian
Dury, Johnny Rotten,
PKN verdeutlichen
wir Aspekte von
Selbstermächtigung
und Aktionsfelder
von Musikern mit
Behinderungen, die
damit Behinderung
enttabuisieren
und/oder sich
hieraus ein Image
gebastelt haben, um
zu provozieren.
Behinderung ist eines der
grundlegendsten – und doch eines der
am wenigsten erforschten –
Forschungsfelder des Punk-Milieus.
Wir sollten anerkennen, dass
Andersartigkeit und Authentizität in
einigen populären Musikformen
privilegierte Kategorien sind. Es ist
richtig, dass Punk in den Anfangstagen
eine exotische Außenseiter-Subkultur
war, aber wir sollten ihn trotz seiner
Privilegierung von Modi der
Unartikularität nicht allzu sehr
reduzieren oder abtun. Für einige
behinderte Menschen bot und bietet
Punk Teilhabe durch Ausdruck,
Ermächtigung, Sichtbarkeit, Humor und
Attitüde, und das alles in einem Akt der
soziokulturellen Befreiung.
Als Punk gefährlich war
Punk war in der Anfangszeit
gesellschaftlich sehr umstritten, und eine
Zeit lang war es sogar gefährlich, sich als
Punk zu „outen“ und dazuzugehören.
Gewalttätige, körperliche
Auseinandersetzungen waren an der
Tagesordnung. Nicht jeder behinderte
Jugendliche wollte die eigene
Entfremdung in den Vordergrund stellen
oder die Abneigung oder das Unbehagen,
das man durch das Punk-Sein erzeugte,
noch verstärken. Punk und die
Radikalität, die nonkonforme Attitüde
und Kleidung in Verbindung mit der
Zurschaustellung der abweichenden
Identität, einfach die gesellschaftliche
Ablehnung gegenüber Punk, schreckte
behinderte Jugendliche ab, „Punk“ zu
sein.
Ian Dury 1 drückt einen gewissen Wunsch
nach Konformität als einen Weg für
einige Menschen mit Behinderungen aus,
auch wenn er im selben Song andeutet,
dass dies eine Verleugnung der eigenen
Identität bedeutet:
„I want to be normal in body and soul /
And normal in thought word and deed
And everyone here will whistle and cheer /
And be happy to see me succeed.“
(„Hey, Hey, Take Me Away“ von Ian Dury &
The Blockheads)
1 Ian Dury wurde am 12. Mai 1942 im britischen
Upminster in Essex geboren. Mit sieben Jahren
erkrankt der Sänger, Songschreiber und Schauspieler
an Kinderlähmung. Die zurück bleibende
Behinderung begleitet ihn Zeit seines Lebens.
Obwohl körperlich gehandicapt, lässt sich der junge
Ian nicht unterkriegen und versucht, das Beste aus
seiner Situation zu machen. Als Ian Dury & The
Blockheads erscheint 1977 das Album “New Boots
And Panties" und entwickelt sich zu einem großen
Erfolg. Am 27. März 2000 verstirbt Ian Dury im Alter
von 57 Jahren an Krebs.
Welche Beziehung besteht zwischen
Subkulturen, Musik und Behinderung?
Das, was wir ‚Behinderung‘ nennen, hat
das Potenzial, unser gewohntes Denken
über Individualität, Normalität
herauszufordern. Die Hippies der 60er
Jahre labelten sich mitunter als „Freaks“
und haben die gesellschaftliche Annahme
für sich ausgenutzt, dass Freaks die
„Normalität“ des Mainstreams aufgrund
ihrer wahrgenommenen (visuellen)
Differenz bedrohen. Die Verwendung der
Bezeichnung „Freak“ durch die
Gegenkultur diente den Interessen der
Außenseiter*innen, indem sie Freakigkeit
auf subtile Weise mit Andersartigkeit und
sozialer Unanständigkeit gleichsetzte.
Diese selbst gemachte Abwertung
vermengte Differenz, Abweichung und
Behinderung, indem sie das Etikett aus
früheren Definitionen von Freakigkeit als
„angeboren“ ableitet. Die Entstehung
einer „Freak-Kultur“ in den 1960er
Jahren spielte mit Ängsten vor
erworbenen Beeinträchtigungen, denn es
wurde postuliert, dass jeder durch die
Übernahme radikaler Einstellungen zu
einem gegenkulturellen Freak werden
könne, so wie jeder Mensch potenziell
jederzeit eine Beeinträchtigung
erwerben könne.
Freak-Kultur
Aus der Gegenkultur heraus können wir
im Frühwerk von jemandem wie Neil
Young, von den Buffalo Springfield-Songs
an, eine Auseinandersetzung mit den
Erfahrungen von Behinderung erkennen.
Songs wie „Nowadays Clancy can't even
sing“ thematisieren Multiple Sklerose,
„Expecting to fly“ und „Mr Soul“
Epilepsie. Doch die „Freaks“ und Hippies
der Woodstock-Generation waren Kids
der Middle Class, gesund, sexuell
attraktiv, jung, privilegiert, mobil. Wegen
der Übereinstimmung zwischen der
„Freak-Kultur“ als Gegenkultur und der
Gegenkultur als Freak-Show galt die
befreiende Identitätspolitik als
Schlüsselelement der Gegenkultur, die
ihrerseits die Behindertenbewegung
maßgeblich mitgestalten sollte.
Geschmackloseste Platte
aller Zeiten
The Elastic Band
The Elastic Band hatte nicht wirklich die
Möglichkeit, ihren Song „Spazz“
öffentlich zu spielen. Nach der
Veröffentlichung von ‚Spazz‘ im Jahre
1967 auf ATCO sah es zunächst ganz gut
aus für die Band. „Etwa zur gleichen Zeit
bereitete unser Manager eine Reise nach
Europa vor, um die Veröffentlichung bei
EMI's Stateside Label zu promoten. Ein
paar Tage später wurde uns geraten,
nicht nach Europa zu reisen, weil es dort
gefährlich wäre, weil die Leute dachten,
dass ‚Spazz‘ sich über geistig
Zurückgebliebene lustig machte. Die
Leute drohten, uns zu steinigen, als wir
aus dem Flugzeug stiegen.“ 2
„You're walkin down the street
You keep missin your feet
But you never find a place to go
Never find a place to go until someday
Man, you never even knew what hit ya
2 Zitiert in Paterson 2007
I said what hit ya was the back of your
hand
That's right
Uh huh
I said get off of the street
Get off of the street, boy
People gonna think, yes they're gonna
think
People gonna people gonna think you're
SPAZZ!“
(„Spazz“/ „Spasti“ von THE ELASTIC BAND;
1967)
‚Spazz‘ wurde als „eine der
geschmacklosesten Platten aller Zeiten“
bezeichnet. Der Song wurde zunächst
von Radiosendern verboten und bei der
Erstveröffentlichung im Jahr 1967 mitten
im Stream abgesetzt. Damals
entschuldigte sich der DJ sogar bei
seinen Zuhörer*innen für das Spielen die
Aufnahme. ‚Spazz‘ repräsentiert mit
Refrain und dem Songtitel eine
abwertende und konfrontative Version
der öffentlichen Erfahrung von
Behinderung. Außerdem bezieht sich der
Text wohl auf die psychoaktive,
narkotische Erfahrung der Gegenkultur.
Die stimmliche Qualität des Sängers
David Cortopassi wird vom
Musikjournalisten Peter Lindblad in der
Sprache der Beeinträchtigung
beschrieben: „Er nuschelt
unzusammenhängend, als ob er
betrunken umkippt oder in irgendeiner
Weise hirngeschädigt ist(...)verstümmelt,
kaum zu verstehen(...)Schaum vor dem
Mund.“ 3 Tatsächlich ähneln die ersten
Klänge der Single, bevor die Musik
einsetzt, Fragmente einer
unverständlichen Stimme, die einer
Person mit Sprachbehinderung gleicht.
„Ich gebe es nur ungern zu, aber das bin
nur ich, der ein bisschen inkohärent
klingt“, erklärte Cortopassi Jahrzehnte
später. 4
3 Lindblad 2009
4 Zitiert in Paterson 2007
Und in der Tat war die
Unartikulierbarkeit Teil der neuen Szene.
In den Vereinigten Staaten manifestierte
sich dies in Richard Hell und den
Voidoids, die „Blank generation“ sangen -
im Gegensatz zur gegenkulturellen Beat
Generation der 1950er und 1960er Jahre
- so ausdruckslos, dass Hell in einigen
Refrains das Wort „blank" einfach
wegließ und damit im wahrsten Sinne
des Wortes (sic!) stillschweigend eine
Aussage über die (Nicht-)Identität
machte: „Blank generation / --
generation“.
Musikalisch galt ‚Spazz‘ als ein Vorläufer
der Blank Generation 5 des New Yorker
Proto-Punk Mitte der 1970er Jahr, in der
sich eine weniger ruhige, konfrontativere
und subkulturell spektakuläre „Freak-
Kultur“ herauszubilden begann, eine
Kultur des körperlichen Exzesses, der
Wut und des Verhaltens, die zu, von und
mit bestimmten Teilen der (jungen)
Behinderten sprach.
In Großbritannien hieß die dritte Single
der Sex Pistols ‚Pretty vacant‘, mit dem
5 Der Begriff Blank Generation ist angelehnt an das
Debüt-Studioalbum der amerikanischen Punkrock-
Band Richard Hell and the Voidoids aus dem Jahr
1977 (SIRE Records). ‘Blank Generation’ war das
Sittengemälde einer untergegangenen Zivilisation.
Man war fertig mit der bürgerlichen Welt, ohne jede
Bereitschaft, sich an einer solchen zu beteiligen oder
gar eine neue zu erbauen. Geschweige denn, darüber
in einen Diskurs zu treten. Richard Hell beschreibt
mit dem Begriff und dem Albumtitel eine
drogengeschwängerte, fatalistische Subkultur, die vor
allem eines nicht sein wollte: integrativ.
Refrain „We're so pretty, oh so pretty,
vacant“ und dem Ende „And we don't
caa-aare!“
Natürlich waren dies alles recht clevere,
sogar eindeutige Aussagen: Richard
Hells stummer Widerspruch und ein Weg
für Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten,
den öffentlichen Mediendiskurs zu
umgehen, indem er wiederholt vacant
wie das Tabuwort ‚cunt‘ artikulierte:
„vay-CUNT“.
Anti-Ästhethik
Dave Calvert schreibt über die „Anti-
Ästhetik“ des Punk und seine
Anziehungskraft auf Behinderte (in
einem Kontext auf Menschen mit
Lernschwierigkeiten):
„Die Theatralität des Punk bietet weitere
Möglichkeiten, über die sozial
marginalisierte Position von Menschen
mit Lernbehinderungen nachzudenken
und auf sie zu reagieren, nicht zuletzt
deshalb, weil in dieser besonderen
Antiästhetik bereits ein Eindruck von der
Identität von Lernbehinderten vermittelt
wurde.“ 6
Hit me...
Im Laufe seiner zeitweise erfolgreichen
Karriere schrieb Ian Dury die Texte zu
etwa zwanzig Liedern, die sich in
irgendeiner Weise mit dem Thema
Behinderung befassten oder darauf
Bezug nahmen. Darunter Hitsingles wie
„What a waste“ (1978) und „Hit me with
your rhythm stick“ (1979). Als er auf dem
Höhepunkt seiner Popularität 1979
gegen den Rat seiner Plattenfirma ein T-
Shirt für das Video zu seiner einzigen
britischen Nr.-1-Single „Hit me with your
rhythm stick“ trug, war das ein großer
Erfolg. Das Shirt entblößte die schlaffe
Muskulatur seines linken Arms. Seine
körperliche Andersartigkeit war
daraufhin landauf, landab auf den
Fernsehbildschirmen zu sehen. Im
darauffolgenden Jahr, 1980, nahm er
6 Calvert 2010, 518-519
„Hey, hey, take me away“ auf, ein recht
eindeutiger Song über das Leben in
einem Internat für behinderte Kinder, mit
einem kraftvollen, direkten Klagen und
einer Wut, die von sexuellem Missbrauch,
institutioneller Gewalt und
Selbstverachtung erzählt:
»(...)I want to be normal in body and soul
And normal in thought, word and in deed
And everyone here will whistle and cheer
And be happy to see me succeed(…)«
Dies belegt seine kompromisslose
Bereitschaft, die Beeinträchtigung als
das zu benennen, was sie ist, indem er
seinen Blick auf die Schwierigkeiten und
Nachteile des Krüppeldaseins richtete.
Am deutlichsten wird dieser Blick in oben
erwähntem Song, in dem Ian seine
eigenen Erinnerungen an die
Heimunterbringung in der Kindheit
verarbeitet. Im darauf folgenden Jahr,
anlässlich des UN-Jahres der
Behinderten 1981, veröffentlichte Dury
seinen direktesten Protestsong
„Spasticus Autisticus“, dessen
Entstehungsgeschichte in der
Pressemitteilung zur Single beschrieben
wird.
„Ich dachte mir den Namen einer Band
aus, die sich Spastic and the Autistics
nannte, deren Bandmitglieder entweder
aus psychiatrischen Kliniken oder aus
wirklich grausam kranken Orten
rekrutiert wurden, und wir brachten es
in Gang.“
Daraus wurde eher ein Lied als eine
Band, eine skandierende Reklamation
des damals alltäglichen Begriffs der
Ablehnung und Beleidigung, „Spastiker“,
mit einer nachhallenden Coda, die an die
Massenidentifikation „I'm Spartacus!“
am Ende von Stanley Kubricks Filmepos
Spartacus von 1960 erinnerte: „I'm
Spasticus!“. Es überrascht vielleicht
nicht, dass die Single von einigen der
damals führenden britischen
Behindertenorganisationen kritisiert und
von der BBC (teilweise) verboten wurde.
Als seine Popularität zusammen mit
seinem Image als behinderter Künstler
wuchs, schienen sich Durys Konzerte in
Behindertenkongresse und
Solidaritätsveranstaltungen zu
verwandeln. Ein Blockhead-Bandmitglied
erinnert sich: „Er schrieb über
diejenigen, über die noch nie ein
[Pop-]Lied geschrieben worden
war(...)Viele Leute, die die Dinge erlebt
hatten, von denen Ian sang, kamen zu
unseren Konzerten und wollten
Autogramme. Man hörte die Leute sagen:
‚Er schreibt über mich‘.“ (zitiert in Dury
2003, 95).
»She don’t want a baby that looks like
that
I don’t want a baby that looks like me
Body—I’m not an animal
Body—I’m an abortion.«
Bodies; Sex Pistols‘ (1978)
Johnny Rottens hypnotischer Blick
Johnny Rottens performative Strategie
bei den Sex Pistols war eine
parodistische Imitation von Behinderung
und doch hatte diese einen kausaleren
Zusammenhang, den Jon Savage
erkannte: „Wie andere, die später zu
spirituellen Performern wurden, litt
Lydon in seiner Kindheit an einer
schweren Krankheit“ 7 , und es sind seine
frühen Jahre, in denen wir nach einem
Verständnis von Rottens Punk-Porealität
suchen müssen. Der starrende Blick und
die buckelige Körperhaltung wurden
durch eine Meningitis in der Kindheit
verursacht. Wie er in seiner
Autobiografie „Rotten“ erklärt: „Ich war
von meinem siebten bis achten
Lebensjahr ein Jahr lang im
Krankenhaus. Sie zogen Flüssigkeit aus
meiner Wirbelsäule, das hat meine
Wirbelsäule gekrümmt. Ich habe eine Art
Buckel entwickelt. Bei den Pistols gibt es
all diese Eigenheiten von mir, die daher
rühren, dass ich in einem Krankenhaus
versagt habe. Das Starren kommt daher,
dass ich schlecht sehen kann, auch als
Folge der Meningitis.“ 8
Später erkrankte er auch an Epilepsie,
was sich auf seine Bühnenperformance
auswirkte wie er 1994 erklärte:
„Ich bin auch Epileptiker, aber ich nehme
keine Medikamente. Ich bin nicht der
Traum eines Beleuchtungsregisseurs,
wenn ich auf Tournee bin – es gibt eine
riesige Liste von Dingen, die nicht
gemacht werden können. Manchmal
lassen mich bestimmte
Beleuchtungsarten vergessen, wo ich bin,
und lösen [sic] einen Gedächtniskrampf
aus. Ich lasse mein Textbuch immer auf
der Bühne auf dem Boden liegen, wenn
die Beleuchtung mitten im Song seltsame
Dinge macht. Ich habe einen schlechten
Gleichgewichtssinn, und wenn ich mich
7 Savage, Jon. 1991. England’s Dreaming: Sex Pistols
and Punk Rock. S.115
8 Lydon, John. 1994. Rotten: No Irish, No Blacks, No
Dogs, S. 17-18
drehe, kann ich mir das Leben schwer
machen.“ 9
Interessant ist auch, dass Ian Dury in
Rotten etwas „Verkrüppeltes“ erkannte.
Als 1976 die Sex Pistols Ian Dury & The
Blockheads supporteten, glaubte Ian in
Teilen von Rottens Stil und
Körperhaltung seine eigene Darstellung
zu sehen und beschwerte sich besorgt
beim Manager der Pistols, McLaren, in
der Annahme, Johnny Rotten mache sich
lustig über Ian. Unabhängig dessen war
Rottens Performance eine Art Krüppel-
Pop-Darstellung und zugleich Ausdruck
seiner eigenen körperlichen
Beeinträchtigung. Zusammenfassend
können wir also festhalten, dass Ian und
Johnny gemeinsam die neue
Körpersprache der Cripple-Punk-
Performance erfanden, mit einer Energie,
die aus der gegenseitigen Rivalität
entstand, und einer Authentizität, die
daraus resultierte, dass jeder von ihnen
eine Art Krüppel war.
Daneben wurden auch Dokumentarfilme
über kleinere, zeitgenössische
Punkbands gedreht. Heavy Load war
eine englische Punkrock-Band. Die
Mitglieder der Band trafen sich bei
Southdown Housing, einer
gemeinnützigen Wohngemeinschaft für
Menschen mit psychischen Problemen
und Lernschwierigkeiten, und setzte sich
zusammen aus Nutzern und
Mitarbeitern. Die Band spielte in dem
gleichnamigen Film „Heavy Load“ aus
dem Jahr 2008 mit, der die Bemühungen
der Band dokumentierte, aus den
Veranstaltungen der Behindertenzentren
in das größere Mainstream-Konzertnetz
vorzudringen.
9 Ebd., S. 323
Ein zweiter Dokumentarfilm über eine
neuere Generation von Punkbands mit
Behinderungen folgte einem ähnlichen
Pfad. In „The Punk Syndrome“ (2012)
geht es um die finnische Punkband Pertti
Kurikan Nimipäivät, deren Mitglieder
ebenfalls alle eine Lernbehinderung
sowie das Down Syndrom haben. Sänger
Kari Aalto erklärt auf der Homepage:
„Dieser Film erzählt von der Band(...)es
geht um einen Zurückgebliebenen, der
Punk ist, und drei Zurückgebliebene, die
Punkmusik spielen“. 10
PKN
Die Band vertrat Finnland beim
Eurovision Song Contest in Wien. Die
vier Männer mittleren Alters von PKN
haben das Down-Syndrom, das Williams-
Syndrom und andere geistige
Behinderungen. Sie haben sich in der
finnischen Punkszene eine solide
Fangemeinde erspielt und tourten 2013
10 https://pkn.rocks/en/the-punk-syndrome/
sogar zum South by Southwest Festival
in Austin, Texas.
Aber die Band hat Punk-Credibility und
gelangte 2012 mit und im
Dokumentarfilm „The Punk Syndrome“
zu großer Bekanntheit. Der Film folgt
den Auftritten der Band in
heruntergekommenen Rockclubs in
Finnland und anderen Ländern.
Es war eine innovative
Herangehensweise, um Vorbehalte und
Vorurteile zu Menschen mit geistigen
Behinderungen zu überwinden.
Das finnische „Figurennoten“-System 11
hilft Menschen mit Lernschwierigkeiten
beim Musizieren. Das System wurde in
den 1990er Jahren im Resonaari Special
Music Center in Helsinki entwickelt, wo
drei PKN-Mitglieder etwa 10 Jahre lang
das Musikspielen übten. Laut seinem
Entwickler, dem Musiktherapeuten
Kaarlo Uusitalo, hat das System die
Förderpädagogik in Finnland
revolutioniert.
„Vor zwanzig Jahren gab es in Finnland
für Menschen mit geistigen
Behinderungen keine vernünftige
Möglichkeit, spielen zu lernen“, sagt
Uusitalo. „Sie hatten große
Schwierigkeiten, Dinge zu verstehen,
große motorische Schwierigkeiten und
große Probleme, sich Dinge zu merken –
keine der traditionellen Lehrmethoden
funktionierte. Jetzt gibt es in Finnland
etwa 1.000 Menschen mit geistigen
Behinderungen, die ein Instrument
lernen“. 12
11 Figure notes ordnet Farben und Formen, die auf
Klaviertasten oder den Bünden am Hals einer Gitarre
angebracht sind, ähnlichen Zeichen in einer Partitur
zu. Nach und nach können die Schüler mithilfe der
Farben spielen und möglicherweise lernen, Noten zu
lesen. Geistig behinderte Menschen können sich
geometrische Formen und Farben oft leichter merken
als Zahlen oder Buchstaben, so die Forscher. Das
System hat sich auf der ganzen Welt verbreitet.
12 Quelle:
https://theworld.org/stories/2015-05-23/finlandsdisabled-punk-band-didnt-win-eurovision-they-wonmore
Der Erfolg von PKN hat auch einen
kulturellen Wandel hin zu einer größeren
Akzeptanz von Menschen mit
Behinderungen angeregt. Das ist etwas,
was PKN bereits in ihren Liedern fordert.
Zuschauer*innen gerne den Mittelfinger
wie mensch es von einer Punkband
erwartet.
Als PKN zum Sieger der finnischen
Qualifikation erklärt wurde, zeigte die
Band eine Mischung aus
von links: Pertti Kurikka (Gitarre), Sami Helle (Bass), Kari Aalto (Gesang) und Toni Välitalo
(drums)
Wut gegen alles
Sie singen über Dinge, die sie
wütend machen. Und das sind viele
Dinge: verlogene Politiker,
Diskriminierung von Behinderten und die
alltäglichen Dinge, die sie am Leben in
ihrer Wohngruppe stören.
In dem Lied „Aina mun pitää/Always I
Have To“, mit dem sie ihren Platz beim
Eurovision Song Contest gewonnen
haben, schimpft Sänger Kari Aalto: „Ich
muss immer putzen, ich muss immer
abwaschen, ich muss immer zur
Arbeit gehen, ich muss immer zum
Arzt gehen“ (übersetzt ins Deutsche).
PKN ist inspirierend, aber die
Bandmitglieder sind insoweit Punks, weil
sie nicht versuchen, es allen recht zu
machen. Sie fluchen und sie betrinken
sich. Und vor allem Aalto zeigt den
Selbstbewusstsein und Arroganz..
„Wie es im Leben so ist, gewinnt
immer der Beste“, prahlte Aalto auf der
Bühne.
Fazit
Die Geschichte des Punk und die
Bedeutung der Subkultur steht eng im
Zusammenhang mit Behinderung. Dies
bestätigt die anhaltende Relevanz von
einer „verkrüppelten Punk-Subkultur“
und eine Rechtfertigung dafür, wie Punk
und Behinderung die Subkultur geprägt
hat und immer noch prägt.
Demgegenüber sind Sichtbarkeit von
Behinderung in Subkulturen nicht frei
von Vorurteilen, Abwertung und offen zu
tragen kommender
Behindertenfeindlichkeit, die Teilhabe
und Inklusion erschweren oder gar nicht
erst zulassen.
FHEELS ist ein gutes Beispiel für
gelebte Inklusion
Felix Brückner ist Sänger und Gitarrist der Band FHEELS 1 .
FHEELS wurde 2015 von Felix und Schlagzeuger Justus gegründet, als
beide an der Hamburger School of Music studierten und erste
Eigenkompositionen vorspielten.
FHEELS bewegen sich musikalisch durch Rock, Jazz und Psychedelic
Prog, bauen Brücken zwischen Rock-Vergangenheit und zeitgenössischer
Moderne, vereinen Anspruch und Eingängigkeit ebenso wie kreativen
Wagemut und musikalische Raffinesse. Sänger und Gitarrist Felix ist
seit einem Snowboarding-Unfall mit 17 Jahren querschnittgelähmt.
Felix wünscht sich, dass die Menschen seine Behinderung als etwas
Selbstverständliches annehmen, ihn als Musiker wahrnehmen und er
keine überzogenen Respektbekundungen oder Mitleid bekommen will.
Darüber hinaus engagiert Felix sich bei der „Initiative Barrierefrei
Feiern“, die Veranstalter*innen von Festivals zum Thema
Barrierefreiheit beraten.
1 https://www.facebook.com/Fheels.Band/
»Darüber hinaus musste ich schneller erwachsen werden, weil ich
nun(...)Verantwortung für 2/3 meines Körpers übernehmen muss, die ich nicht
mehr spüre.«
Felix, du bis seit einem Snowboard-
Unfall querschnittgelähmt. Woran
erinnerst du dich?
Dafür muss ich ganz kurz die
Situation erläutern. Ich war im Skilager
mit meiner damaligen Abiturstufe und
zusammen mit zwei anderen Schülern,
die ebenfalls Snowboarder waren, abseits
der Piste unterwegs. Warum abseits der
Piste? Weil es, wenn man einigermaßen
stabil auf dem Brett unterwegs ist,
einfach mehr Spaß macht.
Leider begleitete uns dabei auch unser
jugendlicher Leichtsinn denn wir haben
uns vorher nicht genau das Gelände
angeschaut, in dem wir unterwegs
waren. So landete ich sehr überrascht an
einem Felsvorsprung, der schlicht zu
hoch war (ca.7-10 m), um darüber zu
springen. Also hielt ich an, schnallte mein
Board ab und versuchte mich bergauf
wegzubewegen. Aufgrund des lockeren
Tiefschnees rutschte ich aber letztlich ab
und fiel über den Vorsprung in die Tiefe.
Den Aufprall bekam ich schon nicht mehr
mit, weil ich direkt für ein paar Minuten
bewusstlos war. Das nächste, an das ich
mich erinnern kann, waren die Schreie
einer meiner Begleiter, die aufgrund
einer etwas anders gewählten Linie an
diesem Fels vorbeifahren konnten.
Auf die Aufforderung hin aufzustehen,
spürte ich das erste Mal, dass ich dies
nicht mehr kann und brach verzweifelt in
Tränen aus. Der zweite meiner Begleiter
alarmierte inzwischen die Bergrettung,
die umgehend den nächstgelegenen
Hubschrauber organisierten. Bei der
Landung wurde so viel Schnee
aufgewirbelt, dass ich kaum Luft bekam
und Angst hatte zu ersticken. Das ist mir
tatsächlich sehr stark im Kopf geblieben.
Von der Unfallstelle ging es dann direkt
nach Bozen für eine Not-OP und nach ein
paar Tagen zurück nach Deutschland für
6 Monate Reha in Bayreuth.
War dir das Risiko, während des
Sports jederzeit zu verunfallen, stets
bewusst?
Nicht wirklich, ich war viele Jahre
vorher schon auf Abfahrtsski in den
verschiedensten Skigebieten auf und
abseits der Piste unterwegs. Noch dazu
war ich 16, selbstbewusst und sehr
sportlich, was noch mehr als ohnehin in
diesem Alter zum Gefühl von
Unverwundbarkeit führte. Der Fakt, dass
ich nicht mit Helm und Protektoren
unterwegs war, unterstreicht das ganz
gut.
Was hat sich seit der Diagnose
Querschnittlähmung in deinem Leben
konkret verändert?
Das erste, was mir dazu einfällt, ist
tatsächlich das neue Körpergefühl. Bei
mir ist es so, dass ich brustabwärts
komplett (d. h. ohne Gefühl oder
motorische Fähigkeiten) gelähmt bin. Das
bedeutet wiederum, dass ich nicht mehr
in der Lage bin Rumpf/ Bauchmuskulatur
anzusteuern und bspw. das Sitzen
komplett neu erlernen musste.
In den ersten Tagen im Rollstuhl hatte ich
deshalb permanente Angst bei der
kleinsten Bewegung oder Erschütterung,
aus meinem Gefährt zu fallen und dann
hilflos dazuliegen. Durch
Krankengymnastik, Rollstuhl- und
Krafttraining sowie viele Stunden im
Rollstuhl veränderte sich das aber zum
Glück relativ schnell.
Darüber hinaus musste ich schneller
erwachsen werden, weil ich nun, so blöd
es klingt, Verantwortung für 2/3 meines
Körpers übernehmen muss, die ich nicht
mehr spüre. Jugendliche Trinkexzesse
haben sich bspw. deshalb sehr in Grenzen
gehalten.
Fotocredit: Photospokus
Es gibt ja verschiedene Phasen in der
Bewältigungsstrategie. Welche davon
waren bei dir emotional/psychisch am
meisten ausgeprägt?
Nach Tagen der Trauer,
Verzweiflung, Wut, lebensmüden
Gedanken und unerfüllten Hoffnungen
auf Besserung, war meine
Bewältigungsstrategie und Therapie
größtenteils die Selbsterfahrung und
Begegnung mit anderen behinderten
Menschen. Bspw. führte die
„Mobilisierung“ meinerseits – d. h., dass
ich in den Rollstuhl gesetzt wurde – nach
einigen Tagen zu einer Perspektive von
zukünftiger Selbstständigkeit, die ich, im
Bett liegend, nicht mehr hatte.
Außerdem hatte ich das Glück Menschen
mit viel schwereren Behinderungen
kennenzulernen, die ihr gesamtes Leben
auf ständige Hilfe angewiesen sein
werden und trotzdem so von
unerschütterlicher Lebensfreude und
Motivation strotzten, dass ich mir dachte,
wer bist du Felix, jetzt den Kopf in den
Sand zu stecken.
So führte das Eine zum Anderen, und ich
gelangte mehr und mehr zum wichtigsten
Punkt meiner Bewältigung: Der
Akzeptanz meiner Behinderung in Allem,
was das bedeutet.
Heute bin ich extrem froh über meine
jugendliche Entscheidung, weil das, was
ich mir damals gewünscht habe,
tatsächlich in Erfüllung ging. Ich bin
komplett autonom in der Lage mein
Leben zu führen. So habe ich mehrere
Monate alleine in New York und Rio
gelebt und sooo viele, sooo lebenswerte
Erfahrungen in den letzten Jahren
machen dürfen, dass es sich extrem
gelohnt hat, nicht aufzugeben.
Freund*innen und Familie, aber auch
andere Betroffene gestalten den
individuellen Verarbeitungsprozess
wesentlich mit. Wie war das bei dir?
Vor allem meine Familie, die
permanent an meiner Seite war und zu
der ich nach meiner Reha zurückkehren
konnte (nicht selbstverständlich). Weil sie
unser Haus umgebaut hatten, war das
rückblickend eine riesige emotionale, als
auch strukturelle Stütze. Auch mein
Freundeskreis, der sich nur geringfügig
veränderte, half mir sehr, unter anderem
meine Jugend und alles, was damit
einhergeht, wieder (er)leben zu können.
»Ich bin durch meine Selbsterfahrung
an den Punkt gelangt, dass man
immer erst die Lebenswirklichkeit
teilen muss, um Dinge zu beurteilen.«
Welche positiven Aspekte hast du
dem Alltag im Rollstuhl bislang
abgewinnen können?
Grundsätzlich würde ich sagen,
dass meine Behinderung mein Leben
weder in eine negative noch in eine
positive Richtung sonderlich beeinflusst
hat. Ich führe einen sehr normalen Alltag,
der sich fast gar nicht von dem
nichtbehinderter Menschen
unterscheidet und weder besser noch
schlechter ist.
Das bedeutet wiederum auch, dass die
positiven Aspekte meines Lebens nicht
von meinem Rollstuhl abhängig sind oder
beeinflusst werden.
Eine Sache gibt es vielleicht auf
persönlicher Ebene. Ich bin durch meine
Selbsterfahrung, dass das Leben mit
einer Behinderung nicht vorbei ist, so wie
ich das in meiner jugendlichen Naivität
annahm, an den Punkt gelangt, dass man
immer erst die Lebenswirklichkeit teilen
muss, um Dinge zu beurteilen.
Nur so ist es möglich zu verstehen und
diese Perspektive hilft mir im Alltag.
Wie hast du dir deine Unabhängigkeit
und Selbständigkeit bewahrt?
Durch einen sehr normalen
Lebenslauf mit dem Willen zur Autonomie
würde ich sagen. Ich bin tatsächlich nach
meinem Unfall sehr bewusst wieder an
meine alte, nicht barrierefreie Schule
zurückgekehrt. Konnte dort durch meine
Freunde, die mich teilweise in jeder
Pause zwischen den Stockwerken hoch
und runter getragen haben, mein Abi in
meiner alten Klasse fertig machen.
Danach war schnell klar, dass ich
studieren möchte, bin mit 19 in meine
erste Studentenbude nach Jena gezogen
und war so zur Selbstständigkeit
gezwungen. Über weitere Stationen wie
New York, Rio und aktuell Hamburg, hat
sich das nie wieder verändert und war so,
wie gesagt, eigentlich ein sehr normaler
Abnabelungsprozess mit Willen zur
Autonomie gegen das Bild des
hilfsbedürftigen Menschen mit
Behinderung.
Fotocredit: Photospokus
In welchen konkreten Momenten
fühltest du dich
diskriminiert/ausgegrenzt?
Das ist ein sehr weites Feld, aber
vielleicht bleiben wir bei der
Kulturlandschaft. Hier ist es nach wie vor
und grundsätzlich so, dass man davon
ausgehen muss auf Barrieren zu treffen.
Sowohl als Musiker ist es schlicht Alltag,
auf die Bühne getragen zu werden, weil
es so gut wie keine barrierefreien
Aufgänge gibt, als auch als Gast, der
entweder gar nicht erst reinkommt oder
im inneren es Clubs feststellt, nicht auf
Toilette gehen zu können.
Auf die Situation einstellen kann man
sich nicht, weil fehlende Barrierefreiheit
schlicht nicht kommuniziert wird. Das
heißt, und deshalb sagen sich viele
Menschen mit Behinderung „ich bleib
Zuhause“, man muss sich immer darauf
einstellen, sich in einer sehr
unangenehmen Situation wiederzufinden.
Ich nenne mich selbst „Worst Casler“,
weil ich das sehr lange so akzeptiert
habe, um nicht auf mein kulturelles
Leben verzichten zu müssen. Mittlerweile
bin ich durch meine Arbeit in der Band
als auch innerhalb der „Initiative
Barrierefrei Feiern“ an den Punkt gelangt
mich aktivistisch für Veränderungen
einzusetzen. Es sind in erster Linie erst
mal die Barrieren im Kopf die bei
Veranstaltenden durch Aufklärungsarbeit
genommen werden müssen.
»Ich nenne mich selbst „Worst Casler“,
weil ich das sehr lange so akzeptiert
habe, um nicht auf mein kulturelles
Leben verzichten zu müssen.«
Der Ex-Snowboarder Patrick Mayer
hat nach seiner Querschnittlähmung
Kufen für Rollstühle produziert.
Spornt dich das an, weiterhin
Snowboard fahren zu können?
Um ehrlich zu sein nein, weil sich
meine Interessen einfach verändert
haben und ich dadurch kein großes
Bedürfnis empfinde wieder aufs „Board“
zu steigen. Nichtsdestotrotz ist das
Engagement von Patrick super!
In dem Dokumentarfilm „Love & Sex
& Rocknrollstuhl“ 2 berichten vier
Menschen über ihre Sehnsucht nach
Nähe und Erotik. Viele denken bei
Behinderung nur an Leid und
Verzicht. Wie ist deine Erfahrung und
dein Umgang als Betroffener mit
Befangenheit und einer
Fremddefinition hin zu einer
Stigmatisierung?
Diese Stigmatisierungen und
Klischees sind und waren etwas sehr
Normales. Ich für meinen Teil habe mich
sehr lange einfach damit abgefunden und
so dafür gesorgt, dass sie mich nicht
mehr verletzen.
In den letzten Jahren hat sich das aber
verändert, weil ich mich in der Lage sehe
Dinge zumindest in meinem
überschaubaren Einflussbereich
anzustoßen. Falsche Fremddefinitionen
und Stigmata sind die Symptome von
fehlender Inklusion, fehlenden
Berührungspunkten, fehlendem
Perspektivwechsel, schlicht fehlender
Normalität von Menschen mit
Behinderung im Alltag von Menschen
ohne Behinderung. Diese Normalität
kann nur verändert werden, wenn wir in
allen Bereichen vom Mindset der
Menschen, angefangen bishin zu
baulicher Infrastruktur barrierefreie
werden und dafür setze ich mich ein.
Wie willst du das Thema „Sexualität
und Behinderung“ aus der Problem-
Ecke herausholen?
2 http://susanna-wuestneck.de/film/love-sexrocknrollstuhl/
Man muss Dinge präsent machen,
man muss sie in den Alltag von Menschen
ohne Behinderung holen, man muss die
Auseinandersetzung forcieren um zu
einem neuen „normal“ zu gelangen.
Deshalb habe ich mich dazu entschlossen
ein sehr erotisches aber nicht
pornografisches Video 3 zu drehen und die
Rückmeldungen haben gezeigt, dass
genau das uns gelungen ist. Menschen
Bilder zu zeigen, die in der Normalität
ihres Alltags sonst nicht zu sehen sind.
automatisch Mitdenken der Bedürfnisse
und letzten Endes gelangen wir so zum
heiligen Gral der gelebten Inklusion.
Wie du bereits mehrfach erwähnt hast,
setzt du dich für mehr Barrierefreiheit
ein. Wo gibt es in Hamburg, bezogen auf
subkulturelle Veranstaltungen, großen
Nachholbedarf?
Ich würde sagen, es gibt in Bezug
auf die gesamte Kultur, selbst im
subventionierten Bereich des Theaters,
Fotocredit: Yosua Pandelaki
Was sind die größten Hindernisse auf
dem Weg zu mehr Inklusion?
Fehlende Barrierefreiheit! Wenn es
behinderten Menschen möglich wäre ihr
Leben mit der Flexibilität, Spontanität
und Autonomie zu leben, wie das
Menschen ohne Behinderung können,
würde es automatisch zu einem viel
normaleren Miteinander kommen. Das
bedingt wiederum einen viel intensiveren
Austausch, einen Perspektivwechsel, das
3 FHEELS - Sharp Dressed Animal:
https://youtu.be/nwB9ZtktMvw
noch Nachholbedarf. Warum dürfen
Menschen mit Behinderung sich ihren
Sitz-Stehplatz nicht aussuchen? Warum
dürfen sie nicht den Haupteingang
nutzen, sondern müssen durch den
Eingang, der sonst nur für Equipment
genutzt wird geschleust werden? Warum
können behinderte Menschen 2022 in
den etabliertesten Klubs mit Kapazitäten
von mehreren tausend Besucher*innen
nach wie vor nicht die Toilette nutzen?
Da gibt’s noch sooooo viel zu tun!
The Future Is Accessible
Annie Segarra (Jahrgang 1990), auch unter
den Namen Annie Elainey bekannt,
verbrachte viele Jahre mit der Erkenntnis,
nicht ‚normal‘ zu sein, ohne eine
ärztliche Diagnose. Erst mit über 20
Jahren wurde bei ihr das Ehlers-Danlos-
Syndrom (EDS) diagnostiziert, eine
genetische Gewebestörung, die Gelenke,
Haut und mehrere innere Organe betreffen
kann.
In der Schule machte sie im
Sportunterricht schnell schlapp und wusste
nie warum. Sie konnte nicht so schnell
rennen wie die anderen Kinder. Manchmal
wurde sie nach dem Duschen ohnmächtig. Als
sie trainierte, wurde ihr Gesicht extrem
rot. Es dauerte Jahre, bis ihr klar wurde,
dass nichts davon „normal“ war.
„All dies waren Anzeichen dafür, dass mit
meiner Gesundheit etwas nicht stimmte“,
erzählt Annie. „Außenstehende würden es
abtun wie: ‚Ja, das passiert jeder, sie
hat eben nicht die
beste Kondition. Sie
muss nur abnehmen.“
Mit 23 Jahren bekam
sie beim Gehen starke
Schmerzen. Als sie 24
Jahre alt war,
benutzte sie erstmals
einen Rollstuhl. Doch
es dauerte noch bis zu
ihrem 26. Lebensjahr,
bis bei ihr EDS
diagnostiziert wurde.
Diese Erfahrung, von
der sie berichtet,
dass mehrere
Ärzt*innen sie ohne
Diagnose abspeisten
und ihre geäußerten
Schmerzen ignorierten,
ist heute die
The Future Is Accessible
treibende Kraft hinter dem, was sie jeden
Tag tut. Annie ist Aktivistin,
Influencerin mit 25.000 YouTube-
Abonnent*innen, über 29.000 Twitter- und
30.000 Instagram-Follower*innen. Sie
spricht offen über ihre Behinderung, über
andere chronischen Krankheiten, über Queer
und Behinderung und hat Kampagnen zum
Thema Barrierefreiheit gestartet.
»Nachdem ich meine Diagnose
erhalten hatte, war ich wirklich
aufgeregt, Inhalte über EDS und
meine Erfahrungen zu erstellen“, sagte
sie. „Die Inhalte, die ich erstelle, sollen
sichtbar für alle sein.«
Sichtbarkeit ist ein
wichtiger Bestandteil
von allem, was Annie
tut – ob es darum
geht, andere
Behindertenaktivist*in
nen auf YouTube zu
interviewen oder Fotos
von sich selbst mit
Mobilitätshilfen zu
posten.
Annie, erkläre uns deine
Behinderung und was sie mit dir
macht...
Ich leide an einer genetisch
bedingten, degenerativen und
unheilbaren Krankheit namens Ehlers-
Danlos-Syndrom, die sich bei jedem
Betroffenen anders und in einem breiten
Spektrum auswirkt; sie verursacht in der
Regel körperliche Behinderungen
(hypermobile, schlaffe und brüchige
Gelenke), chronische Schmerzen und
eine sehr lange Liste damit verbundener
Krankheiten und gesundheitlicher
Probleme. EDS führt dazu, dass das von
uns produzierte Kollagen (das wichtigste
Strukturprotein in der Haut und in
anderen Bindegeweben) gestört ist. Im
Grunde genommen funktioniert der
„Klebstoff“, der meinen Körper und alles,
was darin ist, zusammenhalten soll,
nicht.
Ich leide derzeit unter den Symptomen
des Posturalen Orthostatischen
Tachykardie-Syndroms (POTS) /
Dysautonomie, Schlafstörungen (Phasen
von Schlaflosigkeit und extremer
Erschöpfung/übermäßigem Schlafen),
chronischer Müdigkeit, chronischer
Migräne, Magen-Darm-Problemen,
Neurodivergenz, Depressionen,
Angstzuständen, sensorischen
Verarbeitungsproblemen, Myalgien,
Atembeschwerden, Seh- und
Hörstörungen, kognitiven
The Future Is Accessible
Beeinträchtigungen (schlechtes
Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit)
und wahrscheinlich noch anderen, an die
ich mich im Moment nicht erinnere.
Warum benutzt du einen Rollstuhl?
Ich kann aufgrund von chronischen
Schmerzen, Gelenkkomplikationen und
Dysautonomie nur sehr eingeschränkt
gehen. Im Allgemeinen kann ich es nicht
ertragen, länger als ein paar Minuten am
Stück zu stehen; meine Gelenke haben
Schwierigkeiten, der Belastung
standzuhalten, und die Schmerzen
nehmen zu, wenn ich stehe und je länger
ich stehe.
Zu bestimmten Zeiten kann ich aufgrund
einer kürzlich erlittenen Verletzung oder
eines erhöhten Schmerzpegels nicht
einmal für einen Moment stehen. Um
länger als eine Minute mobil zu sein, um
mit weniger Schmerzen mobil zu sein
und aus Sicherheitsgründen (Vermeidung
von Stürzen und Verrenkungen) muss ich
einen Rollstuhl benutzen.
Manchmal benutze ich einen Stock
und/oder trage Knöchel- und
Knieschienen. Wenn ich weiß, dass ich
nicht länger als eine Minute aufstehen
muss und mich schnell setzen kann,
wenn ich einen Raum betrete (z. B. ein
leeres Restaurant, das Haus eines
Freundes usw. mit einem Parkplatz direkt
am Eingang).
Zurzeit benutze ich hauptsächlich einen
Elektrorollstuhl, da meine Handgelenke,
Ellbogen und Schultern zu
lasch/zerbrechlich geworden sind, um
mich in einem manuellen Rollstuhl zu
schieben.
Annie, was ich an dir schätze, ist die
Vielseitigkeit deines Charakters. Und
einer der Aspekte, die ich wirklich
schätze, ist dein Engagement und
deinem offenen Umgang über
Behinderung zu sprechen. Das teilst
du auch über die sozialen Netzwerke.
Wie kam es dazu, dass du
angefangen hast, deine Geschichte
und die Geschichten anderer
Menschen zu erzählen?
Ich glaube, ich war 15 Jahre alt,
als ich anfing, mich auf das
Geschichtenerzählen zu konzentrieren.
Und jetzt bin ich über 30. Seit über 15
Jahren dokumentiere ich also Dinge zu
u.a. „Queer und Behinderung“,
„Behindertenfeindlichkeit“ in einem
Videoformat auf YouTube 1 . Und davor
habe ich auch viel geschrieben. Aber ja,
das Geschichtenerzählen war schon
immer meine liebste Art, mich
mitzuteilen und Dinge festzuhalten, mich
an Dinge zu erinnern, was mir sehr
wichtig ist. Ich habe nicht das beste
Gedächtnis, also versuche ich ständig,
meine Beobachtungen und Gedanken
festzuhalten und die Dinge, die um mich
herum passieren, aufzuzeichnen. Ich
möchte diese Erlebnisse und
Erinnerungen so gut wie möglich
festhalten. Das geht sogar so weit, dass
ich bis heute ein ‚Dankbarkeits-
Tagebuch‘ führe, in das ich jeden Tag
mindestens drei Punkte eintrage, die sich
auf Dinge beziehen, für die ich an diesem
Tag dankbar bin, die an diesem Tag
geschehen sind. So etwas Kleines wie:
„Heute habe ich mit meiner Mutter in
ihrem Schlafzimmer abgehangen und wir
haben einen Harry-Potter-Marathon
geschaut.“ Und ich tue das mit dem
Gedanken, dass ich Jahre später in
diesen Erinnerungen blättern und mich
daran erfreuen kann.
Abgesehen von dem sehr positiven
Aspekt für die geistige Gesundheit und
der Möglichkeit, Dinge, die ich erlebt
habe, wieder in Erinnerung zu rufen, ist
das Geschichtenerzählen eine Form der
Kommunikation und die Möglichkeit,
1 https://www.youtube.com/channel/
UCznS4Pk3VcTIfDUuWrQtdzQ
The Future Is Accessible
diese Erfahrungen mit Menschen zu
teilen, die ähnliche Erfahrungen gemacht
haben wie ich. Das sind also vor allem
meine Gemeinschaften von Menschen,
die gemeinschaftsbezogene Erfahrungen
teilen. Das wäre die LGBT-Community,
die Latino-Comunity, die Behinderten-
Community.
Und das Sprechen über die eigene
Lebenserfahrung kann den
Betroffenen ermöglichen, mehr
Erfahrungen zu machen, über die sie
diskutieren können. Zum Beispiel
zum Thema Dysphorie 2 . Warum war
es dir wichtig, dieses Thema zu
diskutieren?
Nun, Dysmorphie, die Abkürzung
für körperdysmorphe Störung, ist das,
was ich in der Vergangenheit erlebt habe
und immer noch erlebe. Es ist immer ein
potenzieller Auslöser in meinem
Hinterkopf, etwas, das mit einer
2 Als Dysphorie wird eine Störung des emotionalen
Erlebens (Affektivität) bezeichnet, die durch eine
ängstlich-bedrückte, traurig-gereizte Stimmungslage
charakterisiert ist. Die Betroffenen erleben sich dabei
als unzufrieden, schlecht gelaunt, misslaunig oder
missgestimmt, mürrisch oder verärgert bzw. werden
so wahrgenommen. Es handelt sich meist um eine
„banale Alltagsverstimmung“
Essstörung verwoben ist, die ich in
meinem Leben oft erlebt habe. Ich würde
sagen, dass die Dysmorphie, die ich
erlebte, wahrscheinlich im Alter von 10
bis 12 Jahren begann und sich bis heute
fortsetzt. Es war eine traumatische
Reaktion auf den Missbrauch, den ich als
Kind erlebt habe. Ich hatte eine Art
Tiefpunkt meiner psychischen
Gesundheit erreicht, und zwar so sehr,
dass ich mein Studium abbrechen
musste, um mich auf meine psychische
Gesundheit zu konzentrieren. Und ich
habe eine Essstörungsbehandlung
gemacht und mich selbst therapiert.
Irgendwann, ich glaube, als ich 20 Jahre
alt war, erreichte ich einen euphorischen
Punkt in Bezug auf meine psychische
Gesundheit. Ich kann mich daran
erinnern, wie ich eines Tages aufwachte,
in den Spiegel schaute und sagte: ‚Wow,
ich hasse mich heute nicht.‘ Und bei
dieser Erkenntnis wurde ich richtig
euphorisch. Und ich wollte das unbedingt
mit den Menschen teilen. Also habe ich
meinen alten Blog mit dem Titel „Stop
Hating Your Body“ 3 gestartet, in dem
Menschen ihre Geschichten einreichen
und mitteilen konnten, wo sie auf ihrer
Reise stehen. Und viele davon waren
auch Erfolgsgeschichten. ‚Ich habe an
meiner psychischen Gesundheit
gearbeitet und fühle mich jetzt so viel
besser mit mir selbst.‘ Und einige Leute
befanden sich mitten in ihrer Reise. Von
da an wurde ich eingeladen, vor
Student*innen zu sprechen, und zwar
ganz gezielt. Ich erzählte meine
Geschichte, wie ich als Kind mit
Dysmorphien zurechtkam und wie diese
belastenden Gedanken aussahen. Und
das war der Moment, in dem ich anfing,
diese negativen Gedanken zu
hinterfragen. Und meinen Prozess, wie
ich anfing, sie zu überwinden und meine
psychische Gesundheit zu verbessern.
3 https://stophatingyourbody.tumblr.com/
The Future Is Accessible
ihre Geschichten nicht aus Eigennutz
erzählen. Die Menschen wollen ihre
Geschichten teilen, weil sie hoffen, dass
ihre Geschichte jemand anderem helfen
kann.
Und du bist ein großes Vorbild für
andere, da bin ich mir sicher. Denn
für mich klingt es so, als ob die
Diskussionen, die du geführt hast, es
Nicht-Behinderte Menschen
ermöglicht hat, etwas über diese
Themen zu erfahren.
Und du hast Betroffene die
Möglichkeit und eine Plattform
gegeben, sich auszusprechen und
eine Bestätigung oder Wertschätzung
zu geben.
Ja. Ich glaube, dass die Leute, so
wie ich, die Möglichkeit haben wollten,
ihre Geschichten zu erzählen. Ich glaube,
das gerade Betroffene ihre Geschichten
oft mit anderen teilen wollen. Wie ich
schon sagte, ist es so kathartisch, diese
Teile von sich selbst mitzuteilen, vor
allem in der Hoffnung, dass die eigene
Geschichte bei anderen Menschen etwas
auslöst. Ich glaube, dass viele Menschen
Annie, du hast viele verschiedene
Arten von Behinderungen. Ich denke,
du hast diese vielleicht selbst
entdeckt. Sie sind nicht alle zur
gleichen Zeit aufgetaucht. Vielleicht
könntest du ein bisschen mehr über
wichtige Aspekte anderer
Behinderungen sprechen, die du
hast, und wie du sie
zusammenbringst. Wie ist es dir
gelungen, damit im Laufe der Zeit
klarzukommen?
Es gibt einfach so viel zu
verarbeiten. Als du erwähnt hast, ich sei
eine vielseitige Person, ist es genau das,
was ich mir wünsche: Dass die
Gesellschaft das auch so sieht, besonders
wenn Behinderung ein so großer Teil des
offenen Dialogs ist, an dem ich
teilnehme. Es wird leider immer noch
dieses eindimensionale, abwertende Bild
von Menschen mit Behinderung
geschaffen. Der Banner, unter dem ich
ständig stehe, ist
„Behindertenbeauftragte“. Das kann sich
manchmal sehr eindimensional anfühlen.
Ich denke auch, dass es immer noch
so ist, dass die Leute uns nicht
trauen, nicht vertrauen. Und oft sind
die Leute direkt vor deiner Nase und
versuchen, dich abzuwerten oder
dich zu diskreditieren, dir Sachen
unterstellen….
Also, es gibt immer wieder
Kommentare und Äußerungen wie: ‚Du
bist nicht behindert. Du tust nur so, als
wärst du behindert.‘ In deren Köpfen
macht es also nicht klick, dass sie
behinderten Menschen nicht trauen. Sie
sagen einfach, du bist nicht behindert.
The Future Is Accessible
Du bist eine Lügnerin, eine Betrügerin.
Das ist auch ein mediales
Darstellungsproblem. Jedes Mal, wenn
man in einem Film oder ganz speziell in
einer Novelle sieht, wie ein*e
Rollstuhlfahrer*in aus dem Rollstuhl
kommt und geht, dann diese Behauptung
untermauert und zurechtgelegt wird:
‚Siehste, die haben die ganze Zeit nur so
getan.‘ Die nur darauf warten, diese
These zu belegen. Ich spreche oft
darüber, weil es zu meinen täglichen
Erfahrungen gehört, wegen so etwas
Angst zu haben oder sich anderen
gegenüber erklären zu müssen. Denn ich
kann ganz normal durch mein Haus
gehen. Ein großer Teil des Grundes,
warum ich einen Rollstuhl benutze, sind
die chronischen Schmerzen. Ich kann es
nicht ertragen, längere Zeit auf den
Beinen zu sein. Ich laufe also immer nur
ein paar Minuten in meinem Haus
herum. Und selbst wenn ich zu Hause
herumlaufe, lehne ich mich oft an, oder
ich hebe mein Bein hoch und lege mein
Knie auf einen Stuhl oder ein Bett oder
was auch immer. Ich tue viele
entlastende Dinge, um den Druck von
meinen Beinen zu nehmen.
Wir versuchen, unser Bestes zu tun, um
uns selbst zu pflegen und auf unsere
geistige Gesundheit zu achten. Und das
ist alles, was ich auch von anderen
Menschen verlangen kann. Ich möchte
meine Erfahrungen weitergeben, damit
andere Menschen sich selbst überprüfen
und sehen, wo sie stehen und ob sie sich
mit dem, was sie tun, glücklich und
sicher fühlen. Und wenn es möglich ist,
das zu ändern, was man tun kann. Und
abgesehen davon, ja. Ich hoffe einfach,
dass die Dinge eines Tages viel
friedlicher/konfliktfreier sein werden.
Annie, ich möchte dich abschließend
bitten, über deine Vision für die
Zukunft zu sprechen. Was du für dich
selbst gutes tun möchtest und was
wir tun müssen, um den Dialog
zwischen vielen verschiedenen
Gemeinschaften weiter zu öffnen.
Also, meine Vision ist langfristig
und ich denke für die ganze Welt, und
deshalb war ich froh, dass wir das in
diesem Gespräch für einzelne Personen
genauso wie für die breite Masse geklärt
haben.
Ich hoffe, dass behinderte Menschen
wie ich nicht so empfinden müssen,
dass sie nicht in einer Existenz leben
müssen, in der wir das Gefühl haben,
dass wir im übertragenen Sinne um
Beachtung betteln müssen, sondern
akzeptiert werden wie wir sind:
normal und vielseitig!
https://www.instagram.com/annieelainey/
AIB #135
64 DIN-A-4 Seiten; € 3,50.-
AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
https://www.antifainfoblatt.de/
Mit dem Schwerpunkt-Thema „Die
Extreme Rechte und der Ukraine-Krieg“
untersuchen die Autor*innen extrem
rechte
Verknüpfungen/Allianzen/Positionen in
der Ukraine, in Russland und in Europa.
Zunächst greift Carolin Wiedemann auf
jene völkische, rassistische Positionen
zurück, die in Teilen bereits seit der
Corona-Pandemie unter
Querdenker*innen, aber auch bis in die
Mitte der Gesellschaft verbreitet ist.
Denis von „Operation-solidarity.org“
erklärt im Interview, dass „nur ein
Bruchteil (der ukrainischen Streitkräfte)
der extremen Rechten angehört“ und
prophezeit, dass – solle Russland den
Krieg gewinnen – es in der Ukraine keine
Aussicht auf eine unabhängige Politik
geben wird. Was bedeutet der russische
Einmarsch in der Ukraine für die
Friedensbewegung/Antikriegsbewegung
in Deutschland? Sebastian Bähr
analysiert den Schockzustand, stellt
Initiativen und Aktionstage vor. Wier sich
europäische Parteien und Politiker*innen
zum russischen Angriffskrieg
positionieren fasst Ulrich Schneider
zusammen. Interessant ist, dass die
„wichtigsten europäischen
Rechtsparteien keine Probleme hatten,
sich der veränderten weltpolitischen
Lage anzupassen“.
Gesamteindruck:
Dem russischen
Verteidigungsministerium zufolge hat
Kiew seit Kriegsbeginn über 6.800
„ausländische Söldner“ aus 63 Ländern
rekrutiert. Obwohl viele Freiwillige aus
humanitären Gründen in die Ukraine
reisen, schließt dies nicht die Einreise
von Personen mit extremistischeren
Ansichten und ihrer eigenen Agenda aus.
Es gibt weitere Berichte zu bekannt
gewordenen Anheuerversuche von
Neonazis, ehemaligen
Fremdenlegionären und dem Neonazi-
Netzwerk Blood and Honour, den
bewaffneten Kampf gegen den
„neobolschewistischen Abschaum“
aufzunehmen und in der ukrainischen
Legion zu kämpfen.
Hauptanziehungspunkte für militante
Neonazis sind ukrainische Freiwilligen-
Bataillone, die offen extrem rechtes
Gedankengut propagieren, wie das
Regiment Asow, der Rechte Sektor und
die Organisation Ukrainischer
Nationalisten. Innerhalb der
ukrainischen Streitkräfte formierte sich
ein extrem rechtes Netzwerk. Als der
Konflikt deeskalierte, wurden diese
Bataillone, in manchen Fällen unter
Druck, in die regulären Streitkräfte
eingegliedert. Auf diesem Weg erlangte
die extreme Rechte die Kontrolle über
die Sicherheitskräfte des Landes bzw.
stellte ihre starke Präsenz innerhalb
derselben sicher: der ukrainischen
Armee und der verschiedenen
Polizeibehörden einschließlich der
Stadtpolizei und der Nationalgarde, zu
der u. a. das Regiment Asow gehört.
Die Asow-Bewegung formierte sich um
die Partei Nationalkorps, die von Asow-
Veteranen gegründet wurde. Mit der Zeit
entpolitisierte sich das Regiment Asow
zunehmend. Seine Rolle ist für viele
Rechte eher eine symbolische, obwohl
natürlich weiterhin Kontakte zwischen
der extremen Rechten und dem
Regiment bestehen. Seit 2014 hat seine
Radikalität jedoch signifikant
abgenommen. Demgegenüber kämpfen
auch viele pro-russische Neonazis für
bspw. die offen neonazistischen
Aufklärungstruppe Rusitsch, die
Kaiserliche Legion oder die Wagner-
Gruppe. Während die russische
Propaganda das Neonazi-Problem in der
Ukraine übertrieben darstellt, tut der
Westen so, als würden diese Neo-Nazis
nicht existieren. In der Folge könnten
nach dem Krieg Kampfverbände
Veteranenstatus genießen, den sie in so
viel politisches Kapital wie möglich zu
verwandeln versuchen werden. Extrem
rechte Kämpfer haben bereits jetzt eine
große Popularität in den Sozialen Medien
erlangt. Und Waffenlieferungen könnten
in den Händen der extrem rechten
Verbände bis nach Europa gelangen. Der
Schwerpunkt verdeutlicht das perfide
System im Krieg, das extreme Kräfte für
sich ausnutzen. Krieg ist eben auch ein
Informationskrieg: Propaganda und PR.
Das wissen extrem rechte Kämpfer und
Verbände für sich auszunutzen.
BROT #7
132 DIN-A-5 Seiten; € 3,00.-
brotfanzine@gmx.de
Thommy entschuldigt sich für die
längere BROT-Pause und streamt
mittlerweile Musik, als Vinyl aufzulegen.
Yannig will, dass Putin im nächsten Wald
verscharrt wird und hat sich ein Tidal-
Probeabo geholt.
Ponys auf Pump müssen komische
Fragen beantworten, sind selten lustig
und überhaupt: Was soll der Scheiß?! Jan
Sobe langweilt mit seinem Vortrag über
die Pariser Kommune.
Wer bis zum Schluss durchhält, ist
Anarchist*in oder hat Einschlafprobleme.
Yannig interviewt Roger, Sabrina von
#PunkToo und debattieren über
Sexismus und wie es besser werden
kann. Wobei ich es merkwürdig finde,
dass es hier viel um Online-Aktivismus
und darüber reden geht, als praktische
Aktionen oder praxisnahe
Handlungen/Beispiele zu benennen.
Yannig skizziert die Black- und PoC-Punk-
Story, die wir ja auch bereits in
UNDERDOG #67 „erzählt“ haben.
TRÜMMERRATEN holen ihre Klientel am
Tresen ab, während Paw Lee daran
arbeitet, Profi-Saunist zu werden. Ins
Schwitzen kommen auch Maks, Jesper,
Karla, die aus Langeweile, wegen Geld
und ein bisschen Romantik in den Hafen
der Ehe gefahren sind.
Gesamteindruck:
Das neue Brot hat lange gedauert, fertig
gebacken zu werden, leidet aber nicht an
der Qualität. Brot in Krisenzeiten ist
gleichzeitig auch Lust und Ehrgeiz,
diesen zu trotzen. Das hamburgische
Brot kommt im großen Umfang daher,
dass es in mehreren Lesestunden sättigt
und immer noch hungrig macht. Hungrig
auf DIY, Punk und Ehe oder zumindest
auf Songs über Tiere, Schlager und
Ponys. Mal bierernst, mal gewollt lustig,
aber mit Herz, Hirn und Hefe. Das neue
BROT ist wie das Los eines Deutschen,
der im Ausland lebt und kein gutes Brot
findet. Also selber machen, immer auf
der Suche nach Rezept-Verfeinerungen.
Der letzte Punk
v. Abo Alsleben
DIY 04277 Books, Leipzig 2022, 396
Seiten; €12
www.aboalsleben.de
Über den Autoren: Abo Alsleben
ist ein selbsternannter Hedonist aus
Leipzig-Connewitz. Alsleben ist
musikalisch aktiv in der Punkrock-Band
S.U.F.F. Von ihm erschienen u.a. die
Bücher: „Tschüss Deutschland“, „Ahoi
Connewitz“ und „Punkrock Hooliganz“ –
die drei Romane sind eine Hommage an
den Leipziger Stadtteil Connewitz und
seine alternativen Bewohner*innen. 2020
erschien sein Buch „Mayhem live in
Leipzig – Wie ich den Black Metal nach
Ostdeutschland brachte“ im Bookra-
Verlag.
Über das Buch: Dieter »Otze« Ehrlich
war Sänger der legendären Punkband
SCHLEIMKEIM, die er 1980 zusammen
mit seinem Bruder Klaus in Stotternheim
bei Erfurt gegründet hatte. Es kam zu
wenigen, aber legendären Auftritten,
begleitet von Skandalen und
Gefängnisaufenthalten. Nachdem Otze
1998 seinen Vater mit einer Axt
erschlagen hatte, wurde er in eine
psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er
2005 unter ungeklärten Umständen ums
Leben kam. Anne und Franks Buch ist
aber auch zum anderen die
Charakterstudie eines Menschen, der
innerlich zerrissen und unangepasst war.
Des Weiteren war und ist ihr Buch auch
der Anlass für Abo Alsleben, Otzes
spannende und extrem verstörende
Lebensgeschichte mit eigenen offenen
Fragen zu klären: Wie konnte das alles
passieren? Wie könnte sein Leben
gelaufen sein? Wie war das mit der Band,
mit der Forensik, den staatlichen
Repressionen? Diese Fragen waren die
Grundlage für Abo Alslebens Roman, eine
reale und fiktive Geschichte zu
verknüpfen. Internetrecherchen zur
Person und zur (Anti)Psychiatrie runden
sein Roman ab. Damit keine Zweifel
aufkommen: Abo Alsleben kannte Otze
nicht, die Musik war nicht die seine. Der
Roman ist keine Biografie. Es ist sein
Versuch, Otzes interessante
Lebensgeschichte in Form eines Romans
niederzuschreiben.
Gesamteindruck:
Um Lügen-Vorwürfe vorzubeugen,
benutzt Abo Alsleben andere, aber
ähnlich klingende Namen. Aus Dieter
‚Otze‘ Ehrlich wird Dietrich „Öse“
Aufrecht, aus SCHLEIMKEIM wird
SCHMEISSKEIM. Was gleich bleibt, sind
die bekannten Fakten Otzes Stationen
vom Punk zum Staatsfeind und zum
eigenen Feind in einem System, in dem
für Otze kein Platz zu sein schien. Abo
Alslebens Protagonist ist Einzelgänger
und Zappelphilipp, der – getrieben vom
Freiheitsdrang und einem rebellischen
Geist – sich in einer widerständigen
Gegenkultur wohler fühlt, als in einem
ungeliebten Beruf und einer sinnlosen
Arbeit. Auf der einen Seite wird im
Roman deutlich, wie der Staat auch das
Private regelte und überwachte, weil das
DDR-Regime Anpassung, Einordnung,
Normerfüllung und ordentliches
Auftreten verlangte und ein Anders Sein
(Kleidung, Auftreten und Musik)
drangsalierte und sanktionierte. Auf der
anderen Seite beschreibt Abo Alsleben
auch die Widerständigkeit und Nischen,
die Punks und Andersdenkende suchten
und fanden. Im letzten Kapitel geht es
Abo Alsleben offenbar auch um eine
deutliche Kritik am System Psychiatrie.
Gefangen und ausgeliefert in einem
System, das den Protagonisten der
Geschichte zugrunde richtet. „Der letzte
Punk“ ist eine fesselnde und in einer von
Selbstzerstörung und Ausgeliefertsein
geprägten Lebensgeschichte, die in einer
einfachen, mitunter klischeehaften
Sprache auch an das Scheitern erinnert,
an das Kaputt machen und Kaputt sein
zwischen DDR von unten und über den
menschlichen Abgrund hinaus.
LOTTA #86
64 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.-
Lotta, Am Förderturm 27, 46049
Oberhausen
www.lotta-magazin.de
Hessen hat ein strukturelles
Problem mit Rassismus und rechter
Gewalt. Der aktuelle Schwerpunkt wirft
einen kritischen Blick auf staatliche
Institutionen, skizziert extrem recht
Vorfälle, liefert Erkenntnisse zu „NSU
2.0“ und erschreckende Beispiele wie
rechte Chatgruppen und Polizist*innen,
Bundeswehrsoldaten, Richter
Kontinuitätslinien rechten Terrors
unterstützen. Caro Keller von NSU-Watch
schildert im Interview, welche Rolle
Hessen im NSU-Komplex spielt und gibt
einen Ausblick auf das Projekt „Kein Weg
vorbei“, das einen kritischen Blick auf die
hessischen Zustände wirft. Den
Hintergründen zum NSU 2.0 und den
Versuchen, den Angeklagten im
laufenden Prozess zum Einzeltäter zu
erklären, widmen sich Sebastian Hell
und Simon Tolvaj. Sonja Brasch
analysiert die Arbeit der „BAO Hessen R“
hinter den Floskeln der staatlichen
Öffentlichkeitsarbeit. Die Gruppe
„Pressestelle“ stellt vor, wie sie mit
eigenen Recherchen am Aufbau einer
Gegenöffentlichkeit zu staatlichen
Narrativen in Nordhessen arbeitet.
Gesamteindruck:
Die rechts-terroristischen Morde von
Hanau und der Mord an dem Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke
machten Hessen zu einem „Hotspot“
rassistischer und extrem rechter
Anschläge. Dabei haben Verschweigen
und Verdrängen von rechten Gewalttaten
in Hessen Tradition. Die LOTTA-
Redaktion hat in ihren Ausgaben immer
wieder Fälle skizziert, die offenlegen, wie
Neonazis sich abseits von rechten
Strukturen „problemlos unter dem Radar
der Öffentlichkeit und der
Sicherheitsbehörden bewegen“. Der
Schwerpunkt zeigt aber auch, wie
wichtig es ist,
Betroffenen/Überlebenden/Angehörigen
eine öffentliche Stimme zu geben und
den Fokus auf ihre Perspektiven zu
legen. Es muss eine Solidarität
entstehen, in der die Öffentlichkeit mehr
über die Betroffenen erfährt, als über die
Täter*innen. Wenn Journalist*innen und
Medien das nicht tun, müssen Menschen
dazu befähigt und ermuntert werden, das
selbst zu tun, was „pressestelle“ seit
Januar 2020 als Teil ihrer Arbeit ansieht
und workshops anbietet. Kraftvollstes
Beispiel sind die Angehörigen der
Menschen, die in Hanau ermordet
wurden, sowie die Überlebenden des
rechsterroristischen Anschlags. Sie
schufen sich ihren eigenen Raum und
setzten die Politik unter Druck, dass ein
Untersuchungsausschuss eingesetzt
werden musste. Langsam setzt sich die
Einsicht durch, dass solidarisch kämpfen
heißt, die unterschiedlichen Ebenen von
Betroffenheit anzuerkennen und
einander zu unterstützen. Auch breite
Bündnisse können dabei mithelfen, dem
rechten Treiben auf der Straße, in den
Behörden wirksam etwas
entgegenzusetzen.
OX #162
164 DIN-A-4-Seiten; € 6,90.- + CD
OX-Fanzine, Postfach 110420, 42664
Solingen
www.ox-fanzine.de
Alex Gräbedlinger wird geil, wenn
andere Menschen nach einem Schluck
Weizenbier mit der Zunge schnalzen oder
mit einem Strohhalm den Rest des
Milkshakes schlürfen. Dafür gerät
Kollege Tom van Laak bei
Mückengeräuschen in Panik und
wechselt vom Schlaf- in den Jagdmodus.
Nach dem Ausstieg von Dirk „Diggen“
Jora bei SLIME und dem Neuzugang Tex
als Sänger gab und gibt es viele Online-
Diskussionen darüber, ob und wie SLIME
unter diesen Namen weiter existieren
dürfen und/oder ob das nun Deutsch
Rock oder noch Punk sei und ob Slime
überhaupt noch als Sprachrohr der
„linken Szene“ funktionieren kann. Für
Tex, Alex, Elf, Christian und Nici ist es
ein Neuanfang, Slime 2.0, und keine
Wiederholung, was vor allem auch daran
liegt, dass Tex bisher als
Singer/Songwriter unterwegs war und
als Texter ein Stück weit Authentizität
einbringt. Julia Segantini spricht mit Ren
von PETROL GIRLS über ihren Alltag in
Wien und über die Songinhalte des neuen
Albums, über Femizid ,
Abtreibungsgegner*innen und über
betrunkene cis-Männer in Kneipen. Mit
„Tranny“ gibt es einen Vorabdruck des
gleichnamigen Buches von Laura Jane
Grace (AGAINST ME!), die ihr Leben,
Jugend und das Coming-Out als Trans-
Person skizziert, erstmals ins deutsche
übersetzt. Neben SLIME gibt es mit
MUFF POTTER und anschließend mit
Nagel ein längeres Interview über
Selbstoptimierung, DIY, zu WASTED
PAPER und über das Leben und
Schreiben von
Bordsteinkantengeschichten.
Sänger und Gitarrist David von
KLISCHEE erinnert im von Triebi Instabil
geführten Interview über die Bandzeit,
aber auch von Punk in Hannover und die
dogmatischen Cliquenverhältnisse und
Spannungen zwischen Norder und der
Kidpunk-, Gossenpunks. Später ziehen
THE SOAP GIRLS blank und erklären
ihren Grrrl Slut-Style als
freiheitsliebendes Ding.
Gesamteindruck:
In der prall gefüllten Ausgabe sind für
mich vor allem die vielen Kurzinfos
interessant, die Rubriken zu Punkalben
aus der Vergangenheit und überhaupt:
was die Alten so zu sagen haben. Denn
Punk Historie ist und bleibt spannend,
wenn mensch erfährt, wie gefährlich,
aber auch wie unglaublich festgefahren
die Community so war. Nach wie vor
stellt sich mir aber auch die
Sinnhaftigkeit nach den vielen ein- bis
halbseitigen Interviews, währenddessen
insbesondere die längeren mit SLIME
und MUFF POTTER, sowie das
KLISCHEE-Interview die Highlights sind.
Auch immer gut: die Rubriken und die
Pro- und Contra-Debatten zu einem
ausgewählten Thema und Kalle Stilles
witzig-bissige Kolumnen. Also: den Inhalt
mehr straffen und mehr intensiv geführte
Interviews, dann klappt das auch mit der
Qualitätssteigerung!
PLASTIC BOMB #119
48 DIN-A-4-Seiten; € 5,00.-
Plastic Bomb, Heckenstr. 35, 47058
Duisburg
https://www.plastic-bomb.eu/
wordpress/
Ronja fühlt sich wie in einem
Deutschpunk-Text der 80er Jahre und
auch Basti resümiert, dass „wir der
atomaren Vernichtung in den 80er Jahren
nicht mehr so nah sind wie jetzt“.
THE DEAD END KIDS sind „eine Bande
von Chaoten, die sich in der Schule
kennengelernt haben“. Die Band mit den
2 Engeln für Charlie plaudern über
Glitzer_Power, Corona und über den
Nutzen von sozialen Medien für eine
Band. Carsten, Lars und Udo reflektieren
ihre 33 Jahre Bandgeschichte als
POPPERKLOPPER und dem
Luxusproblem, aus dem reichhaltigen
Repertoire ein Live_Set
zusammenzustellen. Chris Scholz weiß
nicht so recht, worüber er schreiben soll,
gibt es seiner Meinung doch zu viele
Pointen auf das Elend der Welt und
kommt dann vom Krieg in den Irak zum
Grab von Helmut Kohl. Demgegenüber
schaufelt Basti nun nicht mehr nur in der
Gruft nach seltsamen Geschichten,
sondern sendet direkt aus dem Grab und
hat dafür einen eigenen youtube-Kanal
eingerichtet. Philipp seziert Björn
Fischers Buch „Rock-O-Rama - Als die
Deutschen kamen“ und entdeckt einige
Kritikpunkte und unterstellt dem Autoren
Vernachlässigung in der Recherche
durch Wiederholungen und
Verharmlosung von neonazistischen
Umtrieben des Protagonisten, während
Einordnungen andere überlassen
werden, als selbst (politisch) Stellung zu
beziehen. Ronja startet mit „21st Century
Digital Punks“ eine neue Interview-Reihe
mit jungen Punks, um zu erfahren wie
diese die Szene (sic!) erleben, was sie
bewegt und sich wünschen. Insbesondere
Anas Erzählungen sind geprägt von
einem (Über)Leben auf der Straße und
der Suche nach einem Leben, wie sich
das vorstellt, nahezukommen.
Die Dödelhaie schwimmen wieder, Ronja
ist in der Piercing-Hölle, hat eine Daten-
CD von ihrem Hirn und OIRO starten mit
„Coole Narben“ den Versuch, „in den
Dialog zu treten, laut zu denken, andere
Stimmen zu finden“. Wenn das der
Führer wüsste…
Gesamteindruck:
Knallbunt und immer mit einem
chaotischen Charme überrascht die
aktuelle Ausgabe auch mit neuen Ideen,
die allerdings nicht immer überzeugen.
So scheitert Ronja mit dem
abgekupferten Versuch, „Dinge, die total
hot sind, wenn man reich ist…“ dem
MAD-Anspruch gerecht zu werden, stellt
aber mit der neuen Interview-Reihe mit
jungen Punks ein sehr interessantes
Projekt vor, das nicht so dogmatisch und
verkrampft wirkt wie die das ständige
Propagieren zur #PunkToo-Kampagne.
Ansonsten gibt es ein Kessel Buntes mit
unterhaltsamen Interviews, aber auch
mit überflüssigen Artikeln. So hätten
Bastis Eigenwerbung zum eigenen
youtube-Kanal wie auch Chris Scholz’
Kolumne mit anderen qualitativen
Inahlten gefüllt werden können, denn die
Seiten sind eh schon knapp bemessen.
PLOP #101
80 Seiten DIN-A-5-Seiten, S/W &
Farbe; €6,- (inkl. Porto)
https://www.plop-fanzine.de
Das aktuelle PLOP-Comiczine
beinhaltet eine Vielzahl an Comics,
Zeichnungen, Textbeiträge und einem
tollen DIN-A-4-Poster. Diese Ausgabe ist
die erste gedruckte mit farbigen
Beiträgen. Das garantiert zwar noch
nicht eine Qualitätssteigerung, erweckt
aber den Eindruck von Professionalität
und gesteigerten Ansprüchen. Mir
gefallen die kleinen Details und
Zeichnungen (u.a. von Haggi) in den
Textbeiträgen (Lesergesabbel, Inhalt)
außerordentlich gut. Die Technuiken der
Zeichner*innen sind sehr
unterschiedlich. Mahmoud Hamidy nutzt
im mehrseitigen Comic teilweise reale
Fotos und zeigt in verschwommenen
Bildern, die mitunter skizzenartig sind,
eine Anti-Heldengeschichte, die weiter
gezählt werden wird. Dieter Berrs Comic
indes kann mich nicht überzeugen, denn
seine Arbeit wirkt zu künstlichunästhetisch.
Bei Peter Schaafs Sci-Fi-
Fortsetzungscomic Darnak stelle ich
Tiefgang und ein Gespür für eine
spannende Geschichte mit skurrilen
Figuren fest, die mich an die Morloks aus
„Die Zeitmaschine“ erinnern. Die Idee
von Andreas Alt, seine Motive für ein seit
fünf Jahren andauerndes
autobiografisches Comicprojekt mit Text
und Zeichnungen darzustellen, ist sehr
gelungen. Auch gut, das zeitgemäße
Gretel-ohne-Hänsel-Märchen von Markus
Herbert als Fortsetzungscomic. Am
stärksten empfinde ich Stefan Lausls
Comic. Detaillierte und ausgeschmückte
Panels mit viel Text und viel
Zynismus/Sarkasmus. Grandios!
Künstlerisch am besten hat mir der
farbige Comic „Feed the Beast“ von Blue
Print gefallen. Der wäre es wert, als
eigenständiger Comic in DIN-A-4-Format
veröffentlicht zu werden.
Gesamteindruck:
Der Relaunch ist geglückt. Ein sehr gutes
Comic-Fanzine, das meinetwegen ganz
auf einseitige Zeichnungen verzichten,
und mehrere abgeschlossene Kurz-
Geschichten präsentieren könnte. Die
Anzahl der teilnehmenden Comic-
Zeichner*innen/Autor*innen ist
erstaunlich hoch. Die Mischung aus
farbigen Comics in Verbindungen mit
Textbeiträgen (Rezensionen, Kolumnen)
ist ein Beleg für sehr persönliche
Einblicke (Andreas Alt), für viel Fantasie
und Humor, die die eigene Kreativität
beflügelt und für gute Unterhaltung
sorgt.
Proud to be Punk #35
100 DIN-A-5-Seiten; € 3,00.-
jan.sobe@t-online.de
Jan verspürt das Bedürfnis, den
„besorgniserregenden Krieg“ in
irgendeiner Form zu thematisieren und
verwendet eine Anzeige von ‚Mission
Lifetime‘, die Bezug auf Geflüchtete
nimmt. Weiter nimmt Jan auch Bezug
zum 20-jährigen P.t.b.P.-Jubiläum und
teilt den Leser*innen seine Zweifel mit,
ob es heutzutage überhaupt noch Sinn
ergibt, Reviews zu schreiben und zu
veröffentlichen, freut sich aber über neue
Fanzines, die publiziert werden.
Einen großen Teil nimmt das von ihm
benannte „Jubiläums-Special“ ein, wo
Außenstehende ihren persönlichen Bezug
zum P.t.b.P.-herleiten und allgemein über
das Fanzine sinnieren. Für mich ist diese
Form der Rückbesinnung total
überflüssig, selbst wenn Jan andere zu
Wort kommen lässt. Ich finde, es gibt
viele gute Gründe, um sich mit den
eigenen Talenten zu befassen – und das
ohne schlechtes Gewissen! Natürlich
gehört auch ein realistischer Blick und
eine gute Selbstreflexion dazu –
schließlich soll eine Auseinandersetzung
mit den eigenen Potenzialen nicht dazu
führen, am Ende an Selbstüberschätzung
zu leiden. Aber die eigene Werkschau zu
repräsentieren halte ich vor diesen
Fragen unangemessen: Wem nützt es?
Was kann es?
Des Weiteren räumt Jan Geralf Pochop
satte 14 Seiten ein, um von dessen Stasi-
Verhaftung, der Rehabilitation zu
berichten, um Situationen mit rechter
Gewalt in den 1990er Jahren zu
schildern, sowie der Vorliebe für
„exotischen Punk“ und Reisen, um
andere subkulturelle Szenen
kennenzulernen.
Gesamteindruck:
Neben den üblichen, gewohnten
Standard-Rubriken gibt es erneut einige
intensive Buchvorstellungen und mit
Geralf Pochop ein ebenfalls intensives
Aufarbeiten der eigenen
Lebensgeschichte. Jans Ausarbeitungen
sind akribisch und detailreich
wiedergegeben, umfassen Aspekte
regionaler „Szene“-News, Bildungspolitik
und Zeitgeschichte mit Punkbezug.
RAUDITUM #7
72 DIN-A-5-Seiten; €3,00.-
www.facebook.com/rauditumfanzine
DE WESSI ist einigermaßen
wieder fit, hat aber noch depressive
Phasen und ein schlechtes Gewissen DE
WESSI gegenüber, der bekanntlich die
vorherige Ausgabe im Alleingang
produziert hat.
RAWSIDE dann in einem tiefer gehenden
Gespräch mit u. a. Henne, der von DE
WESSI Fragen zum Gefängnisaufenthalt
beantwortet, das dazu geführte frühere
OX-Interview als BILD-Methode kritisiert
und sich zu zweifelhaften Personen aus
anderen Bands wie Wattie (THE
EXPLOITED; Choke (STARS &
STRIPES/SLAPSHOT), mit denen
RAWSIDE Bühne und Backstage-Raum
teilten oder teilen werden, erklärt.
UGLY interviewt Uwe Umbruch auf 10
Seiten zu dessen Punk-Sozialisation und
allen Bands, in denen Uwe spielte und
spielt und erzählt, was ihn an Punk
immer noch „vom Hocker reißt“. Daran
schließt ein weiterer Höhepunkt an. Auf
über 9 Seiten berichten Alex von der
„Lauta Crew“ und Jens Abel (Restloch,
Striking Surface) von ihren Wegen in die
Subkultur, Begegnungen und
Erfahrungen mit rechten Umtrieben,
sowie die zurückliegenden
Veranstaltungen der Lauta Crew. Des
Weiteren sinniert UGLY in seinen
„unsortierten Gedankenfragmenten“
über „Auto, Menschen und Natur“ bzw.
die Probleme durch Autos, Politik und
Lobbyeismus sowie der Versuch,
Lösungen für eine autofreie/autoarme
Zukunft zu formulieren, die er selbst als
Utopie abstempelt.
Gesamteindruck:
Ein paar Bands stellen sich vor, wobei
das BULLSYEYE-Bandinfo 1:1 aus dem
www übernommen worden ist. Warum
werden diese Bands vorgestellt und dann
gibt es nur ein allgemeines Bandinfo, was
jede* im www nachlesen kann? Diese Art
der Bandvorstellung ist überflüssig. Die
eigentlichen Highlights sind die
Interviews mit Uwe Umbruch und das
mit Jens und Alex. Was mir auch gut
gefällt ist, dass bei kritischen Fragen
noch mal nachgehakt wird und auch noch
andere Betroffene „ins Boot geholt“
werden, um Vorurteile/Vorbehalte
auszuräumen oder zu bestätigen. Die
Band zur CD-Beilage (ZSA ZSA GABORS)
wird auch interviewt, wobei die Aussagen
zu den einzelnen Songs auch als Liner
Notes im kleinen Booklet enthalten sind
und so gesehen auch nicht unbedingt
notwendig sind, nochmals – anders
formuliert – abgedruckt zu werden.
Insgesamt aber eine gute Mischung aus
Unterhaltung, Biografien/Rückblenden
und antifaschistischer Note.
ROMP #50
40 DIN-A-4-Seiten; € 2,50.-
Romp Zine, Steinenstraße 17, 6004
Luzern, Schweiz
https://www.romp.ch/
Der Verein «Pro Steinenstrasse»
setzt sich für den Erhalt des
schützenswerten Ortsbildes an der
Steinenstrasse ein. Es soll in seiner
Ursprünglichkeit und Einzigartigkeit
erhalten bleiben. Von der Gentrifizierung
betroffen ist auch der Info- und
Plattenladen ROMP. Der aktuelle Stand
der Dinge ist im 10. Teil immer noch sehr
verwirrend, weil es viel um rechtliche,
baubehördliche Inhalte, um Einsprüche
und um Geklüngel, wo mensch schon mal
die Übersicht verlieren kann. Thrasher
von MegaMosh und Trasher Prod. erklärt
was Punker wie Metaller unterscheide
/verbindet und wünscht sich, dass die
Horde Trashers mit den lichtscheuen
Punks nach den Konzerten zusammen
feiert. In Graz herrscht kein punkfreundliches
Klima. Dennoch gibt es ein
paar Bands sowie Adressen, Locations,
wo punk subkulturelle Angebote in
Anspruch nehmen kann. Sascha, Ralle,
Pete und Dima von FRONTALANGRIFF
skizzieren ihre noch relativ kurze
Band(entstehungs)geschichte und
möchten „wieder ein schönes aggressives
Projekt in die Deutschpunk-Musikwelt
setzen“.
Mille von Red And Anarchist Sounds
erklärt das Radio-Konzept. Dann gibt es
ein Update zur Lage in Myanmar, wo es
durch die Militärdiktatur auch ein Jahr
nach der Machtübernahme für die
subkulturelle Community immer
schwieriger wird, sich offen zu zeigen,
weshalb sich Online-
Widerstandsbewegungen vernetzen. Für
The Fired ist Punk der Background und
„der rebellische Teil in uns“. Der
Herausgeber erinnert in „Geschichten
aus den 80ern“ an Schibi, einem
Weggefährten und Mitbewohner, der
offensichtlich für seine Drogengeschäfte
eine Telefonzelle als Büro
zweckentfremdet hatte und seine
Alkoholausdünstungen in Kombination
mit Schweißfüße „reines Giftgas“ waren.
Gesamteindruck:
Mit Abstand die beste Ausgabe seit
langem. Die aktuelle Ausgabe bietet
Persönliches, Politisches, in Verbindung
mit DIY und widerständiger Subkultur
aus der Nähe und aus aller Welt. Ein sehr
differenzierter Blick auf Menschen, die
Radio machen, in einer Band spielen,
Veranstaltungen organisieren und Punk
im Sinne der DIY-Idee aktiv mitgestalten.
Tierbefreiung #114
85 DIN-A-4-Seiten; €4,00.-
die tierbefreier e.V., Postfach 160132,
40564 Düsseldorf
www.tierbefreiershop.de
Kinder lieben Tiere. Das klingt
erstmal platt und es ist auch nur ein
Gefühl, das ich habe. Ausgelöst durch
viele private Beobachtungen der
Interaktion zwischen Kindern und
anderen Tieren. Und auch manche
tierliche Individuen behandeln Kinder
anders als erwachsene Menschen. Gibt
es eine besondere Verbindung zwischen
ihnen? Und wenn ja, wie viel
schrecklicher ist es dann, dass sie von
Anfang an lernen, dass Tiere angeblich
zum Essen da sind? Beziehungsweise
nicht mal wissen, was sie da teilweise so
gerne essen?
Die Redaktion geht diesen Fragen nach.
Mirjan Rebhan konnte vier Kinder von 10
bis 14 Jahren nach ihren Gründen, vegan
zu sein/leben, befragen. Tom
Zimmermann rezensiert das Kinderbuch
„Tim liebt Tiere“ der Pädagogin Anna-
Lena Wibbecke, die mit der Hauptfigur
ein „Vorbild“ für vegan lebende Kinder
geschaffen hat. Anna Huber widmet sich
dem perfiden System der Tierindustrie
und der Werbung, Kinder an die
Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere zu
gewöhnen. Daran mitverantwortlich sind
auch die Eltern und das direkte Umfeld
der Kinder, die das Leid verharmlosen,
verniedlichen, verdrängen und
verschleiern. Von Tier-Mobilees,
Spielzeug, Kinderbücher mit Bauernhof-
Idylle, Bärchenwurst über Zoo, Zirkus
und Tiere in Animationsfilme. Die
Konditionierung auf Ausbeutung und
Benutzung kann durchbrochen werden,
wenn Eltern in ihrer Verantwortung
aufzeigen, dass Tiere fühlende
Lebewesen sind und keine Waren.
Michael Kohler greift diesen Aspekt auf
und schildert wie Ausbeutung den
Kindern schadet. Ab welchem Alter sind
Kinder in der Lage, Mitgefühl zu
empfinden? Abhängig von ethischmoralischen
Vorstellungen entwickeln
sich Kinder in Phasen. Je nach dem
Erziehungsstil und der
emotionalen/sozialen Bindung können
Respekt, Empathie wachsen. Während
Lobbygruppen Einfluss nehmen auf
Bildungseinrichtungen, bedarf es eines
konzentrierten und nachhaltigen
zivilgesellschaftlichen Engagements, den
Tierschutzgedanken im Bildungssystem
zu integrieren.
Gesamteindruck:
Eine kritische Auseinandersetzung mit
dem Mensch-Tier-Verhältnis muss
selbstverständlich werden und
Bestandteils ein in Erziehung, Bildung,
Forschung, Lehre. Im Internet gibt es
praktische Tipps. PETA hat ein eigenes
Portal für Kids eingerichtet (petakids.de).
Umfangreiches Begleitmaterial für den
Schulunterricht bietet zudem
beispielsweise der „Bund gegen
Missbrauch der Tiere“. Nicht nur für
Fachkräfte, sondern auch für Eltern,
eignen sich darüber hinaus Bilderbücher,
die den richtigen Umgang mit Tieren
thematisieren oder das Verhältnis von
Mensch und Tier beleuchten. Hierbei
können Kindern spielerisch Werte wie
Achtsamkeit und Mitgefühl vermittelt
werden. Auch lässt sich die Thematik auf
einfache Weise in den Alltag integrieren.
So kann man zum Beispiel den Einkauf
im Supermarkt zum Anlass nehmen, um
sich selbst und dem Nachwuchs einmal
die Frage zu stellen, woher eigentlich
das Essen kommt (z.B. das Fleisch, die
Wurst, die Milch oder die Eier), welche
Lebensmittel mit tierischen Produkten
hergestellt werden und warum manche
Menschen vegetarisch oder vegan leben
und somit auf diese Waren verzichten.
Ich hätte mir diese gebündelten und
weitere Projekt-Tipps, Literatur-Hinweise
in der aktuellen Ausgabe gewünscht,
dieses grundlegende Interesse an
Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber
nichtmenschlichen Tieren zu fördern.
TRUST #214
68 DIN-A-4 Seiten; €4,00.-
Trust Verlag, Dolf Hermannstädter,
Postfach 110762, 28087 Bremen
https://trust-zine.de/
Dolf zitiert sich aus einer
vergangenen Kolumne selbst und hat
Lust auf Sommer. Jan Röhlk interessiert
sich neuerdings für Tonstudios und fragt
sich, bei welcher Studio-Session er gerne
mal „Mäuschen“ gespielt hätte. Darüber
hinaus informiert Jan die Leser*innen
über Bücher mit und ohne Punkbezug
aus L.A. und liefert gleichzeitig noch
seine Begleit-Playlist mit.
Bela lassen viele der aktuell gehypten
Post-Punkbands kalt. Sein Herz erwärmt
wird aber bei DEAD FINKS. Claas
Reiners spricht mit Frank Turner über
dessen schwierige Beziehung zum Vater,
dem Umgang mit Drogen und immer
wieder darüber wie ihm seine Frau
geholfen hat, Krisen/Ängste zu
überwinden.
Jan R. führt die TRUST-Frankfurt-
Connection mit einem Interview mit
Daniel PJ1 fort, der – wenn er nicht in
Frankfurt lebt und arbeitet – zu einem
NAKED RAYGUN-Gig fliegt, in einem
Sabbatjahr die Welt bereist, während Jan,
alias 1 L, ihn mit Details konfrontiert, die
Daniel selbst gar nicht mehr wusste.
Caro von THE DEAD END KIDS schätzt
die Band als reflektiert ein, erklärt, dass
die Bandmitglieder privat thematisieren,
was sie ankotzt, und dass sie eine
persönliche Note haben. Zum Abschluss
verschwendet Nils eine Seite mit 4
Fragen an Bruno vom IEPERFEST und
bela stellt einige seiner favorisierten UK
82er Anarcho-Punkbands und -platten
vor.
Gesamteindruck:
Jans LA-Musik- und Film-
Buchbesprechungen und das von ihm
persönlich geführte Gesprächsinterview
mit Daniel PJ1 sind erneut sehr
detailbesessen und ausgeschmückt und
sind neben belas Plattentipps zum Thema
Uk-82-AnarchoPunk wie die sehr
persönlichen Einblicke in Frank Turners
Leben die Lese-Highlights. Dennoch täte
Jan gut daran, seine Aufzeichnungen mal
in komprimierter Form abzudrucken. Der
Rest ist Standard und kommt nicht über
einen Infotainment-Status hinaus.
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