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UNDERDOG #68

Schwerpunkt: Punk at the Movies

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UNDERDOG

Ausgabe 68 Frühling 2022 €2,50



Ahoi!

Die Subkultur des Punk ist von zahlreichen

Bedeutungsträgern geprägt. Neben der Musik und Mode

hat die Punk-Generation der 1970er Jahre gleichzeitig

Einfluss auf Film und Kino. Der frühe Punk-Film schaffte es

in diesem Fall, aus den festen Regeln der Leinwand

auszubrechen, Standards auszuhebeln und dem

Filmemachen und -sehen verschiedene neue Ästhetiken

zuzuordnen. Die Idee des Punk im Film überträgt

verschiedene kulturelle Signifikanten. Dazu gehören

filmischer Widerstand, Trennung und Distanz zu einer

abstoßenden Gesellschaft. Das Punk-Kino ermöglicht mit

seinen zum Nachdenken anregenden Bildern bis heute

einen Zugang und Einblick in die Lebensweise einer

Subkultur. So schafft Punk im Film nicht nur eine

Ressource des politischen Ausdrucks und der

Korrespondenz, sondern vermittelt gleichzeitig ein neues

Gefühl der Integrität. In der Folge bietet der Ausdruck in

Film und Kino eine weitere, völlig neue Möglichkeit der

Vermittlung von Ideen und Werten. Hierüber unterhielten

wir uns mit Filmemacher*innen wie Wolfgang Büld,

Tarek Ehlail, Penelope Spheeris und Dominik Reding.

Als Katalysator und treibende Kraft kann der Film durch

die Nutzung verschiedener Formen von filmischen

Instrumenten und Erfahrungen ein völlig neues Konzept

des kulturellen Verständnisses schaffen. Angesteckt durch

die Do-it-yourself-Haltung des Punkrock experimentierten

junge Künstler*innen mit der Super-8-Kamera und

repräsentierten so den deutschen Underground, den wir im

Artikel skizzieren. Yana Yo drehte 1981 ihren ersten

Super-8-Film. Wir unterhielten uns mit ihr über

Filmemachen als subversive Kunstform. Darüber hinaus

legen wir den Fokus auf feministische Punkfilme und

gehen der Frage nach, welche Rolle Frauen* in diesen

spielen bzw. wie Frauen* in diesen dargestellt werden.

Viel Spaß beim Lesen!

Inhalt 3

Punk auf der Leinwand 4

Punk hinter der Kamera: Wolfgang Büld 9

OI! Warning: Dominik Reding 17

Im Herzen immer noch Punk: Tarek Ehlail 24

Frauen* in Punkfilme 33

Times Square 36

The Fabulous Stains 38

Her Smell 40

Punk und Undergrouund auf Super-8 43

Yana Yo 47

Penelope Spheeris 54

More Punk Movies 61

Zines, Bücher 70

Abo 79

Impressum

UNDERrDOG

V.i.S.d.P. Fred Spenner

Stolles Weg 1

D-27801 Dötlingen

+49(0)4431-72771

info@underdog-fanzine.de

www.underdog-fanzine.de

Verkaufspreis:

Innerhalb Deutschlands:

€2.50.- + €1,60.- (Porto)

Abo für 4 Ausgaben: €10.- (im Voraus)

Europa:

€2,50.- + 3,70.- (Porto)

4er-Abo: 15.- (im Voraus)

https://www.underdog-fanzine.de/

shop/abo/

Dank an: Tarek, Dominik, Wolfgang,

Penelope, Yana Yo

Bezugsquellen

Deutschland:

GRANDIOSO-Versand&Mailorder

(grandioso-versand.de), MAD BUTCHER

RECORDS (madbutcher.de), KINK

RECORDS (kink-records.de); BLACK

MOSQUITO Mailorder (blackmosquito.org),

RIOT BIKE RECORDS

(riotbikerecords.net), FLIGHT 13

Records (flight13.com), RilRec.

(https://rilrec.de), NO SPIRIT Mailorder

(https://nospiritmailorder.de); BLACK

CAT TAPES (facebook.com

blackcattapes161); Rockers

(https://www.rockers.de); CHEAP TRASH

RECORDS

(office@cheaptrashrecords.de)

Schweiz:

ROMP

(http://www.romp.ch/ROMP_ZINE)

UNDERDOG #69:

Deadline: 01.07.2022

Anzeigenschluss: 15.07.2022

Erscheinungsdatum: 01.08.2022

Hinweis:

Die Deutsche Nationalbibliothek stellt

diese Publikation in Frankfurt und

Leipzig bereit und ist im Internet

abrufbar unter:

http://d-nb.info/1036440567

3


4


Über das Thema

Punk auf der Leinwand

Die Subkultur des Punk ist von zahlreichen Bedeutungsträgern

geprägt. Neben der Musik und Mode hat die Punk-Generation der

1970er Jahre gleichzeitig Einfluss auf Film und Kino. Der frühe

Punk-Film schaffte es in diesem Fall, aus den festen Regeln der

Leinwand auszubrechen, Standards auszuhebeln und dem

Filmemachen und -sehen verschiedene neue Ästhetiken zuzuordnen.

Während einige Bilder schockierend oder

zum Nachdenken anregend erscheinen

mögen, vermitteln andere intensive

Eindrücke von der subkulturellen Politik

und Ideologien des Punk. Die Idee des

Punk im Film überträgt also verschiedene

kulturelle Signifikanten. Dazu gehören

filmischer Widerstand, Trennung und

Distanz zu einer abstoßenden

Gesellschaft. Solche herausfordernden

Ideen der Filmästhetik und des

Filmemachens selbst finden sich auch

5


Über das Thema

heute noch in Kategorien des

unabhängigen Kinos zu finden. Um den

frühen filmischen Einfluss des Punks auf

die alternative Filmgeschichte zu

untersuchen, werden ganz

unterschiedliche Punk-Filme und Filme-

Macher*innen vorgestellt. So können

sowohl das frühe als auch das neuere

Punk-Kino als kulturelle Signifikanten von

Widerstand und Distanz gelesen werden.

Darüber hinaus bieten solche filmisch

vermittelten Werte Anlass, den Punkfilm

nicht nur als Übermittler*in subkulturellen

Denkens zu betrachten, sondern

gleichzeitig als Indikator für Integrität und

Solidarität innerhalb einer Subkultur oder

Bewegung selbst.

Folglich ging es beim Punk immer darum,

die Kontrolle zu übernehmen, die Norm

herauszufordern und aus der Gesellschaft

zu fliehen oder eigene Regeln

aufzustellen. Neben der Musik hatten

auch Film und Kino einen ähnlichen

Einfluss auf die Subkultur und die

Filmindustrie. Das Punk-Kino ermöglicht

mit seinen zum Nachdenken anregenden

Bildern bis heute einen Zugang und

Einblick in die Lebensweise einer

Subkultur. Filme wie Jubilee (1978), The

Great Rock ‚N‘ Roll Swindle (1980),

Rude Boy (1980), Sid and Nancy (1986)

und viele mehr drehen sich im

Wesentlichen um den Punk, seine Ästhetik

und seine Geschichten. Infolgedessen

übertrugen Punk-Filmemacher*innen und

Anhänger*innen dieser Subkultur ihre

ganz eigene Do-it-yourself-Attitüde (DIY)

in ein Medium, das ihnen neue

Möglichkeiten bot, ihre Überzeugungen

und Vorstellungen zu vermitteln. In

Anbetracht der Bedeutung der oben

genannten Filme kann behauptet werden,

dass das frühe filmische Bild des Punk als

kultureller Signifikant für Distanz,

Widerstand und verschiedene andere

konfrontative Merkmale in der

Filmgeschichte funktioniert.

Kombiniert man die subkulturelle Politik

und Ideologien mit bestimmten Ästhetiken

und Ausdrucksformen im Punk-Kino, so

zeigt sich, dass verschiedene Filme

filmischen Widerstand, Trennung und

Distanz in einer Gesellschaft vermitteln,

deren Teil sie nicht sein wollen. So schafft

Punk im Film nicht nur eine Ressource des

politischen Ausdrucks und der

Korrespondenz, sondern vermittelt

gleichzeitig ein neues Gefühl der

Integrität. Partizipatorische Aspekte wie

die Produktion, alternative Vertriebsnetze,

6


Über das Thema

neue Ansätze für die Ausstellung und die

Einbeziehung des Publikums sowie eine

DIY-Filmästhetik wie die Verwendung von

8-mm-Kinofilm oder das Zusammenfügen

von Fernsehdokumentationen, Pop-Videos,

dramaturgischen Rekonstruktionen und

Cartoons waren ein Beweis für die

Auflösung und Andersartigkeit des Punk

als Subkultur.

Punk auf der Leinwand

In der Folge bietet der Ausdruck in

Film und Kino eine weitere, völlig neue

Möglichkeit der Vermittlung von Ideen

und Werten. Als Katalysator und treibende

Kraft kann der Film durch die Nutzung

verschiedener Formen von filmischen

Instrumenten und Erfahrungen ein völlig

neues Konzept des kulturellen

Verständnisses schaffen.

In dieser Hinsicht ist die Idee des Punk im

Film in verschiedenen Produktionen der

1970er Jahre, der folgenden Jahre und

Jahrzehnte zu finden. Wichtige Einflüsse

und Bilder des Punk und Post-Punk finden

sich in Filmen wie Death Is Their Destiny

(1978), Don't Dream It – See It (1978),

Punk Can Take It (1979), The Great Rock

‚n‘ Roll Swindle (1980), Rude Boy (1980),

The Decline of Western Civilization (1981),

Repo Man (1984), Suburbia (1983), Sid

and Nancy (1986) oder Blank Generation

(1976), der als eine der frühesten DIY-

Filmproduktionen über die New Yorker

Punkszene verstanden werden kann.

Während die meisten der oben genannten

visuellen Werke des frühen Punk-Kinos

Themen und Ideologien der Bewegung

behandeln und sich im Wesentlichen auf

die Darstellung des Stils oder des Rufs des

Punk in der Gesellschaft konzentrieren,

nehmen andere erfolgreiche und

einflussreiche Punk-Bands wie die Sex

Pistols oder The Clash zur Kenntnis.

Die Filme-Macher*innen

Frühe Punk-Filmemacher*innen wie

Derek Jarman, Wolfgang Büld, Don Letts,

Julien Temple, Amos Poe oder Penelope

Spheeris begannen ihre Karriere mit ihrer

Faszination für die DIY-Ethik des Punk.

Julien Temple, der die Sex Pistols von den

Anfängen der Bandgeschichte an mit einer

Super-8- und Videokamera filmte, war

jedoch nicht der einzige, der in seinen

Produktionen nach Provokation und

Widerstand suchte: „Es richtete sich

gegen die Time Out, das British Film

Institute und das angeblich hippe, linke,

liberale, selbstgefällige London. Ich hoffe,

es gefällt ihnen nicht. Ich glaube nicht,

dass sie das werden. Ich glaube, sie

werden es für einen Haufen Scheiße

halten“ (über The Great Rock ‚n‘ Roll

Swindle). Eine ähnliche Einstellung findet

sich auch im Filmschaffen von Don Letts.

Wie andere auch, brachte er seine Kamera

zu den Konzerten mit und filmte Bands auf

Super-8, einem Format, das er als

„wunderschönes Medium“ bezeichnete.

1975 begann Don Letts im Acme

Attractions zu arbeiten, einem angesagten

Kleidungs- und Second-Handgeschäft, das in

einem Kellergeschoss neben dem

Antiquarius Market in der King’s Road lag,

zu deren Galionsfigur er bald wurde. Hier

verkehrte die Londoner Jugendszene, unter

anderem Mitglieder von Punk- und New

Wave Bands wie The Clash, The Sex

Pistols, Chrissie Hynde, Deborah Harry,

aber auch Patti Smith und der jamaikanische

Musiker Bob Marley, mit dem sich Letts bei

einem Konzert im Juni 1976 angefreundet

hatte. Durch seine DJ-Arbeit im Roxy hatte

er eine gewisse Reputation und wurde

Manager der Punkband The Slits und

7


Über das Thema

stellte seinen ersten auf Super-8 gedrehten

Film The Punk Rock Movie (1978) fertig,

der Konzertschnipsel von u.a Sex Pistols,

The Damned, The Clash im Roxy zeigte

(https://youtu.be/341ks6owA9k).

Merkmale des Punkfilms

Wie mensch sich nun vorstellen

kann, weist das frühe Punk-Kino

verschiedene Merkmale auf, die dazu

beigetragen haben, die eindeutigen

Ideologien und Überzeugungen des Punk

zu vermitteln. Durch den Einsatz

verschiedener ästhetischer Instrumente

zeichnete das Punkkino der Anfangszeit

völlig neue Bilder des Widerstands. Indem

sie nicht nur gesellschaftliche und

wirtschaftliche Strukturen provozierten,

sondern sich auch von allen Regeln des

Filmemachens distanzierten, bildeten

sowohl das Punk- als auch das Post-Punk-

Kino eine neue filmische Kategorie. Solche

radikalen Ideen und Werte, die in den

frühen Anfängen vermittelt wurden, finden

sich auch heute noch in unabhängigen

Kinoproduktionen, die die revolutionären

Instrumente des Punkfilms anwenden.

In diesem Sinne kann man das frühe Punkund

Post-Punk-Kino als experimentelle

Ansätze zu dem betrachten, was man

heute als Independent-Kino oder Indie

bezeichnen würde. Solche Experimente

bieten jedoch wesentliche Mittel und

Wege, um widersprüchliche Reaktionen

und Meinungen zu gegenwärtigen

Strukturen zu erzeugen, vor allem im

Filmgeschäft, aber auch in der

Populärkultur und den gesellschaftlichen

Arrangements.

Aussichten

Auch heute noch scheint das

einfache Thema der Punk-Subkultur und

Punk-Musik für filmische Erzählungen von

Bedeutung zu sein. Dennoch zeigen

verschiedene Filme und Dokumentationen

der neuen Generation, was Punk zu bieten

hatte – Anton Corbijns Control (2007),

Julien Temples Joe Strummer: The

Future Is Unwritten (2007) oder Alan G.

Parkers Who Killed Nancy? (2009) sind

nur eine Auswahl von Filmen, die Punk-

Illustrationen und wichtige Punk-Figuren

aufgreifen und ihren Einfluss auf die

Gesellschaft zeigen. Es gibt jedoch eine

Vielzahl von Filmen, die sich nicht

unbedingt mit Punk als Subkultur

befassen, sondern auf den Einfluss von

Punk auf der Leinwand aufbauen. Dieser

auf den ersten Blick kaum wahrnehmbare

Einfluss findet sich auch in Produktionen,

die nicht offensichtlich mit der Punk-

Bewegung verbunden sind. Nicholas

Rombes ist bisher der einzige Forscher,

der den Einfluss des Punk auf die heutige

Leinwand untersucht hat. Seine Studien

und die Zusammenarbeit mit anderen

Autor*innen gehen jedoch auf das Jahr der

Veröffentlichung seines Buches New

Punk Cinema im Jahr 2005 zurück.

Seitdem haben äußere Einflüsse wie das

Aufkommen von Streaming-Diensten wie

Netflix die Art und Weise verändert, wie

seine Meinung über die Ästhetik eines

neuen Punk-Kinos zu interpretieren ist, da

moderne Streaming-Plattformen eine neue

Vorstellung vom Filmkonsum erzeugen

und standardisierte Konventionen der

Filmästhetik vermitteln.

8


Punk hinter der Kamera

Wolfgang Büld

Wolfgang Büld ist ein 1952 in

Lüdenscheid geborener Filmemacher

der besonderen Art. Er pendelte

während seiner Karriere zwischen

kommerziellen Mainstream („Manta,

Manta“, „Go Trabi Go!“) und

Independent. Trotz seiner

Altersgleichheit mit den

Regisseuren des neuen deutschen

Films, konnte er mit dieser

Richtung nie etwas anfangen. Als

Rainer-Werner Fassbinder („Angst

essen Seele auf“), Wim Wenders

(„Himmel über Berlin“) und

Alexander Kluge („Deutschland im

Herbst“) die deutsche Filmszene

dominierten, zog er lieber mit

Klaus Lemke („Rocker“) und Eckhard

Schmidt („Der Fan“) durch Münchens

Partyszene und lebte den gepflegten

Exzess.

1977, als Wolfgang „Punk in London“ filmte, war er 24 und oft im

gleichen Alter wie die Musiker*innen und Punks vor der Kamera.

Diese Perspektive bewahrte er sich, immer ist er teilnehmender

Außenseiter. Brennende Langeweile von 1978 ist quasi eine Rhein-

Ruhr-Love-Story mit Punkmusik. Der Film des Lemke-Meisterschülers

galt als Fremdkörper im „Eliteprogramm“ des kleinen Fernsehspiels.

»Brennende Langeweile ist die pure Poesie der Provinz: der lässig beiseite

genuschelte Wunsch, weg zu wollen, unbedingt.«

Wolfgang leistete besonders mit frühen

Dokus und Filme über den aufkeimenden

Punk aus England Pionierarbeit. PUNK

IN LONDON von 1977 war ein

Abschlussfilm an der Filmhochschule

München.

Das Filmteam bestand aus Wolfgang,

einer Produktionsleiterin, ein

Kameramann, ein Kameraassistent und

Tonmann. An einem Abend hatten sie die

Möglichkeit, Beiträge von SIOUXSIE

AND THE BANSHEES, ADVERTS oder

GENERATION X zu drehen. Das

Erstaunliche war, dass in England noch

keine Person auf die Idee gekommen ist,

9


die musikalische Punksubkultur

festzuhalten. Nur Don Letts, Discjockey

im Roxy, hatte damals auf Super-8 im

Roxy gedreht und nannte das Ergebnis

schlicht und einfach „The Punk Rock

Movie“. Während die englische Presse

Punk noch weitestgehend ignorierte,

deutschen Provinz und als Punk-

Protagonist*innen gibt es The Adverts zu

sehen.

Handlung:

Peter (Ian Moorse) und seine Freundin

Karin (Monika Greser) leben im

Sauerland. Als „The Adverts“ ein Konzert

Die Sex Pistols, noch mit Glen Matlock, auf einem Poster in der Bravo vom 18. November 1976.

hatte die BRAVO schon ein Vierfarb-

Doppelseiten-Poster von den SEX

PISTOLS. Die BRAVO stürzte sich auf

alles, was sich verkaufen ließ, um keinen

Trend zu verpassen. Bravo berichtete

bereits am 30. September 1976 über die

SEX PISTOLS und war u. a. bei der

ersten Sex Pistols-Tour in England dabei.

Nachdem der Film „Punk in London“

Ende 1977/Anfang 1978 fertig war, hatte

der SPIEGEL eine Titelgeschichte über

Punk 1 . „Punk in London“ lief in

Deutschland in ausgewählten Kinos.

Mit dem Spielfilm BRENNENDE

LANGEWEILE zeichnete Wolfgang 1978

ein Porträt der Punkszene in der

1 Punk: Kultur aus den Slums: brutal und hässlich

https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1978-4.html

in der Nähe geben, kommt Farbe in den

tristen Alltag. Karin verbringt eine Nacht

mit dem Roadie Roadent (Stephen

Conolly, Roadie von „The Clash“ und den

„Sex Pistols“), Peter hängt mit der

Bassistin Gaye (Gaye Advert) in der

Wuppertaler Schwebebahn fest…

Mit Laiendarsteller*innen und

Mitgliedern der britischen Punkband

„The Adverts“ besetzt, sorgte die

Semidoku 1979 für hohe

Einschaltquoten. Büld „mogelte“ seinen

Film in die ZDF-Reihe „Das kleine

Fernsehspiel“, als der Leiter im Urlaub

weilte.

Als der Film 1979 im ZDF lief, hatten

sich The Adverts quasi schon aufgelöst.

So war dieser Fernsehfilm über ihre

10


Deutschland-Tour bereits ein

Vermächtnis. Die Konzertaufnahmen

wurden mit Publikum eines THE JAM-

Konzertes zusammengeschnitten, weil

teilweise keine Zuschauer*innen zu den

The Adverts-Gigs gekommen waren. Die

fiktive Handlung entspricht dem

Lebensgefühl der damaligen Zeit. ‚Mime‘

Roadent ist in seiner Rolle als Roadie

genial, lenkt hervorragend von der

Tatsache ab, dass die realen

Bandmitglieder keine Schauspieler

waren/sind.

Es folgten mit BRITSH ROCK und

WOMEN IN ROCK zwei weitere Dokus,

die beide die Nachwirkungen des Punk

um das Jahr 1980 untersuchten. Später

folgten mit BERLIN NOW ein Film mit

u.a. Blixa Bargeld („Einstürzenden

Neubauten“) und mit JAPLAN eine Doku

über „Der Plan“.

»Durch die Musik, die ich von Kindheit an gehört hatte, war

Punk die logische Weiterentwicklung.«

Wolfgang, wie bist Du zum Film

gekommen?

Ich bin in der Provinz in

Lüdenscheid groß geworden und wollte

da unbedingt weg. Deswegen musste ich

mir einen Beruf aussuchen, den man da

nicht ergreifen konnte, wobei mein

Wunsch eigentlich war,

Kriminalschriftsteller zu werden. Mein

Vorbild war Mickey Spillane. Als ich mit

15 oder 16 anfing, selber zu schreiben

stellte ich fest, dass ich die Bilder im

Kopf habe, aber Schwierigkeiten habe,

die richtigen Worte zu finden. Ich

vermutete, dass Film doch eher das

richtige für mich wäre. Ich bin dann mit

18 nach Berlin gegangen und als meine

damalige Freundin einen Regisseur, von

dem man nie wieder was gehört hat,

heiratete, dachte ich mir, was der wohl

hat, was ich nicht habe. Das ist der

Beruf, so schien es mir und so bin ich

zum Film gekommen.

Du bist dann an die Universität

gegangen?

Ich habe erst versucht, mich

praktisch hochzuarbeiten. Allerdings:

Anfang der 1970er Jahre war der

deutsche Film dermaßen in der Krise,

dass es praktisch gar keine

Möglichkeiten gab, überhaupt irgendwas

zu machen. Ich habe dann bei der

Berliner Filmhochschule die

Aufnahmeprüfung gelesen „Die

Auswirkung der Ölkrise auf eine

Arbeiterfamilie“. Ich war selber

Lagerarbeiter und habe mir aufgrund der

Ölkrise ein Mercedes-Cabriolet günstig

kaufen können, was wohl nicht das war,

was die bei der „Die Deutsche Film- und

Fernsehakademie Berlin“ (dffb) hören

wollten.

Ich habe mich dann in München

beworben, weil ich hoffte, dass dort mehr

der Schöngeist regiert. In deren

Aufnahmeprüfung hieß es dann jedoch

„Recherchieren Sie eine

Arbeitsweltsituation und schreiben Sie

einen Kurzfilm darüber“. Nachdem ich in

Lüdenscheid auf Ersatzteile für meinen

Mercedes warten musste, traf ich eine

alte Freundin wieder, die in einer

Striptease-Bar arbeitete. Von der habe

ich mir ein paar Geschichten erzählen

lassen und habe dann die Arbeitswelt-

Reportage STRIPTEASE-LOKAL

geschrieben, in dem ich nie drin war,

weil ich mich nie ‚reingetraut hätte. Das

war dann so überzeugend, dass ich

fortan in München als „der Wallraff der

Stripteaselokale“ galt und bin dann an

die Münchner Filmhochschule

gekommen.

11


Wie kam es zu Deinen Musikfilmen

und vor allem zu PUNK IN LONDON?

Ich hatte dann zwei Kurzfilme an

der Filmhochschule gedreht und den

zweiten habe ich hemmungslos

überzogen, weil ich die Mechanismen

kannte, wie man bei der Bavaria und der

Filmhochschule Sachleistungen in

Anspruch nehmen konnte. Das ist bei der

Hochschule allerdings nicht so gut

angekommen. Man sagte mir, wenn ich

überhaupt einen Abschlussfilm machen

will, dann nur eine Dokumentation und

möglichst weit weg von München. Da

mich nun Dokumentarfilme überhaupt

nicht interessierten – genauso wenig wie

die Realität – und neben Film mich nur

noch die Musik begeisterte, bekam ich

natürlich das Phänomen Punk in England

mit. Das war 1977. Ich kannte Punk als

NME-Leser zwar schon seit 1976, aber

1977 wurde es ja erst wirklich populär.

Ich trug meinen Professor*innen vor,

dass es in England so was wie Punk gibt

und ich da was drüber machen will. Sie

mögen mir bitte den Flug bezahlen und

ich fliege nach London und schau mir das

mal an. Eigentlich hatte ich den

Hintergedanken, zurückzukommen und

das Projekt abzusagen, weil London nicht

passen würde, um dann doch einen

Kurzspielfilm machen zu dürfen. Ich fand

es in England dann allerdings so

faszinierend und von der Energie, die

dort herrschte, war ich dann so

begeistert, dass ich drei Wochen später

mit einem Miniteam wieder nach London

flog.

Wie lange bist Du in London

geblieben?

Zwei Wochen. Ich glaube, wir

haben zwölf Tage gedreht. Wir hatten ein

permanentes Problem, das darin bestand,

sich pausenlos entscheiden zu müssen.

Man hat ins Time-Out 2 geguckt und

2 Time Out (Group) ist ein globales Medien- und

Unterhaltungsunternehmen. Die damalige physische

Präsenz war eine Art lokaler Veranstaltungskalender

über Live-Events, Unterhaltung, Kultur und Märkte.

musste dann zwischen den Boomtown

Rats, Siouxsie and the Banshees oder

Generation X auswählen.

Warst Du Teil der Londoner

Punkszene oder warst Du stiller

Beobachter?

Ich war in der Beziehung Teil der

Szene und wusste, was mich da

erwartete. Durch die Musik, die ich von

Kindheit an gehört hatte, war Punk die

logische Weiterentwicklung. Es war eine

Szene, die im Entstehen war und erst

später diesen elitären Touch bekommen

hat, mit Irokesen-Pflichtfrisur und so

was. Wenn mensch sich dafür

interessierte und so drauf war wie die

Leute, war mensch sofort Teil der Szene.

Ich habe den Unterschied bei älteren

Freund*innen oder Bekannten gemerkt,

die – immer noch Rolling Stones-Fans –

meinten, „das kennen wir doch alles,

Punk ist doch nichts Neues“. Ich dagegen

war 24 und somit nur unbedeutend älter

als die meisten Leute aus der Szene. Und

somit gab es die Trennung zwischen mir

als Zuschauer oder als Teil der Szene

nicht.

Hattest Du Kontakte zu den Bands

über das rein Geschäftliche hinaus?

Das ging schneeballmäßig. Wir

hatten anfangs ein paar Adressen von

Journalist*innen in England bekommen

von den kleinen Labels wie Stiff oder

Rough Trade, die uns die guten Bands

nannten und den Kontakt herstellten. Wir

sind da nicht wie ein Fernsehteam

aufgetaucht und haben den Auftritt

gedreht, sondern sind natürlich vorher

zusammen ein Bier trinken gegangen

und haben gesehen, ob wir mit denen

auskommen oder nicht. Außerdem haben

wir auch viel in Übungsräumen gedreht.

Und so ging das dann weiter. Bands, mit

denen wir gedreht haben, empfahlen uns

anderen Bands und plötzlich bekamen

wir viele Anrufe von Leuten, die

12


Interesse hatten. Das heißt, wir waren

relativ schnell integriert.

Deine späteren Filme wie BRITISH

ROCK oder WOMEN IN ROCK

behandeln ja die Auswirkungen des

Punk auf die Musik zum

Jahrzehntwechsel 70er/80er Jahre.

Was hat sich in den drei Jahren in

der Musik verändert?

Drei Jahre waren damals eine

halbe Ewigkeit. Als wir 1977 PUNK IN

LONDON drehten, waren z.B. The Clash

und The Jam bereits populär und hatten

auch schon eine oder zwei LPs draußen.

Aber The Jam haben wir noch in einem

Club gedreht, wo keine 1000 Leute

reinpassen. Und zwei Jahre später, 1979,

als wir BRITISH ROCK drehten, haben

die größten Hallen gefüllt. Plötzlich war

das, was zwei Jahre zuvor eine neue

aufkommende Underground-Bewegung

war, kommerzieller Mainstream. Für die

Bands war das sehr unterschiedlich. The

Clash z.B. haben zu anfangs einen sehr

sozialkritischen Hintergrund gehabt,

wollten aber auch ihren kommerziellen

Erfolg haben. Die mussten dann ein paar

Verrenkungen machen. Das Publikum

ging damit streckenweise sehr kritisch

um, in England weniger krass als in

Deutschland, wo es ja hier in Hamburg

beim Konzert zu Tumulten kam und das

„Sold-Out“ wesentlich kritischer

angemerkt wurde, als in England. Dort

ist der Beruf „Pop-Star“ ja ein ganz

normaler, was ich sehr angenehm fand

und weswegen ich mit Punk in

Deutschland auch nie was zu tun gehabt

habe. Diese Armutsgelübde, was in

Deutschland üblich ist und das

„Erfolglos-sein-müssen“, was ja auch eine

typisch deutsche Eigenschaft ist, gibt es

in England überhaupt nicht. Glen

Matlock ist zwar bei den Sex-Pistols

rausgeflogen, weil er sich vom ersten

Geld einen MG gekauft und zugegeben

hat, THE BEATLES zu mögen, aber die

Toleranz gegenüber dem Popstarimage

war sonst eher normal. Zumal die Stars

des Progressive- und des Glamrocks es

den Punkbands ja vorgelebt haben, das

mensch als Star ein gutes Leben führen

kann. Die Punks, die ich kennenlernte,

wollten – trotz ihrer kritischen Haltung

13


eher gegenüber den arrivierten Bands –

sich trotzdem ein luxuriöses Leben mit

Swimmingpool und allem erlauben.

War das der Grund, weshalb Du bei

Deinem Film über die deutsche

Punkszene BRENNENDE

LANGEWEILE mit einer britischen

Band, nämlich den Adverts

zusammengearbeitet hast?

Den Film haben wir 1978 gedreht

und das war ein sehr frühes Erwachen.

Was gab es damals? PVC in Berlin, Big

Balls & the White Idiot in Hamburg, die

Straßenjungs aus Frankfurt und

Düsseldorf war im Erwachen. Von dort

sind dann ja auch Leute von z.B. den

Fehlfarben und anderen später wichtigen

Bands, die bei BRENNENDE

LANGEWEILE als Komparsen vor der

Bühne hüpfen. Ich muss aber gestehen,

da ich mehr Zeit in England zubrachte

und mir auch die britische Arroganz

angeeignet habe, dass alles, was nicht

aus England kam, zweitklassig ist, mich

um die deutsche Entwicklung nicht so

gekümmert habe. Als dann ein paar Jahre

später ein Anruf aus Düsseldorf von

einem Freund von mir kam, der mir

mitteilte, er spiele in ’ner Band namens

Die Toten Hosen, dachte ich nur „ein

Hobby soll der Mensch haben“, habe es

aber nicht weiter ernst genommen. Dass

sie später Millionäre werden, habe ich

damals nicht erwartet.

Wie kam es bei BRENNENDE

LANGEWEILE zu der

Zusammenarbeit mit den Adverts?

Immerhin ja damals einige Jahre

schon ein recht großer Act...

Ich fand damals die Bassistin Gaye

Advert gut, wie alle Leute, die sich

damals für Punk interessierten. Sie war

neben Debbie Harry (Anmerkung:

Sängerin bei BLONDIE) das Posteridol.

Das war der Hauptgrund. Allerdings

hatte ich mit denen vorher nur schlechte

Erfahrungen gemacht, denn bei PUNK IN

LONDON war das unser erster Gig, den

wir drehten. Die spielten im Marquee

und es war übermäßig voll. Wir hatten

Brennende Langeweile: Wolfgang Büld (li.), Gaye Advert (2. v. li.), TV SMITH (re.)

14


unser Equipment beim Mixer aufgebaut

und der Kameraassistent sollte noch mal

raus, um was aus dem Auto zu holen und

kämpfte sich durch die dichtgedrängte

Masse. Als er nach einer halben Stunde

noch nicht wieder da war, ging der

Kameramann ihn suchen, worauf der

Tonmann meinte, er habe dann ja auch

nichts zu tun und holte sich ein Bier. Als

dann alle weg waren, fing der Gig an. Ich

habe dann alleine mitgedreht, bis der

Schlagzeuger aufgrund der Hitze

ohnmächtig und das Konzert abgebrochen

wurde. Der zweite Versuch mit The Adverts

war dann ein Interview – das hat auch

geklappt, aber das Tonband ist verloren

gegangen. Der dritte Versuch war dann

unter dem Verzicht, am selben Abend

Siouxsie and the Banshees oder Generation

X zu filmen, in Coventry, ca. 100 km vor

London. Dort wollte dann aber der

Veranstalter keine Filmaufnahmen bei

Punkkonzerten, weil er Angst um seinen

Ruf hatte, da dort auch andere Sachen

stattfanden. Wir waren sehr verärgert,

aber die Band war völlig desolat. Der

Sänger TV Smith saß unterm Tisch mit

dem Kopf zwischen Gayes Beinen. Ich

dachte, das ist eine gute Band, um einen

Film drüber zu machen, zumal wir für die

Love-Story auch eine Band mit einem

weiblichen Bandmitglied brauchten. Außer

Siouxsie gab es da keine und ’ne Sängerin

wollte ich nicht und Siouxsie hätte es auch

nie gemacht. So habe ich dann den

Manager kontaktet, der die Idee sehr gut

fand. Was er – aber ich nicht – wusste: Die

Band hatte eine große Antipathie gegen

Film, Fernsehen und alle Medien. Er hat

der Band dann erzählt, es würde eine

große gefilmte Deutschlandtour geben, von

Dreharbeiten für einen Spielfilm hat er

vorsorglich geschwiegen. Ich habe das am

ersten Drehtag erfahren. Also mussten wir

den Film so einrichten wie die Realität.

Ärger an der Grenze, Ärger im Hotel und

Ärger mit der Polizei war ihr Alltag und

daher für sie sehr nachempfindbar. Sie

merkten zwar, dass sie im Film

waren...einige zumindest, denn ein Teil der

Band war so verdrogt, dass die gar nichts

mehr gemerkt haben. Es war sehr

schwierig, das so einzurichten und hat sich

natürlich auch auf die Dreharbeiten

ausgewirkt. Wir hatten sehr wenig Geld, in

Wuppertal war das Hauptquartier, wo wir

in mittelmäßigen Pensionen wohnten, die

wir wohl in zwei Wochen viermal

gewechselt haben, da es immer

Auseinandersetzungen mit den

nichtenglischsprechenden Portiers gab.

Roadent (der Roadie) hat dann nach einer

Schlägerei mit dem Besitzer eines Hotels

im Produktions-Van geschlafen, was

morgens zu einem etwas schlechten

Geruch in unserem Wagen führte.

Gaye Advert hat aber in dem Film richtig

Spielhandlung gehabt.

Das war sehr schwierig. Sie war zu der Zeit

nicht ganz so fit, aus diversen Gründen.

Das merkt mensch im Film daran, dass es

immer sehr abrupt war, wenn sie stehen

bleiben musste. Das lag daran, dass immer

irgendjemand ihre Füße festhalten musste,

weil sie die Positionen nicht halten konnte.

Außerdem hatte sie wenig Lust mit Ian

(dem Hauptdarsteller) zu spielen, weil sie

der Meinung war, im Ausland nie ohne

ihren Freund, also TV Smith, aus dem Haus

zu gehen. Sie würde also nie jemand

kennenlernen im Ausland und das ganze

sei unrealistisch.

Wolfgang Büld – Punkfilmografie:

PUNK IN LONDON

BRD 1977. 16mm. 90 Min. Englische

Originalfassung.

BRENNENDE LANGEWEILE

BRD 1978. Digital. 85 Min. Mit Ian Moorse,

Monika Greser, Roadent.

BRITISH ROCK

BRD 1980. Digital. 85 Min. Englische

Originalfassung.

WOMEN IN ROCK

BRD 1980. Digital. 40 Min. Englische

Originalfassung.

BERLIN NOW

BRD 1985. Digital. 60 Min.

15


16


„Du Sausack! Du Arschloch!!“ (Koma in OI! WARNING)

Im Oktober 2000 kam der von

den Zwillingsbrüdern

Dominik und Benjamin Reding

erste Kinospielfilm „OI!

WARNING – Leben auf eigene

Gefahr“ 1 in Deutschland ins

Kino.

Viele Jahre haben die beiden

Brüder als Autoren,

Regisseure und Produzenten

an der Verwirklichung dieses

viel diskutierten Films

gearbeitet.

Der Film beinhaltet und

bearbeitet Aspekte von Freundschaft,

Gewalt, Gender/Geschlechterrollen,

Toleranz. Fünf Jahre lang haben die

Brüder Reding diesen Film

vorbereitet. Entgegen dem

gesellschaftlichen und hartnäckigem

Vorurteil werden die Skinheads im

Film als nicht politisch motiviert

dargestellt. Ihr Film analysiert nicht

das Abdriften einer Jugendbewegung

in nationalistisch instrumentalisierte

Ideologien. So plant Skin Koma keine

Mithilfe an einem Aufbau eines

reinrassigen Deutschen Reiches. Noch

weniger denkt sein Freund Janosch an

solche Ziele. Die beiden steigen aus,

weil sie der Mief der kleinbürgerlichen

Gesellschaft nervt. Eigentlich ist es

völlig egal, welchen Mantel sie

überziehen. Sie eint nur das Gefühl:

So kann es nicht weitergeh’n!

Schon die Einleitungssequenz zeigt

die Affinität zur Gewalt: Im Wald

posiert Koma nackt vor seiner

Freundin. Als sie sich dann küssen,

1 www.oiwarning.de

17

zündet er eine Handgranate. Die

explodierenden Bilder symbolisieren

einen Traum von Janosch. Dominik

und Benjamin erzählen die Geschichte

in ihrem Debütfilm zwar weitgehend

linear. Doch schon die Wahl der

Farben Schwarz und Weiß deutet

ihren Kunstwillen an. Sie irritieren die

Zuschauer*innen immer wieder mit

Schnittfolgen, die Ereignisse

vorwegnehmen oder parallel setzen.

Als Janosch den Punk Zottel

kennenlernt, wird er zur positiven

Gegenfigur zum brutalen Koma

aufgebaut, zum Beispiel durch eine

Parallelmontage, die ihn beim

Boxkampf und Zottel beim friedlichen

Jonglieren zeigt.

Zottel und Janosch

Filminhalt

Auf Schule, einem ruhigen Zuhause

und Mamas Fürsorge hat Janosch (17)

keine Lust mehr: Er schwingt sich auf

seine Lambretta und haut ab zu

seinem Kumpel Koma (20). Koma ist

Skinhead, Kickboxer und Brauerei-

Arbeiter. Ein „unpolitischer Skinhead“

sagt er über sich. Er zeigt Janosch die

Szene: Geheime Boxkämpfe,


gewaltaffine Konzerte und seinen

Bunker draußen im Steinbruch.

Janosch findet Koma, der mit Sandra

(18) eine Freundin hat, total cool. Bald

trägt er selber Skin-Klamotten und

lässt sich die Haare abrasieren.

Der neue Look verschafft ihm mächtig

Respekt. Sogar auf Sandras

Schulfreundin Blanca (20) macht er

Eindruck und erlebt mit ihr seinen

ersten Sex.

Koma gegenüber fühlt er sich aber

mehr und mehr unbehaglich: Die

andauernden Schlägereien und

Besäufnisse sind eher abschreckend.

Janosch braucht Abstand und hat

Glück: Er lernt den Feuerschlucker

und Bauwagenbewohner Zottel (19)

kennen. Da fliegt plötzlich Komas

Bunker in die Luft. Koma ist

stinksauer! Als er dann noch

beobachtet, wie sich Zottel und

Janosch lustvoll im Schlamm wälzen,

zieht er seine – falschen – Schlüsse.

Koma wittert Verrat und plant

Rache…

Die Schauspieler*innen

Sandra Borgmann (Sandra): Sandra ist

Jahrgang 1974. Nach einer Hauptrolle

in der ZDF-Serie „Hotel Elfie“ (1998)

folgte der Kinofilm „Im Juli“ (2000).

Dominik Reding besetzte Sandra

Borgmann auch in seiner „Tatort“-

Folge „Fette Krieger“ (2001), wo der

Kuss zwischen ihr und Kommissarin

Lena Odenthal alias Ulrike Folkerts

für Schlagzeilen sorgte. Dem breiten

Fernsehpublikum wurde Sandra als

lesbische Rosalie neben Felicitas Woll

in der Erfolgsserie „Berlin, Berlin“

(2001) bekannt.

Sascha Backhaus, Jahrgang 1979, der

auf einem Bauwagenplatz in Hamburg

gewohnt hat, spielt den Schüler und

Jung-Skin Janosch. Nach „OI!

Warning“ absolvierte er eine

Ausbildung zum Tischler in Hamburg

und jobbte gelegentlich als Statist.

Simon Goerts (Koma), Jahrgang 1973,

wohnte auf einem Bauwagen-Platz in

Hamburg und reiste dann für zwei

Jahre nach Spanien. 1999 betätigte er

sich als Fotomodel in Hamburg. Nach

Schauspiel- und Sprachunterricht war

Dreharbeiten am Freibad. vlnr: Regie-Assistentin Claudia Krebs, Regisseur Dominik Reding, Kameramann

Axel Henschel und Zottel-Darsteller Jens Veith

18


er unter anderem Nebendarsteller in

einer Tatort-Episode, spielte mit in

Tarek Ehlails Gegengerade, Fatih

Akins Soul Kitchen und Der goldene

Handschuh.

Britta Dirks (Blanca), Jahrgang 1971,

stand für den Film zum ersten Mal vor

der Kamera. Es folgten weitere Rollen

und sie spielte bspw. in Staffel 3 der

Serie Die Camper die Rolle der

Ruthchen Neubert, spielte die

Försterin in Rentnercops (1 Folge,

2020) und Charlotte Winzer in Einer

geht noch (2000).

alkoholduselige Pogo-

Gruppenekstasen und

Massenschlägereien ausüben, aber die

Erzählhaltung des Films wahrt immer

Abstand zu den anarchischen Ritualen

der Glatzen.“ 2

Fotograf: Graurheindorf

Musik

TERRORGRUPPE haben den

Titelsong (Stay away from the good

guys) eingespielt. Auf dem Soundtrack

gibt es eine krude Mischung aus

Klassik (Händel), OI! (SMEGMA), Ska

(Desmond Dekker), Easy Listening

(Astrud Gilbero, Bert Kaempfert). Im

Film selbst gibt es weitere Musik zu

hören von Bad Manners, The Beat,

Derrick Morgan, Loikaemie, Bérurier

Noir, Perfuses oder Trotskids.

Als der Film 2000 in den Kinos lief,

kam es während und nach den

Filmvorführungen mit anschließender

Podiumsdiskussion zu Tumulten. So

bekamen die Brüder von rechten Skins

in Berlin auf die Fresse:

Schneidezähne raus (Dominik),

Nasenbein gebrochen (Benjamin). Sie

wurden in Jena nach einer

Filmaufführung durch die Stadt

gejagt, danach brach der Verleih die

Filmtour ab.

Kritik

In der Kritik stand die Skinhead-

Thematik des Kinofilms deutlich im

Vordergrund. Das

Nachrichtenmagazin Der Spiegel

nennt den Film „eine klassische

Coming-of-Age-Geschichte“. Oi!

Warning zeige „in expressiven

Schwarzweißbildern […] den Reiz, den

19

Benjamin und Dominik

Nach dem Abitur 1987 in Dortmund

studierte Dominik (Jahrgang 1969) in

Aachen Architektur. 1992 wechselte

er an die Hochschule für bildende

2 Susanne Weingarten: Rituale der Glatzen, Der

Spiegel, Ausgabe 40/2000, 2. Oktober 2000


Künste Hamburg und studierte dort

bis zu seinem Diplom 1999 Film. Der

Diplomfilm Oi! Warning kam 2000 in

Deutschland, Österreich und der

Schweiz in die Kinos. Der Film lief

u. a. auf dem von Robert Redford

gegründeten Sundance Filmfestival

und erhielt diverse Filmpreise. 2006

drehte er als Autor, Regisseur und

Produzent wieder zusammen mit

seinem Zwillingsbruder Benjamin den

Kinofilm „Für den unbekannten

Hund“, der 2007 bundesweit in die

Kinos kam.

Für sein bisheriges Werk erhielt er

2003 zusammen mit seinem Bruder

den Förderpreis Filmkunst der

Akademie der Künste in Berlin. Seit

2008 ist Dominik Mitglied der

Deutschen Filmakademie.

Mediale Aufmerksamkeit erlangten die

Brüder mit der Geschichte über eine

Begebenheit am Erfurter Bahnhof am

Silvesterabend 1996. Hier wurden die

Zwillingsbrüder von drei Neonazis

bedroht, verfolgt und schließlich sogar

beschossen. In den dreien wollen sie

Jahre später die mutmaßlichen

Mitglieder des NSU erkannt haben:

Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und

Beate Zschäpe. Sogar die

Staatsanwaltschaft hatte „wegen

versuchten Mordes“ ermittelt, dieses

Verfahren gegen Beate Zschäpe aber

wegen „mangels hinreichenden

Tatverdachts“ eingestellt:

DNA-Spuren auf einem Aufnäher, auf

den einer der beiden Neonazi-Männer

getippt haben soll, konnte weder

Mundlos noch Böhnhardt zugeordnet

werden. Schließlich war nicht zu

klären, ob auf dem Bahnhof damals

mit scharfer Munition gezielt auf die

Redings geschossen wurde – oder

etwa nur in die Luft.

Die juristische Aufarbeitung ist

abgeschlossen, die persönliche nicht:

Die Brüder beschäftigten sich in

einem geplanten Theaterstück mit

dem Thema: „NSU for You!“, ein 70-

minütiger „Abend mit Beate“. In ihrem

Stück-Konzept wird Beate in einem

20

„Zwickauer Kämmerlein“ platziert.

Hier wartet sie auf ihre

Lebensabschnittspartner, die draußen

„Männersachen“ machen, dem

Publikum Schweinshaxe nach

Thüringer Art anbietet – und eine

bizarre Gameshow veranstaltet. Aus

dem Theaterstück ist leider nichts

geworden. Und als Filmprojekt wurde

es von den Filmförderungen (des

Bundes und der Länder) auch

abgelehnt. Oder nicht mal das. Einfach

nur Schweigen auf ihre Schreiben.

Unverständnis bei den Brüdern

Reding, die mit ihrem Stück die These

vertreten, dass „Trivialkultur ist der

Nährboden, in dem zehnfache Mörder

wachsen“. 3

Interview mit Dominik

Dominik, was war die

grundlegende Idee, „OI! Warning“

zu verwirklichen?

Es gab kaum Filme, die das

Leben zeigten, das mein Bruder

Benjamin und ich erlebten. Das

wollten mein Bruder und ich ändern.

Woher stammt deine Begeisterung

für das Filmemachen und wer

3 https://www.spiegel.de/panorama/nsu-reding-

brueder-ueber-theaterstueck-zu-beate-zschaepe-a-

945413.html


sind/waren deine

Inspirationsquellen?

Oh, Filme begeistern uns gar

nicht so sehr. Wir sind keine „Film-

Freaks“. Aber ab und an haben mein

Bruder und ich Filme entdeckt, die

uns bewegt, ja, fürs Leben geprägt

haben: Von „Nosferatu“ bis

„Bladerunner“, von „L´enfant

sauvage“ bis zu „Das Testament des

Dr. Mabuse“, von „Days of Heaven“

bis „Citizen Kane“.

„OI! Warning“ ist in schwarz-weiß

gedreht und hat sehr radikale,

gewaltaffine Szenen, erinnert mich

aber auch an Filme von Jim

Jarmusch (Dead Man, Down by

Law). Zufall?

Wir zeigen Gewalt nicht, weil sie uns

gefällt, sondern weil sie zum Leben

der Punks und Skinheads, die wir

kannten/kennen, dazu gehört.

Für den Film „OI! Warning“ haben

du und dein Zwillingsbruder

Benjamin intensiv innerhalb der

gezeigten Jugend-Subkulturen

recherchiert. Wo genau habt ihr

denn recherchiert und welche

Erkenntnisse waren für den Film

letztendlich hilfreich?

Na, wir haben einige Zeit, gar

nicht für den Film, sondern für uns,

für unsere Erfahrungen, unser Leben,

auf Bauwagenplätzen gelebt, kannten

viel Punks und auch eher unpolitische

Skinheads. Und ja, das, was wir dort,

unabhängig vom Filmprojekt „Oi!

WARNING“, erlebt, gefühlt, gesehen

haben, ist dann in den Film

eingeflossen. In die Geschichte um

Liebe und Sex zwischen dem

Bauwagenpunk Zottel und dem

Skinhead Janosch und den Hass

darauf (des besten Kumpels von

Janosch, des Skinheads Koma).

Denkst du, dass die filmische

Umsetzung ein authentisches Bild

der Punk -und Skinheadkultur

widerspiegelt? Woran machst du

das fest?

Ein Spielfilm ist ein Spielfilm.

Also ein Kunstwerk, frei und

persönlich. Das, was wir zeigen, ist,

denke ich, authentisch. Menschen, wie

Koma, Zottel, Janosch, Blanca und

Sandra (die Hauptfiguren) gibt es im

realen Leben. Sie leben mit dir und

neben dir, vielleicht will man ihnen

manchmal gar nicht so gerne

begegnen…

Aber ein „authentisches Bild“ der

Punk- und Skinheadkultur kann es,

selbst in einem guten Dokumentarfilm,

nicht wirklich geben. Die Szene sind

die Menschen in ihr und verändern

sich, verändern die Szenen, jeden Tag

neu. Und das ist gut so.

„Oi! Warning“ ist kein einfacher

Film. Er gibt keine einfachen

Antworten wie die Gesellschaft mit

extrem rechten Jugendlichen

umgehen soll. Dominik und du

zeigen die Normalität, die von den

Jungs verabscheut wird, nie

realistisch, sondern immer zur

Karikatur verdichtet. Ist das ein

nicht ein Problem?

Der Skinhead Koma ist KEIN

rechter Skinhead, er wird in der

Filmhandlung vom einfachen, fast

harmlosen Mitmenschen zum

Arschloch, weil er die Liebe zwischen

seinem besten Kumpel, Skinhead

Janosch, und dem Bauwagenpunk

Zottel, hasst, nicht weil er zuvor „Mein

Kampf“ gelesen hat.

Und nein, es gibt, finde ich, keine

„Karikaturen“ in Oi!WARNING. Die

Menschen in unserem Film (und in

allen unseren Filmen) verhalten sich,

wie sie selbst sind: Stark, heftig,

extrem. Beides: Extrem schön, extrem

hässlich.

„OI! WARNING“ ist der erste auf

drei Filme angelegte

„Deutschland-Trilogie“. Ihr

zeichnet ein düsteres, dystopisches

Bild, das von Aspekten wie Gewalt,

Schuld und Sühne geprägt ist. Das

21


wird auch mit dem 2. Teil „Für den

unbekannten Hund“ offenbar.

Muss die Vorstellung einer

gewaltlosen und -freien

Gesellschaft in das Reich der

Utopie verwiesen werden?

Nein. Zum einen erscheint mir

Oi!WARNING und „Für den

unbekannten Hund“ nicht sehr

dystopisch, eher realistisch. Aber zum

anderen sollen unsere Filme ja auch

etwas bewirken: z. B. Menschen – was

toll wäre – zum Nachdenken, zum

Überdenken ihrer Positionen bringen,

auch den Zuschauer*innen zeigen,

was Freiheit ist, wie sie aussehen

kann und welchen Preis Menschen oft

zahlen müssen, die diese Freiheiten

einfordern, tatsächlich leben. Eben

gerade, weil wir uns eine gewaltfreie,

das Andere im Anderen schätzende,

solidarische Gesellschaft wünschen.

gar nicht zugetraut hat. Sei es dann

Baubühne, Maske, Kostüm, Kamera

oder eben Schauspielerei. Und ja,

auch Lukas Steltner und Sascha

Reimen (Ferris MC) und Fiona

Piekarek aus „Für den unbekannten

Hund“ 4 haben nach ihrem Film-Debüt

bei uns, viel Theater, Fernsehen und

Kino gemacht. Was uns freut, weil sie

begabt sind, gut spielen, und wir es

gespürt haben und sie es in unseren

Projekten erst mal so tun, so zeigen

durften.

Was waren denn die Kriterien für

die Besetzung der Rollen?

Begabung und Glaubwürdigkeit.

Man muss Koma den Skinhead

abnehmen, und Sascha Reimen den

Wandergesellen. Und ihnen als

Zuschauer*in dann im Film gebannt

folgen können.

Das lässt den Schluss zu, dass

gesellschaftliches Zusammenleben

ohne jegliche Strukturen der

Herrschaft und damit Gewalt

unmöglich und deswegen normal

ist. Ist die Trilogie also angelehnt

am gesellschaftlichen Wandel, weil

Deutschland in einem Prozess der

Enttabuisierung von Gewalt steht?

Eine gewaltfreie Gesellschaft ist

möglich. Sie fordert dann vom

Einzelnen sehr, sehr viel Einfühlung

und Verantwortung. Die „schnelle

Faust“, die „Macht der Gewalt“ ist

jedenfalls immer die schwächste aller

Lösungen.

Die Schauspieler*innen Sandra

Borgmann und Simon Goerts

gaben in „Oi! Warning“ ihr Debüt

und wirkten danach in weiteren

tollen Filmen mit. Verbucht ihr das

als euren Erfolg, weil ihr die

Talente mitgefördert habt?

Filme machen, das gefällt uns

daran, bedeutet auch: Vielen

Menschen eine Chance geben, die

Chance, etwas zu zeigen, was sie

können, was man ihn vielleicht auch

22

Wann wird es den 3. Teil geben

und gibt es schon konkrete Ideen

zum Inhalt?

Ja, wenn die Filmförderungen

uns dafür unterstützen. Filmemachen

ist leider recht teuer. Ideen – auch

fertige Drehbücher – haben wir einige.

Darum heißt ein Projekt, fast

unfreiwillig direkt: „Ohne Alles“.

Du bist seit 2008 Mitglied der

Deutschen Filmakademie. Was

bedeutet das für dich?

Spannende Kolleg*innen aus

dem Bereich Film treffen, sprechen

und kennenlernen zu können. Auch

sich zu streiten, zu diskutieren.

Gemeinsam zu entdecken, das Film

mehr ist, als „Unterhaltung“. Im

besten Fall die Chance, die Welt zu

verändern. Aber mindestens dich,

den/die Zuschauer*in auf eine

unbekannte Reise mitnehmen.

4 Für den unbekannten Hund ist ein Drama aus dem

Jahr 2007 von Benjamin Reding und Dominik

Reding mit Zarah Löwenthal, Lukas Steltner und

Ferris M.C., um einen jungen Mann, der den

Mord an einem Stadtstreicher nicht verdrängen

kann.


23


Tarek Ehlail bei der Arbeit an seinem Film „Volt“. Foto: Farbfilm

Im Herzen immer

noch Punk!

Tarek Mohammed Mahmud Ehlail,

Jahrgang 1981, ist vielseitig

interessiert. Der Autodidakt hegt

den simplen Wunsch, schon mit 35 in

Rente zu gehen und dann nur noch

seinen Hund Gassi zu führen. Er

arbeitet(e) als Boxer, Autor,

Regisseur und Türsteher. Zusammen

mit ZAP-Gründer Moses Arndt

gründete er die Produktionsfirma

«Sabotakt Filme» und hat 2008 mit

«CHAOSTAGE – We are Punks!» das

Kinodebüt gefeiert. Zwei Jahre

später folgt «GEGENGERADE – Niemand

siegt am Millerntor!». 2013

reflektiert er die Zeit im

Piercingstudio in dem Sachbuch

«PIERCING IS NOT A CRIME», 2016

feierte der dritte Kinofilm «VOLT»

in München Premiere. Aktuell

arbeitet Tarek an einer Türsteher-

Serie „Pumperin“.

Chaostage – We are the

Punks

Film über die gewalttätigen

Chaostage von 1995.

24


„Alles kann, nix muss!“

Die Chaostage galten ursprünglich als

Demonstration gegen eine von der Stadt

Hannover geplante Datei zur

Registrierung von optisch als Punks

erkennbaren Jugendlichen und fanden in

ihrer radikalsten Form 1995 in Hannover

statt. Der Film „Chaostage...“ basiert auf

den gleichnamigen Roman von ZAP-

Herausgeber Moses Arndt und zeigt die

Zutaten Sommer, Musik, Suff, ein

Schweizer Taschenmesser und eine Brise

Spaß am Chaos

Wahnwitz.

In einer Mischung aus Spiel- und

Dokumentarfilm angelegtes Porträt der

deutschen Punkszene reisen zwei Punk-

Freunde zu den Chaostagen nach

Hannover, wo es zu Straßenkämpfen mit

der Polizei und Nazi-Skinheads kommt.

In den dokumentarischen Szenen

erzählen unter anderem Dirk ‚Diggen‘

Jora, einst Sänger der Band „Slime“, Karl

Nagel, früherer Kanzlerkandidat der

Anarchistischen Pogo-Partei

Deutschlands APPD und Erfinder der

echten Chaostage in Hannover, Tommy

(CANALTERROR, MOLOTOW SODA),

Babette Vageena (THE VAGEENAS) oder

Wolfgang ‚Wölfi‘ Wendland (APPD, DIE

KASSIERER) auf zum Teil selbstironische

Art und Weise ihren Punkbezug. Der

dazugehörige Soundtrack wurde von

Alex Empire (ATARI TEENAGE RIOT)

erstellt. Das Album wurde am 21. Mai

2013 von der Bundesprüfstelle für

jugendgefährdende Medien indiziert. Für

die Laiendarsteller*innen war es vor

allem eins: Spaß am Chaos. So reisten

nach einem Aufruf viele Punks

deutschlandweit an und waren u.a.

Statist*innen beim gefilmten

Straßenkampf. Der Film ist eine trashige

Hommage an die Punkszene unter dem

Motto: „Alles kann, nix muss!“

Nach turbulenten Dreharbeiten in

Saarbrücken lief der Film im Oktober

2008 erstmals ausgerechnet in Hannover,

der Brutstätte der echten Chaostage! Es

geschah das Unvermeidliche: Vor dem

Kino kam es zwischen Punks und Polizei

zu Ausschreitungen, doch bei weitem

nicht in dem Ausmaß vergangener Tage.

BILD titelte damals in bester und

gewohnter yellow press 1 -Manier: „Blutige

Filmpremiere“ und der

Oberbürgermeister von Hannover

unterstellte dem Veranstalter Kalkül.

Gegengerade – Niemand

siegt am Millerntor

Spielfilm 2011

Auch bei diesem Film arbeitet

Tarek mit Moses Arndt zusammen, der

mit ihm und Stephanie M. Blum das

Drehbuch schrieb. Tarek erzählt die

1 Teil der Presse, der mit unsachlichen und

verleumderischen Meldungen an niedrige Instinkte

der Leser*innen appelliert.

25


Geschichte von Magnus (Timo Jacobs aus

‚Der lange Sommer der Theorie‘) und

Kowalski, der von Denis Moschitto aus

‚Almanya – Willkommen in Deutschland‘

gespielt wird. Zwei Freunde, die zum

festen Kern des St. Pauli-Fanclubs

gehören und aus unterschiedlichen

Welten kommen. Während Magnus aus

der wohlbehüteten Umgebung

Blankenese kommt, arbeitet Kowalski für

seinen Lebensunterhalt auf dem

Schrottplatz. Mit dem filmbegeisterten

Dokufilmer Arne, der von Fabian Busch

verkörpert wird, wird das Trio

komplettiert. Er ist es, der seine Freunde

mit der Kamera am Tag des wichtigen

Aufstiegsspiels vom FC St. Pauli begleitet

und auch in den brenzligen Situationen

lieber beobachtet als einschreitet.

Die Premierenfeier fand in einem

Berliner Hotel mit 600 geladenen Gästen

statt. Höhepunkt war der Mini-Auftritt

und allererste Reunion-Gig der Punkband

SLIME. Die Premierenfeier unterstreicht

den Eindruck von Randale und Skandale:

Partygäste begannen in dem Luxushotel

zu randalieren und zerstörten das

Inventar.

„Dann rasteten etwa 50 Personen aus.

Sie beschmierten Wände, Tische und

Toiletten und zerstörten Glasscheiben,

urinierten auf den Teppich. Erst die

Polizei konnte die ausufernde Feier

stoppen“. 2

In der offiziellen Pressemitteilung der

Polizei heißt es: „Gegen Mitternacht

eskalierte die Feier. Ein Teil der Gäste

zerstörte Glastische, warf Gläser und

Flaschen auf den Boden, urinierte auf die

Teppiche, verursachte eine

Überschwemmung im Toilettenbereich

und zerschlug Inventar. Angestellte des

Hotels versuchten vergeblich, die

‚Randalierer’ zur Vernunft zu bringen,

bis gegen 2 Uhr 20 die Polizei alarmiert

wurde.“

2 Zitiert nach:

https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-stuermtberlinale-feier-nachrandale/3850058.html

Doch selbst als die Polizei eingetroffen

war, beruhigte sich die Situation kaum.

Hierzu die Pressestelle der Polizei: „Als

die Beamten eintrafen, befanden sich

noch etwa 50 Personen im

Eingangsbereich des Hotels. Der

Aufforderung, die Räumlichkeiten zu

verlassen, kamen die Personen nur

zögerlich nach. Vereinzelt kam es zu

Beleidigungen und

Widerstandshandlungen gegenüber den

eingesetzten Polizisten. Zwei Männer im

Alter von 23 und 30 Jahren sowie eine

29-jährige Frau wurden zum Zwecke

einer Blutentnahme festgenommen. Die

Beamten leiteten mehrere

Ermittlungsverfahren ein.“

Dass Tarek mit seinem Film keine

Gesellschaftskritik auf die Leinwand

bringen, sondern die Fanliebe zu einem

besonderen Verein skizzieren wollte, mag

verständlich und plausibel sein. Am Ende

wurde jedoch aus einer guten Idee mit

tollem Cast (u.a. Moritz Bleibtreu,

Claude-Oliver Rudolph, Mario Adorf) ein

Fußballfilm, der die Anhänge*innenschaft

von St. Pauli in einem klischeehaften

Licht zeigt zwischen Schlägereien und

Saufereien, Gegenkultur und

Gewaltorgien. Lediglich die

dokumentarischen Aufnahmen der

wirklichen Fanmengen im Stadion lassen

einen Hauch der St.-Pauli-Begeisterung

spüren. Zu den echten Fans gehört auch

Mario Adorf: „St. Pauli ist wie die

Alemannia ein echter Kultverein. Er ist

gegen rechte Gewalt und ein

interessanter Gegensatz zum HSV“,

meinte das Ehrenmitglied von Alemannia

Aachen. Und ganz kurz gibt es auch

etwas zum Schmunzeln: bei den

Auftritten von HSV-Idol Uwe Seeler

(„Wenn wir jetzt vom Kiez sprechen, ist

natürlich St. Pauli die einzige

Möglichkeit“) und der verstorbene

Komiker Karl Dall („St. Pauli ist die

einzige Möglichkeit, weil wir keine alte

Naive dazu haben“).

26


Volt

Spielfilm Deutschland/Frankreich

2016

‚Volt‘ ist ein dystopisches Drama

über einen Polizisten (Benno Fürmann),

der nach einem tödlichen Zwischenfall

bei einer Demonstration die Seiten

wechselt. Die Premiere fand am 24. Juni

2016 auf den Filmfestspielen in München

statt.

In Deutschland leben Tausende

Geflüchtete unter erbarmungswürdigen

Bedingungen in Slums. Kampftrupps der

Polizei versuchen mit brachialer Gewalt

die Situation unter Kontrolle zu halten.

Bei einem Einsatz geht Polizist Volt

(Benno Fürmann) zu weit. Der

Flüchtling, Stachel im Fleisch einer auf

Ignoranz gepolten Gesellschaft, verletzt

Volt mit einem Messer, woraufhin ihn der

Beamte im Affekt erwürgt. Er verrät

seinen Kolleg*innen nichts, schleicht sich

später heimlich zurück und sucht die

Familie des Toten. Er trifft seine

Schwester und verliebt sich in sie.

Das zentrale Thema wird aus Sicht des

Täters behandelt. Was löst die Tötung im

Dienst bei dem Täter aus?

Der Film ist fast über die gesamte

Handlung dunkel gehalten. Völlige

Dunkelheit, betont durch künstliches

Neonlicht, lassen die Szenen noch

düsterer wirken. Die minimalistischen

Industrial-Sounds von Alec Empire

passen sehr gut zu den entsättigten

Farben, mit denen Tarek arbeitet. Die

Zuschauer*innen werden auf eine

düstere Zukunft vorbereitet, die auch

zum Teil auch in der realen Welt

übertragbar ist (Umgang mit

Migrant*innen, Polizeigewalt). Das

Thema ist also im wahrsten Sinne des

Wortes brandaktuell und zeigt die

hoffnungslose Perspektive vieler

Migrant*innen, die in Lagern

untergebracht werden. „Ich bin mit

vielen anderen geflohen, um zu

überleben. Aber ihr habt uns in

Transitzonen gesteckt, weit weg von

euren schönen Häusern, die ihr hinter

bewachten Mauern versteckt. Ihr wollt

uns vergessen, aber wir sind da, auch

wenn ihr uns nicht seht. Und wir sind

viel“, sagt Flüchtling Hesham (Tony

Harrisson Mpoudja) aus dem Off.

Regie-Autodidakt Tarek kennt die

Spannungen zwischen oben und unten

gut. Tarek wuchs im Saarland an der

Grenze zu Frankreich auf, sammelte aber

auch Erfahrungen in den sozialen

Brennpunkten der Pariser Banlieues, nur

10 Minuten vom Heimatort entfernt. Zur

Erinnerung: Nachdem zwei Jugendliche

2005 bei einer Verfolgungsjagd mit der

Polizei gestorben waren, entlud sich in

der Folgezeit die Wut in Clichy-sous-Bois:

Steine flogen, Dutzende Autos brannten.

Der Stein des Anstoßes war auch

zurückzuführen auf die politisch gewollte

territoriale, soziale Isolation der

Einwanderungsgeneration, deren Kinder

zudem alltäglich von Diskriminierung

aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe

und des Namens betroffen sind. Tarek

27


fühlt sich durch die Banlieues an einen

ganz eigenen Kosmos erinnert und wollte

diesen Zustand, aber auch das soziale

Klima im Film skizzieren: Die Transitzone

als rechtsfreier Raum für Menschen ohne

politische Teilhabe oder eine Perspektive.

Dort die Polizei als Pufferzone und

Bollwerk, Widerstand im Keim zu

ersticken.

»Punk ist der Ursprung

von allem, was ich

mache.«

Tarek, bist du selbst davon

überrascht, wie aktuell dein Film

‚Volt‘, bezogen auf Polizeigewalt und

Systemkrisen, heute immer noch ist?

Als der Film 2015 im

Entstehungsprozess war, hatte die

Realität (sogenannte Flüchtlingskrise)

die filmischen Ereignisse eingeholt. Aber

wer als Antifaschist*in oder als linkspolitisch

interessiert unterwegs ist, ist

die Thematik des Films nicht neu:

Festung Europa, Abschottungspolitik und

Polizeigewalt gegenüber PoC.

Ist der Film mehr Liebesgeschichte

oder wolltest du tatsächlich die

soziale Komponente von Schuld und

Sühne in den Fokus rücken?

Die Kernidee war: Was bedeutet

es, in einer Welt zu leben, in der mensch

als wertlos fremddefiniert wird? Der

Polizist im Film bekommt vielleicht

Absolution, weil er die Gesellschaft aus

der Perspektive des tradierten

Rollensystems beschützt hat. Und

gleichzeitig: Was passiert mit einem

Menschen in einem System ohne

Gewissen, wenn er genau das entwickelt

und seine Taten hinterfragt. Dystopie war

für mich immer ein Teil der Punkwelt und

außerdem gibt die Zukunft immer

Projektionsfläche für die Entwicklung

unseres derzeitigen Verhaltens. Für mich

war das ein guter Weg, um einen

politischen Film zu machen, der nicht

didaktisch ist.

Wie viel Biografisches steckt in

deinen Filmen?

Punk ist der Ursprung von allem,

was ich mache. Wenn ich nicht mit 13, 14

Jahren im AJZ Homburg gewesen wäre

und die DIY-Ethik in der Praxis

kennengelernt hätte wie das eben bereits

erwähnte eigenverantwortliches

Handeln, hätte ich alles, was an

Projekten gefolgt ist, nicht machen

können. ‚Volt‘ spiegelt aber auch meine

politische Haltung, aber auch in Teilen

meine persönliche Geschichte wider, um

das in den Film zu projizieren.

Du bist/warst Boxer, Piercer,

Türsteher, Drehbuchautor,

Filmregisseur. Bist du nach einer

Weile unzufrieden mit dem, was du

machst? Suchst du nach neuen

Herausforderungen, neue Talente zu

entdecken oder bist du immer auf

der rastlosen Suche nach der idealen

Aufgabe, die dich ausfüllt?

Unzufriedenheit und Langeweile

kenne ich ehrlich gesagt nicht. Bei dem

28


Begriff „Herausforderungen“ denke ich

eher an neoliberale Polit-Popper wie

Christian Lindner. Ich halte es für

normal, alles sein zu können und sich

nicht als Dieses oder Jenes zu definieren.

In meinem Falle hat das Eine stets zum

Nächsten geführt. Schreib’ ein Drehbuch

und du bist Drehbuchautor. Ich kann mir

gar nicht vorstellen, dass es diese eine

Aufgabe oder Sache geben könnte, die

mich ausfüllt. Und danach suche ich auch

nicht. Meine Haltung ist ganz simpel: Die

einzige Gewissheit des Lebens ist, dass

es irgendwann zu Ende ist. Die Zeit bis

dahin ist nichts, außer das persönliche

Streben nach Glück. Was das bedeutet,

müssen wir alleine entscheiden. Für mich

bedeutet es, ich will hungrig, fit, klar,

enthusiastisch und angstfrei bleiben. Und

meine zahlreichen Privilegien so oft wie

möglich dazu nutzen, selbstlos Dinge für

Andere zu tun. Denn nicht alle Menschen

haben die Ausgangslage oder soziale

Voraussetzung, um frei diese

Entscheidung treffen können. Vielleicht

ist das der schwerste Teil. Glück zu

haben und in der Folge kein totaler

Egoist zu werden. Jeden Tag passieren

neue Abenteuer, wenn du richtig

hinguckst und Lust auf Neues, Spaß an

Unbekanntem hast. Und die meisten

Sachen macht am besten mit Anderen

zusammen. Alle Ziele – alle Richtungen.

War dein Selbstbild schon früh in

punk-subkulturellen

Lebensbereichen verortet?

Punk war ich eigentlich schon

immer und bleibe ich auch für immer.

Höchstens die Zeitspanne – in der ich es

so genannt habe – ist begrenzt. Meinen

Zugang zur Szene, wenn du so willst,

habe ich wie die meisten mit 13, 14

Jahren gefunden. In meiner Geburtsstadt

Homburg gab es ein selbstverwaltetes

AJZ, das einen ziemlich brutalen Ruf weit

über die Region hinaus hatte. Das zog

mich schon damals magisch an.

Wie war das ausgeprägt und vor

allem, wie hat dich das auf dein

späteres Wirken als Drehbuchautor

und Filmregisseur beeinflusst?

Also für mich ist Punk, zumindest

das was es für mich bedeutet, die

Grundlage für alles, was ich später

gemacht habe: Selbstbestimmtes

Handeln, Kreativität und Synergie sind

mir als Teenager im AJZ erstmals

begegnet. Mit maximaler Freiheit und

minimalem, vor-modellierten Angebot

muss man auch erst mal umgehen

können. Wenn man irgendwann kapiert,

wie viel Power und konstruktive Energie

in einer Ordnung ohne Herrschaft liegen,

dann ist so ziemlich alles möglich.

Wenn Punk ein Gegenentwurf ist:

Haben dich Aspekte wie Autonomie,

Individualität in deinem

Selbstverwirklichungsprozess mehr

beeinflusst als Spaß und Action?

Ich finde überhaupt nicht, dass

diese Bereiche sich gegenseitig

ausschließen. Im Gegenteil, sie bedingen

einander vielmehr. Ich finde es absolut

legitim, nach Action und Abenteuer zu

trachten. Die bereits erwähnte

Eigenverantwortung oder Autonomie

steckt dabei einen moralischen Code ab:

Innerhalb dieser natürlichen Umgebung

kannst du dich ausleben und richtig

duchdrehen, ohne dabei anderen

Menschen zu schaden. Und darauf

kommt es meiner Meinung nach letztlich

an.

2003 wird Sabotakt Filme gegründet.

Laut deiner Vita war der Auslöser,

dass du deine Erlebnisse deiner

vielen Reisen festhalten wolltest,

oder ?

Ich bin 2003 für mehrere Monate

zu meiner Familie nach Dubai gereist

und habe dort das Filmen für mich

entdeckt. Im selben Jahr ist mir das Wort

Sabotakt eingefallen und ich habe es mir

aufs Herz tätowiert. Das war das

29


Gründungsritual. Der erste wirkliche

Film entstand dann auf einer Weltreise

mit meinem besten Freund im Jahr 2004.

Wir haben allerlei irres Zeug erlebt und

eine echte Story gespielt, angelehnt an

die philosophischen Abenteuer von Don

Quijote – dem Ritter in trauriger Gestalt.

Du hast dich für oben erwähnte

Filme mit Moses Arndt

zusammengetan. Der Film Chaostage

basiert auf Moses' gleichnamigen

Roman. Zwischen

Romanveröffentlichung und Film

liegen 9 Jahre. Was war denn der

Auslöser, den Roman zu verfilmen?

Moses habe ich schon mit 15

Jahren kennengelernt. Ich habe mit 17

Jahren angefangen in seinen

Piercingstudios zu arbeiten, und als ich

irgendwann die Idee hatte, ein Drehbuch

zu schreiben, waren wir längst mehr als

Freunde, sondern so was wie Familie.

Insofern war es nur logisch und

konsequent, Chaostage zur Vorlage zu

nehmen. Zumal es ein anarchisches

Schund-Meisterwerk ist, also ganz genau

meine Kragenweite.

Chaostage ist geprägt von dem

Phänomen des sogenannten „Posers“

oder „Pseudos“, der/die alle

klischeehaften Merkmale einer

subkulturellen Bewegung in sich

vereint, um etwas darzustellen, was

einem normativen Gesellschaftsbild

von Punk, respektive dem einer

anderen Subkultur, entspricht. Was

wolltest du mit deiner Verfilmung

denn bezogen auf die Punk-

Subkultur vermitteln?

Ich weiß nicht, wie ich diese Frage

richtig beantworten soll. Schon dem

ersten Satz würde ich widersprechen.

Beziehungsweise frage ich mich, was soll

ein Poser sein? Und wer darf, gerade in

einem absolut freiheitlichen Punkkosmos,

festlegen, was oder wer damit gemeint

ist? Mir waren Szenecodes und

Einordnungen schon immer zuwider. Sie

sind konservativ, festgefahren und

suchen nur nach Gründen, um sich nicht

zu entwickeln. Das kann ich nicht

nachvollziehen.

Und wo gab es Überraschungen,

jenseits der freiwillig bejahten

Gebräuche und Gewohnheiten im

Punk-Kosmos, die dir während des

Drehs begegnet sind?

Der ganze Film, also von der Idee

über das Buch und Dreharbeiten bis zu

den wahnwitzigen Premierenpartys, war

von einer positiven Stimmung, Euphorie

und dem Wagemut aller, die mitmachten,

getragen. Überraschungen gab es

natürlich täglich. Aber alle hatten Bock,

das Ding zu schultern und gemeinsam

hat es wirklich extrem viel Spaß

gemacht.

War es denn schwierig, die Szenen

mit Punks als Laiendarsteller*innen

zu drehen, um vom Ergebnis her

zufrieden zu sein?

Entscheidend ist der Blick, mit

dem man auf den Film guckt. Es ist ja

nicht so, dass ich als mächtiger

Produzent und Regisseur mir eine Szene

zu eigen gemacht habe, um mit meinem

finsteren Machwerk ordentlich Geld zu

scheffeln. Dieser Film ist von Punks, mit

Punks und für Punks entstanden.

Natürlich gab es auch schon damals viel

Gegenwind, vor allem innerhalb

ausgetretener Szenepfade. Das hat uns

aber alle nicht weiter beeindruckt.

Chaostage entstand als Network of

friends. Ein absolutes DIY Projekt, das

nur durch die gemeinsame

Arbeitsleistung und gegenseitige

Motivation umgesetzt werden konnte.

Für mich sind die Schauspieler*innen

keine Laiendarsteller*innen, sondern vor

allem Leute, die wegen und über den

Film zu Freund*innen geworden sind.

Das ist doch genial. Wenn ich eine Band

machen kann, ohne ein Instrument zu

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beherrschen – ein Magazin rausbringen,

ohne Journalist zu sein – dann kann ich

auch einen Film drehen, einfach, weil ich

Bock darauf habe.

Welche Szenen waren denn besonders

herausfordernd?

Das Finale war schon wild. 500

Punks, die wir zur Hälfte in

Bullenuniformen steckten, wurden in

einem gewaltigen Schlachtgetümmel

aufeinander losgelassen. Der Alkohol und

der Hitze sorgten zusätzlich dafür, dass der

verkleidete Feind bald real gehasst wurde.

Die Bilder im Film sind schon cool, aber die

wirkliche Atmosphäre, dieses Brodeln,

kann keine Kamera einfangen.

Hattest du für die Realisierung des

Films genaue Vorstellungen, wer

unbedingt mitwirken soll und was

waren deine Kriterien für die

Besetzung?

Es gab keine Kriterien. Wie haben so

was wie ein Online-Casting gemacht. Das

war eine ziemliche Herausforderung, in

einer Zeit vor Facebook und Instagram.

Aber letztlich haben wir Freund*innen und

Punkrockbekanntschaften zu Hauptfiguren

gemacht.

Es scheint mir, dass gerade Darsteller

außerhalb der Punk-Community wie

Martin Semmelrogge, Ralf Richter,

Claude-Oliver Rudolph insbesondere

die bad boys-Charaktere verkörpern

sollten. Bloßer Zufall?

Mit Claude habe ich mich schon vor

Chaostage angefreundet, er hat uns

geholfen, die zahlreichen Halunken an

Bord zu kriegen. Dahinter steckt aber

natürlich keine Methode oder Strategie,

außer: Ich wollte einfach alles tun, damit

der Film von möglichst vielen Leuten

gesehen wird. Und ich war der Meinung,

dass diese Truppe auch einen Teil dazu

beitragen wird.

Woher stammt deine Begeisterung für

den Fankult um St. Pauli und was

zeichnet diesen überhaupt aus?

Als ich zum ersten Mal mit Moses

ans Millerntor gefahren, bin, war ich

ungefähr 16 Jahre alt. Das Besondere an

Sankt Pauli ist, dass sich unter dem Begriff

alles Mögliche versammelt. Es ist eine

soziale Glocke, unter der viel mehr gedeiht

als Fußball. Vor allem war es schon damals

ein Statement. Du warst Fußballfan und

hast dich trotzdem eindeutig gegen Nazis

positioniert. Früher gab es dafür gerne

aufs Maul, aber das hat sich schon lange

geändert. St.Pauli hat eine wehrhafte

Fanszene und das bekommen Nazihools

anderer Vereine regelmäßig zu spüren.

Welche Absichten hattest du mit

deinem Film GEGENGERADE? Wolltest

du polarisieren?

Polarisieren ist ein Begriff, der dem

Film übergestülpt wurde. Gegengerade

war die logische Weiterentwicklung von

Chaostage. Das Porträt einer Null

homogenen Kultur, in der die

Fußballereignisse auf dem Platz höchstens

zweitrangig sind.

Wie ist deine Beziehung zu Fußball,

bzw. zum FC St. Pauli speziell?

Über Gegengerade bin ich irgendwie

in Hamburg kleben geblieben. Im Umfeld

der Fanszene habe ich Freundschaften

geschlossen, die bis heute geblieben sind.

Die Spiele sind immer noch ein Ort, an dem

man sich begegnet, sich Austausch und

jede Menge abgefahrene Dinge erlebt. Der

Ballsport an sich hat mich eigentlich noch

nie sonderlich gejuckt.

Welche Filme mit Punkbezug findest

du selber gut, dass du sie als Klassiker

bezeichnen würdest?

Also, ich kenne sie wahrscheinlich

alle. Die ersten Punkfilme, die ich in die

Finger bekam, waren Sid & Nancy, Repo

Man und – obwohl natürlich übelste Nazis

im Zentrum der Handlung stehen – Romper

Stomper.

https://www.sabotakt.com/

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Frauen* in Punkfilme

Vor und hinter der Kamera

PUSSY RIOT: A PUNK PRAYER (Screenshot)

Obwohl Patti Smith die bekannteste Punk-Künstlerin ist, die

mit dem legendären New Yorker CBGB-Club in den 1970er Jahren

in Verbindung gebracht wird, bedeutet dies nicht, dass sie

die einzige Frau in der New Yorker Szene war. Frauen* waren

als Sängerinnen wie Debbie Harry von der Band Blondie, Joan

Jett, Instrumentalistinnen (Poison Ivy von The Cramps, Tina

Weymouth von Talking Heads, Fotografinnen (Roberta Bayley)

und Autorinnen (Mary Harron) aktiv vertreten.

Parallel zur britischen Punk-Szene blühte

die New Yorker Szene und die Punkszene

an der US-Westküste auf. Sie wurde

1981 in dem Dokumentarfilm The

Decline of Western Civilization unter der

Regie von Penelope Spheeris (s. Artikel

und Interview hier im Heft) verewigt.

Der Film zeigt Auftritte ausgewählter

Bands und Interviews mit

Bandmitgliedern und Punks. Die

Regisseurin widmete drei Frauen* ihre

Aufmerksamkeit im Film: den

Sängerinnen Exene Cervence von der

Band X, Alice Bag von der Band BAGS

sowie der Bassistin Lorna Doom von der

Band Germs. Die Arbeit von Spheeris

zeigt, dass die Künstlerinnen ein

unverzichtbarer Teil der Punkszene

waren, der sie angehörten.

Die feministische Riot-Grrrl-Bewegung

ist ein weiteres wichtiges Kapitel in der

Geschichte des Frauenpunks. Die

Wurzeln von Riot Grrrl gehen auf die

Punkszenen der späten 1980er und

frühen 1990er Jahre in Washington und

Olympia zurück. Letzteres war unter

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anderem die Heimat der Band Bikini

Kill, deren Sängerin Kathleen Hanna bis

heute als Ikone der Bewegung gilt. Riot

Grrrl war eine direkte Reaktion auf die

Vorherrschaft weißer, heterosexueller

Männer in der Punkszene.

Die Geschichte der Frauen* in der

amerikanischen Punkmusik wird zwar oft

vergessen und von der

Medienberichterstattung

ausgeklammert, aber es gibt eine Fülle

bemerkenswerter Persönlichkeiten.

Gesellschaft vorgegebenen

Verhaltensrahmen passen. Die Punk-

Subkultur kann, wie andere Subkulturen

auch, das Bedürfnis befriedigen, einer

Gruppe anzugehören und Kontakt zu

Menschen mit ähnlichem Geschmack

und ähnlichen Ansichten zu haben.

Eine der wichtigsten von ihnen ist Patti

Smith, die oft als die ‚Patin des Punk‘

bezeichnet wird. Ihre Proto-Punk-Songs

aus dem Album Horses, das bei seiner

Veröffentlichung bereits als Klassiker

galt und Slam-Poetry mit Rockklängen

kombinierte, verschafften ihr Kultstatus.

Sie war als Künstlerin nicht nur den

musikalischen Trends voraus, sondern

auch den Modetrends. Der lässige

maskuline Look der Sängerin brach mit

den Klischees von Weiblichkeit.

Wahrscheinlich war es Smith zu

verdanken, dass die amerikanische

Punkmode für Frauen oft utilitaristischer

aussah als ihr britisches Pendant, das

von Vivienne Westwood und ihrer Sex-

Boutique eingeführt wurde.

Punk ist per Definition ein Ort für viele

Menschen, die nicht in den von der

In ihrem Buch „Pretty in Punk: Girls'

Gender Resistance in a Boys'

Subculture“ beschreibt Lauraine

Leblanc ihre eigenen Erfahrungen und

die anderer Frauen in der Punk-

Subkultur. Für die Autorin ermöglichte

es ihr, als Punk Selbstvertrauen zu

entwickeln und ihr Aussehen zu

akzeptieren, das von Gleichaltrigen als

unattraktiv angesehen wurde. Leblanc

beschreibt, dass sie sich vor ihrem

Eintritt in die Subkultur für ihre

Schönheit schämte. Nach ihrem Beitritt

konnte sie ihren Peinigern antworten: „Ja

[ich bin hässlich], aber ich bin

wenigstens absichtlich hässlich“. Wie das

von der Autorin zitierte Beispiel zeigt,

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kann Punk Mädchen* und Frauen*

helfen, Selbstvertrauen zu gewinnen und

einschränkende Normen bezüglich des

Aussehens abzulehnen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Frauen*

innerhalb dieser Gruppe keine Probleme

haben. Leblanc zufolge stellt sich „die

Punk-Subkultur [...] zwar als egalitär und

sogar feministisch dar, ist aber in

Wirklichkeit weit davon entfernt“. Trotz

der aktiven Beteiligung von Frauen* an

der Subkultur und der Schaffung eines

eigenen, feministischen Subgenres der

Punkmusik ist der Punk immer noch eine

stark maskulinisierte Subkultur, was sich

nur zögerlich ändert.

In „Girl Zines: Making Media, Doing

Feminism“ beschreibt Alison Piepmeier

dieses Phänomen am Beispiel von Sarah

Dyer. Sarah Dyer ist eine amerikanische

Comicautorin und Künstlerin mit

Wurzeln in der Zine-Bewegung der

späten 1980er und frühen 1990er Jahre.

Laut Piepmeier wurde Dyer von den

Mitgliedern der Subkultur oft respektlos

behandelt. Denn Frauen „drinnen“

werden [von anderen Mitgliedern] oft als

„Freundinnen von jemand anderem“ und

nicht als aktive Mitglieder der Gruppe

wahrgenommen. Die Autorin hebt auch

die Tatsache hervor, dass Frauen* von

vielen Forscher*innen, die sich auf den

männlichen Teil der Punk-Subkultur und

der Punk-Musikszenen konzentrieren,

marginalisiert werden. Laut Leblanc

werden Frauen* fälschlicherweise als

marginale, unwichtige Mitglieder einer

bestimmten Subkultur bezeichnet, was

nicht der Wahrheit entspricht.

Die oben genannten Aspekte sind nur ein

Ausschnitt der Probleme, die

Künstlerinnen und Fans im

Zusammenhang mit dem Punk-Milieu

haben. Diese Beispiele zeigen jedoch,

dass die Erinnerung an die Erfahrungen

und Errungenschaften der Frauen* in

der Punk-Subkultur in Vergessenheit zu

geraten droht und die Situation zwischen

Frauen* und Männern weiterhin

angespannt ist. Die Stellung der Frauen*

in der Punk-Subkultur lässt sich mit dem

von Shirley und Edwin Ardener

geprägten Begriff der Muted Group

beschreiben. Wie Elaine Showalter in

ihrem Artikel „Feminist Criticism in the

Wilderness“ erklärt, beschreibt der

Begriff eine Situation, in der „Frauen

eine zurückhaltende Gruppe darstellen,

deren kulturelle und reale Grenzen sich

überschneiden, aber nicht vollständig in

die Grenzen der dominanten

(männlichen) Gruppe fallen“. In einer

solchen Beziehung diktiert die

dominante Gruppe (im Fall der Punk-

Subkultur sind es die cis-männlichen

Punks) die Form der gesamten

Gemeinschaft (Subkultur), und die

zurückhaltende Gruppe (Punks) ist

gezwungen, sich dieser Form

anzupassen. Der Bereich der weiblichen

Erfahrung, der Männern nicht

zugänglich ist, wird als wilde Zone

bezeichnet. Showalter stellt fest, dass es

nach Ansicht vieler Forscherinnen sehr

wichtig ist, diese Erfahrungen zu

analysieren und sie öffentlich zu machen.

Um die weibliche Geschichte des Punks

nicht auszulöschen, lohnt es sich, die

Leistungen der Punk-Künstlerinnen

sowie der Mitglieder der Subkultur und

der Fans der Punk-Musik zu betrachten,

einschließlich derer, die in kulturellen

Texten dargestellt werden. Die

Darstellung von Figuren, die mit dem

Punk in Verbindung gebracht werden,

hilft dabei, die Wahrnehmung von Punk-

Frauen* zu verstehen, sowohl von denen,

die mit der Gemeinschaft in Verbindung

stehen, als auch von denen, die nicht

dazu gehören.

35


Times Square

Times Square ist ein Musikdrama aus

dem Jahr 1980 unter der Regie von Allan

Moyle. Der Film erzählt die Geschichte

von zwei Teenagern, die sich in einer

psychiatrischen Klinik kennenlernen.

Trotz ihrer Differenzen freunden sich der

rebellische Nicky Marotta (gespielt von

Robin Johnson) und die schüchterne

Pamela Pearl (gespielt von Trini

Alvarado) an und entkommen gemeinsam

aus der Anstalt. Nach ihrer Flucht leben

sie auf den Straßen von New York und

verstecken sich vor Pams betrügerischen

Eltern. Die Mädchen gründen eine Band,

schreiben Songs und treten im Radio auf

– dank eines freundlichen DJs (Tim

Curry), der sie berühmt macht. Ihre

Freundschaft endet mit einem Konzert

am Times Square, nach dem Pam in ihr

verlassenes Leben zurückkehren muss.

Moyle stellt die beiden Protagonistinnen

durch Kontraste einander dar. Auf den

ersten Blick haben sie mehr gemeinsam,

als sie scheinbar nicht haben. Die

Mädchen kommen aus verschiedenen

sozialen Schichten, haben

unterschiedliche Charaktere,

Temperamente und Vorlieben. Die beiden

Personen haben die Möglichkeit, sich auf

neutralem Boden kennenzulernen, völlig

losgelöst von ihrem Alltag. Trotz ihres

anfänglichen Widerwillens gewinnen die

Protagonistinnen einander langsam für

sich. Als es ihnen gelingt, aus dem

verschlossenen Gebäude zu entkommen,

zeigt Nicky ihrer neuen Freundin ihre

Punkwelt. Für beide Charaktere

bedeuten Punkmusik und der Punk-

Lifestyle etwas anderes.

Die Figur des Nicky wird dem Publikum

gleich in der ersten Sequenz des Films

als junger Punk in Lederjacke

vorgestellt, der durch die Straßen der

Armenviertel streift. In der

Eröffnungssequenz am Ende spielt das

Mädchen ein Lied auf der Gitarre vor

dem Gebäude einer Diskothek. Als eine

Frau im Disco-Outfit gegen die von Nicky

gespielte Musik protestiert, zertrümmert

sie die Scheinwerfer eines Autos, das

dem Besitzer der Disco gehört. Der

Regisseur unterstreicht in der Sequenz

sowohl den rebellischen Charakter der

Figur als auch den Antagonismus

zwischen der Punk-Subkultur (geprägt

mit gewaltaffinen Ausbrüchen) und den

Liebhaber*innen der damals modischen

Disco-Musik. Die Punkmusik ist zunächst

Nickys einzige Quelle des

Verständnisses. Die Teenagerin rebelliert

gegen die Erwachsenen und die

vorherrschenden

Verhaltenskonventionen. Sie hat keinen

Kontakt zu ihren Eltern, und ihre

tieferen Probleme werden auch von den

Ärzt*innen im Krankenhaus ignoriert, die

nur daran interessiert sind, sie zu

beruhigen/ruhig zu stellen. Dank des

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Punk scheint Nicky weniger einsam zu

sein. Die Musik von u. a. den Ramones

lässt sie wissen, dass sie nicht die

Einzige ist, die von ihrem Umfeld

missverstanden wird. Andererseits findet

die Figur ein Ventil für unterdrückte

Emotionen, wenn sie beginnt, ihre

eigenen Lieder zu schreiben.

Die zweite Protagonistin, Pam, wird als

Tochter des Bürgermeisters von New

York City vorgestellt, die die Kampagne

„Take Back the City“ gegen die

Gentrifizierung der Stadt leitet. Sie trägt

ein konservatives Outfit, das an eine

Schuluniform erinnert, und ihr Haar ist

ordentlich frisiert. Der Vater versucht,

seine Tochter für ein politisches Spiel zu

benutzen. Bei einem Treffen zur

Förderung seiner Aktivitäten erzählt er

eine fiktive Geschichte über einen Streit

mit einem Teenager. Pam ist empört über

das Verhalten ihres Vaters und

entschließt sich zu einem unerwarteten

Akt der Rebellion: Sie rennt aus dem

Zimmer und knallt die Tür zu. Die

natürliche, jugendliche Reaktion wird als

mögliches Anzeichen einer Krankheit

interpretiert. Bis sie ins Krankenhaus

eingeliefert wird, ist der einzige Trost in

Pams einsamer Existenz, die

wahrscheinlich von Gleichaltrigen

isoliert ist, ihre Lieblingsradiosendung.

Da sie niemanden hat, dem sie sich

anvertrauen kann, geht die Jugendliche

eine einseitige, parasoziale Beziehung

mit dem Radio-DJ ein, der ihre Briefe

vorliest und sie während der Sendung

beantwortet.

Die Worte des Mannes, der dazu

ermutigt, „in unbekannte Gewässer zu

fischen“, erweisen sich als prophetisch.

Nachdem sie zusammen mit Nicky

weggelaufen ist, nimmt Pam schnell

ihren Lebensstil an. Das Mädchen

wechselt ihre Kleidung und ihre Frisur

zu einer jugendlicheren, Frisur. Das

Leben eines Punks hilft der Heldin,

Selbstvertrauen zu gewinnen, gibt ihr

aber auch Raum, um lange verborgenen

Kummer auszudrücken und ihre

Bedürfnisse mitzuteilen. Wie sie in einem

Brief an ihren Vater schreibt, „brauchen

wir nicht deine Antidepressiva, wir

brauchen dein Verständnis“. Obwohl der

Punk für Pam ein vorübergehendes

Abenteuer und kein Weg für den Rest

ihres Lebens ist, hat Punk einen

bedeutenden Einfluss auf die

Entwicklung ihrer Persönlichkeit.

Ein sehr wichtiger Aspekt des Films ist

die Gründung des Musikduos The Sleez

Sisters durch Nicky und Pam. Der Name

der Band selbst ist bezeichnend. „Sleez“

ist eine vereinfachte Schreibweise des

Wortes „sleaze“, was so viel wie Schmutz

und moralische Korruption bedeutet. Der

Name der Gruppe symbolisiert Rebellion

und die Ablehnung von Regeln, die von

Autoritäten auferlegt werden, in Pams

Fall von ihrem Vater, in Nickys Fall von

Ärzt*innen und der Polizei. Im Radio

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singen die Mädchen: „Neger,

Schwuchtel, Trottel / deine Tochter ist

eine von ihnen“. Der Text des Liedes

kann das Gefühl der Verachtung

ausdrücken, das sie von den

Erwachsenen erfahren haben, und ein

Gefühl der Solidarität mit Gruppen von

Menschen zum Ausdruck bringen, die

von der Mittel- und Oberschicht,

vertreten durch Pams Vater, ignoriert

und sogar verachtet werden. Musik

ermöglicht es, sich selbst auszudrücken

und gemeinsam etwas zu schaffen.

Im Film singen Nicky und Pamela den

Song „Your daughter is one“ live und

reagieren damit auf die Angriffe von

Pamelas Vater David Pearl, der eine

städtische Initiative zur Säuberung und

Sanierung des Times Square leitet.

„Miss Rosie Washington

I'm sticking pins into your brain

I'm manslaughtering you with

voodoo

Can you hear the drums?

Can you feel the pain yet, faggot

social worker?

Yeah, and Mr. Pearl

I hate you with every rotten tooth in

my head

Black-eyes to YOU, fucking Nazi(…)“

Im letzten Akt des Films wird die von

den Figuren gegründete Punkband unter

den New Yorker Mädchen populär. Vor

allem die einheimischen Teenager finden

Verständnis für Nickys Charakter, so wie

Nicky zuvor bei ihren Punk-Idolen Halt

gefunden hatte. Die Mädchen sind vom

Kleidungsstil der jungen Künstlerin

begeistert und versammeln sich, um dem

Konzert der Sleez Sisters zu lauschen.

Das Konzert wird vorzeitig abgebrochen

und die Freundinnen werden getrennt.

Aber wie Nicky sagt: „Sie mögen mich

besiegen, aber sie werden nicht euch alle

besiegen“ – die Punk-Künstlerin kann

ihren Zuhörer*innem helfen, eine neue

Gemeinschaft aufzubauen, und ihre

Musik kann Kraft geben.

Ladies and Gentlemen, The

Fabulous Stains

Der Film erzählt die Geschichte

der fiktiven Band The Fabulous Stains.

Die Außenseiterin Corinne (Diane Lane)

bildet die Gruppe mit ihrer Cousine

Tracy (Marin Kanter) und ihrer Freundin

Jessica (Laura Dern). Durch eine Laune

des Schicksals erhält die

Mädchengruppe die Chance, ihre

Heimatstadt zu verlassen und mit der

Punkband The Looters auf Tournee zu

gehen. Mit der Zeit überwältigt die

Popularität von The Fabulous Stains ihre

älteren Kollegen. Trotz Konflikten und

Widrigkeiten haben die Teenager Erfolg

und treten im Musikfernsehen auf.

Die Hauptfigur des Films, Corinne,

verkörpert das Punk-Ethos des „Nno

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future“. Die verwaiste Teenagerin ist

nihilistisch, hat keine Ausbildung und

keine Pläne für die Zukunft. Sie

empfindet Abneigung gegen ihre

Heimatstadt und träumt davon, sie zu

verlassen. Die Protagonistin ist zwar von

der Punkmusik selbst fasziniert, was sich

beispielsweise in ihrer Reaktion auf das

erste Konzert von The Looters zeigt,

aber wichtiger scheint für sie das

Versprechen eines anderen Lebensstils

zu sein, den der Punk bietet. Erst ist es

ein Traum, dann wird es mit den ersten

Erfolgen Realität. Eine musikalische

Karriere ermöglicht es, eine ungewisse

Vergangenheit hinter sich zu lassen. Um

eine Rückkehr in ihr altes, verhasstes

Leben zu vermeiden, kann die

Protagonistin zu Plagiaten und anderen

moralisch fragwürdigen Praktiken

greifen.

Die Auftritte der Band bieten einen

Raum, in dem patriarchalische Normen

offen herausgefordert werden. Corinnes

Äußerung des Slogans:

„Wir sind The Stains und wir lassen uns

nicht unterkriegen“ ist wahrscheinlich

ein Ausdruck der Rebellion gegen

männliche Erwartungen. Wenn man

bedenkt, dass die Mitglieder von The

Fabulous Stains wahrscheinlich Kinder

der Hippie-Generation sind, könnte dies

auch eine Ablehnung der von ihnen

vertretenen Werte darstellen. Es sei

daran erinnert, dass die Zeit der

sexuellen Revolution in den 1960er

Jahren nicht nur die Freiheit der

Umgangsformen mit sich brachte,

sondern auch die Erwartung der Männer

an den Zugang zu Sex/one night stands

für Frauen*.

Der erste Auftritt der Band kann als

symbolische Ankündigung einer neuen

Ära der Rockmusik gelesen werden. Die

Fabulous Stains treten vor einem

typischen Kleinstadtpublikum auf, das

gekommen ist, um eine Hardrockband

ähnlich wie KISS zu hören. Das Publikum

bevorzugt den klassischen, maskulinen

Rock. Die Teenager*innen von The Stains

sind Vertreter*innen des immer beliebter

werdenden Punkrocks, der hier ein

wenig an das Subgenre Riot Grrrl

erinnert, das ein paar Jahre später

auftauchen sollte. Das Publikum,

insbesondere der männliche Teil,

reagiert negativ auf die Aufführung und

die radikalen, feministischen Slogans der

Mädchen, beschimpft sie und wirft sogar

ein Getränk nach der Sängerin.

Diane Lane als Corinne ‘Third Degree’ Burns

Corinnes Fernsehauftritte vor und nach

den Konzerten sorgen jedoch dafür, dass

die Band ein treues Publikum hat und sie

zu einem Idol unter Teenagern wird. Die

Jugendlichen sehen Corinne als eine

Person, die ihre Dilemmata und

Frustrationen zum Ausdruck bringt. So

schreibt ein Jugendlicher in einem Brief

an einen Fernsehsender: „Corinne

spricht laut aus, worüber ich tagelang

nachdenke.“ Dank des Interesses ihrer

Altersgenossen werden The Fabulous

Stains immer beliebter. Die Band wird

zum Vorbild für junge Leute, die sich

ähnlich unkonventionell und gewagt

kleiden und sich mit Make-up und

Frisuren schminken, die vom Stil der

Gruppe inspiriert sind. Gruppen junger

Mädchen schaffen ihre eigene Version

der Punk-Subkultur, die es ihnen

ermöglicht, sich von den herrschenden

Normen zu lösen und Freund*innen mit

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ähnlichen Interessen und Problemen zu

finden.

Her Smell

Her Smell ist ein psychologisches

Musikdrama unter der Regie von Alex

Ross Perry, das 2018 uraufgeführt

wurde. Der Film begleitet die Sängerin

Becky Something (Elizabeth Moss) von

einem Konzert ihrer Band Something

She über eine Zeit, in der die Künstlerin

mit Sucht und einem instabilen

Geisteszustand kämpft, bis hin zur

Auflösung der Musikgruppe. Perrys Film

hat keine klassische Handlung.

Stattdessen stellt der Regisseur die

Situation der Hauptfigur in Form von

kurzen Episoden dar. Her Smell ist einer

der wenigen Filme über fiktive Punk-

Künstlerinnen, der sich auf die Figur

einer reifen Frau konzentriert. Die

bereits erwähnten Fabulous Stains

widmen sich in ihren Werken jungen

frau*lichen Protagonistinnen, die am

Anfang ihrer musikalischen Karriere

stehen. Punk wird in ihnen oft als

jugendliche Rebellion gesehen. Alex Ross

Perry beleuchtet in Her Smell eine

erwachsene Figur, für die Musik und

Punkkultur keine vorübergehende Phase,

sondern eine Lebenseinstellung sind.

In dem Film seziert Perry das

romantisierte Bild des rebellischen

Künstlers. Die Eröffnungssequenz des

Films ist in einer für Musikfilme

typischen Weise gedreht. Die Kamera

folgt der Band, wenn sie aus dem

Backstage-Bereich kommt, begleitet vom

begeisterten Jubeln ihrer Fans. Das

Publikum ruft Beckys Namen und

erklärt, dass es sie liebt. Die Hauptfigur

lächelt daraufhin charismatisch. Auf der

Bühne wirkt sie stets selbstbewusst und

entspannt. Der Regisseur zeigt jedoch in

dem Moment, in dem Becky die Bühne

verlässt, dass ihre Haltung auf der

Bühne wenig mit der Realität zu tun hat.

In Her Smell wird den negativen

Aspekten des Lebens einer Punk-

Künstlerin viel Aufmerksamkeit

gewidmet. Der in der Punk-Subkultur

verbreitete Konsum von Alkohol und

Drogen und die Überschreitung

normativer Verhaltensnormen haben

negative Auswirkungen auf die

Protagonist*innen. Die Drogen und der

selbstzerstörerische Lebensstil führen zu

psychischer Instabilität, die sich auf ihre

zwischenmenschlichen Beziehungen zu

Familie, Freund*innen und Kolleg*innen

auswirkt.

Depressionen und Angststörungen, die

sich in der Angst, das Haus zu verlassen,

äußern. Darüber hinaus hat sie

rechtliche Probleme, denn es wurden

mehrere Klagen gegen sie eingereicht,

und ihr Urheberrecht an der Musik, die

sie mit Something She geschaffen hat,

wurde widerrufen.

Alex Ross Perry stellt die Welt der

Punkmusik in einem eindeutig negativen

Licht dar. Alkohol, Drogen und

transgressives Verhalten, die bei

40


weiblichen und männlichen Punk-

Künstler*innen beliebt sind, werden in

Her Smell nicht auf romantische Weise

dargestellt, sondern als Faktoren, die zu

mehr Selbstvertrauen und Freiheit

verhelfen oder die Einsamkeit

verringern.

Her Smell: Agyness Deyn, Elisabeth Moss

Im Gegenteil, der Punk-Lebensstil

zerstört die Bindungen der Hauptfigur zu

anderen Menschen und führt zur

Isolation. In der Schlussszene singt Her

Smell Something She einen Song auf der

Party ihres Managers zum Abschluss

ihrer Karriere. Der Auftritt der Band

läuft gut, und der Manager verlangt von

Becky eine Zugabe. Daraufhin umarmt

die Künstlerin ihre Tochter, der sie

verspricht, zukünftig besser auf sie

aufzupassen. Die Heldin beschließt, auf

Familie und Stabilität zu setzen. Es stellt

sich vielmehr heraus, dass Punk nicht

die Art ist, um auf die hier skizzierte

selbstzerstörerische Art und Weise für

den Rest ihres Lebens zu leben. Die

einstige Rebellin wird konservativ. Ein

ernüchterndes Fazit und ein

enttäuschendes Ende dazu. Nicht nur,

dass der Regisseur allgemeine Klischees

in Verbindung mit Punk herleitet und die

Protagonistin mit einer

selbstzerstörerischen Etikette ausstattet,

sondern auch, dass Punk als

Lebenseinstellung trotz aller

Widersprüche in Her Smell als

nihilistisch und als ein moralisch

„falscher“ Weg skizziert wird: Punk als

eine vorübergehende, altersbedingte

Phase. Das

konservative

Denken passt

aber zu

ehemaligen

Protagonist*innen

der Punk-

Subkultur.

Viv Albertine

spielte einst bei

The Slits und

kämpfte damals

wie andere

Frauen in

Punkbands, als

Musikerin in einer

Band anerkannt

zu werden. Aber

sie sieht keinen

Sinn darin, dass ihre eigene Tochter

ihrem Beispiel folgen sollte.

„Ehrlich gesagt, als junge Frau würde

ich heute nicht in einer Band sein wollen.

In der ersten Welt ist Musik nicht mehr

revolutionär, sie wurde als Medium von

der westlichen Konsumgesellschaft

absorbiert, und Rockmusik wird nie

wieder diese radikale Kraft sein.

Dasselbe ist schon mit der Dichtung,

dem Ballett, der klassischen Musik und

dem Theater passiert. Wir hatten unsere

60-Jahre Rebellion, jetzt ist die Zeit für

eine neue radikale Form. Ich bin nicht

nostalgisch. Ich bin froh, damals gelebt

und das getan zu haben, aber weinen wir

nicht darum. Was soll es? Weiter geht

es!“ 1

1 Zitiert nach Robert Rotifer in der Sendung „tonart“

vom 19.08.2016

41


42


Normalzustand.

Undergroundfilm

zwischen Punk

und

Kunstakademie

Die Film-Ausstellung in München

präsentierte mit dem Untertitel

„Undergroundfilm zwischen Punk und

Kunstakademie“ eine Auswahl von

Experimentalfilmen mit überwiegend

digitalisierten Super-8-Filme als Loop.

Zum Programm gehörten Filme wie Alte

Kinder (Christiane Heuwinkel, Matthias

Müller, Maija-Lene Rettig u.a., Bielefeld),

Anarchistische Gummizelle („Der

schwarze Film“, Stefan Ettlinger, Heinz

Hausmann, Otto Müller und Uli Sappok,

Bertram Jesdinsky, Düsseldorf 1981), von

Jörg Buttgereit („Mein Papi“, Berlin

1981), Die Tödliche Doris

(„Wasserballet“, Wolfgang Müller u.a.

Berlin 1984), Knut Hoffmeister

(„Berlin/Alamo“, Berlin 1979), Notorische

Reflexe (Christoph Doering, Knut

Hoffmeister, Ghazi Twist, Sacha v.

Oertzen, Yana Yo u. a., Berlin), PELZEmultimedia

& LÄSBISCH-TV,

Schmelzdahin („In Diep Hust“, Jochen

Lempert, Jürgen Reble, Jochen Müller,

Bonn 1984), Schwarze Schokolade,

Teufelsberg Produktion und Yana Yo

(„Pommes Frites statt Körner“, Berlin

1981).

Laut Kuratorin Stephanie Weber machte

das Zusammenspiel der ausgewählten

Filme „eine betont ungekonnte und

gekonnt unprofessionelle Form des

Filmens – und damit des ‚Kunstmachens‘

– sichtbar, die sich keiner starren

stilistischen oder inhaltlichen Kategorie

zuordnen lässt: mal narrativ, mal

abstrakt, mal provokativ, mal poetisch

schöpfen die Filme aus diversen Quellen,

die vom avantgardistischen sowjetischen

Film der 1920er-Jahre über die burleskhysterische

Handschrift der

amerikanischen Undergroundfilmszene

bis hin zum Musikvideo und Horrorfilm

reichen.“

Punk und Underground auf

Super-8

Mauer, kalter Krieg, tonnenweise

Haarspray – sind das die Achtziger?

Wenn man tiefer gräbt, kann man das nur

43


verneinen. Angesteckt durch die Do-ityourself-Haltung

des Punkrock

experimentierten junge Künstler*innen

mit Film-, Musik- und Performance-

Elementen und formierten so den

deutschen Underground. Vor allem in

Westberlin, aber auch in Bonn oder

Düsseldorf traf Punk auf Kunst, Dada auf

B-Horror und Protest auf Unsinn.

Die teilweise sehr seltenen Beiträge von

»Normalzustand« beweisen zwei Dinge

zweifellos: Erstens waren die Achtziger

eine großartige Zeit für Kunst- und

Filmexperimente. Und zweitens braucht

man nichts weiter als ein paar

Freund*innen, eine Super 8-Kamera und

eine Idee, um diese in die Tat

umzusetzen.

Die Punkbewegung in Deutschland war

auch eine Filmbewegung. Ab den späten

70er Jahren formierten sich von

Bielefeld, Bonn und Düsseldorf bis Westund

Ostberlin lokale Filmszenen. Super-

8, ein Schmalfilmformat für den

Hausgebrauch, spielte in dieser

Entwicklung eine entscheidende Rolle.

Es war ebenso günstig in der

Anschaffung wie einfach in der

Bedienung und fand dementsprechenden

Anklang. In Westberlin entstanden bald

alternative Kinos, die sich auf Super-8

und andere experimentelle Formate

spezialisierten. Der eigentliche Ort der

alternativen Filmformen blieb jedoch der

zwanglosere Kontext der Bars und

Musikclubs. Im SO36, dem damals

polemisch diskutierten und umkämpften

Ort der Westberliner Punk- und

Anarchoszene, organisierte Martin

Kippenberger 1979 das N.Y. Narrativ

Film Festival, über das Kontakte mit der

New Yorker Underground Filmszene

geknüpft wurden. Die Ausstellung vereint

eine Auswahl von Underground-Filmen

aus Deutschland und den Vereinigten

Staaten aus den späten 70er bis 90er

Jahren und somit aus zwei Szenen, die

sich trotz gemeinsamer Feindbilder

(allen voran die Mainstream

Filmproduktion) stark voneinander

unterscheiden. Auf beiden Seiten des

Atlantiks bediente man sich bei den

unterschiedlichsten Genres wie dem

Amateurfilm, dem HomeMovie und dem

Horror- und Experimentalfilmgenre. US-

Produzent*innen wie Nick Zedd konnten

zudem auf eine mehrere jahrzehntealten

amerikanischen Underground-

Filmtraditionen zurückgreifen, deren

Hang zum Camp sie zu neuen absurden

Höhen trieben.

Yana Yo drehte 1981 ihren ersten Super-

8-Film „Pommes Frites statt Körner“. In

diesem experimentellen Kurzfilm (7

Minuten) skizziert Yana die

klaustrophobische „Inselstadt“ West-

Berlin. In ihrem Film jagt eine in Leder

gekleidete junge Frau die Berliner Mauer

entlang. Ihre Schritte haben weder

Zweck noch Ziel. Das Rennen durch eine

Stadt, die von der Berliner Mauer

umgeben ist, wird zu einem absurden

Akt, weil die Endstation immer ein mit

Graffiti besprühter Betonstreifen sein

wird.

Darauf folgte 1981 der Kurzfilm

„Normalzustand“. Zum Rhythmus der

Musik von Fehlfarben und deren Song

„Apokalypse“ schneidet Yana Yos Super-

8-Film Normalzustand fahrende Panzer,

Nahkampfszenen, Supermarktregale,

einen brennenden Dummy aus Plastik,

dazwischen verrissene Bilder nächtlicher

Straßen. Der Film funktioniert wie ein

Videoclip zum Katastrophensong von

Fehlfarben, in dem es im Refrain heißt:

„Ernstfall – es ist schon längst so weit.

Ernstfall – Normalzustand seit langer

Zeit“. Auffällig ist die Überlichtung. „Die

Konturen der vom Fernseher abgefilmten

Szenen verlieren sich immer wieder in

hohem Kontrast in zu hellen Flächen,

entwerfen eine Ästhetik, die typisch für

die frühen 1980er Jahre erscheint und

deren technische Grundlage oft im

mehrfachen Kopieren analogen

Videomaterials lag, oder eben in der

falschen Belichtung des Super-8-

44


Umkehrfilms. Die Kriegsbezüge in

Apokalypse ergänzt Yana Yo durch Bilder

rotierender Magnetbandspulen eines

Großrechners. Yos Verweis auf den

Computer steht hier gleichfalls als

Symbol für eine rationalisierte Welt, in

der Industrie- und Staatsapparate das

Leben kontrollieren und speichern“ 1 .

Nicht selten entsteht hier der Eindruck,

einen Videoclip der Band Fehlfarben zu

sehen.

Ebenfalls 1981 erschien ein weiterer

Kurzfilm von Yana Yo.

„Gehindieknieunddrehdichnichtum“ ist

ein Schwarz-Weiß-Film auf Super-8 mit

Musik von DAF und Saal 2. Zum DAF-

Song „Tanz den Mussolini“ sind

uniformierte chinesische Kinder zu

sehen, die Gymnastik-Übungen machen.

Philipp Meinert und Martin Seeliger

erkennen in ihrem Buch „Punk in

Deutschland: Sozial- und

kulturwissenschaftliche Perspektiven“

hinsichtlich der Super-8-Bedienung eine

„forcierte filmästhetische Ebene“,

bedingt durch „Bewegung und

Schnelligkeit“. Standard bei Super-8

waren 18 Bilder/s. Etwas gehobene

Modelle boten eine Zeitlupe, der Film lief

dann bei der Aufnahme meist etwa

doppelt so schnell, also mit ca. 36

Bilder/s, bei noch besseren Kameras mit

54 Bilder/s, in selteneren Fällen sogar 70

Bilder/s. In dieser Klasse war überdies

ein Zeitraffer üblich, dabei lief der Film

mit der halben Geschwindigkeit, also 9

Bilder/s in der Kamera sowie die vom

Kino bekannten 24 Bilder/s. Diese

Arbeiten/Effekte setzen einen Projektor

voraus.

Mit „Berlin Super 80 - Music & Super

8 Underground Berlin-West 78-84“

erschien 2004 ein Multimedia-Rückblick

auf West-Berlins Subkultur zwischen

1978 und 1984. Erstmalig wurden die

frühen Werke der Super 8-Film-

1 Zit. Nach Florian Wüst, Emergency in Real-Time, in:

„Who says concrete doesn’t burn, have you tried?“

b_books, Berlin 2008

Avantgarde dieser Zeit dokumentiert und

um die Musik und Kunst der

Anarchist*innen, Aktivist*innen, Punks

und „Genialen Dilletanten“ der

Mauerstadt ergänzt.

Dabei handelt es sich um eine Reise

durch den West-Berliner Art/Punk/Wave-

Underground, die als Begleitmaterial

zum hübsch aufgemachten 100-seitigen

Booklet mit einer Audio-CD oder als

Doppel-LP (u.a mit Einstürzende

Neubauten, Die Tödliche Doris, Malaria)

und einer DVD mit 120 Minuten Super8-

Filmen, in eine Pappbox daherkommt 2 .

Blixa Bargeld wollte 1981 ein

Weltuntergangsfestival mit befreundeten

Bands machen, Wolfgang Müller wollte

mit der Veranstaltung lieber die

neodadaistische Bewegung der „Genialen

Dilletanten“ 3 ins Leben rufen. Gewonnen

haben sie beide, wenn man sich im

Nachhinein die von Rolf S. Wolkenstein

zusammengestellte „Super 80“-

Filmkompilation anschaut und die

beiliegende CD durchhört. Das

Markenzeichen für das Berlin dieser Zeit

ist tatsächlich eine gehörige Portion

Härte in Sachen Musik geworden, die

allerdings immer wieder mit abstrusen,

manchmal auch gerade wegen ihrer

monotonen Blödheit witzigen Images

(Frontstadthumor) kombiniert wird.

2 http://www.monitorpop-entertainment.de/?

cat=products&subcat=103&id=121

3 https://www.underdog-fanzine.de/2016/03/25/

geniale-dilletanten-die-kunst-der-selbstaneignung/

45


46


Yana Yo – Als Super 8 ein

Lebensgefühl war

„Pommes Frites statt Körner“ von Yana Yo auf Super-8; 1981

Nach einer Buchhändlerlehre

studierte Yana von 1979 bis 1984

in Berlin „Bildende Kunst“ bis

zum Abschluss als

Meisterschülerin.

Yana hat Anfang der 80er Jahre

mehrere Kurzfilme auf Super-8

gedreht. In einer Zeit des

sogenannten Kalten Krieges, wo

der Alltag von Ängsten eines

atomaren Krieges begleitet

wurde. West-Berlin war eine

Insel, das Leben hier zugleich

beschaulich und exzessiv. Die

wachsende Hausbesetzer*innen-

Szene wurde militanter. Anfang

der 80er-Jahre war die

Hausbesetzer*innenbewegung in

West-Berlin eines der großen

Themen der Politik. Demgegenüber

entwickelte sich eine kreative,

subversive Subkultur, die auf

viele Menschen eine

Anziehungskraft ausübte. Einige

sahen in der Mauer weniger ein

Symbol eines Unrechtsstaats,

sondern vielmehr eine

künstlerische Herausforderung.

In den 80er-Jahren gab es viele

Leute, die nach West-Berlin

gerade gekommen sind, weil sie

bestimmte Qualitäten gesehen

haben, zum Beispiel eine

bestimmte Zeit, die man braucht,

um etwas zu entwickeln. Es gibt

eine Reihe von Filmen, die die

Zustände festhielten und

skizzierten. So ist „B-MOVIE:

Lust und Sound“ in West-Berlin

über die Musik- und

Künstler*innenszene Berlins in

den 80er Jahren ist

47


Liebeserklärung und

Dokumentation in einem. Alles

ist immer in Bewegung, neue

Bands gibt es in ständig

wechselnden Konstellationen.

„Pommes Frites statt Körner“

lautet der Titel des 7-minütigen

Kurzfilms von Yana aus dem Jahr

1981, einem experimentellen

Super-8-Film über die

klaustrophobische „Inselstadt“

West-Berlin. Mit „Normalzustand“

schneidet Yana fahrende Panzer,

Nahkampfszenen,

Supermarktregale, einen

brennenden Dummy aus Plastik,

dazwischen verrissene Bilder

nächtlicher Straßen zu einem

apokalyptischen Super-8-Kurzfilm

zusammen. Der Film funktioniert

wie ein Videoclip zum

Katastrophensong von Fehlfarben.

Es folgen weitere Filme auf

Super-8 mit Musik von DAF

(Gehindieknie...; Die

Architektur der Teilung,

Muttererde mit Musik von

MALARIA! (1982) u. a. 1989 ist

Yana nach Köln gezogen, lebt und

arbeitet seit 2020 in der Eifel,

ist bei „Bündnis 90/Die Grünen“

aktiv. Ihre Underground-Filme

und Bilder werden auf

Ausstellungen gezeigt. Mich

haben Yanas künstlerischen

Arbeiten zwischen Dada,

Subkultur und zeitgenössischem

Gesellschaftsporträt und ihr

Gespür fürs Absurde und

Abseitige interessiert.

Yana, die Filmreihe »Normalzustand«

– Undergroundfilm zwischen Punk

und Kunstakademie – vereint eine

Auswahl von Experimentalfilmen, die

in den späten 1970er- bis frühen

1990er-Jahren in Deutschland

entstanden. Wie war deine

Verbindung zwischen Punk und

Kunst begründet?

Kunst und

Punk (später

Post-Punk)

waren in dieser

Zeit in Berlin

sehr

miteinander

verwoben, und

ich war

passenderweise

seit 1979

Kunststudentin

und lebte in

Berlin.

Die Hälfte

meiner Freund*innen waren

Musiker*innen, die andere Hälfte

(Lebens-)Künstler*innen. Wir wollten uns

vom Establishment distanzieren, haben

das Leben als Experiment angesehen,

waren gegen AKWs, für Multi-Kulti,

haben nebenbei Häuser besetzt und

alternativ gelebt. Mit Kunst Geld zu

verdienen war völlig verpönt. Ich

studierte Malerei an der Hochschule der

Künste, machte aber zugleich

Experimentalfilme, Ausstellungen,

Performances und Tonstudio-Aufnahmen,

wo ich u.a. zu Gudrun Guts 1 Schlagzeug

sang, was dann von John Peel in seiner

Radioshow auf BBC ausgestrahlt wurde.

Geld habe ich damit nicht verdient.

»Wir wollten uns vom Establishment

distanzieren, haben das Leben als

Experiment angesehen!«

1 Mit Bands wie Mania D., Malaria! und Matador hat

Gudrun Gut von Berlin aus Musikgeschichte

geschrieben – und dies aktuell auch im Wortsinne

getan: „M_Dokumente“ ist der Titel eines Buches, in

dem sie zusammen mit ihren ehemaligen

Bandkolleginnen Beate Bartel, Bettina Köster sowie

diverse Wegbegleiter*innen und Expert*innen wie

Nick Cave, Christine Hahn, Annett Scheffel oder

Diedrich Diederichsen auf über 40 Jahre unter dem

Motto „Mehr Kunst in die Musik, mehr Musik in die

Kunst“ zurückblicken.

48


Betrachtest du Film als subversive

Kunst? Wie „subversiv“ kann Kino

heute noch sein?

Für mich bedeutet subversive

Kunst eine Form der Zerstörung von

Sehgewohnheiten, um neue Sichtweisen

zu erschaffen. Film als Teil der Künste

kann ebenso wie Literatur oder Malerei

dazu beitragen, Ungewöhnliches zu

vermitteln oder Wissen völlig neu zu

präsentieren. Das umfasst auch politisch

heikle Fragen und das vorurteilsfreies

Betrachten sozialer, politischer und

ökonomischer Realitäten. Gerade habe

ich z.B. eine neue Doku auf ARTE

gesehen: „Unterm Radar“ zum Thema

„Wege aus der digitalen Überwachung“,

auf die ich aufmerksam geworden bin,

weil mein Sohn Rubin den Filmton dafür

gemacht hat. Diese Themen finde ich

momentan sehr interessant, weil sie sich

mit der Unterwanderung eines alles

beherrschenden Systems befassen.

Subversion 2.0.

»Alles roch nach Untergang,

Rebellion und Aufbruch.«

In Düsseldorf war es die Nähe

zwischen Kunsthochschule und dem

Ratinger Hof, in Berlin der Einfluss

von Punk auf die JUNGEN WILDEN.

Unter dem Begriff der „Neuen

Wilden“ oder auch „Jungen Wilden“

wird im Allgemeinen die deutsche

neoexpressive Kunst der 1980er

Jahre zusammengefasst, die sich in

Berlin, Hamburg und Köln zentrierte.

Findest du dich da wieder?

Anfang der 1980er Jahre habe ich

mich selbst unter dem Label der „Jungen

Wilden“ verortet, da ich bei Helmut

Middendorf einen Super 8-Kurs belegte

und bei Karl-Horst Hödicke studierte, der

als „Vater der Jungen Wilden“ galt. Dies

und viele Kontakte zu dieser Szene z. B.

im „Exil“ haben mich damals sehr

beeinflusst. Ebenso meine Besuche im

„Ratinger Hof“ und bei Düsseldorfer

Künstler*innen und Musiker*innen. Die

Kölner*innen habe ich erst nach meinem

Umzug 1989 nach Köln kennengelernt,

da waren sie schon Legende.

Meine ersten Filme wurden dann auch

durch Teilnahme an einigen

Ausstellungen Anfang der 1980er Jahre

(„Im Westen nichts Neues“, „Volkskunst“

und „Berlin Notes“) in diesen „Jungen

Wilden“-Kontext gebracht.

Für meine Soloausstellung in Hannover

1983 in der Galerie Odem wurde ich in

der Zeitung ebenso als „Junge Wilde“

angekündigt. Dennoch gehörte ich

eigentlich zur darauf folgenden

Generation, die nicht mehr in dem Maße

vom Hype berührt war wie die

sogenannten „Moritzboys“ 2 , die

„Mühlheimer Freiheit“ 3 und die

Düsseldorfer*innen und

Hamburger*innen. Der Zug war schon

abgefahren, bevor ich mit dem Studium

1984 fertig war.

Was war denn für dich Anfang der

80er Jahre in West-Berlin in dieser

Hinsicht besonders reizvoll?

Diese „Alles ist erlaubt“-

Atmosphäre kam mir damals wie ein

Versprechen der Freiheit vor. Ich war

Anfang 20, studierte nach einer

Buchhändlerlehre in der Provinz endlich

Kunst und durfte in der großen Stadt

machen, was ich wollte. Alles roch nach

Untergang, Rebellion und Aufbruch und

brach mit meinen bisherigen Seh- und

Hörgewohnheiten. Mein Leben war so

2 Rainer Fetting, 1949 in Wilhelmshaven geboren,

studierte wie Yana Yo an der Hochschule der Künste

in Berlin und war Ende der 1970er Jahre

Mitbegründer und Protagonist der Galerie am

Berliner Moritzplatz. Diese wurde von einer Gruppe

junger Künstler*innen gegründet, die unter dem

Begriff „Neue Wilde" oder auch „Moritzboys“

bekannt wurden. Ihre Malerei war emotional und

direkt, heftig und sehr farbig und vor allem:

gegenständlich.

3 1979-84 bestehende Gruppe neoexpressionistischer

Maler, die international erfolgreich war. Der Name

geht auf den Gründungsort, ein Hinterhofatelier im

Kölner Stadtteil Mülheim mit der Adresse Mülheimer

Freiheit zurück.

49


expressiv, experimentell und

abenteuerlich wie die Kunst und Musik

dieser Zeit.

Bands wie Einstürzende Neubauten,

Deutsch Amerikanische

Freundschaft, Der Plan, Palais

Schaumburg, Die Tödliche Doris,

Freiwillige Selbstkontrolle, SYPH,

Fehlfarben waren Zeugnis dieser

kreativen, experimentellen Ära,

Punk, Avantgarde und Kunst zu

verknüpfen. Wie entstand die Idee,

dass du mit Super-8-Kamera ein Teil

davon sein wolltest und so eine neue

Ausdrucksform gefunden hattest?

Diese Musik stand für Anarchie,

Rebellion, Unangepasstheit und

Kreativität. Da sie und einige ihrer

Berliner Protagonist*innen täglich in

meinem Leben präsent waren, wurde

meine Sicht auf die Dinge dadurch stark

geprägt. Auch durch die Freundschaften

zu anderen Künstler*innen, die bereits

mit Super-8 gearbeitet hatten oder auch

im Versuchsstadium wie ich waren,

sammelte ich erste Erfahrungen.

Negativfilme organisierte Middendorf

durch die Hochschule. Schon bald

machte ich eigene avantgardistische

Filmchen, angeregt durch alte

Avantgarde-Klassiker und neue schräge

Bands wie „Die tödliche Doris“ und viele

andere. „U.V.A“ hieß dann auch unsere

neue Gruppe von Super 8-Filmer*innen,

die sich jeden Dienstag bei mir im

Wedding trafen, um uns auszutauschen

und Veranstaltungen zu planen. Die

meisten dieser Leute hatten auch ihre

Filme Padeluun 4 für die Tour „Alle

Macht der Super 8“ mitgegeben. Wir

4 padeluun ist ein deutscher Künstler und Netzaktivist,

der für digitale Bürgerrechte eintritt. Er gründete

1984 zusammen mit Rena Tangens das Kunstprojekt

und die Galerie Art d’Ameublement. Ende der 1970er

Jahre war padeluun in der Düsseldorfer New-Waveund

der Berliner Punk-Szene als Performance-

Künstler und als Super-8-Filmer aktiv. Er war

sporadisches Mitglied von Minus Delta t und ist einer

der Protagonisten in Jürgen Teipels Roman

Verschwende Deine Jugend.

veranstalteten Projektionen an der

Berliner Mauer und anderen Orten ohne

Erlaubnis. Gleichzeitig haben wir unsere

Filme im „Mitropa“, im „Risiko“ und

„Cafe Central“ und in vielen anderen Off-

Locations gezeigt.

Ab 1982 wurde es dann schon offizieller,

als nach den Aufführungen in unserem

av-Geschoss das Super 8-Festival

„Interfilm“ entstand. Und die von mir

mitgegründete Multimediale Band

„Notorische Reflexe“ (Breshnev Rap)

ging auf Tour durch Europa, gesponsert

vom Goethe-Institut.

Wieso war Super-8 das ideale Format

für den Undergroundfilm?

Meine erste Kamera war eine sehr

kleine und handliche Canon mit einem

1:1 Objektiv. Damit konnte ich sogar

subversiv in Dunkelzonen filmen. Sie

passte in meine Jackentasche und war

immer dabei. Außerdem konnte ich die

Filme zu Hause schneiden und brauchte

kein Studio dafür. Das sorgte für große

Unabhängigkeit im Gegensatz zu Video.

Woher hattest du deine Kamera?

Ich hatte sie mir unter dem

Gesichtspunkt „Muss in die Jackentasche

passen und robust sein“ gekauft,

finanziert über Tresentätigkeit im Café

Mitropa. Ich weiß echt nicht mehr, wo ich

sie gekauft hatte, aber die Kamera war

auf jeden Fall gebraucht gekauft.

„Do it yourself“ lautete die Devise.

Sei was du sein willst und fühle dich

frei. Das klingt beinahe schon wieder

hippiesk....Von wem oder was hast du

dich in der Kunstform

leiten/Inspirieren lassen?

Sicherlich hat meine alternative

Vergangenheit als jüngstes Mitglied einer

Produzent*innengalerie und

Mitbewohnerin einer Anarcho-Kommune

in Ostwestfalen-Lippe Mitte bis Ende der

1970-er Jahre schon zu dem „hippiesken“

„DIY“ beigetragen. In Berlin gab es dann

50


unzählige weitere Einflüsse, von der

Punk-Musik über Avantgardefilme und

Punk-Design bis zur Performance-Kunst.

Helmut Middendorf zeigte uns, einer

kleinen Gruppe von Hödicke-

Student*innen an der Hochschule

unzählige Klassiker des Avantgardefilms,

von den 1920er -1960er Jahre. Diese

Filme haben mich sehr inspiriert, vor

allem Vertov, Richter, Eggeling, Man Ray

und später Kenneth Anger, Warhol und

Yoko Ono und auch neue

Experimentalfilme wie Christoph Drehers

„Okay, okay, Der moderne Tanz“. 5

Punk-beeinflusste Kunst und Kunstbeeinflusster

Punk bündelten eine

Reihe von Aspekten innerhalb des

Arbeitsprozesses in der Punk- und

Kunstgeschichte. Welche Aspekte

waren das bei dir?

Gesellschaftskritik war ein

wichtiger Aspekt, Offenheit in der Kunst

und Unabhängigkeit ebenfalls. Auch

dieser Spruch von Herbert Achternbusch

„Du hast keine Chance, aber nutzte sie“

hat mich geprägt. Aus heutiger Sicht

habe ich einfach den Freiraum genutzt,

den die damalige Melange aus Artschool,

Street fighting, Mauerstadt und DIY bot.

Es war nicht schwierig, Orte für die

Aufführungen von Super-8-Filmen zu

finden. Sie wurden von keiner Instanz

oder Zensur kontrolliert. Padeluun hat

für die Tour„Alle Macht der Super 8“

damals keinen einzigen Film abgelehnt,

der eingereicht wurde.

Er hatte viele Original-Filmspulen im

Gepäck, die sich während der Tour

allmählich auf maroden Projektoren

5 Noch zu seiner Zeit als Filmstudent realisierte

Christoph Dreher seit 1979 einige audiovisuelle

Musikvideos für seine Postpunk-/Postrock-Band Die

Haut (Der Karibische Western) und Nick Cave

(Tupelo, The Singer und Mercy Seat), der Film OK

OK – Der Moderne Tanz (zusammen mit Heiner

Mühlenbrock), die Found-Footage-Studie

Commercial – 40 One-Minute-Adventures in the

World of TV (mit Gusztav Hamos) sowie das

Spielfilm-Treatment Die Legionäre (mit Ellen El

Malki).

verschlissen haben. Ebenso haben wir

selbst bei den vielen Aufführungen in

Berlin unsere Filme auf alten Projektoren

geschreddert. Es ging aber auch genau

um diese Dekadenz. Nichts war für die

Ewigkeit gedacht. Unabhängigkeit und

das Leben im Jetzt waren wichtige

Aspekte.

Du wolltest mit POMMES FRITES

STATT KÖRNER in 5 Minuten 15

Minuten Länge Aspekte von

Konsumkritik bis Kriegsangst

aufgreifen. Wie ist dir das gelungen?

Es war mein erster Film, und

Gesellschaftskritik fand noch eher auf

abstrakter und persönlicher Ebene statt.

Es war meine eigene Sicht auf die

Mauerstadt, Brandmauern und

Abrissgebäude inbegriffen. Pommes aß

ich vorzugsweise nachts um vier Uhr in

der „Futterkrippe“ nach Besuch des

„Risiko“.

„Pommes Frites statt Körner“ stand

ursprünglich auf dem Badge, den ich

selbst gebastelt und auf meiner Jacke

installiert hatte, zusammen mit einem

Wurst-Badge. Das war eine dünne

Scheibe Salami, die schon nach ein paar

Tagen in allen Regenbogenfarben

schillerte und viele Menschen auf

Distanz hielt. Es war zugleich auch eine

Rebellion gegen meine Alternativen-ÖKO-

Vergangenheit.

Der Lauf an der Mauer entlang war

Ausdruck von ungezähmter Energie, aber

auch von einem Rennen im Kreis in

dieser Inselstadt, wo jede

Himmelsrichtung Osten war.

Etliche Jahre später gab es übrigens eine

sehr ähnliche Szene in „Lola rennt“, die

dann einer spiralförmigen Struktur folgt.

Manches wurde auch Zwängen

unterworfen und musste dadurch

verändert werden. Nach dem Erscheinen

der DVD „Alle Macht der Super 8“

schickte mir ein Musikwissenschaftler

vom anderen Ende der Welt eine Mail, in

der er mich fragte, ob die Musik zum

51


Mauerlauf in „Pommes statt Körner“

wirklich die Originalmusik wäre. Als ich

ihm erklärte, dass das Originalstück von

„Richard Hell And the Voidoids“ aus

rechtlich-finanziellen Gründen nicht auf

der DVD erscheinen konnte, sondern ein

Freund aus Berliner Tagen (Fred

Heimermann) dafür extra einen neuen

Track eingespielt hatte, war sein

musikhistorisches Bild wieder

zurechtgerückt. Konsumkritik bis

Kriegsangst ist mir in „Normalzustand“

sicherlich direkter gelungen.

Wo du das schon erwähnst. Deine

Collage in Normalzustand führt diese

Aspekte weiter aus. Zu Fehlfarbens

„Apokalypse“ schneidest du

Alltagsszenen zusammen und

experimentierst mit Kontrasten und

Belichtungen. Tatsächlich warst du

aber von Peter Heins Text inspiriert.

Wie fanden denn Peter und

Fehlfarben dein Ergebnis zum ersten

Video einer ihrer Songs?

Das war tatsächlich mein erster

„Film zur Musik“, nun auf einem einzigen

Song basierend. Er war kein Produkt zur

Vermarktung wie bei Queen oder

Michael Jackson, sondern sollte die

Konsum-, Finanz- und Kriegskritik durch

Bilder und Musik unterstreichen. Ich saß

nächtelang am Küchentisch und habe die

einzelnen Kader ausgezählt, um genau

nach Takt und Text zu schneiden. Ich

hatte mittlerweile sehr viel Material

gefilmt und auch bei Freund*innen

Filmreste aus dem Müll geholt. Daraus

entstand dann diese apokalyptische

Collage.

Keine Ahnung, wie Fehlfarben das fand.

Ich habe nie ein Feedback von ihnen

erhalten. Hat mich damals aber auch

nicht interessiert.

Ebenso ging das mit DAF‘s Mussolini und

meinem Film

„Gehindieknieunddrehdichnichtum“, bei

dem ich für das Ende mit der Musik von

„Saal 2“ („ich habe Angst vor diesem

Tanz“) jeden einzelnen Kader in rot und

grün bemalt habe, um den Flicker zu

erzeugen.

Auch deren Musik habe ich eher im

stillen Einvernehmen verwendet (damals

ging das noch einfacher), denn beide

Filme liefen ganz oft öffentlich, u. a. auch

im Tempodrom, wo auch Gabi Delgado

von DAF zugegen war.

Was war denn für dich der

Soundtrack der frühen 80er Jahre

und hattest du auch mal überlegt,

Bands live on stage mit Super-8 zu

filmen?

Es gab für mich keinen speziellen

Soundtrack, sondern eine Melange aus

Fehlfarben, Plan, Neubauten, Mania D,

Thomas Voburka, afrikanischer Musik,

Mönchsgesängen und vielen in den

Hintergrund geratenen Underground-

Bands.

Bei unserer Band „Notorische Reflexe“

habe ich manchmal on stage gefilmt,

aber auch etliche Konzerte anderer

Bands mit Super 8 mitgefilmt. Für den

„1.Futurologischen Congress“ habe ich

mal für eine Tour Filme produziert, mit

„Matador“ zusammen einen Film und

eine Performance gedreht, aber die

„Genialen Dilletanten“ im Tempodrom

habe ich zusammen mit Adi Schröder mit

Video statt mit Super-8 dokumentiert,

weil Adi eine Videokamera geliehen

hatte, die viel länger aufnehmen konnte

als diese 3 Minuten dauernden Super 8-

Filme.

Hast du heute noch eine Super8-

Kamera, mit der du filmst oder ist

diese Phase endgültig abgehakt?

Abgehakt. Heute gibt es das

Mobile. Das ist noch kompakter und hat

den Ton gleich mit drin.

https://www.yanayo.de

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Penelope Spheeris

Spheeris, die oft als Rock'n'Roll-Anthropologin bezeichnet

wird, lebt derzeit in Los Angeles.

Als Kind lebte Penelope Spheeris mit ihrer Familie in

verschiedenen Wohnwagenparks in Südkalifornien. Ihre

Teenagerjahre verbrachte sie in Orange County und schloss die

Westminster High School mit dem beängstigenden Prädikat

„höchstwahrscheinlich erfolgreich“ ab.

Sie arbeitete als Kellnerin und finanzierte sich so ein

Filmstudium. Sie erwarb an der UCLA einen Master of Fine Arts

in Theater Arts und arbeitete als Cutterin und Kamerafrau,

bevor sie 1974 ihre eigene Firma gründete. ROCK ‚N’ REEL war

die erste Produktionsfirma in Los Angeles, die sich auf

Musikvideos spezialisierte. In den siebziger und achtziger

Jahren produzierte, inszenierte und bearbeitete sie Videos für

große Bands und beendete ihre Musikvideoarbeit mit dem für

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einen Grammy nominierten Bohemian Rhapsody Video für WAYNE'S

WORLD.

The Decline of Western Civilization I

Spheeris' Spielfilmdebüt war 1979 der Dokumentarfilm

über die Punkszene von Los Angeles, THE DECLINE OF

WESTERN CIVILIZATION I, der von der Kritik begeistert

aufgenommen wurde.

Die LAPD sperrte den Hollywood Boulevard und der

Polizeichef Daryl Gates schrieb einen Brief, in dem er

verlangte, dass der Film in L.A. nicht mehr gezeigt werden

dürfe. Der erste Teil von Decline ist ein abendfüllender Blick

auf einige der ersten Punkbands von Los Angeles im Jahr

1979 und gibt einen Einblick in das Chaos der Moshpits, der

Posen auf der Bühne und der rohen Musik, die die breite

Öffentlichkeit gerade in Angst und Schrecken versetzte. Ein

wesentliches Merkmal war sicherlich die Gewalt vor, auf

und hinter Bühne. Die hier vertretenen Bands sind Germs, Black Flag, Fear,

Circle Jerks, X, Catholic Discipline und Alice Bag Band, zusammen mit

Beiträgen über das Slash Magazine und Clubbesitzer wie Bill Gazzarri. Zwischen

den hektischen Live-Auftritten der Bands, die oft mit Untertitel versehen sind,

spricht Spheeris mit den Bands darüber, wie sie Geld verdienen, mit Fans darüber,

was ihre Musik bedeutet, und darüber, ob die Leute Angst vor ihnen haben, wenn

sie die Straße entlanggehen. Der Dokumentarfilm ist, wie die Szene, die er

dokumentiert, blutig, sexistisch und rassistisch. Bands sprechen davon, dass sie

Mädchen wie Sixpacks an ihren „Löchern“ festhalten, der Sicherheitsdienst des

Whiskey a Go Go berichtet von Zuschauer*innen, die versuchen, Exene Cervenka

– Sängerin von X – das Kleid vom Leib zu reißen, Skinheads klappern rassistische

Tiraden ab. Es ist eine düstere und bedrohliche Blaupause junger, weißer,

männlicher Aggression; Kerle, die aufeinander einschlagen. „Es ist ja nicht so,

dass ich rausgehe und einen Juden umbringe“, sagt ein Punk-Teenie, der ein T-

Shirt mit einem Hakenkreuz trägt. „Aber vielleicht bringe ich einen Hippie um“,

schnaubt er.

Decline ist auf einer Ebene ein gut inszeniertes Dokument der aufkeimenden

Punkszene von L.A., von Darby Crash (Germs), der sich durch „Lexicon Devil“

schlurft, bis hin zu den Leser*innenbriefen an das Slash-Magazin, die zeigen, wie

die Welt den Punk wahrzunehmen begann. Spheeris lässt die Kamera auf den

Gesichtern und Gedanken verweilen und gibt uns ein umfassendes Gefühl dafür,

welche Art von Kids zu diesen Spektakeln pilgerten. Aber dieser Film ist auch eine

unfreiwillige Komödie. Und das liegt zum großen Teil an Spheeris' Schnitt und der

Tatsache, wie ernst die Fans Punk nehmen, aber auch wie ernst die Musiker*innen

ihn nehmen.

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THE DECLINE OF WESTERN

CIVILIZATION PART II: THE METAL YEARS

The Decline of Western Civilization Part II: The Metal Years

ist ein Dokumentarfilm von 1988. Der Film wurde zwischen

August 1987 und Februar 1988 gedreht und zeigt die

Chronik der Heavy-Metal-Szene in Los Angeles in den

späten 80er Jahren. Auch der zweite Film ihrer Trilogie

skizziert das Leben in Los Angeles zu verschiedenen

Zeitpunkten aus der Sicht aufstrebender Musiker*innen.

Der Film enthält Interviews mit und über Aerosmith, Kiss,

Alice Cooper und Ozzy Osbourne. Es zeigt Auftritte von

Faster Pussycat, Lizzy Borden, MOTÖRHEAD und

Megadeth. Spheeris' THE METAL YEARS wirft einen

detaillierten Blick auf kreischende Fans, verzweifelte

Groupies und Möchtegern-Rockstars, die so weit gehen, mit Selbstmord zu

drohen, wenn sie es nicht „schaffen“. Der Film schildert auch die harte Realität

des Musikgeschäfts, in dem der Traum, ein Star zu werden, unerreichbar bleibt.

The Decline of Western Civilization III

The Decline of Western Civilization III ist der Abschlussfilm

der Triologie aus dem Jahr 1998, der den Lebensstil von

obdachlosen Teenagern schildert.

Spheeris gab später an, dass der Film von 1998 eine

tiefgreifende Wirkung auf sie hatte. Sie begann eine

Beziehung mit einem Mann, den sie bei den Dreharbeiten

zu dem Film kennenlernte, meldete sich als Pflegeeltern an

und nahm schließlich fünf Kinder in Pflege.

DECLINE III liefert ein Einblick in das Leben der Hardcore-

Punkrock-Fans in Los Angeles. Das 90-minütige Werk, das

im Laufe von 13 Monaten gedreht wurde, ist das bisher

eindringlichste Werk.

Während sich der erste Teil der Trilogie mit der Entstehung eines neuen

Musikgenres beschäftigte, konzentriert sich Part III auf die Lebensweise und den

Hintergrund der Fans. Viele von ihnen sind obdachlos oder leben in besetzten

Häusern und verlassenen Gebäuden. Sie erwecken tiefe Empathie und

repräsentieren eine Subkultur, die mensch nicht ignorieren kann. DECLINE III

taucht in diese Subkultur ein und zeigt, dass Johnny Rottens „No Future“-Referenz

eine neue Bedeutung bekommen hat. Diese Szenen erinnern stark an Interviews

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mit Quebec Street Punks (Marcel, Manon) aus dem Dokufilm „Another state of

mind“ 1 , die das Leben auf der Straße glorifizieren.

Der Film ist eine seltsame Mischung aus Komödie und Tragödie, die Interviews mit

treuen Fans, nachdenklich stimmende Berichte von Kenner*innen der Szene und

Live-Auftritte von Punk- und HC-Bands miteinander verbindet: Final Conflict,

Litmus Green, Naked Aggression und The Resistance. Keith Morris (Circle

Jerks), Rick Wilder (Mau Maus) und Flea (Red Hot Chili Peppers) vergleichen die

ursprüngliche Bewegung der späten siebziger Jahre mit dem Punkrock von heute.

Unvergessliche Charaktere wie Why-Me?, Hamburger, Troll, Eyeball und Squid

zeichnen ein selten gesehenes Bild von Leben und Tod auf den Hinterhöfen

Hollywoods.

Suburbia

Immer noch fasziniert vom Thema Punkrock, schrieb und

inszenierte Penelope 1983 Suburbia, auch bekannt als

Rebel Streets und The Wild Side, ihren ersten narrativen

Film. Es ist eine beunruhigende und in gewisser Weise

prophetische Geschichte über rebellische, obdachlose

Kinder, die in verlassenen Häusern hocken, versuchen,

neue Familien zu gründen und sich gegenseitig zu

beschützen.

Der Film gewann den ersten Platz auf dem Chicago Film

Festival. Fast 25 Jahre später sollte ihr Dokumentarfilm THE

DECLINE OF WESTERN CIVILIZATION, PART III auf

unheimliche Weise die Ereignisse widerspiegeln, die sie in

hier bereits aufzeichnete.

Das Interview

»Ich komme aus einem Haushalt, in dem es die ganze Woche blutig

zuging.«

Wie bist du auf den Titel des Films

„The Decline of Western Civilization“

gekommen?

Wir alle, die wir beim Slash

Magazine arbeiteten, saßen eines Abends

auf dem Dach des Büros und tranken Bier.

Ich war etwa zur Hälfte mit den

Dreharbeiten fertig, und wir begannen

darüber zu sprechen, wie ich den Film

betiteln würde. Wir waren uns alle einig,

dass er etwas mit dem Respekt vor der

Entropie zu tun haben sollte. Wir sprachen

über Unordnung und die Störung des

Mainstreams.

1 Another State of Mind ist ein Dokumentarfilm, der im Sommer 1982 gedreht wurde und das Abenteuer zweier

Punkbands, Social Distortion und Youth Brigade, auf ihrer Tour durch Nordamerika und Kanada aufzeichnet.

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Als ich nach Hause fuhr, kam mir der

Gedanke, dass der Film „Der Untergang

der westlichen Zivilisation“ heißen sollte,

was eine Ableitung des Buches von

Oswald Spengler mit dem Titel „Der

Untergang des Abendlandes“ ist.

Penelope Spheeris 2013: Fotocredit: Suzanne

Allison

Wie ist es dir gelungen, so viele Bands

für diesen Dokumentarfilm zu

gewinnen?

Im Grunde waren es einfach Bands, die ich

kannte und von denen ich ein Fan

geworden war. Ich habe mir Mühe

gegeben, die Germs zu filmen, weil sie in

jedem Club Hausverbot hatten. Ich musste

ein Proberaumstudio mieten, um sie zu

filmen. Und ich wusste wirklich, dass ich

Black Flag brauchte, denn wenn man

eine Band nennen müsste, mit der in

Südkalifornien alles begann, dann waren

sie es im Polliwog Park in Hermosa Beach,

Kalifornien.

Ich bin dem Sänger Keith Morris von

Circle Jerks ewig dankbar, weil er mir

geholfen hat, die Show zu organisieren,

die ich im Fleetwood – einem Club in

Redondo Beach, CA – gefilmt habe, wo er

im selben Bühnen-Programm wie Fear

auftrat.

Warum hast du nach der Punkrock-

Dokumentation „Decline of Western

Civilization“ mit „Suburbia“ einen

erzählerischen Punkrock-Film

gemacht?

Als ich den ersten „Decline“

gemacht habe, konnte ich keine Kinos

bekommen, das ganze Konzept wurde so

missverstanden. Alle hatten solche Angst,

dass sie den Film nicht buchen wollten.

Ich weiß noch, wie ich mich mit den

Gebrüdern Mann zusammensetzte, oben

am Hollywood Boulevard, sie hatten das

Mann Chinese, und sie sagten: „Niemand

wird sich einen Dokumentarfilm in einem

Kino ansehen, und niemand wird sich eine

Punkrock-Dokumentation ansehen. Wenn

du willst, dass die Leute einen Film über

Punkrock sehen, musst du einen

narrativen Film schreiben, der eine

richtige Geschichte hat, eine Handlung,

einen Anfang, eine Mitte und ein Ende.“

Der erste Decline konnte damals nicht

veröffentlicht werden, aber kürzlich wurde

er in das nationale Filmregister der

Library of Congress aufgenommen. Es hat

nur 40 Jahre gedauert! Die Leute haben es

endlich verstanden. Flea bezeichnete

„Suburbia“ als die Punkrock-Bibel, und die

Kids kennen es jetzt überall.

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„Suburbia“ ist ein ziemlich düsterer

Film...

Ich habe nur meine eigenen

Probleme verarbeitet. Viele der

Geschichten sind Geschichten, die ich

selbst erlebt habe oder die meine

Freund*innen erlebt haben. Ich habe sie

einfach miteinander vermischt,

aufgewühlt und eine andere Sache daraus

gemacht. Die Mutter von Darby Crash

hatte vor Darby ein anderes Kind verloren,

das eine Überdosis genommen hatte, so

wie Darby selbst. Anstatt einen

Krankenwagen oder die Polizei zu rufen,

legten sie den jungen Mann in das Auto

der Mutter, und sie kam am Morgen

heraus, und so fand sie ihren Sohn.

Für die Rolle des Chris Pedersen habe ich

mich zuerst an Henry Rollins gewandt. Er

wäre perfekt gewesen. Rollins erzählte

mir in einer Talkshow, dass Black Flag

ihm sagten, wenn er den Film machen

würde, könnte er nicht mehr in der Band

sein. Also habe ich endlich aufgehört,

sauer zu sein, dass er es abgelehnt hat.

Wie war es, mit Roger Corman zu

arbeiten, der „Suburbia“ produziert

hat?

Er war sehr entgegenkommend, es

gefiel ihm, dass ich bereits die Hälfte des

Geldes hatte. Roger gab mir zwei oder

drei abgetippte Seiten mit Vorschlägen

darüber, wie man eine gute Regisseurin

ist.

Was stand dort?

„Setze dich so oft wie möglich auf

deinen Regiestuhl.“ „Drehen Sie immer

zuerst auf der einen Seite des Raumes und

drehen Sie dann die Kamera um und

drehen Sie auf der anderen Seite.“ Das

waren eigentlich gute Vorschläge, Roger

wusste, wie man Filme macht.

Nachdem ich „Suburbia“ gedreht hatte,

nahm er mich mit in sein Studio in

Venedig und sagte: „Ich muss dir dieses

Raumschiff zeigen, das wir gemacht

haben, denn wenn du einen Sci-Fi-Film

machen willst, können wir ihn hier

machen.“ Und ich dachte: „Du verstehst

mich überhaupt nicht, Roger. Ich stehe

nicht auf Sci-Fi!“

Woher kam das Interesse und die

Inspirationen zu Decline of Western

Civilization?

Ich glaube, ich habe einen sehr

guten Instinkt. Ich weiß, wann etwas

wichtig ist und bewahrt werden muss, und

ich glaube, das ist der Grund, warum ich

den ersten Film Decline of Western

Civilization gemacht habe. Ich habe

hauptsächlich an Rock ‚n‘ Reel

Musikvideos gearbeitet. Ich wusste, wie

man Musik filmt. Zu dieser Zeit hatte ich

so viel Übung in diesem Bereich.

Ich ging in diese Clubs wie The Mask,

Blackies, Club 88, Cathay de Grand and

the Cuckoo's Nest – und ich hatte die

Ausrüstung von der Arbeit an den

Musikvideos herumliegen und dachte:

‚Warum fange ich nicht einfach an, dieses

Zeug zu drehen? Das ist wichtig.‘

Niemand sonst hat zu der Zeit gefilmt. Ich

versuchte, Geld für den Film aufzutreiben,

also nahm ich ein paar Acht-Millimeter-

Kameras mit zu einem Ort, an dem die

Germs probten, um sie dem Finanzier zu

zeigen. Er sagte: „Nun, ich weiß es nicht.

Es war ziemlich verrückt, aber ich denke,

wir können es machen. Ich wollte einen

Pornofilm machen, aber ich denke, wir

können auch Punkrock machen.“ Die

Leute fragen: „Warum hast du die Bands

gedreht, die du gedreht hast?“ Nun, weil

sie alle im Fleetwood spielten. Ich meine,

ich mag sie alle. Ich mag mehr als das,

aber Film ist teuer und wir haben den

Film mit null Dollar Budget gedreht. Ich

musste einfach aufpassen, was ich drehte,

und ich konnte nicht zu viel drehen.

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Du hast den Film ja kurz vor Darby

Crashs Tod gedreht. Es hieß, du

hattest ihn bekocht?

Ich habe den Film in den Jahren '79

und '80 gedreht, und Darby Crash von The

Germs starb am 7. Dezember 1980, am

selben Tag, an dem John Lennon starb. Es

war folgendermaßen: Ich sagte: „Darby,

wie wäre es, wenn ich ein Interview mit

dir machen würde?“ Er sagte: „Oh Mann.

Ich bin gerade aufgewacht. Ich habe einen

ziemlichen Kater. Ich fühle mich nicht

danach.“ Ich sagte: „Nun, komm schon.

Ich habe die Ausrüstung.“ Er sagte:

„Kannst du was zu essen mitbringen?“ Ich

sagte: „Wie wäre es, wenn ich Speck und

Eier mitbringe und du dir dein eigenes

Frühstück machst?“ Er sagt: „Das ist mir

egal. Bring einfach etwas zu essen mit und

wir drehen, was du willst.“ So ist das

passiert.

Was war dir denn wichtig, mit The

Decline Of Western Civilzation

auszudrücken?

Man zwingt dem Film nicht seine

eigene Meinung auf. Das ist es, was ich

immer versucht habe zu tun. Das ist der

Untergang der westlichen Zivilisation. Das

ist Punkrock. Magst du es? Na schön.

Wenn du es nicht magst, auch gut. Habt

eine Meinung dazu, ich werde euch meine

nicht sagen.

Und was mochtest du an der Punk-

Szene?

Was ich an der Punk-Szene mochte,

ist eigentlich dasselbe, was ich an der

Metal-Szene mag: Man kann nicht

gleichzeitig wütend und deprimiert sein,

weil es dieselbe Emotion ist. Es war ein

Ausdruck von Frustration und Wut. Ich

mochte das, denn solange niemand

verletzt wird, hilft es wirklich, zu sagen,

was man denkt und alles rauszulassen. Die

Leute fragen immer: „Hattest du keine

Angst bei den Dreharbeiten zu den

Filmen?“ Ich antworte: „Nein, ich hatte

keine Angst. Ich komme aus einem

Haushalt, in dem es die ganze Woche

blutig zuging.“ Selbst als ich Decline of

Western Civilization III drehte, war ich

schon viel älter. Ich drehte immer mit

einer Kamera, und ich erinnere mich, dass

ich beim Drehen dachte: ‚Weißt du was,

das ist das totale Chaos, das totale Chaos.

Leute werden verletzt, autsch, hoppla, sei

vorsichtig, aber es ist belebend.‘ Ich habe

es einfach geliebt.

https://www.penelopespheeris.com/

Filmografie (Auswahl):

• 1979: Aus dem Leben gegriffen

(Real Life)

• 1981: The Decline of Western

Civilization

• 1984: Suburbia

• 1985: Blind Rage (The Boys

Next Door)

• 1986: Hollywood Cop (Hollywood

Vice Squad)

• 1987: Dudes – Halt mich fest,

die Wüste bebt! (Dudes)

• 1988: The Decline of Western

Civilization Part II: The Metal

Years

• 1990: Thunder and Mud

• 1992: Wayne’s World

• 1998: The Decline of Western

Civilization Part III

• 1998: The Thing in Bob's Garage

• 2001: We Sold Our Souls for

Rock ‚n‘ Roll

• 2003: The Crooked E: The

Unshredded Truth About Enron

• 2005: The Kid & I

• 2008: Gospel According to Janis

• 2011: Five (Fernsehfilm)

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More Punk Movies

Blank Generation (1980)

Regisseur Ulli Lommel (1944–2017) war von Anfang an Mitglied der Fassbinder-Familie,

emigrierte in den 80er Jahren als Trashkino-Akteur in die USA. Den Einstand lieferte er mit Andy

Warhol an der Seite mit dem Rock’n’Roll-Western COCAINE COWBOYS und eben BLANK

GENERATION, einer stylish wie atmosphärischen Liebesphantasmagorie auf das Punkphänomen.

Eine Pariser TV-Journalistin heftet sich an die Fersen des Up-and-Coming-Rockstars Richard Hell

und wird verschlungen vom Underground rund um den Szeneladen CBGB. Die feisten Sounds der

Voidoids, die Straßen von Manhattan – nie waren sie so schön wie auf diesen inkognito von Ed

Lachman (Werner Herzog, Ulrich Seidl) gedrehten Kinogemälden.

Bomb City (2017)

„Destroy everything!“

„Bomb City“ erzählt die Geschichte von zwei jugendlichen Cliquen, die Ende der 90er in Texas

aneinandergeraten. Das auf einer wahren Begebenheit beruhende Drama hält sich nicht

sonderlich mit differenzierter Gegenüberstellung auf, das Herz schlägt hier für die lauten Punks,

nicht die arroganten High-School-Sportler*innen. Doch der starke Kontrast macht im

Zusammenspiel mit einem überzeugenden Hauptdarsteller die Wirkung des Films umso größer.

Unterstützt von einer feinen Leistung des Hauptdarstellers Dave Davis ist Bomb City ein

aufrichtiges und leidenschaftliches Plädoyer für Toleranz und Gerechtigkeit.

Trailer: https://youtu.be/Mqgrp8B6D34

Chaostage – We are the punks! (2008)

Chaostage – We Are Punks! (mit u. a. Helge Schneider, Ralf Richter, Ben Becker, Martin

Semmelrogge, Claude-Oliver Rudolph, Rolf Zacher, Uwe Fellensiek, Stipe Erceg, Christoph

Letkowski und Henriette Müller) ist „Deutschlands erster relevanter Punkfilm“ des Regisseurs

Tarek Ehlail. Der Episodenfilm beruht auf dem Roman Chaostage des Zap-Herausgebers Moses

Arndt. Dabei mischt Tarek einen fiktionalen Erzählstrang um zwei Punk-Kumpels mit

dokumentarischem Material, lässt den Interviewpartner*innen aber Raum für kurze Statements.

Der Film sollte laut Tarek in einem Interview mit Jan Sedelies der Peiner Allgemeinen

Zeitung‚ entweder mit einem Augenzwinkern oder mit drei Promille geschaut werden.

Kompletter Film (engl. Untertitel): https://youtu.be/kM1wuxEoT7Y

Class of '84 (1982)

Eine amerikanische Highschool im Jahr 1984: Lehrer und Rektor sind längst keine Autorität mehr.

Der 16-jährige Stegman und seine Punk-Gang haben die Führung übernommen und herrschen

mit Gewalt und Gemeinheit. Als Musiklehrer Andrew Norris an die Schule kommt, will er dem

Treiben friedlich ein Ende setzen – jedoch ohne Erfolg. Schließlich steht sein Auto in Flammen

und ein Schüler kommt zu Tode. Nun ist es an der Zeit, sich zu wehren. Der Titelsong „I am the

future“ wurde von Alice Cooper vertont. Der Film zeigt auch eine Performance der kanadischen

Punkband Teenage Head. Der Filminhalt ist roh, anstößig, vulgär und gewalttätig, er beinhaltet

auch Merkmale von Talent und Witz und wurde von Leuten gespielt und inszeniert, die darauf

bedacht waren, ihn zu etwas Besonderem zu machen.

Kompletter Film (englisch mit spanischen Untertiteln): https://youtu.be/wb0MXivyeuA

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Control (2008)

Control ist ein biografischer Film über Ian Curtis (1956–1980), Sänger der englischen Post-Punk-

Band Joy Division. Er basiert auf dem Buch Touching from a Distance von Curtis’ Witwe Deborah

und ist das Spielfilm-Regiedebüt des zuvor vor allem als Musikfotograf mit einer eigenen

Bildsprache in Erscheinung getretenen Niederländers Anton Corbijn. Über zwei Stunden wird das

Leben von Ian Curtis skizziert. Die Filmmusik stammt von „New Order“ oder von der Band „Joy

Division“ selbst. Mit der Verfilmung des Lebens von Ian Curtis konnten sechs Auszeichnungen

und eine Nominierung erreicht werden. Dabei handelt es sich um den Preis als den besten

europäischen Film auf den Filmfestspielen von Cannes, gleichzeitig erhielt er dort die Caméra

d’Or – Mention spéciale.

Trailer: https://youtu.be/POR9sAORhUo

Dorfpunks (2009)

Dorfpunks ist ein deutscher Spielfilm von Lars Jessen. Die gleichnamige Romanvorlage schrieb

sein Freund Rocko Schamoni. Regisseur Lars Jessen folgt dem Autor Rocko Schamoni sehr

respektvoll durch seinen Roman, der autobiografische Elemente enthält und von dem Bedürfnis

erzählt, sich Ausdruck zu verschaffen, sei es als Musiker oder als Schriftsteller. Lars Jessens Film

ist insgesamt zu banal. Er ist nicht genau genug, um Einblick in die merkwürdigen Falten der Zeit

zu gewähren, und nicht komisch genug für eine Farce. Dorfpunks wird weder dem Punk noch

dem Dorf gerecht. Axel Prahl gelingt es, eine glaubwürdige Figur darzustellen, wenn er als

Kneipier wortkarg, aber mit ausladender Geste ein Fenster in die weite Welt der Musik öffnet,

auch jenseits des Punk.

Ganzer Film: https://youtu.be/IL1CLz_Wu_E

Green Room (2015)

In Jeremy Saulniers Hinterland-Überlebens-Thriller Green Room gerät eine Punkband mit einer

Horde Neonazis aneinander und muss bald schon um ihr Überleben kämpfen. Das anfängliche

Kammerspiel entwickelt sich dabei zu einer gewaltaffinen Hetzjagd.

Die Punk-Band The Ain’t Rights, bestehend aus drei Männern und einer Frau, ist finanziell am

Ende. Seit Wochen erfolglos auf Tour leben die Mitglieder in einem muffigen Bus am

Existenzminimum. Auf den letzten Drücker gelingt es der Band, einen Gig in einem abgelegenen

Schuppen an Land zu ziehen. Doch schon mit ihrem ersten Cover-Song, Nazi Punks Fuck Off der

Dead Kennedys, scheinen es sich die Punks mit dem anwesenden Publikum verscherzt zu haben,

denn die aufgebrachte Menge besteht überwiegend aus Neonazis. Obwohl sich die Lage vorerst

wieder beruhigt, nimmt der Abend ein jähes Ende, als die Musiker*innen durch eine

verhängnisvolle Verkettung diverser Ereignisse die Leiche einer jungen Frau inklusive deren

Mörder im Bandraum entdecken. Im Hinterzimmer ist auch eine ideologische Feindin mit

eingesperrt: Ein übrig gebliebenes Skin-Mädchen, das erst klarstellen muss, dass sie für die

Skinheads draußen genauso als ungewollte Zeugin gilt. Während die Band-Mitglieder darauf

insistieren, dass die Polizei gerufen wird, kontaktieren die Clubbetreiber derweil den Barbesitzer

Darcy Banker (Patrick Stewart), der wiederum ganz andere Pläne hat, um das Problem aus der

Welt zu schaffen. Ähnlich fatalistisch wie das Szenario gestalten sich entsprechend auch die

Dialoge der Protagonist*innen und sind dabei von jeglicher ironischen Brechung befreit, was

eben auch die eigentlich so simple Handlung ziemlich eindringlich und intensiv macht.

Trailer: https://youtu.be/Q8XSARX3DQg

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How to Talk to Girls at Parties (2017)

„I can come with you, to the Punk. I have 48 hours!“ (Elle Fanning)

How to Talk to Girls at Parties basiert auf einer Kurzgeschichte des Autors Neil Gaiman aus dem

Jahr 2006. Im Vorfeld wurde der Film als Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen Punks und Aliens

beschrieben. Der Film spielt im Londoner Vorort Croydon im Jahr 1977. Die Queen feiert ihr

Thronjubiläum, während rebellische Teenager*innen den Punk als Ausweg entdecken. Eines

Nachts geraten Enn und seine Kumpels in eine seltsame Latex-Aktionskunstparty, die in Wahrheit

von Aliens auf Klassenfahrt gefeiert wird. Wild und bunt und gut gelaunt geht es zu in dieser

Edeltrash-Perle. Am Ende kommt es auf den Straßen von London zur Konfrontation zwischen

Punks und Aliens. Der Film macht riesig Spaß, dürfen doch alle mal ihre üblichen Images über

Bord werfen und einfach Punk sein. Nicole Kidman als Punk-Königin fluchen zu sehen, während

sie ihre akkumulierte weibliche Weisheit an andere weitergibt und dabei Schnaps säuft und

raucht, ist wahrlich ein Genuss.

Trailer: https://youtu.be/nWzHaRM8jeo

Jubilee (1978)

Königin Elizabeth I. reist ins späte 20. Jahrhundert. In Großbritannien entdeckt sie eine

deprimierende Landschaft, in der das Leben ziellos vor sich hin läuft. Drei Post-Punk-Mädchen

fristen ihr Dasein und töten hin und wieder aus Langeweile Menschen. Mit Jubilee kanalisierte

der britische Filmemacher Derek Jarman politischen Dissens und künstlerischen Wagemut in eine

Mischung aus Geschichte und Fantasie, musikalischem und filmischem Experimentieren, Satire

und Wut, Mode und Philosophie. Jubilee vereint viele kulturelle und musikalische Ikonen der Zeit,

darunter Toyah Willcox, Little Nell, Wayne County, Adam Ant und Brian Eno (mit seiner ersten

Original-Filmmusik), um eine einzigartige Vision zu schaffen. Seiner Zeit voraus und oft

erschreckend genau in seinen Vorhersagen, ist der Film ein faszinierendes historisches Dokument

und ein großartiges Werk der Filmkunst.

Trailer: https://youtu.be/EmU1s9FA8J4

London Town (2016)

In einem Londoner Vorort der späten 70er Jahre hat der 14-jährige Shay (Daniel Huttlestone) es

nicht leicht: Mutti ist in eine Hippie-Kommune gezogen und er muss neben seinen schulischen

Verpflichtungen nun auch den Haushalt regeln und sich um seine jüngere Schwester Alice (Anya

McKenna-Bruce) kümmern. Als Shay durch die ihm noch unbekannte Teenagerin Vivian (Nell

Williams) an die Punkband The Clash herangeführt wird, ist es um ihn geschehen: Die Musik

spricht zu ihm und gibt ihm die nötige Kraft, seinen harten Alltag zu bewältigen. Und wenn das

nicht reicht, dann gibt es noch Joe Strummer (Jonathan Rhys Meyers), den Sänger von The Clash,

der dem Jungen bei zufälligen Begegnungen die richtige Menge an „punkiger“ Weisheit mit auf

den Weg geben kann. Durch Jonathan Rhys Meyers glaubwürdige Performance als Clash-

Frontmann Joe Strummer kommt ein wenig frischer Wind in die Sache, doch auch hier limitiert

das Drehbuch durch ebenso halbgare wie halbherzige Sprüche dessen Einfluss auf die

Geschichte. So erfasst das Coming-of-Age-Drama vor historischem Hintergrund die Frontlinien

zwischen Thatcherismus, Protestmusik, Arbeitslosigkeit und Ausländerfeindlichkeit nur

oberflächlich.

Kompletter Film (deutsch): https://youtu.be/5Hg6OW230DA

OI! Warning (1999)

Das Spielfilmdebüt der Brüder Benjamin und Dominik Reding weist auf den Aspekt der Gefahr

hin, dem innerhalb der Geschichte über einen Jugendlichen, der bei den Dortmunder Skinheads

andockt, eine tragende Bedeutung zu und erreicht eine brisante soziokulturelle Relevanz.

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Janosch flieht vor seiner Mutter zu seinem Idol, dem Skin, Kickboxer und Oi-Konzerte-Abtänzer

Koma und nistet sich bei ihm am Dortmunder Stadtrand ein. Er wird in die Skin-Szene eingeführt,

lernt aber auch den netten Punk Zottel kennen und lieben. Schließlich muss er sich zwischen

Koma und Zottel entscheiden. Als er sich schließlich für Zottel und gegen Koma entscheidet, hat

dies furchtbare Konsequenzen.

Die Kritiken über den in Schwarzweiß gedrehten Coming-ogf-age-Film, der auf einigen

internationalen Filmfestivals aufgeführt und ausgezeichnet wurde, fielen überwiegend

beeindruckt bis begeistert aus, womit nicht zuletzt der künstlerische Anspruch der Regisseure

honoriert wurde, der sich in ihrem teilweise experimentellen Umgang mit Bildern und Tönen

manifestiert.

https://youtu.be/hIGRivviSCE

Repo Man (1984)

Not just a job, it's an adventure.

„Repo Man“ ist ein Film von Alex Cox (Sid & Nancy), der Sci-Fi mit Road-Movie und Krimi-Komödie

verbindet. Dies ist die Art von Subversion, die Hollywood vor ein Rätsel stellt, weil Alex Cox keiner

bekannten Formel folgt und sich nicht an die Regeln hält.

Vorstadtpunk Otto (Emilio Estevez) braucht Kohle. Zufallsbekanntschaft Bud (Harry Dean Stanton)

bietet ihm einen Job als Repoman: Otto soll säumigen Ratenzahler*innen die Autos klauen. Ein

64er Chevy allerdings bereitet Bud und Otto besondere Probleme. Dieser wird von einem

verrückten Wissenschaftler gefahren, der in seinem Kofferraum tote und radioaktiv verstrahlte

Aliens transportiert. Natürlich sind auch mehrere Geheimorganisationen und Konkurrenzfirmen

hinter dem Wagen her, der durch die Strahlung immer gefährlicher wird. Der britische Regisseur

bannte die Null-Bock-Attitüde der 80er-Jahre-Jugend auf Zelluloid. Sein Erstlingswerk genießt bis

heute Kultstatus. „Repo Man“ hat nicht viel gekostet, geht Risiken ein, wagt unkonventionelles, ist

lustig und hat ein tollen Soundtrack mit Iggy Pop (Titelsong), Black Flag (TV Party), Suicidal

Tendencies (Institutionalized), Circle Jerks (When the shit hits the fan), Plugz (Reel Teen), FEAR

(Let's have a war) u. a.

Trailer: https://youtu.be/DLGrXGEMOSo

Richy Guitar (1984)

„Der Film mit den Ärzten“. So wurde Richy Guitar einst beworben. Richy (Farin Urlaub) träumt

von einer Karriere als erfolgreicher Gitarrist. Doch sein Talent im Umgang mit dem 6-

Saiteninstrument lässt zu wünschen übrig. Er bemüht sich und er hat Ideen, aber niemand will

ihm eine Chance geben. Bis er Igor (Bela B.) kennenlernt, einen Schlagzeuger, der in Berlin als

Straßenmusiker auftritt. Gemeinsam mit Hans (Sahnie) gründen sie eine Band und wollen den

Durchbruch im Musikgeschäft schaffen. Doch Richy hat Probleme mit seinem Vater, der von der

ganzen Band-Idee gar nichts hält. Und seine Freundin fühlt sich auch vernachlässigt. Als Richy

endgültig das Geld ausgeht, will er als Roadie bei der Nena-Tournee wenigstens genug Geld

verdienen, um seine Musikausrüstung behalten zu können.

Während des Films spielt die Band die Titel „Teenager Liebe“ und „Grace Kelly“ von der 1983

erschienenen EP „Zu schön um wahr zu sein!“. Die Ärzte, in der damaligen Besetzung Farin

Urlaub, Bela B. und Sahnie, bezeichnen den Film heute als „Jugendsünde“. Unter den Fans der

Band gilt er als Kultfilm. Ein bisschen Haarspray, grauer West-Berliner Maueralltag, Herzschmerz,

ein bisschen Rebellentum, vor allem aber ganz viel Frühe-80er-Jahre-Kolorit machen den Charme

dieser holperigen Inszenierung aus.

https://youtube.com/playlist?list=PL6EA7EB28D64AA053

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Rock’n’Roll Highschool (1979)

„Oh Baby, Fun, Fun!“ Die Trash-Highschool-Komödie unter der Regie von Allan Arkush, Jerry

Zucker und Joe Dante (die auch für das Drehbuch verantwortlich sind), war der Versuch, eine

Teenie-Komödie mit zeitgemäßer Musik zu verknüpfen. Zusammen mit dem Autor Joseph

McBride entsteht ein Drehbuch, in dem zum großen Finale das Schulgebäude in die Luft gejagt

wird.

Die Vince Lombardi High School ist dem Rock’n’Roll-Virus verfallen, die Schüler*innen sind Nerds,

Dumpfbacken oder verliebt und bescheren ihren Lehrer*innen Nervenzusammenbrüche. Als

jedoch die neue Rektorin Miss Evelyn Togar ihre Stelle antritt, schickt sich die selbsternannte

Musikhasserin an, dem unmoralischen Treiben einen Riegel vorzuschieben. Nur hat sie die

Rechnung ohne den Kampfgeist und Tricks ihrer Schüler*innen gemacht.

Die RAMONES schreiben eigens den bekannten Titelsong und spielen im Film immer wieder sich

selbst auf einer cool-lässigen und unnahbaren Art. So ist die Traumsequenz, in der die

Protagonistin Riff Randall (P. J. Soles) zum Song I Want You Around die vier Ramones im

Badezimmer begrüßt, schon sehr kultig. Gedreht wird überwiegend auf dem Gelände der bereits

geschlossenen Mount Carmel High School in South Central Los Angeles. Dass das Gebäude

ohnehin abgerissen werden soll, passt hervorragend in den Kram der Regisseure: Sie lassen die

Sprengung einfach mitfilmen. Dass die Explosionen dabei so heftig ausfallen, dass viele der am

Set Agierenden vor lauter Schreck geflüchtet sein sollen, kann mensch anhand der Schlussszenen

(ab 1:29:40) sehr gut nachvollziehen. „Hit it, Marky!“

Kompletter Film (englisch): https://youtu.be/A5nsILjY86w

The Runaways (2010)

It's 1975 and they're about to explode.

Die 70er Jahre sind eine Ära, in der sich abseits von DISCO in diversen Genres einiges tat. Punk,

Hard Rock, New Wave... Es war eine Zeit des musikalischen Auf- und Umbruchs, in der Risiken

gewagt und Tabus gesprengt wurden. Eines dieser Tabus brachen The Runaways, die als eine der

ersten Frauen*bands im Rock/Punk schon allein dadurch Aufmerksamkeit erregten, dass sie

elektrische Gitarren spielten. Oder wie Joan Jetts Gitarrenlehrer im Film voller Vorurteile sagt:

„Girls don't play electric guitar.“

Die Band revolutionierte die Musikszene insbesondere für Frauen* und bewies, was zuvor

niemand für möglich gehalten hatte: Frauen* können sehr wohl rocken. Dass Regisseurin Floria

Sigismondi, die auch für das Drehbuch verantwortlich war, eben dieser Aspekt sehr wichtig war,

zeigt sich in der Konzeption des Filmes: Er dreht sich um die Entstehung, den Erfolg und letztlich

den Fall von The Runaways und konzentriert sich dabei maßgeblich auf die Musik. Der Film ist

nicht nur ein Biopic der Runaways, sondern gewissermaßen auch eine Coming-of-Age-Story, die

sich auf Cherie Curie (Dakota Fanning) und Joan Larkin/Jett (Kristen Stewart) konzentriert. Ein Film

ohne Tiefgang, der dank der hervorragenden Leistung der Hauptdarstellerinnen „The Runaways“

als solides Biopic funktioniert!

Trailer: https://youtu.be/uHpEJ749TRM

Rude Boy (1980)

Rude Boy ist ein halbdokumentarischer Film, der zum Teil eine Charakterstudie und zum Teil eine

„Rockumentary“ über die britische Punkband The Clash ist. Das Drehbuch enthält die Geschichte

eines fiktiven Fans namens Ray, der mit tatsächlichen öffentlichen Ereignissen der damaligen

Zeit, einschließlich politischer Demonstrationen und Clash-Konzerten, konfrontiert wird. Über

einen Zeitraum von mehreren Jahren gefilmt, wirkt der geschriebene Dialog wie improvisiert. Es

gibt gute Konzertaufnahmen, aber der Versuch, Rays Geschichte und seiner Konfrontation mit

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der Gruppe darzustellen, ist wenig gelungen. Eine glaubhafte Auseinandersetzung mit den

Problemen einer Generation findet nicht statt.

Trailer: https://youtu.be/PsXzZEFqEag

SLC! Punk (1998)

SLC Punk! ist eine US-amerikanische Subkultur-Studie über den Alltag zweier Punks aus Salt Lake

City mit komödiantischen und dramatischen Elementen von Regisseur James Merendino mit

Matthew Lillard (Serial Mom, Scream, Scooby-Doo) in der Hauptrolle und Til Schweiger in einer

Nebenrolle. Stevo und Bob (Michael A. Goorjian) sind die einzigen beiden Punks an dem College

und wollen nach dem Abschluss ein letztes Mal das Leben feiern, bevor sie im Herbst der Ernst

des Lebens einholt. Merendinos Film zeigt den „Sommer des Hasses,“ wie Stevo und Bob ihn

erleben, mit Partys, Konzerten, Schlägereien mit Rednecks und Nazis, Liebe und inspirierenden

Gesprächen. Stevos Eltern waren früher Hippies und wollten die Gesellschaft verändern, jetzt

gehören sie zum Establishment. So wollen Stevo und Bob niemals werden. Am Ende verändert

ein einschneidendes Erlebnis Stevos Leben. Er wird nach dem Herbst in Harvard Jura studieren

und sagt: „Wenn der Typ, der ich damals war, den Typen treffen würde, der ich heute bin, würde

er mich zusammenschlagen.“ Ein sehr unterhaltsamer Film, der Milieustudie und Drama ist,

feinfühlig erzählt, aber auch nicht frei von Klischees ist.

Trailer: https://youtu.be/fcFm96WxAZY

Smithereens (1982)

Regisseurin Susan Seidelman begründete ihre unverwechselbare Vision von New York City mit

diesem Debütfilm, dem Drama und Lo-Fi-Original für ihre lebendigen Porträts von Frauen*, die

sich neu erfinden. Nach ihrer Flucht aus New Jersey zieht die punkige Wren (Susan Berman) in die

Stadt, um berühmt zu werden. Wenn sie nicht gerade selbst Werbeflyer klebt oder in der

Peppermint Lounge rumhängt, lässt sie sich auf Paul (Brad Rinn), der in einem Van am Highway

lebt und Eric (Richard Hell) ein, der ihr bei der Flucht aus New York – wovon sie schnell die

Schnauze voll hat – helfen kann, um ins neue Punk-Mekka Los Angeles zu gelangen. Aber es wird

schnell klar, dass sie der falschen Person vertraut. Auf 16-mm-Film gedreht, der den Glanz und

Glamour der Innenstadt der 1980er Jahre einfängt, mit einem abwechselnd stimmungsvollen

Soundtrack von The Feelies und anderen. Smithereens ist der erste amerikanische Independent-

Film, der um die Goldene Palme in Cannes kämpfte, ist eine unvergängliche Momentaufnahme

einer vergangenen Ära.

Kompletter Film (englisch): https://youtu.be/mD4J2XPFCcE

Sid & Nancy (1986)

Love kills.

Alex Cox erzählt die obsessive Liebesgeschichte zwischen Sid Vicious und dem heroinabhängigem

Groupie Nancy Spungen. Gary Oldman und Chloe Webb brillieren in dieser legendären Punk-

Romantik-Version. Eine Liebe zwischen Drogenexzessen und Musik. Die Geschichte ist bekannt:

Eines Morgens wird Nancy erstochen aufgefunden. Die Polizei verhaftet Sid Vicious. Doch zu

einem Prozess kommt es nicht. Sid Vicious stirbt kurz vorher an einer Überdosis Heroin. Im

Hotelzimmer beginnt die Rückblende, in der Sid seine Beziehung zu Nancy Spungen Revue

passieren lässt. Drehbuchautor und Regisseur Alex Cox inszenierte einen Film, der hinter die

Kulissen der Punk-Szene blickt, mit brillanten Bildern und einem herausragenden Gary Oldman

(Das fünfte Element, Léon der Profi) in der Rolle des Sid Vicious. Ein besonderer Leckerbissen ist

der Auftritt von Courtney Love. Cox schuf ein Meisterwerk, das viele Klischees bedient und in

vielen Szenen überzogen wirkt. Dennoch ist der Film eine selbstzerstörerische Milieustudie , ein

Drama, Biopic und eine Romeo- und Julia-Liebesgeschichte. (Filmzitat von Malcolm McLaren,

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dargestellt von Schauspieler David Hayman: „Sidney ist mehr als nur ein normaler Bassist, er ist

das absolute Desaster. Er ist ein Symbol, eine Metapher. Er verkörpert die ganze Dimension der

nihilistischen Generation. Er ist ein Anti-Typ“).

https://youtu.be/TubehkbjOuI

Tank Girl (1995)

1988 starteten die Engländer Jamie Hewlett und Alan Martin, damals noch keine 30, die Legende

von Tank Girl aus der britischen Underground-Comic-Szene heraus – mit reichlich Fanzine-Feuer

und Punk-Allüren. 1995 kam die Comic-Verfilmung „Tank Girl“ mit Lori Petty, Naomi Watts, Ice-T,

Iggy Pop und Malcolm McDowell in die Kinos und floppte. Im Jahr 2033 ist von der Menschheit,

wie wir sie kannten, nicht so wahnsinnig viel übrig geblieben. Schuld daran ist ein Meteor, der

einige Jahre zuvor auf die Erde einschlug und damit eine Trockenheit auslöste, die noch immer

andauert. Wasser ist ein wertvolles Gut geworden, um das auch schon mal mit Waffengewalt

gekämpft wird. Punkgirl Rebecca lebt mit ihrer WG in einer der letzten grünen Oasen, weil sie

eine illegale Quelle angezapft hat. Als Kesslee (Malcolm McDowell), skrupelloser Herrscher über

die Wasserreserven, davon erfährt, macht er das Haus dem Erdboden gleich. Rebecca wird

gefangengenommen und ins Arbeitslager gesteckt. Mithilfe der Jet Girls kann sie entkommen und

macht fortan per Panzer Kesslee die Hölle heiß.

Eine der besten Szenen, weil völlig willkürlich und ohne jeden Sinn, ist eine Art Musical-Nummer,

die zwischendrin eingebaut wird. Und auch sonst ist hier alles überdreht, eigenartig, teils richtig

bizarr. Malcolm McDowell (Uhrwerk Orange), hat an seinem Wasser-Overlord sichtlich Spaß,

gleiches gilt für Lori Petty als Tank Girl, die mit einer Energie durch die Gegend wirbelt, als hätte

sie einen Eimer Energy Drink geleert. Was dem Film fehlt, ist eine glaubwürdige Geschichte oder

auch Figuren, bei denen hinter der schrillen Fassade etwas steckt. Regisseurin Rachel Talalay ist

zu sehr damit beschäftigt, alles Mögliche auf die Leinwand zu werfen und vergisst, aus dem

Chaos auch etwas zu schaffen. So ist der Film eine kuriose, absurde, futuristisch-emanzipierte

Öko-Variante des Action-Klassikers „Mad Max“ mit Musik von DEVO, HOLE, ICE-T, L7...Übrigens

hat sich die Produktionsfirma von Tank Girls australischer Landsfrau Margot Robbie vor drei

Jahren die Filmrechte an „Tank Girl“ gesichert. Diese Neuverfilmung mit Tankgirl im Stile von

Harley Quinn würde ich gerne sehen wollen!

Original-Trailer: https://youtu.be/mef757ZGUIU

Tod den Hippies! Es lebe der Punk! (2015)

„Scheiß Hippies. Verdammtes Gesockse!“

Ein Film über Berlin in den 80er Jahren, als Berlin eine Insel war, Zufluchtsort und Heimat der

Kaputten, Verirrten und Ausgestoßenen. Regisseur Oskar Roehler lässt das wilde Berlin der 80er

Jahre auferstehen und zeigt in klischeebeladenen Bildern einen exzessiven Lebensstil zwischen

Rausch, Punk und die Suche nach Liebe und Anerkennung. Die Nebenfiguren sind glänzend

besetzt (so z. B. Alexander Scheer als Blixa Bargeld). Prägung erhält der Film vor allem durch Tom

Schilling als Robert und Frederick Lau, der den schwulen Neo-Nazi Gries mit Gespür für

Zwischentöne spielt. Einsamkeit und Verlorenheit scheinen bei den meisten Figuren auf, sogar

bei Roberts Eltern: Hannelore Hoger als exzentrische Schriftstellerin und Samuel Finzi als

nostalgischer Ex-Kassenwart der RAF.

Eine Groteske und ein Drama in Zeiten von Subversion, Selbstfindung und RAF. Trotz

überzeichneter Szenen bietet alleine Roberts Tour de Farce ein kontrastreiches

Unterhaltungsprogramm mit Schönheiten wie Sanja (Emilia Schüle) und absurdem, etwa, wenn

Roberts schwuler Neo-Nazikumpel Gries „Karriere“ als Sänger der Band „Anal Fucking Bastards“

macht.

Trailer: https://youtu.be/jVZ5cchMRBI

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Verschwende deine Jugend (2003)

München 1981. Während überall woanders was los ist, passiert in München gar nichts. Jedenfalls

ist das der Eindruck des 19-jährigen Harry Pritzel (Tom Schilling). Die Musik der Neuen Deutschen

Welle rollt, Harry ist Fan von DAF (Deutsch-Amerikanische Freundschaft) und leidenschaftlicher

Manager der Münchener Nachwuchsband Apollo Schwabing, in der seine Freunde Vince (Robert

Stadlober), Melitta und Freddie spielen. Im Hauptberuf allerdings macht er eine Lehre als

Bankkaufmann – ohne jede Leidenschaft. Sein Traum: Apollo Schwabing tritt bei einem DAF-

Konzert als Vorgruppe auf. Und Harry ist bereit, alles zu tun, um diesen Wunsch Wirklichkeit

werden zu lassen. Vom politischen und kulturellen Zeitgeist Anfang der 80er Jahre zeigt der Film

allerdings wenig. Die Story könnte genauso gut heute spielen, wäre da nicht die sogenannte Neue

Deutsche Welle. Ansonsten merkt mensch den Zeitsprung an den DM-Scheinen, den

Langspielplatten und der Tatsache, dass CDs noch fast futuristisch erscheinen.

What We Do Is Secret (2007)

„What We Do Is Secret“ ist ein biografisches Dokudrama über das kurze, turbulente Leben von

Darby Crash (bürgerlich: Jan Paul Beahm), dem Sänger der Punkband The Germs aus Los Angeles,

der sich am 7. Dezember 1980 durch eine Überdosis Heroin das Leben nahm.

Nachdem sie gemeinsam von der Highschool geflogen sind, gründen zwei Kumpels, Darby Crash

und Pat Smear (Nirvana, Foo Fighters), 1977 in Los Angeles die Punkband The Germs. In seinem

kurzen Leben verkörperte Crash unfreiwillig mehr ironische Widersprüche, als er vielleicht

beabsichtigt hatte. Crash eiferte seinem Idol Sid Vicious von den Sex Pistols nach, ritzte sich auf

der Bühne, spritzte Heroin und war fest entschlossen, sich selbst zu zerstören. Dafür hatte er sich

einem Fünfjahresplan verschrieben, den nur er vollständig verstand. Wie Darby (Shane West) in

einem der Faux-Rockumentary-Interviews des Films ankündigt: „Ich habe eine sehr, sehr genaue

Vorstellung davon, was ich erreichen möchte und wie ich es schaffen werde. Und ich brauche

Leute, die mir helfen, es zu tun.“ Vor der Punkmusik waren es Shirts und ein Logo (ein blauer

Kreis), mit denen GERMS ihre Ambitionen manifestierten: schlecht, gewaltaffin und verstörend zu

sein. „What We Do Is Secret“ reproduziert Interviews mit Darby, ehemaligen Germs und anderen

in ihrem Kreis, die von Claude Bessy (Sebastian Roche), alias Kickboy Face, Mitbegründer des

SLASH-Magazins, geführt wurden. Der Rest des Films besteht aus neu inszeniertem Performance-

Material, das von allzu vertrauten Dead-Rock-Star-Biopic-Klischees begleitet wird.

Trailer (englisch): https://youtu.be/5zVJklX2XRs

Wild Zero (1999)

„Rock and Roll hat keine Grenzen, Nationalitäten und Geschlechter.“

Wild Zero ist ein Zombie-Trash-Actionfilm von Tetsurō Takeuchi. Die Hard Fan Ace folgt der Band

„Guitar Wolf“ von Auftritt zu Auftritt, sei der Konzertort auch noch so entlegen. Als er nach einem

Gig in einen Streit zwischen der Gruppe und einem dubiosen Club-Besitzer gerät, rettet er die

Band versehentlich und bekommt vom Lead-Sänger Seiji (as himself) eine Trillerpfeife geschenkt,

mit der er das Trio jederzeit rufen kann (!). Ace begibt sich auf den Weg zum nächsten Konzert,

macht unterwegs aber eine erschreckende Feststellung: Der Planet wird von Außerirdischen

angegriffen, die die Menschen in Zombies verwandelt haben. Tetsurō Takeuchi setzt hier nicht auf

authentische Darstellungen. Zerballerte Köpfe, Explosionen und Raumschiffe kommen aus dem

Computer, was ziemlich billig/trashig ausfällt. Der Film ist komisch, roh und grobkörnig – was

mitunter für den Charme dieser absurden Mischung aus apokalyptischer Dystopie und

treibender Punk-Rock-Farce sorgt. Es gibt Zombies, die so übertrieben fett geschminkt sind, dass

sie mehr wie animierte Comicfiguren wirken. Der Soundtrack wurde zur gleichen Zeit als Album

(Wild Zero) der Band veröffentlicht.

Trailer: https://youtu.be/cv5AYlKGt1E

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AIB #133

64 DIN-A-4 Seiten; € 3,50.-

AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

https://www.antifainfoblatt.de/

Seit März 2020 erleben wir im Alltag

erhebliche Einschränkungen aufgrund der

Corona-Pandemie und den staatlichen

Maßnahmen/Verordnungen, die Pandemie

einzudämmen. Damit einhergehen

reaktionäre Denkweisen, antisemitische

Verschwörungserzählungen und extrem

rechte Ansichten, die die sogenannte

Querdenker-Bewegung bis heute prägt. Der

AIB-Schwerpunkt „Pandemieleugner“ will

versuchen, die „rechten Ideologiefragmente

der verschwörungsideologischen

Pandemieleugnug als verbindende

Elemente aufzuzeigen“.

Seit Beginn der Corona-Pandemie und der

damit verbundenen Proteste gegen die

Eindämmungsmaßnahmen der

Bundesregierung sind auch

souveränistische Individuen und Gruppen

wie Reichsbürger*innen in diesen

Zusammenhängen aktiv. Während der

aufkommenden Anti-Lockdown-Proteste um

„Querdenken 711“ waren

„Reichsbürger*innen“ und andere

Souveränist*innen offen Teil der sich

bildenden „Querdenken“-Bewegung.

Minimalkonsens der sehr heterogenen

Bewegung ist ein grundlegendes

Misstrauen gegenüber medialen,

wissenschaftlichen und politischen Eliten.

Die Protestierenden unterfüttern ihre Kritik

mit Gegenwissen und tauschen sowohl

online (bspw. auf dem Messengerdienst

Telegram) als auch auf ihren

Kundgebungen „alternative“

Einschätzungen zum Coronavirus und zu

den Gegenmaßnahmen aus.

„Querdenker*innen“ argumentieren auf

einer grundlegend anderen Wissensbasis

und Einordnung von Fakten. Dieses Wissen

wird gespeist und genährt auf youtube oder

Telegram, auf denen „kritisches Denken“

und persönliches Erfahrungswissen mit

wissenschaftlich unbelegten

Argumentationsgrundlagen vermengt wird,

weil das Bauchgefühl mehr wiegt als

akademisch-abstraktes Wissen. So entsteht

ein Gegenwissen (gefühlte Fakten) und ein

Alternativ-Milieu zum „Mainstream“, das

sich gegen die gängige Politik und ihre

Regierung richtet und hat die Funktion,

diese zu delegitimieren, verändern oder gar

abzulösen (Tag X). Eine Protestkultur, um

eine Rückkehr zur alten Normalität zu

erreichen, wird aufgrund des bestehenden

und andauernden Kontrollverlustes als ein

eigenmächtiges Instrument genutzt, schafft

dabei Kooperationen und Mitstreiter*innen,

die zu extremeren

verschwörungstheoretischen

Überzeugungen führen.

Pandemieleugner*innen und Anti-

Coronamaßnahmen-Personen sind der

Meinung, aufgeklärt und kritisch zu sein.

Das hat Konsequenzen: Die Suche nach

Schuldigen. Die Kluft zwischen

umfassender und komplexer, nicht zuletzt in

statistischer Weise begriffener Realität

einerseits und der individuell

wahrgenommenen Situation andererseits

wird nicht anerkannt; Intellektuelle und

akademische Wissenschaftler*innen, die auf

der Bedeutung dieser Kluft beharren,

werden als Repräsentant*innen einer Welt

abgelehnt, die mit dem richtigen und

wahren Alltagswissen der „echten“

Bevölkerung nichts mehr zu tun haben.

70


Gesamteindruck:

Antifaschist*innen haben noch kein

erfolgreiches Konzept im Umgang mit

rechten Anti-Corona-Protesten. Aber ich

stelle fest, dass auch in kleinen Städten

antifaschistische Initiativen und bürgerliche

Allianzen in der Lage sind, sich im

ländlichen Raum organisierte sogenannten

„Spaziergänger*innen“ in den Weg zu

stellen. Doch die Gefahr ist relativ groß,

dass durch die andauernden und

wechselnden, evaluierten Maßnahmen, die

Corona-Pandemie einzudämmen, sich

Pandemieleugner*innen und sogenannte

„Querdenker*innen“ radikalisieren und sich

extrem rechte Kräften anschließen, um

Systemkritik an Politik und Medien und

ungehemmt mit zunehmender

Gewaltbereitschaft zu äußern.

ANKER

36 DIN-A-5-Seiten; € ???

chriz@42zines.de

Chriz hat noch ein „halb fertiges Zine

in den Weiten meines alten Läpppis

gefunden“. Die Intention, das Zine fertig zu

stellen, ist eine geplante Reise in den

Südwesten Portugals. Denn dort hat er vor

sechs Jahren ein Interview mit Nürni vom

Casa do burro gemacht und möchte ihm das

in Fanzine-Form mitbringen.

Gesamteindruck:

Zusätzlich zum hier in großzügiger Art und

Weise layoutiertem Interview hat Chriz das

Leit-Thema „Anker“ als eine Art roter Faden

ausgewählt. „Anker lichten und prüfen,

welche davon noch hilfreich sind, wie sie

beschaffen sein müssen(…)“. Leitmotive

sind Themenfelder, die ihn in Corona-

Pandemie-Zeiten geprägt haben und immer

noch beschäftigen. Das drückt Chriz in sehr

offener Art und Weise aus und skizziert

berufliche und familiäre Umstände, die der

Alltag unter Pandemie-Bedingungen mit

sich bringen: Reflexion, Veränderung,

Energieverlust, Depression. Was liegt da

näher, dem Stress, den Sorgen und Nöten

für einen Augenblick zu entfliehen.

Gleichwohl weiß Chriz, dass sich sein

Zustand nicht allein durch Urlaub

verbessern wird. Das auf 14 Seiten mit

Fotos gestreckte Interview – und

anschließendem Nachtrag/Spendenaufruf –

mit Nürni vom Casa do Burro ist dann der

Lese-Höhepunkt und legt offen, wie

selbstbestimmtes Leben einhergeht mit

Freiheit, Gelassenheit und Toleranz. Doch

das Wohn- und Feriendomizil wurde in der

Vergangenheit immer wieder heimgesucht

von den Folgen großer Waldbrände und

Feuerschäden. Ein Blick auf die Homepage

(https://www.casadoburro.com/) macht

richtig Lust auf das Projekt und einen

Kurzurlaub auf den Hof. Anker ist Symbol

für „fest machen, ankommen, bleiben, da

sein“. In diesem Sinne hat Chriz auch einen

inhaltlichen Bezug zu Halt und der Tiefe

hergeleitet, was in Krisenzeiten Hoffnung

und Zuversicht verspricht. Das ist ihm sehr

gut gelungen.

HANSA ZENECA #3 +CD

68 DIN-A-5-Seiten; € 1,50

hansazeneca@riseup.net

Maks hat Selbstzweifel und betont im

Editorial, dass diese Ausgabe die letzte sein

71


könnte, was vielleicht auch an seinen

(überhöhten) Ansprüchen an sich und

anderen liegt. Bis dahin verknüpft Maks

pro-feministische Inhalte mit FLINTA*-

Personen gegen eine offensichtliche

Männerdominanz in der Punk-Community

und Reise- und Konzertberichte. Maks

erneut in England unterwegs und berichet

über die Hürden, in Corona-Pandemiezeiten

und nach dem Brexit in England

einreisen zu können. In Brighton gibt es

veganes Essen und ein Konzertbesuch im

lokalen Club mit u. a. den vegan queer

bisexuellen Punks von „Joe and the

Shitboys“. Wieder zurück in „Teutschland“

besucht Maks das „Pankdemic“-Festival mit

4 Bands in Dortmund und anschließendem

Interview mit der Konzertgruppe, die

zukünftig ein Awareness-Konzept

entwickeln will, um bspw. Transphobie bzw.

Transfeindlichkeit im Publikum

entgegenzutreten. Das von Schlossi

übersetzte Interview mit Vez (WONK UNIT)

liefert Hintergründe zu ihren musikalischen

Aktivitäten und eine Stellungnahme zu

Sexismus im Punk. Warum Maks THE

KLEINS ins Fanzine-Boot zurückgeht, ist

wohl nur mit dem Insiderwissen zu

erklären, dass THE KLEINS „bis heute

herhalten müssen, wenn es um schlechte

running gags geht“. Maks’ Besuch in der

‚Baracke‘ endet in vorsorglichen

Entschuldigungs- und Ausredenformulierungen,

die immer dann benutzt

werden, wenn er sich bei Freund*innen

verabschiedet und es ihm nicht gut geht.

Mit „Anarchopunk und Antisemitismus“

folgt ein kontroverses Interview mit

‚Schlomo‘ (ein Pseudonym), der/die sich mit

dem Thema befasst hat. Im Verlauf entsteht

allerdings der Eindruck, dass er/sie sich

jede Kritik gegenüber Israel (sic!) verwehrt.

Dabei gibt es sehr wohl berechtigte Kritik,

etwa mit der israelischen Siedlungspolitik

in Ost-Jerusalem. Rechtsnationale Israelis

verbitten sich eine Einmischung aus

Europa, was ihre Absicht verstärkt,

überhaupt an einer 2-Staaten-Lösung

interessiert zu sein. Schlomo schlussfolgert

sehr einseitig in Richtung Antideutsche

Kritik. Die antideutsche Kritik solidarisiert

sich mit Israel aus der Erkenntnis, dass die

Welt, so wie sie heute eingerichtet ist, den

Antisemitismus immer aufs Neue

hervorbringt. Schlomos Beispiele von Punk

-und Anarchobands, die (angeblich)

antisemitische Inhalte reproduzieren, sind

mir nicht schlüssig genug, was Schlomo

auch vielfach zugibt und die entsprechende

Band/Person von den Vorwürfen per se freispricht.

Bei solch einem komplexen Thema

hätte Maks gut daran getan, sich mit dem

Thema fachlich zu beschäftigen und mit

Schlomo ein Streitgespräch zu führen, da er

ansonsten Gefahr läuft, vorgeführt zu

werden.

Gesamteindruck:

Maks freut sich wie Hulle, fährt E-Roller

und reist wieder gerne. Wenn er aber so

viel Wert auf eine politische Balance der

Geschlechter legt, sollte er sich in anderen

Bereichen besser vorbereiten. Davon

abgesehen ist der Inhalt zur aktuellen

Ausgabe eine unterhaltsame Mischung und

überdeutlichem FLINTA*-Support!

LOTTA #85

64 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.-

Lotta, Am Förderturm 27, 46049

Oberhausen

www.lotta-magazin.de

Der Schwerpunkt „Ostdeutschland

rechtsaußen?!“ beleuchtet das Phänomen

extrem rechter Umtriebe, Ausschreitungen

und politische Wahlerfolge der AfD im

„Osten“ der Republik.

Die Gewaltexzesse in Rostock-Lichtenhagen

und Hoyerswerda waren noch nicht

aufgearbeitet, versagten in den Folgejahren

Politik und Behörden im Umgang mit der

extremen Rechten, die bis heute

hemmungslos offen agieren kann. Für viele

Betroffene herrscht ein Klima der Angst vor,

geprägt von Hass und Gewalt, Drohungen

und Mord. Spätestens nach den

rassistischen Ausschreitungen in Heidenau,

Freital oder Chemnitz, mit der Entstehung

von PEGIDA sowie den Wahlerfolgen der

AfD mit dezidiert völkisch-nationalistischen

Landesverbänden in Thüringen und

72


Sachsen zieht sich eine erneute Debatte um

die Spezifika der extremen Rechten in

„Ostdeutschland“ durch die letzten Jahre.

Mit Ausnahmen größere Städte wie Leipzig

oder Dresden gibt es durchaus Landstriche,

die wie in Mittelsachsen ein Netzwerk

völkischer Neonazi-Familien etabliert, die

durch die „Initiative Zusammenrücken“ als

rechte Siedlungsgemeinschaft einen

Sehnsuchtsort für Heimatverbundenheit,

völkische Traditionen und einer „gesunden

Volkssubstanz“ Ausdruck verliehen

bekommt.

Die Fragen nach den Gründen der

gesellschaftlichen Akzeptanz oder Duldung

von Rechtsaußen erklärt Marcel Hartwig

u.a. mit einem „mentalitätsgeschichtlichem

Hintergrund“, bei dem sich „bisherige

Lebensentwürfe“ wandelten und eine

„Fortexistenz eines spezifischen deutschen

Nationalismus in der DDR“ eine

wesentliche Rolle spielte. Die extreme

Rechte profitiert von Faktoren

gesellschaftlicher Entwicklung wie

Abwanderung, schwach aufgestelltem

Demokratieverständnis. Marcel

schlussfolgert, dass Ostdeutschland zum

Testfeld für extrem rechte Realpolitik wird.

Sebastian Friedrich und Volkmar Wölk

skizzieren die Entwicklung,

Erfolgsbedingungen und Grenzen der AfD

im Osten. Antifaschistischer Protest ist

meist in größeren Städten zu beobachten,

wo Student*innen leben. Das Netzwerk

Polylux legt einen großen Fokus auf den

ländlichen Raum, weil viele der

Aktivist*innen selbst dort aufgewachsen

sind. So erhalten/erfahren bspw.

Geflüchtete, Migrant*innen und Menschen

in prekären Lebenslagen zunächst

Unterstützung und Solidarität.

Antifaschistischer Support ist nötig, wo er

gebraucht wird.

Gesamteindruck:

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung,

Marco Wanderwitz konsternierte, dass die

Diktaturerfahrung der DDR verhindert,

dass ein Teil der Ostdeutschen in der

Demokratie ankommt. Andere, wie etwa die

ostdeutsche Historikerin Christina Morina,

verweisen dagegen auf die Nach-Wende-

Erfahrung. Hinzu kommt die eher schwache

Struktur der Zivilgesellschaft. Dabei ist sie

eine wichtige Schule für die Demokratie,

indem sie durch Prozesse der Verhandlung,

der Konfliktaustragung, der Entwicklung

von Respekt über Vereine und andere

Gesellschaften eine Voraussetzung für

demokratische Kultur legt. Hier hat die

extreme Rechte zu lange unbehelligt

agieren können und besetzt mit Erfolg,

Engagement und politische Kreativität

bürgerliche und gesellschaftliche Milieus.

Die AfD im Osten ist eine Partei, in der

Menschen an der Spitze mitwirken, die als

Autohändler, Hausmeister oder

Handwerker die Sprache der Menschen

sprechen. Darin erkennen sich viele wieder.

Die westdeutsche Rechte hat

Ostdeutschland als die Region erkannt, die

besser als jede andere für ihre Zwecke

entwickelt werden kann. Aus

antifaschistischer Perspektive ist die

ostdeutsche extrem rechte

Erfolgsgeschichte eine enorme

Herausforderung, die mit dem Netzwerk

Polylux Hoffnung bringt, eine starke

Zivilgesellschaft zu fördern.

OX #160

148 DIN-A-4-Seiten; € 6,50.- + CD

OX-Fanzine, Postfach 110420, 42664

Solingen

www.ox-fanzine.de

Das OX wird teurer, dafür sind die

Stromkosten im OX-Headquarter dank

Photovoltaikanlage gesunken. Ausgeglichen

ist auch der Inhalt zwischen Punk bis

Thrash Metal, Vergangenes und Aktuelles.

Konzerterinnerungen aus den 80er Jahren

mir DAF und X-Mal Deutschland, subjektiv

ausgewählte Platten für die Ewigkeit und

lecker essen. Was folgt ist gewohnte Kost:

Tom van Laak durchlebt hypochondrische

und physische Episoden der

„Befindlichkeiten“, während Mille von

KREATOR Theatralik wichtig findet und

einfach ein bisschen „bekloppt“ ist, alles

andere sei langweilig. Ben Kowalewicz von

BILLY TALENT verehrt Pearl Jam komplett,

73


während BETONCOMBO ihren legendären

Mauerstadt-Punk skizzieren. In die gleiche

Kerbe, nur ein paar Jährchen später, taucht

der/die Leser*innen ein in die Historie von

CERESIT (81), die ihren Sound von Fun

Punk hin zum metallischen Punk evaluiert

haben. SLIME läuten derweil ihren 4.

Frühling ein und schlagen mit neuem

Sänger Tex ein weiteres Kapitel auf. Mir

gefallen die neuen Songs sehr gut und Tex

skizziert offenbar auch wegen seiner

Biografie und der Textinhalte eine

authentische Lebenswelt. Seiten später gibt

es erneut Einblicke in das Vinyl-

Produktions-Drama, mit der Konsequenz,

dass einige „Hobby-Labels“ den Betrieb

einstellen und „kleinere“ Bands lange

Wartezeiten auf Vinyl-Pressung hinnehmen

müssen.

Gesamteindruck:

Die Mischung stimmt. Punk und Metal als

mögliche Symbiose, um Vorurteile und

Gemeinsamkeiten abzuklären. Die

punkhistorischen Aufarbeitungen sind wie

immer die Lese-Highlights, täuschen aber

nicht darüber hinweg, dass eben nicht alles

relevant ist und die Quantität überwiegt,

heißt: weniger ist mehr, bedeutet: mehr

Schwerpunkte mit Punkbezug und

ausgewählte Bands mit längeren

Interviews, als die hier präsentierten

überflüssigen Schnellschüsse, die nicht

über allgemein bekannte Band-Infos

hinausgehen.

PLASTIC BOMB #118

48 DIN-A-4-Seiten; € 5,00.-

Plastic Bomb, Heckenstr. 35, 47058

Duisburg

https://www.plastic-bomb.eu/wordpress/

Ronja hat daas Gefühl, dass wieder

„mehr Energie in die Sache gekommen ist,

dass es wieder mehr, vor allem jüngere,

Menschen im Punk gibt.“ Auch Schlossi hat

eine zündende Idee, wähnend sie damals

und heute vergleicht und es nicht

nachvollziehen kann, „dass man auf sich auf

Veranstaltungen trotz 2G+ nicht sicher

fühlt, weil man zu einer Risikogruppe

gehört(...)“. Basti investiert Zeit und

74


private Ersparnisse ins neu erworbene

Haus der verstorbenen Oma und bastelt an

einer digitalen Version seiner

„Gruftneurosen“.

Fini und Bonny erklären ihr Konzeptalbum,

das nach langer Wartezeit endlich auf Vinyl

gepresst worden ist und wissen, dass sie für

„mal eben rein hören die falsche Adresse“

sind!“ Ronja interviewt Annette (Bärchen

und die Milchbubis), die über die NoFun-

Connection, über NDW und die Stimmung

in den 80er Jahren berichtet. Dann gibt es

mehrere Artikel über Krisen und Konflikte

zu Geflüchteten auf dem Meer, an der

polnischen, polnisch-belarussichen Grenze,

in Bosnien, wo freiwillige Helfer*innen und

Aktivist*innen vor Ort Hilfe leisten oder

daran erinnern, wie die Logik des

europäischen Migrations-Systems

funktioniert.

Basti skizziert die deutsche Rechtspflege,

die Richter mit extrem rechter Gesinnung

emporbrachte und -bringt und beschreibt

Fallbeispiele.

Nach Vorkriegsjugend kommen die

Nachkriegsratten, die manchmal höflich,

asozial und oft durstig sind. Das von Philipp

geführte Interview mit Dirk von Lowitzow

(TOCOTRONIC) ist das eigentliche

Highlight, weil hier Kultur, Politik und

Sachverstand verknüpft werden.

Gesamteindruck:

Die aktuelle Ausgabe ist ein kunterbuntes,

chaotisches Allerlei aus Punk und Politik

mit dem ausgeprägten Sinn, Witz und

Ernsthaftigkeit zu versprühen. Das mag auf

den ersten Blick verwirren, auf den zweiten

Blick unterstreicht das den sehr

unterschiedlichen Anspruch der einzelnen

Schreiberlinge, die ihre Begeisterung,

Empörung oder Neugier zum Ausdruck

bringen.

RAUDITUM #6

64 DIN-A-5-Seiten; €3,00.-

www.facebook.com/rauditumfanzine

Herausgeber „De Wessi“ macht

Pause. Quereinsteiger Ugly erfuhr davon

erst während der Fertigstellung zur neuen

Ausgabe und offenbart, dass diese eine

Notnummer sei.

Zunächst gibt es eine Reihe von

Bandvorstellungen. Diese sind in meinen

Augen überflüssig, weil sie nicht über eine

allgemeine Bandinfo hinausgehen und

nichts Neues bietet, was es nicht auch im

www nachzulesen gibt.

Ganz anders dagegen ist das Interview mit

der von mir sehr wertgeschätzten Patti

Pattex, die zum einen biografisches und

bandhistorisches wiedergibt, zum anderen

lange Statements und klare Worte zu

Diskriminierung und Sexismus

ausformuliert. Darüber hinaus druckt Ugly

ein Statement von ihr ab, das sie offenbar

nach einem Kommentar auf einen der

sozialen Netzwerk-Kanäle ausführt und sich

auf einen Artikel bezieht, in dem ein mir

unbekannter Autor Sexismus kritisiert, aber

gleichzeitig „Prollkacke“ (gemeint sind

Bands wie Lokalmatadore, Die Kassierer u.

ä.) gut findet. Pattis offene, ehrliche

Meinung zum Thema ist gut und wichtig

und legt offen, dass in der Punk-Community

frauen*feindliche Verhaltensweisen

reproduziert werden. Patti ist reflektiert

und wütend zugleich, räumt auf mit

Definitionen, was Punk eben nicht ist und

nicht alles darf.

Diesen Text nimmt Ugly zum Anlass, eigene

Verhaltensweisen zu reflektieren und ist

von sich über gemachte Fehlverhalten

enttäuscht, ohne Fallbeispiele zu benennen

und bleibt bei allgemeinen Kritikpunkten,

verknüpft im Gedankenkonstrukt Sexismus

mit Rassismus und schlussfolgert, dass

„Intension (sic!) und Bewusstsein“ dafür

verantwortlich sind.

Im etwas konfusen Artikel „Islam-Bashing“

erklärt Ugly dann Feminizid und

Ehrenmord mit der Annahme, dass diese

von männlichen Tätern verübt werden. Das

allein ist aber kein rein „islamisches

Phänomen“. Ich bevorzuge – seinem

Gedankenkonstrukt folgend – patriarchale

Auslegungen als Grund/Problem, die im

Islam, Christentum und anderen Religionen

vorHERRschen.

75


Gesamteindruck:

Für eine Notnummer hat Ugly durchaus

eine kontroverse und vielseitige Ausgabe

zusammengestellt. Aufgelockert durch

einige Comics (Magenbitter,

Sesam)/Zeichnungen ist die aktuelle

Ausgabe auch eine Streitschrift zu Themen

über Sexismus und Religion. Streitfragen

und -themen sind wichtig. Eine effektive

Streitschrift beinhaltet einen dialogischen

Moment, ist folglich auf eine Person oder

Personengruppe gerichtet. Und hierfür gibt

es in der aktuellen Ausgabe reichlich

Gelegenheiten.

ROCK-O-RAMA

„Als die Deutschen kamen“

Björn Fischer

448 Seiten; € 32,00

Hirnkost Verlag

https://shop.hirnkost.de/

ISBN:

PRINT: 978-3-949452-00-0

Über das Buch: Punkbands mit

provokanten Namen wie Böhse Onkelz,

Cotzbrocken, Oberste Heeresleitung oder

Stosstrupp sorgten bereits in der

Frühphase der wohl kontroversesten

deutschen Schallplattenfirma medial für

reichlich Zündstoff: Tonträger wurden

indiziert, zensiert oder

staatsanwaltschaftlich beschlagnahmt.

Wenige Jahre später hatte sich das einstige

Kultlabel der Punks in einen weltweit

agierenden Rechtsrock-Vertrieb verwandelt.

Dieses Buch bringt auf über 400 Seiten

endlich Licht ins Dunkel der Legenden,

Mythen und Mysterien und offeriert dabei

nicht nur Musik-Nerds und Szene-

Insider*innen exklusive Background-Infos,

sondern leistet darüber hinaus auch einen

zentralen Beitrag zur Historie des

Rechtsrock-Nukleus in Europa.

Gesamteindruck:

Wer war Herbert Egoldt? Der Versuch einer

charakterlichen Analyse scheitert daran,

dass bis auf wenige Ausnahmen keine*r

Herbert richtig kannte oder gar zu Gesicht

bekam. Der Musiker und Autor Björn

Fischer hat sich die Frage gestellt, wer der

Typ ist, um über ihn, das Label, die Bands

ein Buch zu schreiben. Einige beschreiben

Herbert als „Zuhältertyp“, „voll den

Netten“, als ein „Mysterium“ (Gernot

Nickel; The Nikoteens Manager), dem es

nach Einschätzungen vieler der hier zu

Wort kommenden Gesprächspartnern in der

Hauptsache ums Geld/den Profit ging:

„Platten zu veröffentlichen war seine

Lebensgrundlage“, resümiert ein enger

Bekannter und ehemaliger

Geschäftspartner Egoldts.

Darüber hinaus geht es nicht nur um die

Person Herbert Egoldt, sondern auch um

das geschäftliche Umfeld, den Labelbands,

deren Mitglieder einige Anekdoten und

Erinnerungen wiedergeben. Insofern ist das

Buch zum einen der Versuch, die Person

Herbert Egoldt charakterlich einzuordnen.

Andererseits ist das Buch aber auch eine

spannende Labelgeschichte, in der Bands

und ausschließlich männliche

Gesprächspartner den Kontakt/Umgang zu

und mit Herbert und den Aufnahmeprozess

im Studio in Köln beschreiben. Des

Weiteren war R-O-R auch ein Plattenladen,

der hier von einigen Bandmusikern und

Besuchern beschrieben wird. Die

kontroverse Labelpolitik, die spezielle

Covergestaltung und der typische Sound

(meist im Kölner Studio am Dom unter der

Leitung von Hans-Jürgen Fickel produziert)

waren viele Reviewer, Punks suspekt und

führte auch zu Ablehnung und Boykott, die

sich spätestens mit den Veröffentlichungen

der BÖHSE ONKELZ-Alben und der darauf

folgenden White Power-/RAC-Label-Ära

verstärkte. Auf der anderen Seite wird auch

eine immer wiederkehrende Naivität der

jungen Punk-Musiker offenbar, die wie die

Band M.A.F ihre eigene Unerfahrenheit

herausstellen: „Jung, dumm – im Sinne von

unerfahren – und ständig besoffen!“

Auch wenn es aus heutiger Sicht und nach

dem Lesen des Buches merkwürdig

erscheint, so hatte Rock-O-Rama in den

frühen 80ern zumindest hierzulande eine

nicht zu unterschätzende Bedeutung in der

Punkszene. Oder anders gesagt: man kam

um den Egoldt und seine Punk-Platten

76


kaum herum. Nostalgie hin und schaler

Beigeschmack her, Björn hat ein

umfassendes Bild zusammengestellt, das

aus den vielen detaillierten Erinnerungen

der vielen Gesprächspartnern geschuldet

ist und in Ansätzen das Psychogramm eines

Geschäftsmannes darstellt, dem es „nur

ums Geld und die Marktlücke“ ging (Ralf

aus Köln).

Tierbefreiung #113

72 DIN-A-4-Seiten; €4,00.-

die tierbefreier e.V., Postfach 160132,

40564 Düsseldorf

www.tierbefreiershop.de

Immer wieder ist in der

Tierbefreiung, dem Magazin und der

Bewegung insgesamt, die Rede von

Speziesismus. Die Redaktion und

Mitarbeiter*innen leisten Begriffserklärung

und ermöglichen verschiedene

Gesellschaftsanalysen durch die Brille des

(Anti-)Speziesismus.

Der Begriff Speziesismus wurde in den

1970er Jahren von dem Philosophen Peter

Singer und dem Psychologen Richard Ryder

geprägt. Durch die Bezugnahme auf den

biologischen Fachausdruck Spezies soll die

zentrale Annahme des Konzeptes zur

Geltung kommen, dass die Interessen der

eigenen Art den Interessen der anderen

Arten auf allen Ebenen vorgezogen werden.

Der Ansatz kritisiert diese speziesistische

Diskriminierung und lehnt die strikte

Trennlinie, die zwischen Mensch und Tier

gezogen wird, als ungerechtfertigt ab.

Stattdessen betonen Vertreter*innen dieses

Ansatzes die Ähnlichkeiten zwischen

menschlichen und nicht-menschlichen

Arten, die in der Fähigkeit zu leiden

begründet werden.

Tom Zimmermann interviewt Richard Ryder

und spricht mit ihm über den

Speziesismusbegriff, mögliche Strategien

zur Abschaffung. Zudem formuliert Richard

die zehn Prinzipien des „Painism“ und zwei

Referenzen.

Speziesismus in der Sprache ist ein

weiterer Artikel, den Kevin Pottmeier

erklärt. Die Sprache trägt dazu dabei, die

Gewalt an Tieren zu rechtfertigen und zu

verschleiern. Doch sie kann auch dazu

dienen, den Speziesismus zu überwinden.

In der menschlichen Sprache werden

immer wieder Suffixe, Präfixe, Vorsilben

genutzt, um Pflanzen („Unkraut“) oder

nicht-menschliche Tiere („Schädlinge“)

negativ zu konnotieren. Menschen werden

mit Begriffen wie Flüchtlingsstrom,

Migrationswelle zu einer bedrohlichen

Gefahr werden, die „eingedämmt“ werden

müsse. Nicht-menschliche Tiere werden

bspw. in der Fleischindustrie als zu

verarbeitendes „Stück“, „Produkt“

fremddefiniert, um die massive Gewalt an

Tieren zu versachlichen und nichtmenschlichen

Tieren Rechte wie

Selbstbestimmung, Freiheit abzusprechen.

Selbst wenn es sich um ein und dieselbe

Tätigkeit handelt, hindert uns das nicht

daran, für Menschen und nichtmenschliche

Tiere unterschiedliche Begriffe

zu verwenden: Menschen essen, Tiere

fressen, Frauen gebären, weibliche Tiere

werfen, Menschen sterben, Tiere verenden

und nach dem Tod sind wir Leichen, Tiere

hingegen Kadaver. Die Sprache dient hier

dazu, so manche LinguistInnen, eine

emotionale Distanz zwischen Mensch und

Tier zu schaffen.

Ina Schmitts diskursiver Artikel zu „Vegan

und Speziesismus“ stellt das aus heutiger

Sicht trendige Verhalten vieler

Veganer*innen aus ernährungstechnischen

Gründen der ursprünglichen Definition

eines radikalen Wandels des

gesellschaftlichen Mensch-Tier-

Verhältnisses gegenüber. In Anlehnung an

den Begriff Speziesismus ist eine vegane

Lebensweise in diesem Kontext allein auf

das Wohlbefinden des Menschen

ausgerichtet, wo positive Aspekte der

Ernährung in den Vordergrund gestellt

werden. In dieser Denkweise findet

keinerlei Solidarität mit von Ausbeutung,

Tötung nicht-menschlicher Tiere oder eine

bewusste tierbefreiungsorientierte

Denkweise statt.

77


Gesamteindruck:

Die menschliche Denkweise impliziert

erlernte, verinnerlichte Muster von

Speziesismus. Rassismus, Diskriminierung.

In dieser ist die menschliche ethische

Position verortet: wir Menschen gehören

der intelligenteren, überlegenen Art an und

deshalb können wir alle schwächeren

Lebewesen auch so behandeln, wie es uns

am meisten nützt. Fleisch essen ist normal.

Mit der Katze kuscheln auch. Es ist eine

soziale Ungerechtigkeit, die bisher immer

noch ein fester und allgemein akzeptierter

Bestandteil unserer Gesellschaft ist. Wir

Menschen stellen uns über die Tiere, weil

wir die Technologien dafür haben. Doch nur

weil wir diese Macht besitzen, ist es nicht

automatisch moralisch vertretbar, sie auch

auszunutzen. Es gilt, die soziale

Gerechtigkeit für Tiere einzufordern und

genau die menschlichen Denkstrukturen

angreifen, in der nicht-menschliche Tiere

ausgenutzt, ausgebeutet und getötet

werden. Speziesistische Diskriminierung ist

so gängig, dass sie von den meisten

Menschen nicht hinterfragt wird, es sei

denn, es handelt sich um eine

ungewöhnliche Form der Diskriminierung

oder um ein besonderes Ausmaß dieser. Die

Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere ist für

viele Menschen etwas Alltägliches. Umso

wichtiger, Diskriminierungs- und

Ausbeutungsverhältnisse zu beenden. Dafür

sollten wir unsere eigenen Denkmuster und

Verhaltensweisen immer wieder

reflektieren und eine systematische

Gewaltkultur aufgeben.

TRUST #212

68 DIN-A-4 Seiten; €3,50.-

Trust Verlag, Dolf Hermannstädter,

Postfach 110762, 28087 Bremen

https://trust-zine.de/

Dolf ist entsetzt, dass Bücher auf

seinen Stapel gelandet sind, die von

verschwörungstheoretischen Inhalten und

AutorInnen geprägt sind, hat diese aber

offensichtlich selbst und hofft, dass es „lieber

früher als später eine willkürlich oder

gewollte Vernunftheimsuchung der Menschen

gibt“.

Jan Röhlk hat Ohrwürmer im Kopf und

skizziert erneut seine wahnhafte Obsession,

über die Ursprünge von Bandnamen zu

recherchieren wie hier zu CHARLEY’S

GIRL(s). Sabrina Lügt erklärt und

kommentiert psychische Beeinträchtigungen

und medizinische Maßnahmen/Konsequenzen

(Medikamente und Therapie) der Boomer

Generation, um schlusszufolgern, dass wir an

dem System und nicht nur an uns arbeiten

sollten.

Jan Röhlk erarbeitet einen imaginären

Reisebericht und entführt uns an Orte, die

vielleicht nur ihn interessieren: Wo hat

welcher Punk einer legendären Band einen

Zahn verloren, die Klinke geputzt, den Bus

genommen oder an die Laterne gepinkelt?

Für Jan ist alles relevant und bedeutend,

begreift die wahnhafte Suche als Heroen-

Verehrung.

Viel besser und gehaltvoller indes ist Bennis

ausführliches Gespräch mit Ralf von

TISCHLEREI LISCHITZKI über das sehr

persönliche und politische Konzept zum

aktuellen Album, das NS-Verbrechen in Bezug

zur eigenen Familiengeschichte aufarbeitet

und skizziert.

Bela ist seit 2019 begeistert von SCHOL

DRUGS und interviewt Josh, Claas Reiners

analysiert das Debütalbum der SHITNEY

BERS und erkennt, dass die Songs

zweidimensional funktionieren. Bela befragt

Kira Roessler nach ihren musikalischen

Aktivitäten bzw. Stationen bei BLACK FLAG

und DOS; Mika hat über Umwege mit Tweety

von CHOKE COCOI ein tolles Interview

geführt und befragt sie nach Rechte der

Frauen* in den Philippinen, über Songinhalte

zu Gleichberechtigung und über Einfluss von

Musikerinnen.

Gesamteindruck:

Während Jan Röhlk sich immer mehr in

akribische Details verliert, ist der

Erkenntnisgewinn in Sabrina Lügts Kolumne

recht hoch. Des Weiteren ist der von Ralf

erläuterte Hintergrund zur

familiengeschichtliche Recherche über Opfer

der NS-Verbrechen spannend und

erschreckend zugleich. Zusammen mit Mikas

Interview mit Tweety sind das die Highlights

der aktuellen Ausgabe.

78


Hol Dir das UNDERrDOG nach Hause!

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