UNDERDOG #68
Schwerpunkt: Punk at the Movies
Schwerpunkt: Punk at the Movies
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UNDERDOG
Ausgabe 68 Frühling 2022 €2,50
Ahoi!
Die Subkultur des Punk ist von zahlreichen
Bedeutungsträgern geprägt. Neben der Musik und Mode
hat die Punk-Generation der 1970er Jahre gleichzeitig
Einfluss auf Film und Kino. Der frühe Punk-Film schaffte es
in diesem Fall, aus den festen Regeln der Leinwand
auszubrechen, Standards auszuhebeln und dem
Filmemachen und -sehen verschiedene neue Ästhetiken
zuzuordnen. Die Idee des Punk im Film überträgt
verschiedene kulturelle Signifikanten. Dazu gehören
filmischer Widerstand, Trennung und Distanz zu einer
abstoßenden Gesellschaft. Das Punk-Kino ermöglicht mit
seinen zum Nachdenken anregenden Bildern bis heute
einen Zugang und Einblick in die Lebensweise einer
Subkultur. So schafft Punk im Film nicht nur eine
Ressource des politischen Ausdrucks und der
Korrespondenz, sondern vermittelt gleichzeitig ein neues
Gefühl der Integrität. In der Folge bietet der Ausdruck in
Film und Kino eine weitere, völlig neue Möglichkeit der
Vermittlung von Ideen und Werten. Hierüber unterhielten
wir uns mit Filmemacher*innen wie Wolfgang Büld,
Tarek Ehlail, Penelope Spheeris und Dominik Reding.
Als Katalysator und treibende Kraft kann der Film durch
die Nutzung verschiedener Formen von filmischen
Instrumenten und Erfahrungen ein völlig neues Konzept
des kulturellen Verständnisses schaffen. Angesteckt durch
die Do-it-yourself-Haltung des Punkrock experimentierten
junge Künstler*innen mit der Super-8-Kamera und
repräsentierten so den deutschen Underground, den wir im
Artikel skizzieren. Yana Yo drehte 1981 ihren ersten
Super-8-Film. Wir unterhielten uns mit ihr über
Filmemachen als subversive Kunstform. Darüber hinaus
legen wir den Fokus auf feministische Punkfilme und
gehen der Frage nach, welche Rolle Frauen* in diesen
spielen bzw. wie Frauen* in diesen dargestellt werden.
Viel Spaß beim Lesen!
Inhalt 3
Punk auf der Leinwand 4
Punk hinter der Kamera: Wolfgang Büld 9
OI! Warning: Dominik Reding 17
Im Herzen immer noch Punk: Tarek Ehlail 24
Frauen* in Punkfilme 33
Times Square 36
The Fabulous Stains 38
Her Smell 40
Punk und Undergrouund auf Super-8 43
Yana Yo 47
Penelope Spheeris 54
More Punk Movies 61
Zines, Bücher 70
Abo 79
Impressum
UNDERrDOG
V.i.S.d.P. Fred Spenner
Stolles Weg 1
D-27801 Dötlingen
+49(0)4431-72771
info@underdog-fanzine.de
www.underdog-fanzine.de
Verkaufspreis:
Innerhalb Deutschlands:
€2.50.- + €1,60.- (Porto)
Abo für 4 Ausgaben: €10.- (im Voraus)
Europa:
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4er-Abo: 15.- (im Voraus)
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shop/abo/
Dank an: Tarek, Dominik, Wolfgang,
Penelope, Yana Yo
Bezugsquellen
Deutschland:
GRANDIOSO-Versand&Mailorder
(grandioso-versand.de), MAD BUTCHER
RECORDS (madbutcher.de), KINK
RECORDS (kink-records.de); BLACK
MOSQUITO Mailorder (blackmosquito.org),
RIOT BIKE RECORDS
(riotbikerecords.net), FLIGHT 13
Records (flight13.com), RilRec.
(https://rilrec.de), NO SPIRIT Mailorder
(https://nospiritmailorder.de); BLACK
CAT TAPES (facebook.com
blackcattapes161); Rockers
(https://www.rockers.de); CHEAP TRASH
RECORDS
(office@cheaptrashrecords.de)
Schweiz:
ROMP
(http://www.romp.ch/ROMP_ZINE)
UNDERDOG #69:
Deadline: 01.07.2022
Anzeigenschluss: 15.07.2022
Erscheinungsdatum: 01.08.2022
Hinweis:
Die Deutsche Nationalbibliothek stellt
diese Publikation in Frankfurt und
Leipzig bereit und ist im Internet
abrufbar unter:
http://d-nb.info/1036440567
3
4
Über das Thema
Punk auf der Leinwand
Die Subkultur des Punk ist von zahlreichen Bedeutungsträgern
geprägt. Neben der Musik und Mode hat die Punk-Generation der
1970er Jahre gleichzeitig Einfluss auf Film und Kino. Der frühe
Punk-Film schaffte es in diesem Fall, aus den festen Regeln der
Leinwand auszubrechen, Standards auszuhebeln und dem
Filmemachen und -sehen verschiedene neue Ästhetiken zuzuordnen.
Während einige Bilder schockierend oder
zum Nachdenken anregend erscheinen
mögen, vermitteln andere intensive
Eindrücke von der subkulturellen Politik
und Ideologien des Punk. Die Idee des
Punk im Film überträgt also verschiedene
kulturelle Signifikanten. Dazu gehören
filmischer Widerstand, Trennung und
Distanz zu einer abstoßenden
Gesellschaft. Solche herausfordernden
Ideen der Filmästhetik und des
Filmemachens selbst finden sich auch
5
Über das Thema
heute noch in Kategorien des
unabhängigen Kinos zu finden. Um den
frühen filmischen Einfluss des Punks auf
die alternative Filmgeschichte zu
untersuchen, werden ganz
unterschiedliche Punk-Filme und Filme-
Macher*innen vorgestellt. So können
sowohl das frühe als auch das neuere
Punk-Kino als kulturelle Signifikanten von
Widerstand und Distanz gelesen werden.
Darüber hinaus bieten solche filmisch
vermittelten Werte Anlass, den Punkfilm
nicht nur als Übermittler*in subkulturellen
Denkens zu betrachten, sondern
gleichzeitig als Indikator für Integrität und
Solidarität innerhalb einer Subkultur oder
Bewegung selbst.
Folglich ging es beim Punk immer darum,
die Kontrolle zu übernehmen, die Norm
herauszufordern und aus der Gesellschaft
zu fliehen oder eigene Regeln
aufzustellen. Neben der Musik hatten
auch Film und Kino einen ähnlichen
Einfluss auf die Subkultur und die
Filmindustrie. Das Punk-Kino ermöglicht
mit seinen zum Nachdenken anregenden
Bildern bis heute einen Zugang und
Einblick in die Lebensweise einer
Subkultur. Filme wie Jubilee (1978), The
Great Rock ‚N‘ Roll Swindle (1980),
Rude Boy (1980), Sid and Nancy (1986)
und viele mehr drehen sich im
Wesentlichen um den Punk, seine Ästhetik
und seine Geschichten. Infolgedessen
übertrugen Punk-Filmemacher*innen und
Anhänger*innen dieser Subkultur ihre
ganz eigene Do-it-yourself-Attitüde (DIY)
in ein Medium, das ihnen neue
Möglichkeiten bot, ihre Überzeugungen
und Vorstellungen zu vermitteln. In
Anbetracht der Bedeutung der oben
genannten Filme kann behauptet werden,
dass das frühe filmische Bild des Punk als
kultureller Signifikant für Distanz,
Widerstand und verschiedene andere
konfrontative Merkmale in der
Filmgeschichte funktioniert.
Kombiniert man die subkulturelle Politik
und Ideologien mit bestimmten Ästhetiken
und Ausdrucksformen im Punk-Kino, so
zeigt sich, dass verschiedene Filme
filmischen Widerstand, Trennung und
Distanz in einer Gesellschaft vermitteln,
deren Teil sie nicht sein wollen. So schafft
Punk im Film nicht nur eine Ressource des
politischen Ausdrucks und der
Korrespondenz, sondern vermittelt
gleichzeitig ein neues Gefühl der
Integrität. Partizipatorische Aspekte wie
die Produktion, alternative Vertriebsnetze,
6
Über das Thema
neue Ansätze für die Ausstellung und die
Einbeziehung des Publikums sowie eine
DIY-Filmästhetik wie die Verwendung von
8-mm-Kinofilm oder das Zusammenfügen
von Fernsehdokumentationen, Pop-Videos,
dramaturgischen Rekonstruktionen und
Cartoons waren ein Beweis für die
Auflösung und Andersartigkeit des Punk
als Subkultur.
Punk auf der Leinwand
In der Folge bietet der Ausdruck in
Film und Kino eine weitere, völlig neue
Möglichkeit der Vermittlung von Ideen
und Werten. Als Katalysator und treibende
Kraft kann der Film durch die Nutzung
verschiedener Formen von filmischen
Instrumenten und Erfahrungen ein völlig
neues Konzept des kulturellen
Verständnisses schaffen.
In dieser Hinsicht ist die Idee des Punk im
Film in verschiedenen Produktionen der
1970er Jahre, der folgenden Jahre und
Jahrzehnte zu finden. Wichtige Einflüsse
und Bilder des Punk und Post-Punk finden
sich in Filmen wie Death Is Their Destiny
(1978), Don't Dream It – See It (1978),
Punk Can Take It (1979), The Great Rock
‚n‘ Roll Swindle (1980), Rude Boy (1980),
The Decline of Western Civilization (1981),
Repo Man (1984), Suburbia (1983), Sid
and Nancy (1986) oder Blank Generation
(1976), der als eine der frühesten DIY-
Filmproduktionen über die New Yorker
Punkszene verstanden werden kann.
Während die meisten der oben genannten
visuellen Werke des frühen Punk-Kinos
Themen und Ideologien der Bewegung
behandeln und sich im Wesentlichen auf
die Darstellung des Stils oder des Rufs des
Punk in der Gesellschaft konzentrieren,
nehmen andere erfolgreiche und
einflussreiche Punk-Bands wie die Sex
Pistols oder The Clash zur Kenntnis.
Die Filme-Macher*innen
Frühe Punk-Filmemacher*innen wie
Derek Jarman, Wolfgang Büld, Don Letts,
Julien Temple, Amos Poe oder Penelope
Spheeris begannen ihre Karriere mit ihrer
Faszination für die DIY-Ethik des Punk.
Julien Temple, der die Sex Pistols von den
Anfängen der Bandgeschichte an mit einer
Super-8- und Videokamera filmte, war
jedoch nicht der einzige, der in seinen
Produktionen nach Provokation und
Widerstand suchte: „Es richtete sich
gegen die Time Out, das British Film
Institute und das angeblich hippe, linke,
liberale, selbstgefällige London. Ich hoffe,
es gefällt ihnen nicht. Ich glaube nicht,
dass sie das werden. Ich glaube, sie
werden es für einen Haufen Scheiße
halten“ (über The Great Rock ‚n‘ Roll
Swindle). Eine ähnliche Einstellung findet
sich auch im Filmschaffen von Don Letts.
Wie andere auch, brachte er seine Kamera
zu den Konzerten mit und filmte Bands auf
Super-8, einem Format, das er als
„wunderschönes Medium“ bezeichnete.
1975 begann Don Letts im Acme
Attractions zu arbeiten, einem angesagten
Kleidungs- und Second-Handgeschäft, das in
einem Kellergeschoss neben dem
Antiquarius Market in der King’s Road lag,
zu deren Galionsfigur er bald wurde. Hier
verkehrte die Londoner Jugendszene, unter
anderem Mitglieder von Punk- und New
Wave Bands wie The Clash, The Sex
Pistols, Chrissie Hynde, Deborah Harry,
aber auch Patti Smith und der jamaikanische
Musiker Bob Marley, mit dem sich Letts bei
einem Konzert im Juni 1976 angefreundet
hatte. Durch seine DJ-Arbeit im Roxy hatte
er eine gewisse Reputation und wurde
Manager der Punkband The Slits und
7
Über das Thema
stellte seinen ersten auf Super-8 gedrehten
Film The Punk Rock Movie (1978) fertig,
der Konzertschnipsel von u.a Sex Pistols,
The Damned, The Clash im Roxy zeigte
(https://youtu.be/341ks6owA9k).
Merkmale des Punkfilms
Wie mensch sich nun vorstellen
kann, weist das frühe Punk-Kino
verschiedene Merkmale auf, die dazu
beigetragen haben, die eindeutigen
Ideologien und Überzeugungen des Punk
zu vermitteln. Durch den Einsatz
verschiedener ästhetischer Instrumente
zeichnete das Punkkino der Anfangszeit
völlig neue Bilder des Widerstands. Indem
sie nicht nur gesellschaftliche und
wirtschaftliche Strukturen provozierten,
sondern sich auch von allen Regeln des
Filmemachens distanzierten, bildeten
sowohl das Punk- als auch das Post-Punk-
Kino eine neue filmische Kategorie. Solche
radikalen Ideen und Werte, die in den
frühen Anfängen vermittelt wurden, finden
sich auch heute noch in unabhängigen
Kinoproduktionen, die die revolutionären
Instrumente des Punkfilms anwenden.
In diesem Sinne kann man das frühe Punkund
Post-Punk-Kino als experimentelle
Ansätze zu dem betrachten, was man
heute als Independent-Kino oder Indie
bezeichnen würde. Solche Experimente
bieten jedoch wesentliche Mittel und
Wege, um widersprüchliche Reaktionen
und Meinungen zu gegenwärtigen
Strukturen zu erzeugen, vor allem im
Filmgeschäft, aber auch in der
Populärkultur und den gesellschaftlichen
Arrangements.
Aussichten
Auch heute noch scheint das
einfache Thema der Punk-Subkultur und
Punk-Musik für filmische Erzählungen von
Bedeutung zu sein. Dennoch zeigen
verschiedene Filme und Dokumentationen
der neuen Generation, was Punk zu bieten
hatte – Anton Corbijns Control (2007),
Julien Temples Joe Strummer: The
Future Is Unwritten (2007) oder Alan G.
Parkers Who Killed Nancy? (2009) sind
nur eine Auswahl von Filmen, die Punk-
Illustrationen und wichtige Punk-Figuren
aufgreifen und ihren Einfluss auf die
Gesellschaft zeigen. Es gibt jedoch eine
Vielzahl von Filmen, die sich nicht
unbedingt mit Punk als Subkultur
befassen, sondern auf den Einfluss von
Punk auf der Leinwand aufbauen. Dieser
auf den ersten Blick kaum wahrnehmbare
Einfluss findet sich auch in Produktionen,
die nicht offensichtlich mit der Punk-
Bewegung verbunden sind. Nicholas
Rombes ist bisher der einzige Forscher,
der den Einfluss des Punk auf die heutige
Leinwand untersucht hat. Seine Studien
und die Zusammenarbeit mit anderen
Autor*innen gehen jedoch auf das Jahr der
Veröffentlichung seines Buches New
Punk Cinema im Jahr 2005 zurück.
Seitdem haben äußere Einflüsse wie das
Aufkommen von Streaming-Diensten wie
Netflix die Art und Weise verändert, wie
seine Meinung über die Ästhetik eines
neuen Punk-Kinos zu interpretieren ist, da
moderne Streaming-Plattformen eine neue
Vorstellung vom Filmkonsum erzeugen
und standardisierte Konventionen der
Filmästhetik vermitteln.
8
Punk hinter der Kamera
Wolfgang Büld
Wolfgang Büld ist ein 1952 in
Lüdenscheid geborener Filmemacher
der besonderen Art. Er pendelte
während seiner Karriere zwischen
kommerziellen Mainstream („Manta,
Manta“, „Go Trabi Go!“) und
Independent. Trotz seiner
Altersgleichheit mit den
Regisseuren des neuen deutschen
Films, konnte er mit dieser
Richtung nie etwas anfangen. Als
Rainer-Werner Fassbinder („Angst
essen Seele auf“), Wim Wenders
(„Himmel über Berlin“) und
Alexander Kluge („Deutschland im
Herbst“) die deutsche Filmszene
dominierten, zog er lieber mit
Klaus Lemke („Rocker“) und Eckhard
Schmidt („Der Fan“) durch Münchens
Partyszene und lebte den gepflegten
Exzess.
1977, als Wolfgang „Punk in London“ filmte, war er 24 und oft im
gleichen Alter wie die Musiker*innen und Punks vor der Kamera.
Diese Perspektive bewahrte er sich, immer ist er teilnehmender
Außenseiter. Brennende Langeweile von 1978 ist quasi eine Rhein-
Ruhr-Love-Story mit Punkmusik. Der Film des Lemke-Meisterschülers
galt als Fremdkörper im „Eliteprogramm“ des kleinen Fernsehspiels.
»Brennende Langeweile ist die pure Poesie der Provinz: der lässig beiseite
genuschelte Wunsch, weg zu wollen, unbedingt.«
Wolfgang leistete besonders mit frühen
Dokus und Filme über den aufkeimenden
Punk aus England Pionierarbeit. PUNK
IN LONDON von 1977 war ein
Abschlussfilm an der Filmhochschule
München.
Das Filmteam bestand aus Wolfgang,
einer Produktionsleiterin, ein
Kameramann, ein Kameraassistent und
Tonmann. An einem Abend hatten sie die
Möglichkeit, Beiträge von SIOUXSIE
AND THE BANSHEES, ADVERTS oder
GENERATION X zu drehen. Das
Erstaunliche war, dass in England noch
keine Person auf die Idee gekommen ist,
9
die musikalische Punksubkultur
festzuhalten. Nur Don Letts, Discjockey
im Roxy, hatte damals auf Super-8 im
Roxy gedreht und nannte das Ergebnis
schlicht und einfach „The Punk Rock
Movie“. Während die englische Presse
Punk noch weitestgehend ignorierte,
deutschen Provinz und als Punk-
Protagonist*innen gibt es The Adverts zu
sehen.
Handlung:
Peter (Ian Moorse) und seine Freundin
Karin (Monika Greser) leben im
Sauerland. Als „The Adverts“ ein Konzert
Die Sex Pistols, noch mit Glen Matlock, auf einem Poster in der Bravo vom 18. November 1976.
hatte die BRAVO schon ein Vierfarb-
Doppelseiten-Poster von den SEX
PISTOLS. Die BRAVO stürzte sich auf
alles, was sich verkaufen ließ, um keinen
Trend zu verpassen. Bravo berichtete
bereits am 30. September 1976 über die
SEX PISTOLS und war u. a. bei der
ersten Sex Pistols-Tour in England dabei.
Nachdem der Film „Punk in London“
Ende 1977/Anfang 1978 fertig war, hatte
der SPIEGEL eine Titelgeschichte über
Punk 1 . „Punk in London“ lief in
Deutschland in ausgewählten Kinos.
Mit dem Spielfilm BRENNENDE
LANGEWEILE zeichnete Wolfgang 1978
ein Porträt der Punkszene in der
1 Punk: Kultur aus den Slums: brutal und hässlich
https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1978-4.html
in der Nähe geben, kommt Farbe in den
tristen Alltag. Karin verbringt eine Nacht
mit dem Roadie Roadent (Stephen
Conolly, Roadie von „The Clash“ und den
„Sex Pistols“), Peter hängt mit der
Bassistin Gaye (Gaye Advert) in der
Wuppertaler Schwebebahn fest…
Mit Laiendarsteller*innen und
Mitgliedern der britischen Punkband
„The Adverts“ besetzt, sorgte die
Semidoku 1979 für hohe
Einschaltquoten. Büld „mogelte“ seinen
Film in die ZDF-Reihe „Das kleine
Fernsehspiel“, als der Leiter im Urlaub
weilte.
Als der Film 1979 im ZDF lief, hatten
sich The Adverts quasi schon aufgelöst.
So war dieser Fernsehfilm über ihre
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Deutschland-Tour bereits ein
Vermächtnis. Die Konzertaufnahmen
wurden mit Publikum eines THE JAM-
Konzertes zusammengeschnitten, weil
teilweise keine Zuschauer*innen zu den
The Adverts-Gigs gekommen waren. Die
fiktive Handlung entspricht dem
Lebensgefühl der damaligen Zeit. ‚Mime‘
Roadent ist in seiner Rolle als Roadie
genial, lenkt hervorragend von der
Tatsache ab, dass die realen
Bandmitglieder keine Schauspieler
waren/sind.
Es folgten mit BRITSH ROCK und
WOMEN IN ROCK zwei weitere Dokus,
die beide die Nachwirkungen des Punk
um das Jahr 1980 untersuchten. Später
folgten mit BERLIN NOW ein Film mit
u.a. Blixa Bargeld („Einstürzenden
Neubauten“) und mit JAPLAN eine Doku
über „Der Plan“.
»Durch die Musik, die ich von Kindheit an gehört hatte, war
Punk die logische Weiterentwicklung.«
Wolfgang, wie bist Du zum Film
gekommen?
Ich bin in der Provinz in
Lüdenscheid groß geworden und wollte
da unbedingt weg. Deswegen musste ich
mir einen Beruf aussuchen, den man da
nicht ergreifen konnte, wobei mein
Wunsch eigentlich war,
Kriminalschriftsteller zu werden. Mein
Vorbild war Mickey Spillane. Als ich mit
15 oder 16 anfing, selber zu schreiben
stellte ich fest, dass ich die Bilder im
Kopf habe, aber Schwierigkeiten habe,
die richtigen Worte zu finden. Ich
vermutete, dass Film doch eher das
richtige für mich wäre. Ich bin dann mit
18 nach Berlin gegangen und als meine
damalige Freundin einen Regisseur, von
dem man nie wieder was gehört hat,
heiratete, dachte ich mir, was der wohl
hat, was ich nicht habe. Das ist der
Beruf, so schien es mir und so bin ich
zum Film gekommen.
Du bist dann an die Universität
gegangen?
Ich habe erst versucht, mich
praktisch hochzuarbeiten. Allerdings:
Anfang der 1970er Jahre war der
deutsche Film dermaßen in der Krise,
dass es praktisch gar keine
Möglichkeiten gab, überhaupt irgendwas
zu machen. Ich habe dann bei der
Berliner Filmhochschule die
Aufnahmeprüfung gelesen „Die
Auswirkung der Ölkrise auf eine
Arbeiterfamilie“. Ich war selber
Lagerarbeiter und habe mir aufgrund der
Ölkrise ein Mercedes-Cabriolet günstig
kaufen können, was wohl nicht das war,
was die bei der „Die Deutsche Film- und
Fernsehakademie Berlin“ (dffb) hören
wollten.
Ich habe mich dann in München
beworben, weil ich hoffte, dass dort mehr
der Schöngeist regiert. In deren
Aufnahmeprüfung hieß es dann jedoch
„Recherchieren Sie eine
Arbeitsweltsituation und schreiben Sie
einen Kurzfilm darüber“. Nachdem ich in
Lüdenscheid auf Ersatzteile für meinen
Mercedes warten musste, traf ich eine
alte Freundin wieder, die in einer
Striptease-Bar arbeitete. Von der habe
ich mir ein paar Geschichten erzählen
lassen und habe dann die Arbeitswelt-
Reportage STRIPTEASE-LOKAL
geschrieben, in dem ich nie drin war,
weil ich mich nie ‚reingetraut hätte. Das
war dann so überzeugend, dass ich
fortan in München als „der Wallraff der
Stripteaselokale“ galt und bin dann an
die Münchner Filmhochschule
gekommen.
11
Wie kam es zu Deinen Musikfilmen
und vor allem zu PUNK IN LONDON?
Ich hatte dann zwei Kurzfilme an
der Filmhochschule gedreht und den
zweiten habe ich hemmungslos
überzogen, weil ich die Mechanismen
kannte, wie man bei der Bavaria und der
Filmhochschule Sachleistungen in
Anspruch nehmen konnte. Das ist bei der
Hochschule allerdings nicht so gut
angekommen. Man sagte mir, wenn ich
überhaupt einen Abschlussfilm machen
will, dann nur eine Dokumentation und
möglichst weit weg von München. Da
mich nun Dokumentarfilme überhaupt
nicht interessierten – genauso wenig wie
die Realität – und neben Film mich nur
noch die Musik begeisterte, bekam ich
natürlich das Phänomen Punk in England
mit. Das war 1977. Ich kannte Punk als
NME-Leser zwar schon seit 1976, aber
1977 wurde es ja erst wirklich populär.
Ich trug meinen Professor*innen vor,
dass es in England so was wie Punk gibt
und ich da was drüber machen will. Sie
mögen mir bitte den Flug bezahlen und
ich fliege nach London und schau mir das
mal an. Eigentlich hatte ich den
Hintergedanken, zurückzukommen und
das Projekt abzusagen, weil London nicht
passen würde, um dann doch einen
Kurzspielfilm machen zu dürfen. Ich fand
es in England dann allerdings so
faszinierend und von der Energie, die
dort herrschte, war ich dann so
begeistert, dass ich drei Wochen später
mit einem Miniteam wieder nach London
flog.
Wie lange bist Du in London
geblieben?
Zwei Wochen. Ich glaube, wir
haben zwölf Tage gedreht. Wir hatten ein
permanentes Problem, das darin bestand,
sich pausenlos entscheiden zu müssen.
Man hat ins Time-Out 2 geguckt und
2 Time Out (Group) ist ein globales Medien- und
Unterhaltungsunternehmen. Die damalige physische
Präsenz war eine Art lokaler Veranstaltungskalender
über Live-Events, Unterhaltung, Kultur und Märkte.
musste dann zwischen den Boomtown
Rats, Siouxsie and the Banshees oder
Generation X auswählen.
Warst Du Teil der Londoner
Punkszene oder warst Du stiller
Beobachter?
Ich war in der Beziehung Teil der
Szene und wusste, was mich da
erwartete. Durch die Musik, die ich von
Kindheit an gehört hatte, war Punk die
logische Weiterentwicklung. Es war eine
Szene, die im Entstehen war und erst
später diesen elitären Touch bekommen
hat, mit Irokesen-Pflichtfrisur und so
was. Wenn mensch sich dafür
interessierte und so drauf war wie die
Leute, war mensch sofort Teil der Szene.
Ich habe den Unterschied bei älteren
Freund*innen oder Bekannten gemerkt,
die – immer noch Rolling Stones-Fans –
meinten, „das kennen wir doch alles,
Punk ist doch nichts Neues“. Ich dagegen
war 24 und somit nur unbedeutend älter
als die meisten Leute aus der Szene. Und
somit gab es die Trennung zwischen mir
als Zuschauer oder als Teil der Szene
nicht.
Hattest Du Kontakte zu den Bands
über das rein Geschäftliche hinaus?
Das ging schneeballmäßig. Wir
hatten anfangs ein paar Adressen von
Journalist*innen in England bekommen
von den kleinen Labels wie Stiff oder
Rough Trade, die uns die guten Bands
nannten und den Kontakt herstellten. Wir
sind da nicht wie ein Fernsehteam
aufgetaucht und haben den Auftritt
gedreht, sondern sind natürlich vorher
zusammen ein Bier trinken gegangen
und haben gesehen, ob wir mit denen
auskommen oder nicht. Außerdem haben
wir auch viel in Übungsräumen gedreht.
Und so ging das dann weiter. Bands, mit
denen wir gedreht haben, empfahlen uns
anderen Bands und plötzlich bekamen
wir viele Anrufe von Leuten, die
12
Interesse hatten. Das heißt, wir waren
relativ schnell integriert.
Deine späteren Filme wie BRITISH
ROCK oder WOMEN IN ROCK
behandeln ja die Auswirkungen des
Punk auf die Musik zum
Jahrzehntwechsel 70er/80er Jahre.
Was hat sich in den drei Jahren in
der Musik verändert?
Drei Jahre waren damals eine
halbe Ewigkeit. Als wir 1977 PUNK IN
LONDON drehten, waren z.B. The Clash
und The Jam bereits populär und hatten
auch schon eine oder zwei LPs draußen.
Aber The Jam haben wir noch in einem
Club gedreht, wo keine 1000 Leute
reinpassen. Und zwei Jahre später, 1979,
als wir BRITISH ROCK drehten, haben
die größten Hallen gefüllt. Plötzlich war
das, was zwei Jahre zuvor eine neue
aufkommende Underground-Bewegung
war, kommerzieller Mainstream. Für die
Bands war das sehr unterschiedlich. The
Clash z.B. haben zu anfangs einen sehr
sozialkritischen Hintergrund gehabt,
wollten aber auch ihren kommerziellen
Erfolg haben. Die mussten dann ein paar
Verrenkungen machen. Das Publikum
ging damit streckenweise sehr kritisch
um, in England weniger krass als in
Deutschland, wo es ja hier in Hamburg
beim Konzert zu Tumulten kam und das
„Sold-Out“ wesentlich kritischer
angemerkt wurde, als in England. Dort
ist der Beruf „Pop-Star“ ja ein ganz
normaler, was ich sehr angenehm fand
und weswegen ich mit Punk in
Deutschland auch nie was zu tun gehabt
habe. Diese Armutsgelübde, was in
Deutschland üblich ist und das
„Erfolglos-sein-müssen“, was ja auch eine
typisch deutsche Eigenschaft ist, gibt es
in England überhaupt nicht. Glen
Matlock ist zwar bei den Sex-Pistols
rausgeflogen, weil er sich vom ersten
Geld einen MG gekauft und zugegeben
hat, THE BEATLES zu mögen, aber die
Toleranz gegenüber dem Popstarimage
war sonst eher normal. Zumal die Stars
des Progressive- und des Glamrocks es
den Punkbands ja vorgelebt haben, das
mensch als Star ein gutes Leben führen
kann. Die Punks, die ich kennenlernte,
wollten – trotz ihrer kritischen Haltung
13
eher gegenüber den arrivierten Bands –
sich trotzdem ein luxuriöses Leben mit
Swimmingpool und allem erlauben.
War das der Grund, weshalb Du bei
Deinem Film über die deutsche
Punkszene BRENNENDE
LANGEWEILE mit einer britischen
Band, nämlich den Adverts
zusammengearbeitet hast?
Den Film haben wir 1978 gedreht
und das war ein sehr frühes Erwachen.
Was gab es damals? PVC in Berlin, Big
Balls & the White Idiot in Hamburg, die
Straßenjungs aus Frankfurt und
Düsseldorf war im Erwachen. Von dort
sind dann ja auch Leute von z.B. den
Fehlfarben und anderen später wichtigen
Bands, die bei BRENNENDE
LANGEWEILE als Komparsen vor der
Bühne hüpfen. Ich muss aber gestehen,
da ich mehr Zeit in England zubrachte
und mir auch die britische Arroganz
angeeignet habe, dass alles, was nicht
aus England kam, zweitklassig ist, mich
um die deutsche Entwicklung nicht so
gekümmert habe. Als dann ein paar Jahre
später ein Anruf aus Düsseldorf von
einem Freund von mir kam, der mir
mitteilte, er spiele in ’ner Band namens
Die Toten Hosen, dachte ich nur „ein
Hobby soll der Mensch haben“, habe es
aber nicht weiter ernst genommen. Dass
sie später Millionäre werden, habe ich
damals nicht erwartet.
Wie kam es bei BRENNENDE
LANGEWEILE zu der
Zusammenarbeit mit den Adverts?
Immerhin ja damals einige Jahre
schon ein recht großer Act...
Ich fand damals die Bassistin Gaye
Advert gut, wie alle Leute, die sich
damals für Punk interessierten. Sie war
neben Debbie Harry (Anmerkung:
Sängerin bei BLONDIE) das Posteridol.
Das war der Hauptgrund. Allerdings
hatte ich mit denen vorher nur schlechte
Erfahrungen gemacht, denn bei PUNK IN
LONDON war das unser erster Gig, den
wir drehten. Die spielten im Marquee
und es war übermäßig voll. Wir hatten
Brennende Langeweile: Wolfgang Büld (li.), Gaye Advert (2. v. li.), TV SMITH (re.)
14
unser Equipment beim Mixer aufgebaut
und der Kameraassistent sollte noch mal
raus, um was aus dem Auto zu holen und
kämpfte sich durch die dichtgedrängte
Masse. Als er nach einer halben Stunde
noch nicht wieder da war, ging der
Kameramann ihn suchen, worauf der
Tonmann meinte, er habe dann ja auch
nichts zu tun und holte sich ein Bier. Als
dann alle weg waren, fing der Gig an. Ich
habe dann alleine mitgedreht, bis der
Schlagzeuger aufgrund der Hitze
ohnmächtig und das Konzert abgebrochen
wurde. Der zweite Versuch mit The Adverts
war dann ein Interview – das hat auch
geklappt, aber das Tonband ist verloren
gegangen. Der dritte Versuch war dann
unter dem Verzicht, am selben Abend
Siouxsie and the Banshees oder Generation
X zu filmen, in Coventry, ca. 100 km vor
London. Dort wollte dann aber der
Veranstalter keine Filmaufnahmen bei
Punkkonzerten, weil er Angst um seinen
Ruf hatte, da dort auch andere Sachen
stattfanden. Wir waren sehr verärgert,
aber die Band war völlig desolat. Der
Sänger TV Smith saß unterm Tisch mit
dem Kopf zwischen Gayes Beinen. Ich
dachte, das ist eine gute Band, um einen
Film drüber zu machen, zumal wir für die
Love-Story auch eine Band mit einem
weiblichen Bandmitglied brauchten. Außer
Siouxsie gab es da keine und ’ne Sängerin
wollte ich nicht und Siouxsie hätte es auch
nie gemacht. So habe ich dann den
Manager kontaktet, der die Idee sehr gut
fand. Was er – aber ich nicht – wusste: Die
Band hatte eine große Antipathie gegen
Film, Fernsehen und alle Medien. Er hat
der Band dann erzählt, es würde eine
große gefilmte Deutschlandtour geben, von
Dreharbeiten für einen Spielfilm hat er
vorsorglich geschwiegen. Ich habe das am
ersten Drehtag erfahren. Also mussten wir
den Film so einrichten wie die Realität.
Ärger an der Grenze, Ärger im Hotel und
Ärger mit der Polizei war ihr Alltag und
daher für sie sehr nachempfindbar. Sie
merkten zwar, dass sie im Film
waren...einige zumindest, denn ein Teil der
Band war so verdrogt, dass die gar nichts
mehr gemerkt haben. Es war sehr
schwierig, das so einzurichten und hat sich
natürlich auch auf die Dreharbeiten
ausgewirkt. Wir hatten sehr wenig Geld, in
Wuppertal war das Hauptquartier, wo wir
in mittelmäßigen Pensionen wohnten, die
wir wohl in zwei Wochen viermal
gewechselt haben, da es immer
Auseinandersetzungen mit den
nichtenglischsprechenden Portiers gab.
Roadent (der Roadie) hat dann nach einer
Schlägerei mit dem Besitzer eines Hotels
im Produktions-Van geschlafen, was
morgens zu einem etwas schlechten
Geruch in unserem Wagen führte.
Gaye Advert hat aber in dem Film richtig
Spielhandlung gehabt.
Das war sehr schwierig. Sie war zu der Zeit
nicht ganz so fit, aus diversen Gründen.
Das merkt mensch im Film daran, dass es
immer sehr abrupt war, wenn sie stehen
bleiben musste. Das lag daran, dass immer
irgendjemand ihre Füße festhalten musste,
weil sie die Positionen nicht halten konnte.
Außerdem hatte sie wenig Lust mit Ian
(dem Hauptdarsteller) zu spielen, weil sie
der Meinung war, im Ausland nie ohne
ihren Freund, also TV Smith, aus dem Haus
zu gehen. Sie würde also nie jemand
kennenlernen im Ausland und das ganze
sei unrealistisch.
Wolfgang Büld – Punkfilmografie:
PUNK IN LONDON
BRD 1977. 16mm. 90 Min. Englische
Originalfassung.
BRENNENDE LANGEWEILE
BRD 1978. Digital. 85 Min. Mit Ian Moorse,
Monika Greser, Roadent.
BRITISH ROCK
BRD 1980. Digital. 85 Min. Englische
Originalfassung.
WOMEN IN ROCK
BRD 1980. Digital. 40 Min. Englische
Originalfassung.
BERLIN NOW
BRD 1985. Digital. 60 Min.
15
16
„Du Sausack! Du Arschloch!!“ (Koma in OI! WARNING)
Im Oktober 2000 kam der von
den Zwillingsbrüdern
Dominik und Benjamin Reding
erste Kinospielfilm „OI!
WARNING – Leben auf eigene
Gefahr“ 1 in Deutschland ins
Kino.
Viele Jahre haben die beiden
Brüder als Autoren,
Regisseure und Produzenten
an der Verwirklichung dieses
viel diskutierten Films
gearbeitet.
Der Film beinhaltet und
bearbeitet Aspekte von Freundschaft,
Gewalt, Gender/Geschlechterrollen,
Toleranz. Fünf Jahre lang haben die
Brüder Reding diesen Film
vorbereitet. Entgegen dem
gesellschaftlichen und hartnäckigem
Vorurteil werden die Skinheads im
Film als nicht politisch motiviert
dargestellt. Ihr Film analysiert nicht
das Abdriften einer Jugendbewegung
in nationalistisch instrumentalisierte
Ideologien. So plant Skin Koma keine
Mithilfe an einem Aufbau eines
reinrassigen Deutschen Reiches. Noch
weniger denkt sein Freund Janosch an
solche Ziele. Die beiden steigen aus,
weil sie der Mief der kleinbürgerlichen
Gesellschaft nervt. Eigentlich ist es
völlig egal, welchen Mantel sie
überziehen. Sie eint nur das Gefühl:
So kann es nicht weitergeh’n!
Schon die Einleitungssequenz zeigt
die Affinität zur Gewalt: Im Wald
posiert Koma nackt vor seiner
Freundin. Als sie sich dann küssen,
1 www.oiwarning.de
17
zündet er eine Handgranate. Die
explodierenden Bilder symbolisieren
einen Traum von Janosch. Dominik
und Benjamin erzählen die Geschichte
in ihrem Debütfilm zwar weitgehend
linear. Doch schon die Wahl der
Farben Schwarz und Weiß deutet
ihren Kunstwillen an. Sie irritieren die
Zuschauer*innen immer wieder mit
Schnittfolgen, die Ereignisse
vorwegnehmen oder parallel setzen.
Als Janosch den Punk Zottel
kennenlernt, wird er zur positiven
Gegenfigur zum brutalen Koma
aufgebaut, zum Beispiel durch eine
Parallelmontage, die ihn beim
Boxkampf und Zottel beim friedlichen
Jonglieren zeigt.
Zottel und Janosch
Filminhalt
Auf Schule, einem ruhigen Zuhause
und Mamas Fürsorge hat Janosch (17)
keine Lust mehr: Er schwingt sich auf
seine Lambretta und haut ab zu
seinem Kumpel Koma (20). Koma ist
Skinhead, Kickboxer und Brauerei-
Arbeiter. Ein „unpolitischer Skinhead“
sagt er über sich. Er zeigt Janosch die
Szene: Geheime Boxkämpfe,
gewaltaffine Konzerte und seinen
Bunker draußen im Steinbruch.
Janosch findet Koma, der mit Sandra
(18) eine Freundin hat, total cool. Bald
trägt er selber Skin-Klamotten und
lässt sich die Haare abrasieren.
Der neue Look verschafft ihm mächtig
Respekt. Sogar auf Sandras
Schulfreundin Blanca (20) macht er
Eindruck und erlebt mit ihr seinen
ersten Sex.
Koma gegenüber fühlt er sich aber
mehr und mehr unbehaglich: Die
andauernden Schlägereien und
Besäufnisse sind eher abschreckend.
Janosch braucht Abstand und hat
Glück: Er lernt den Feuerschlucker
und Bauwagenbewohner Zottel (19)
kennen. Da fliegt plötzlich Komas
Bunker in die Luft. Koma ist
stinksauer! Als er dann noch
beobachtet, wie sich Zottel und
Janosch lustvoll im Schlamm wälzen,
zieht er seine – falschen – Schlüsse.
Koma wittert Verrat und plant
Rache…
Die Schauspieler*innen
Sandra Borgmann (Sandra): Sandra ist
Jahrgang 1974. Nach einer Hauptrolle
in der ZDF-Serie „Hotel Elfie“ (1998)
folgte der Kinofilm „Im Juli“ (2000).
Dominik Reding besetzte Sandra
Borgmann auch in seiner „Tatort“-
Folge „Fette Krieger“ (2001), wo der
Kuss zwischen ihr und Kommissarin
Lena Odenthal alias Ulrike Folkerts
für Schlagzeilen sorgte. Dem breiten
Fernsehpublikum wurde Sandra als
lesbische Rosalie neben Felicitas Woll
in der Erfolgsserie „Berlin, Berlin“
(2001) bekannt.
Sascha Backhaus, Jahrgang 1979, der
auf einem Bauwagenplatz in Hamburg
gewohnt hat, spielt den Schüler und
Jung-Skin Janosch. Nach „OI!
Warning“ absolvierte er eine
Ausbildung zum Tischler in Hamburg
und jobbte gelegentlich als Statist.
Simon Goerts (Koma), Jahrgang 1973,
wohnte auf einem Bauwagen-Platz in
Hamburg und reiste dann für zwei
Jahre nach Spanien. 1999 betätigte er
sich als Fotomodel in Hamburg. Nach
Schauspiel- und Sprachunterricht war
Dreharbeiten am Freibad. vlnr: Regie-Assistentin Claudia Krebs, Regisseur Dominik Reding, Kameramann
Axel Henschel und Zottel-Darsteller Jens Veith
18
er unter anderem Nebendarsteller in
einer Tatort-Episode, spielte mit in
Tarek Ehlails Gegengerade, Fatih
Akins Soul Kitchen und Der goldene
Handschuh.
Britta Dirks (Blanca), Jahrgang 1971,
stand für den Film zum ersten Mal vor
der Kamera. Es folgten weitere Rollen
und sie spielte bspw. in Staffel 3 der
Serie Die Camper die Rolle der
Ruthchen Neubert, spielte die
Försterin in Rentnercops (1 Folge,
2020) und Charlotte Winzer in Einer
geht noch (2000).
alkoholduselige Pogo-
Gruppenekstasen und
Massenschlägereien ausüben, aber die
Erzählhaltung des Films wahrt immer
Abstand zu den anarchischen Ritualen
der Glatzen.“ 2
Fotograf: Graurheindorf
Musik
TERRORGRUPPE haben den
Titelsong (Stay away from the good
guys) eingespielt. Auf dem Soundtrack
gibt es eine krude Mischung aus
Klassik (Händel), OI! (SMEGMA), Ska
(Desmond Dekker), Easy Listening
(Astrud Gilbero, Bert Kaempfert). Im
Film selbst gibt es weitere Musik zu
hören von Bad Manners, The Beat,
Derrick Morgan, Loikaemie, Bérurier
Noir, Perfuses oder Trotskids.
Als der Film 2000 in den Kinos lief,
kam es während und nach den
Filmvorführungen mit anschließender
Podiumsdiskussion zu Tumulten. So
bekamen die Brüder von rechten Skins
in Berlin auf die Fresse:
Schneidezähne raus (Dominik),
Nasenbein gebrochen (Benjamin). Sie
wurden in Jena nach einer
Filmaufführung durch die Stadt
gejagt, danach brach der Verleih die
Filmtour ab.
Kritik
In der Kritik stand die Skinhead-
Thematik des Kinofilms deutlich im
Vordergrund. Das
Nachrichtenmagazin Der Spiegel
nennt den Film „eine klassische
Coming-of-Age-Geschichte“. Oi!
Warning zeige „in expressiven
Schwarzweißbildern […] den Reiz, den
19
Benjamin und Dominik
Nach dem Abitur 1987 in Dortmund
studierte Dominik (Jahrgang 1969) in
Aachen Architektur. 1992 wechselte
er an die Hochschule für bildende
2 Susanne Weingarten: Rituale der Glatzen, Der
Spiegel, Ausgabe 40/2000, 2. Oktober 2000
Künste Hamburg und studierte dort
bis zu seinem Diplom 1999 Film. Der
Diplomfilm Oi! Warning kam 2000 in
Deutschland, Österreich und der
Schweiz in die Kinos. Der Film lief
u. a. auf dem von Robert Redford
gegründeten Sundance Filmfestival
und erhielt diverse Filmpreise. 2006
drehte er als Autor, Regisseur und
Produzent wieder zusammen mit
seinem Zwillingsbruder Benjamin den
Kinofilm „Für den unbekannten
Hund“, der 2007 bundesweit in die
Kinos kam.
Für sein bisheriges Werk erhielt er
2003 zusammen mit seinem Bruder
den Förderpreis Filmkunst der
Akademie der Künste in Berlin. Seit
2008 ist Dominik Mitglied der
Deutschen Filmakademie.
Mediale Aufmerksamkeit erlangten die
Brüder mit der Geschichte über eine
Begebenheit am Erfurter Bahnhof am
Silvesterabend 1996. Hier wurden die
Zwillingsbrüder von drei Neonazis
bedroht, verfolgt und schließlich sogar
beschossen. In den dreien wollen sie
Jahre später die mutmaßlichen
Mitglieder des NSU erkannt haben:
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und
Beate Zschäpe. Sogar die
Staatsanwaltschaft hatte „wegen
versuchten Mordes“ ermittelt, dieses
Verfahren gegen Beate Zschäpe aber
wegen „mangels hinreichenden
Tatverdachts“ eingestellt:
DNA-Spuren auf einem Aufnäher, auf
den einer der beiden Neonazi-Männer
getippt haben soll, konnte weder
Mundlos noch Böhnhardt zugeordnet
werden. Schließlich war nicht zu
klären, ob auf dem Bahnhof damals
mit scharfer Munition gezielt auf die
Redings geschossen wurde – oder
etwa nur in die Luft.
Die juristische Aufarbeitung ist
abgeschlossen, die persönliche nicht:
Die Brüder beschäftigten sich in
einem geplanten Theaterstück mit
dem Thema: „NSU for You!“, ein 70-
minütiger „Abend mit Beate“. In ihrem
Stück-Konzept wird Beate in einem
20
„Zwickauer Kämmerlein“ platziert.
Hier wartet sie auf ihre
Lebensabschnittspartner, die draußen
„Männersachen“ machen, dem
Publikum Schweinshaxe nach
Thüringer Art anbietet – und eine
bizarre Gameshow veranstaltet. Aus
dem Theaterstück ist leider nichts
geworden. Und als Filmprojekt wurde
es von den Filmförderungen (des
Bundes und der Länder) auch
abgelehnt. Oder nicht mal das. Einfach
nur Schweigen auf ihre Schreiben.
Unverständnis bei den Brüdern
Reding, die mit ihrem Stück die These
vertreten, dass „Trivialkultur ist der
Nährboden, in dem zehnfache Mörder
wachsen“. 3
Interview mit Dominik
Dominik, was war die
grundlegende Idee, „OI! Warning“
zu verwirklichen?
Es gab kaum Filme, die das
Leben zeigten, das mein Bruder
Benjamin und ich erlebten. Das
wollten mein Bruder und ich ändern.
Woher stammt deine Begeisterung
für das Filmemachen und wer
3 https://www.spiegel.de/panorama/nsu-reding-
brueder-ueber-theaterstueck-zu-beate-zschaepe-a-
945413.html
sind/waren deine
Inspirationsquellen?
Oh, Filme begeistern uns gar
nicht so sehr. Wir sind keine „Film-
Freaks“. Aber ab und an haben mein
Bruder und ich Filme entdeckt, die
uns bewegt, ja, fürs Leben geprägt
haben: Von „Nosferatu“ bis
„Bladerunner“, von „L´enfant
sauvage“ bis zu „Das Testament des
Dr. Mabuse“, von „Days of Heaven“
bis „Citizen Kane“.
„OI! Warning“ ist in schwarz-weiß
gedreht und hat sehr radikale,
gewaltaffine Szenen, erinnert mich
aber auch an Filme von Jim
Jarmusch (Dead Man, Down by
Law). Zufall?
Wir zeigen Gewalt nicht, weil sie uns
gefällt, sondern weil sie zum Leben
der Punks und Skinheads, die wir
kannten/kennen, dazu gehört.
Für den Film „OI! Warning“ haben
du und dein Zwillingsbruder
Benjamin intensiv innerhalb der
gezeigten Jugend-Subkulturen
recherchiert. Wo genau habt ihr
denn recherchiert und welche
Erkenntnisse waren für den Film
letztendlich hilfreich?
Na, wir haben einige Zeit, gar
nicht für den Film, sondern für uns,
für unsere Erfahrungen, unser Leben,
auf Bauwagenplätzen gelebt, kannten
viel Punks und auch eher unpolitische
Skinheads. Und ja, das, was wir dort,
unabhängig vom Filmprojekt „Oi!
WARNING“, erlebt, gefühlt, gesehen
haben, ist dann in den Film
eingeflossen. In die Geschichte um
Liebe und Sex zwischen dem
Bauwagenpunk Zottel und dem
Skinhead Janosch und den Hass
darauf (des besten Kumpels von
Janosch, des Skinheads Koma).
Denkst du, dass die filmische
Umsetzung ein authentisches Bild
der Punk -und Skinheadkultur
widerspiegelt? Woran machst du
das fest?
Ein Spielfilm ist ein Spielfilm.
Also ein Kunstwerk, frei und
persönlich. Das, was wir zeigen, ist,
denke ich, authentisch. Menschen, wie
Koma, Zottel, Janosch, Blanca und
Sandra (die Hauptfiguren) gibt es im
realen Leben. Sie leben mit dir und
neben dir, vielleicht will man ihnen
manchmal gar nicht so gerne
begegnen…
Aber ein „authentisches Bild“ der
Punk- und Skinheadkultur kann es,
selbst in einem guten Dokumentarfilm,
nicht wirklich geben. Die Szene sind
die Menschen in ihr und verändern
sich, verändern die Szenen, jeden Tag
neu. Und das ist gut so.
„Oi! Warning“ ist kein einfacher
Film. Er gibt keine einfachen
Antworten wie die Gesellschaft mit
extrem rechten Jugendlichen
umgehen soll. Dominik und du
zeigen die Normalität, die von den
Jungs verabscheut wird, nie
realistisch, sondern immer zur
Karikatur verdichtet. Ist das ein
nicht ein Problem?
Der Skinhead Koma ist KEIN
rechter Skinhead, er wird in der
Filmhandlung vom einfachen, fast
harmlosen Mitmenschen zum
Arschloch, weil er die Liebe zwischen
seinem besten Kumpel, Skinhead
Janosch, und dem Bauwagenpunk
Zottel, hasst, nicht weil er zuvor „Mein
Kampf“ gelesen hat.
Und nein, es gibt, finde ich, keine
„Karikaturen“ in Oi!WARNING. Die
Menschen in unserem Film (und in
allen unseren Filmen) verhalten sich,
wie sie selbst sind: Stark, heftig,
extrem. Beides: Extrem schön, extrem
hässlich.
„OI! WARNING“ ist der erste auf
drei Filme angelegte
„Deutschland-Trilogie“. Ihr
zeichnet ein düsteres, dystopisches
Bild, das von Aspekten wie Gewalt,
Schuld und Sühne geprägt ist. Das
21
wird auch mit dem 2. Teil „Für den
unbekannten Hund“ offenbar.
Muss die Vorstellung einer
gewaltlosen und -freien
Gesellschaft in das Reich der
Utopie verwiesen werden?
Nein. Zum einen erscheint mir
Oi!WARNING und „Für den
unbekannten Hund“ nicht sehr
dystopisch, eher realistisch. Aber zum
anderen sollen unsere Filme ja auch
etwas bewirken: z. B. Menschen – was
toll wäre – zum Nachdenken, zum
Überdenken ihrer Positionen bringen,
auch den Zuschauer*innen zeigen,
was Freiheit ist, wie sie aussehen
kann und welchen Preis Menschen oft
zahlen müssen, die diese Freiheiten
einfordern, tatsächlich leben. Eben
gerade, weil wir uns eine gewaltfreie,
das Andere im Anderen schätzende,
solidarische Gesellschaft wünschen.
gar nicht zugetraut hat. Sei es dann
Baubühne, Maske, Kostüm, Kamera
oder eben Schauspielerei. Und ja,
auch Lukas Steltner und Sascha
Reimen (Ferris MC) und Fiona
Piekarek aus „Für den unbekannten
Hund“ 4 haben nach ihrem Film-Debüt
bei uns, viel Theater, Fernsehen und
Kino gemacht. Was uns freut, weil sie
begabt sind, gut spielen, und wir es
gespürt haben und sie es in unseren
Projekten erst mal so tun, so zeigen
durften.
Was waren denn die Kriterien für
die Besetzung der Rollen?
Begabung und Glaubwürdigkeit.
Man muss Koma den Skinhead
abnehmen, und Sascha Reimen den
Wandergesellen. Und ihnen als
Zuschauer*in dann im Film gebannt
folgen können.
Das lässt den Schluss zu, dass
gesellschaftliches Zusammenleben
ohne jegliche Strukturen der
Herrschaft und damit Gewalt
unmöglich und deswegen normal
ist. Ist die Trilogie also angelehnt
am gesellschaftlichen Wandel, weil
Deutschland in einem Prozess der
Enttabuisierung von Gewalt steht?
Eine gewaltfreie Gesellschaft ist
möglich. Sie fordert dann vom
Einzelnen sehr, sehr viel Einfühlung
und Verantwortung. Die „schnelle
Faust“, die „Macht der Gewalt“ ist
jedenfalls immer die schwächste aller
Lösungen.
Die Schauspieler*innen Sandra
Borgmann und Simon Goerts
gaben in „Oi! Warning“ ihr Debüt
und wirkten danach in weiteren
tollen Filmen mit. Verbucht ihr das
als euren Erfolg, weil ihr die
Talente mitgefördert habt?
Filme machen, das gefällt uns
daran, bedeutet auch: Vielen
Menschen eine Chance geben, die
Chance, etwas zu zeigen, was sie
können, was man ihn vielleicht auch
22
Wann wird es den 3. Teil geben
und gibt es schon konkrete Ideen
zum Inhalt?
Ja, wenn die Filmförderungen
uns dafür unterstützen. Filmemachen
ist leider recht teuer. Ideen – auch
fertige Drehbücher – haben wir einige.
Darum heißt ein Projekt, fast
unfreiwillig direkt: „Ohne Alles“.
Du bist seit 2008 Mitglied der
Deutschen Filmakademie. Was
bedeutet das für dich?
Spannende Kolleg*innen aus
dem Bereich Film treffen, sprechen
und kennenlernen zu können. Auch
sich zu streiten, zu diskutieren.
Gemeinsam zu entdecken, das Film
mehr ist, als „Unterhaltung“. Im
besten Fall die Chance, die Welt zu
verändern. Aber mindestens dich,
den/die Zuschauer*in auf eine
unbekannte Reise mitnehmen.
4 Für den unbekannten Hund ist ein Drama aus dem
Jahr 2007 von Benjamin Reding und Dominik
Reding mit Zarah Löwenthal, Lukas Steltner und
Ferris M.C., um einen jungen Mann, der den
Mord an einem Stadtstreicher nicht verdrängen
kann.
23
Tarek Ehlail bei der Arbeit an seinem Film „Volt“. Foto: Farbfilm
Im Herzen immer
noch Punk!
Tarek Mohammed Mahmud Ehlail,
Jahrgang 1981, ist vielseitig
interessiert. Der Autodidakt hegt
den simplen Wunsch, schon mit 35 in
Rente zu gehen und dann nur noch
seinen Hund Gassi zu führen. Er
arbeitet(e) als Boxer, Autor,
Regisseur und Türsteher. Zusammen
mit ZAP-Gründer Moses Arndt
gründete er die Produktionsfirma
«Sabotakt Filme» und hat 2008 mit
«CHAOSTAGE – We are Punks!» das
Kinodebüt gefeiert. Zwei Jahre
später folgt «GEGENGERADE – Niemand
siegt am Millerntor!». 2013
reflektiert er die Zeit im
Piercingstudio in dem Sachbuch
«PIERCING IS NOT A CRIME», 2016
feierte der dritte Kinofilm «VOLT»
in München Premiere. Aktuell
arbeitet Tarek an einer Türsteher-
Serie „Pumperin“.
Chaostage – We are the
Punks
Film über die gewalttätigen
Chaostage von 1995.
24
„Alles kann, nix muss!“
Die Chaostage galten ursprünglich als
Demonstration gegen eine von der Stadt
Hannover geplante Datei zur
Registrierung von optisch als Punks
erkennbaren Jugendlichen und fanden in
ihrer radikalsten Form 1995 in Hannover
statt. Der Film „Chaostage...“ basiert auf
den gleichnamigen Roman von ZAP-
Herausgeber Moses Arndt und zeigt die
Zutaten Sommer, Musik, Suff, ein
Schweizer Taschenmesser und eine Brise
Spaß am Chaos
Wahnwitz.
In einer Mischung aus Spiel- und
Dokumentarfilm angelegtes Porträt der
deutschen Punkszene reisen zwei Punk-
Freunde zu den Chaostagen nach
Hannover, wo es zu Straßenkämpfen mit
der Polizei und Nazi-Skinheads kommt.
In den dokumentarischen Szenen
erzählen unter anderem Dirk ‚Diggen‘
Jora, einst Sänger der Band „Slime“, Karl
Nagel, früherer Kanzlerkandidat der
Anarchistischen Pogo-Partei
Deutschlands APPD und Erfinder der
echten Chaostage in Hannover, Tommy
(CANALTERROR, MOLOTOW SODA),
Babette Vageena (THE VAGEENAS) oder
Wolfgang ‚Wölfi‘ Wendland (APPD, DIE
KASSIERER) auf zum Teil selbstironische
Art und Weise ihren Punkbezug. Der
dazugehörige Soundtrack wurde von
Alex Empire (ATARI TEENAGE RIOT)
erstellt. Das Album wurde am 21. Mai
2013 von der Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Medien indiziert. Für
die Laiendarsteller*innen war es vor
allem eins: Spaß am Chaos. So reisten
nach einem Aufruf viele Punks
deutschlandweit an und waren u.a.
Statist*innen beim gefilmten
Straßenkampf. Der Film ist eine trashige
Hommage an die Punkszene unter dem
Motto: „Alles kann, nix muss!“
Nach turbulenten Dreharbeiten in
Saarbrücken lief der Film im Oktober
2008 erstmals ausgerechnet in Hannover,
der Brutstätte der echten Chaostage! Es
geschah das Unvermeidliche: Vor dem
Kino kam es zwischen Punks und Polizei
zu Ausschreitungen, doch bei weitem
nicht in dem Ausmaß vergangener Tage.
BILD titelte damals in bester und
gewohnter yellow press 1 -Manier: „Blutige
Filmpremiere“ und der
Oberbürgermeister von Hannover
unterstellte dem Veranstalter Kalkül.
Gegengerade – Niemand
siegt am Millerntor
Spielfilm 2011
Auch bei diesem Film arbeitet
Tarek mit Moses Arndt zusammen, der
mit ihm und Stephanie M. Blum das
Drehbuch schrieb. Tarek erzählt die
1 Teil der Presse, der mit unsachlichen und
verleumderischen Meldungen an niedrige Instinkte
der Leser*innen appelliert.
25
Geschichte von Magnus (Timo Jacobs aus
‚Der lange Sommer der Theorie‘) und
Kowalski, der von Denis Moschitto aus
‚Almanya – Willkommen in Deutschland‘
gespielt wird. Zwei Freunde, die zum
festen Kern des St. Pauli-Fanclubs
gehören und aus unterschiedlichen
Welten kommen. Während Magnus aus
der wohlbehüteten Umgebung
Blankenese kommt, arbeitet Kowalski für
seinen Lebensunterhalt auf dem
Schrottplatz. Mit dem filmbegeisterten
Dokufilmer Arne, der von Fabian Busch
verkörpert wird, wird das Trio
komplettiert. Er ist es, der seine Freunde
mit der Kamera am Tag des wichtigen
Aufstiegsspiels vom FC St. Pauli begleitet
und auch in den brenzligen Situationen
lieber beobachtet als einschreitet.
Die Premierenfeier fand in einem
Berliner Hotel mit 600 geladenen Gästen
statt. Höhepunkt war der Mini-Auftritt
und allererste Reunion-Gig der Punkband
SLIME. Die Premierenfeier unterstreicht
den Eindruck von Randale und Skandale:
Partygäste begannen in dem Luxushotel
zu randalieren und zerstörten das
Inventar.
„Dann rasteten etwa 50 Personen aus.
Sie beschmierten Wände, Tische und
Toiletten und zerstörten Glasscheiben,
urinierten auf den Teppich. Erst die
Polizei konnte die ausufernde Feier
stoppen“. 2
In der offiziellen Pressemitteilung der
Polizei heißt es: „Gegen Mitternacht
eskalierte die Feier. Ein Teil der Gäste
zerstörte Glastische, warf Gläser und
Flaschen auf den Boden, urinierte auf die
Teppiche, verursachte eine
Überschwemmung im Toilettenbereich
und zerschlug Inventar. Angestellte des
Hotels versuchten vergeblich, die
‚Randalierer’ zur Vernunft zu bringen,
bis gegen 2 Uhr 20 die Polizei alarmiert
wurde.“
2 Zitiert nach:
https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-stuermtberlinale-feier-nachrandale/3850058.html
Doch selbst als die Polizei eingetroffen
war, beruhigte sich die Situation kaum.
Hierzu die Pressestelle der Polizei: „Als
die Beamten eintrafen, befanden sich
noch etwa 50 Personen im
Eingangsbereich des Hotels. Der
Aufforderung, die Räumlichkeiten zu
verlassen, kamen die Personen nur
zögerlich nach. Vereinzelt kam es zu
Beleidigungen und
Widerstandshandlungen gegenüber den
eingesetzten Polizisten. Zwei Männer im
Alter von 23 und 30 Jahren sowie eine
29-jährige Frau wurden zum Zwecke
einer Blutentnahme festgenommen. Die
Beamten leiteten mehrere
Ermittlungsverfahren ein.“
Dass Tarek mit seinem Film keine
Gesellschaftskritik auf die Leinwand
bringen, sondern die Fanliebe zu einem
besonderen Verein skizzieren wollte, mag
verständlich und plausibel sein. Am Ende
wurde jedoch aus einer guten Idee mit
tollem Cast (u.a. Moritz Bleibtreu,
Claude-Oliver Rudolph, Mario Adorf) ein
Fußballfilm, der die Anhänge*innenschaft
von St. Pauli in einem klischeehaften
Licht zeigt zwischen Schlägereien und
Saufereien, Gegenkultur und
Gewaltorgien. Lediglich die
dokumentarischen Aufnahmen der
wirklichen Fanmengen im Stadion lassen
einen Hauch der St.-Pauli-Begeisterung
spüren. Zu den echten Fans gehört auch
Mario Adorf: „St. Pauli ist wie die
Alemannia ein echter Kultverein. Er ist
gegen rechte Gewalt und ein
interessanter Gegensatz zum HSV“,
meinte das Ehrenmitglied von Alemannia
Aachen. Und ganz kurz gibt es auch
etwas zum Schmunzeln: bei den
Auftritten von HSV-Idol Uwe Seeler
(„Wenn wir jetzt vom Kiez sprechen, ist
natürlich St. Pauli die einzige
Möglichkeit“) und der verstorbene
Komiker Karl Dall („St. Pauli ist die
einzige Möglichkeit, weil wir keine alte
Naive dazu haben“).
26
Volt
Spielfilm Deutschland/Frankreich
2016
‚Volt‘ ist ein dystopisches Drama
über einen Polizisten (Benno Fürmann),
der nach einem tödlichen Zwischenfall
bei einer Demonstration die Seiten
wechselt. Die Premiere fand am 24. Juni
2016 auf den Filmfestspielen in München
statt.
In Deutschland leben Tausende
Geflüchtete unter erbarmungswürdigen
Bedingungen in Slums. Kampftrupps der
Polizei versuchen mit brachialer Gewalt
die Situation unter Kontrolle zu halten.
Bei einem Einsatz geht Polizist Volt
(Benno Fürmann) zu weit. Der
Flüchtling, Stachel im Fleisch einer auf
Ignoranz gepolten Gesellschaft, verletzt
Volt mit einem Messer, woraufhin ihn der
Beamte im Affekt erwürgt. Er verrät
seinen Kolleg*innen nichts, schleicht sich
später heimlich zurück und sucht die
Familie des Toten. Er trifft seine
Schwester und verliebt sich in sie.
Das zentrale Thema wird aus Sicht des
Täters behandelt. Was löst die Tötung im
Dienst bei dem Täter aus?
Der Film ist fast über die gesamte
Handlung dunkel gehalten. Völlige
Dunkelheit, betont durch künstliches
Neonlicht, lassen die Szenen noch
düsterer wirken. Die minimalistischen
Industrial-Sounds von Alec Empire
passen sehr gut zu den entsättigten
Farben, mit denen Tarek arbeitet. Die
Zuschauer*innen werden auf eine
düstere Zukunft vorbereitet, die auch
zum Teil auch in der realen Welt
übertragbar ist (Umgang mit
Migrant*innen, Polizeigewalt). Das
Thema ist also im wahrsten Sinne des
Wortes brandaktuell und zeigt die
hoffnungslose Perspektive vieler
Migrant*innen, die in Lagern
untergebracht werden. „Ich bin mit
vielen anderen geflohen, um zu
überleben. Aber ihr habt uns in
Transitzonen gesteckt, weit weg von
euren schönen Häusern, die ihr hinter
bewachten Mauern versteckt. Ihr wollt
uns vergessen, aber wir sind da, auch
wenn ihr uns nicht seht. Und wir sind
viel“, sagt Flüchtling Hesham (Tony
Harrisson Mpoudja) aus dem Off.
Regie-Autodidakt Tarek kennt die
Spannungen zwischen oben und unten
gut. Tarek wuchs im Saarland an der
Grenze zu Frankreich auf, sammelte aber
auch Erfahrungen in den sozialen
Brennpunkten der Pariser Banlieues, nur
10 Minuten vom Heimatort entfernt. Zur
Erinnerung: Nachdem zwei Jugendliche
2005 bei einer Verfolgungsjagd mit der
Polizei gestorben waren, entlud sich in
der Folgezeit die Wut in Clichy-sous-Bois:
Steine flogen, Dutzende Autos brannten.
Der Stein des Anstoßes war auch
zurückzuführen auf die politisch gewollte
territoriale, soziale Isolation der
Einwanderungsgeneration, deren Kinder
zudem alltäglich von Diskriminierung
aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe
und des Namens betroffen sind. Tarek
27
fühlt sich durch die Banlieues an einen
ganz eigenen Kosmos erinnert und wollte
diesen Zustand, aber auch das soziale
Klima im Film skizzieren: Die Transitzone
als rechtsfreier Raum für Menschen ohne
politische Teilhabe oder eine Perspektive.
Dort die Polizei als Pufferzone und
Bollwerk, Widerstand im Keim zu
ersticken.
»Punk ist der Ursprung
von allem, was ich
mache.«
Tarek, bist du selbst davon
überrascht, wie aktuell dein Film
‚Volt‘, bezogen auf Polizeigewalt und
Systemkrisen, heute immer noch ist?
Als der Film 2015 im
Entstehungsprozess war, hatte die
Realität (sogenannte Flüchtlingskrise)
die filmischen Ereignisse eingeholt. Aber
wer als Antifaschist*in oder als linkspolitisch
interessiert unterwegs ist, ist
die Thematik des Films nicht neu:
Festung Europa, Abschottungspolitik und
Polizeigewalt gegenüber PoC.
Ist der Film mehr Liebesgeschichte
oder wolltest du tatsächlich die
soziale Komponente von Schuld und
Sühne in den Fokus rücken?
Die Kernidee war: Was bedeutet
es, in einer Welt zu leben, in der mensch
als wertlos fremddefiniert wird? Der
Polizist im Film bekommt vielleicht
Absolution, weil er die Gesellschaft aus
der Perspektive des tradierten
Rollensystems beschützt hat. Und
gleichzeitig: Was passiert mit einem
Menschen in einem System ohne
Gewissen, wenn er genau das entwickelt
und seine Taten hinterfragt. Dystopie war
für mich immer ein Teil der Punkwelt und
außerdem gibt die Zukunft immer
Projektionsfläche für die Entwicklung
unseres derzeitigen Verhaltens. Für mich
war das ein guter Weg, um einen
politischen Film zu machen, der nicht
didaktisch ist.
Wie viel Biografisches steckt in
deinen Filmen?
Punk ist der Ursprung von allem,
was ich mache. Wenn ich nicht mit 13, 14
Jahren im AJZ Homburg gewesen wäre
und die DIY-Ethik in der Praxis
kennengelernt hätte wie das eben bereits
erwähnte eigenverantwortliches
Handeln, hätte ich alles, was an
Projekten gefolgt ist, nicht machen
können. ‚Volt‘ spiegelt aber auch meine
politische Haltung, aber auch in Teilen
meine persönliche Geschichte wider, um
das in den Film zu projizieren.
Du bist/warst Boxer, Piercer,
Türsteher, Drehbuchautor,
Filmregisseur. Bist du nach einer
Weile unzufrieden mit dem, was du
machst? Suchst du nach neuen
Herausforderungen, neue Talente zu
entdecken oder bist du immer auf
der rastlosen Suche nach der idealen
Aufgabe, die dich ausfüllt?
Unzufriedenheit und Langeweile
kenne ich ehrlich gesagt nicht. Bei dem
28
Begriff „Herausforderungen“ denke ich
eher an neoliberale Polit-Popper wie
Christian Lindner. Ich halte es für
normal, alles sein zu können und sich
nicht als Dieses oder Jenes zu definieren.
In meinem Falle hat das Eine stets zum
Nächsten geführt. Schreib’ ein Drehbuch
und du bist Drehbuchautor. Ich kann mir
gar nicht vorstellen, dass es diese eine
Aufgabe oder Sache geben könnte, die
mich ausfüllt. Und danach suche ich auch
nicht. Meine Haltung ist ganz simpel: Die
einzige Gewissheit des Lebens ist, dass
es irgendwann zu Ende ist. Die Zeit bis
dahin ist nichts, außer das persönliche
Streben nach Glück. Was das bedeutet,
müssen wir alleine entscheiden. Für mich
bedeutet es, ich will hungrig, fit, klar,
enthusiastisch und angstfrei bleiben. Und
meine zahlreichen Privilegien so oft wie
möglich dazu nutzen, selbstlos Dinge für
Andere zu tun. Denn nicht alle Menschen
haben die Ausgangslage oder soziale
Voraussetzung, um frei diese
Entscheidung treffen können. Vielleicht
ist das der schwerste Teil. Glück zu
haben und in der Folge kein totaler
Egoist zu werden. Jeden Tag passieren
neue Abenteuer, wenn du richtig
hinguckst und Lust auf Neues, Spaß an
Unbekanntem hast. Und die meisten
Sachen macht am besten mit Anderen
zusammen. Alle Ziele – alle Richtungen.
War dein Selbstbild schon früh in
punk-subkulturellen
Lebensbereichen verortet?
Punk war ich eigentlich schon
immer und bleibe ich auch für immer.
Höchstens die Zeitspanne – in der ich es
so genannt habe – ist begrenzt. Meinen
Zugang zur Szene, wenn du so willst,
habe ich wie die meisten mit 13, 14
Jahren gefunden. In meiner Geburtsstadt
Homburg gab es ein selbstverwaltetes
AJZ, das einen ziemlich brutalen Ruf weit
über die Region hinaus hatte. Das zog
mich schon damals magisch an.
Wie war das ausgeprägt und vor
allem, wie hat dich das auf dein
späteres Wirken als Drehbuchautor
und Filmregisseur beeinflusst?
Also für mich ist Punk, zumindest
das was es für mich bedeutet, die
Grundlage für alles, was ich später
gemacht habe: Selbstbestimmtes
Handeln, Kreativität und Synergie sind
mir als Teenager im AJZ erstmals
begegnet. Mit maximaler Freiheit und
minimalem, vor-modellierten Angebot
muss man auch erst mal umgehen
können. Wenn man irgendwann kapiert,
wie viel Power und konstruktive Energie
in einer Ordnung ohne Herrschaft liegen,
dann ist so ziemlich alles möglich.
Wenn Punk ein Gegenentwurf ist:
Haben dich Aspekte wie Autonomie,
Individualität in deinem
Selbstverwirklichungsprozess mehr
beeinflusst als Spaß und Action?
Ich finde überhaupt nicht, dass
diese Bereiche sich gegenseitig
ausschließen. Im Gegenteil, sie bedingen
einander vielmehr. Ich finde es absolut
legitim, nach Action und Abenteuer zu
trachten. Die bereits erwähnte
Eigenverantwortung oder Autonomie
steckt dabei einen moralischen Code ab:
Innerhalb dieser natürlichen Umgebung
kannst du dich ausleben und richtig
duchdrehen, ohne dabei anderen
Menschen zu schaden. Und darauf
kommt es meiner Meinung nach letztlich
an.
2003 wird Sabotakt Filme gegründet.
Laut deiner Vita war der Auslöser,
dass du deine Erlebnisse deiner
vielen Reisen festhalten wolltest,
oder ?
Ich bin 2003 für mehrere Monate
zu meiner Familie nach Dubai gereist
und habe dort das Filmen für mich
entdeckt. Im selben Jahr ist mir das Wort
Sabotakt eingefallen und ich habe es mir
aufs Herz tätowiert. Das war das
29
Gründungsritual. Der erste wirkliche
Film entstand dann auf einer Weltreise
mit meinem besten Freund im Jahr 2004.
Wir haben allerlei irres Zeug erlebt und
eine echte Story gespielt, angelehnt an
die philosophischen Abenteuer von Don
Quijote – dem Ritter in trauriger Gestalt.
Du hast dich für oben erwähnte
Filme mit Moses Arndt
zusammengetan. Der Film Chaostage
basiert auf Moses' gleichnamigen
Roman. Zwischen
Romanveröffentlichung und Film
liegen 9 Jahre. Was war denn der
Auslöser, den Roman zu verfilmen?
Moses habe ich schon mit 15
Jahren kennengelernt. Ich habe mit 17
Jahren angefangen in seinen
Piercingstudios zu arbeiten, und als ich
irgendwann die Idee hatte, ein Drehbuch
zu schreiben, waren wir längst mehr als
Freunde, sondern so was wie Familie.
Insofern war es nur logisch und
konsequent, Chaostage zur Vorlage zu
nehmen. Zumal es ein anarchisches
Schund-Meisterwerk ist, also ganz genau
meine Kragenweite.
Chaostage ist geprägt von dem
Phänomen des sogenannten „Posers“
oder „Pseudos“, der/die alle
klischeehaften Merkmale einer
subkulturellen Bewegung in sich
vereint, um etwas darzustellen, was
einem normativen Gesellschaftsbild
von Punk, respektive dem einer
anderen Subkultur, entspricht. Was
wolltest du mit deiner Verfilmung
denn bezogen auf die Punk-
Subkultur vermitteln?
Ich weiß nicht, wie ich diese Frage
richtig beantworten soll. Schon dem
ersten Satz würde ich widersprechen.
Beziehungsweise frage ich mich, was soll
ein Poser sein? Und wer darf, gerade in
einem absolut freiheitlichen Punkkosmos,
festlegen, was oder wer damit gemeint
ist? Mir waren Szenecodes und
Einordnungen schon immer zuwider. Sie
sind konservativ, festgefahren und
suchen nur nach Gründen, um sich nicht
zu entwickeln. Das kann ich nicht
nachvollziehen.
Und wo gab es Überraschungen,
jenseits der freiwillig bejahten
Gebräuche und Gewohnheiten im
Punk-Kosmos, die dir während des
Drehs begegnet sind?
Der ganze Film, also von der Idee
über das Buch und Dreharbeiten bis zu
den wahnwitzigen Premierenpartys, war
von einer positiven Stimmung, Euphorie
und dem Wagemut aller, die mitmachten,
getragen. Überraschungen gab es
natürlich täglich. Aber alle hatten Bock,
das Ding zu schultern und gemeinsam
hat es wirklich extrem viel Spaß
gemacht.
War es denn schwierig, die Szenen
mit Punks als Laiendarsteller*innen
zu drehen, um vom Ergebnis her
zufrieden zu sein?
Entscheidend ist der Blick, mit
dem man auf den Film guckt. Es ist ja
nicht so, dass ich als mächtiger
Produzent und Regisseur mir eine Szene
zu eigen gemacht habe, um mit meinem
finsteren Machwerk ordentlich Geld zu
scheffeln. Dieser Film ist von Punks, mit
Punks und für Punks entstanden.
Natürlich gab es auch schon damals viel
Gegenwind, vor allem innerhalb
ausgetretener Szenepfade. Das hat uns
aber alle nicht weiter beeindruckt.
Chaostage entstand als Network of
friends. Ein absolutes DIY Projekt, das
nur durch die gemeinsame
Arbeitsleistung und gegenseitige
Motivation umgesetzt werden konnte.
Für mich sind die Schauspieler*innen
keine Laiendarsteller*innen, sondern vor
allem Leute, die wegen und über den
Film zu Freund*innen geworden sind.
Das ist doch genial. Wenn ich eine Band
machen kann, ohne ein Instrument zu
30
beherrschen – ein Magazin rausbringen,
ohne Journalist zu sein – dann kann ich
auch einen Film drehen, einfach, weil ich
Bock darauf habe.
Welche Szenen waren denn besonders
herausfordernd?
Das Finale war schon wild. 500
Punks, die wir zur Hälfte in
Bullenuniformen steckten, wurden in
einem gewaltigen Schlachtgetümmel
aufeinander losgelassen. Der Alkohol und
der Hitze sorgten zusätzlich dafür, dass der
verkleidete Feind bald real gehasst wurde.
Die Bilder im Film sind schon cool, aber die
wirkliche Atmosphäre, dieses Brodeln,
kann keine Kamera einfangen.
Hattest du für die Realisierung des
Films genaue Vorstellungen, wer
unbedingt mitwirken soll und was
waren deine Kriterien für die
Besetzung?
Es gab keine Kriterien. Wie haben so
was wie ein Online-Casting gemacht. Das
war eine ziemliche Herausforderung, in
einer Zeit vor Facebook und Instagram.
Aber letztlich haben wir Freund*innen und
Punkrockbekanntschaften zu Hauptfiguren
gemacht.
Es scheint mir, dass gerade Darsteller
außerhalb der Punk-Community wie
Martin Semmelrogge, Ralf Richter,
Claude-Oliver Rudolph insbesondere
die bad boys-Charaktere verkörpern
sollten. Bloßer Zufall?
Mit Claude habe ich mich schon vor
Chaostage angefreundet, er hat uns
geholfen, die zahlreichen Halunken an
Bord zu kriegen. Dahinter steckt aber
natürlich keine Methode oder Strategie,
außer: Ich wollte einfach alles tun, damit
der Film von möglichst vielen Leuten
gesehen wird. Und ich war der Meinung,
dass diese Truppe auch einen Teil dazu
beitragen wird.
Woher stammt deine Begeisterung für
den Fankult um St. Pauli und was
zeichnet diesen überhaupt aus?
Als ich zum ersten Mal mit Moses
ans Millerntor gefahren, bin, war ich
ungefähr 16 Jahre alt. Das Besondere an
Sankt Pauli ist, dass sich unter dem Begriff
alles Mögliche versammelt. Es ist eine
soziale Glocke, unter der viel mehr gedeiht
als Fußball. Vor allem war es schon damals
ein Statement. Du warst Fußballfan und
hast dich trotzdem eindeutig gegen Nazis
positioniert. Früher gab es dafür gerne
aufs Maul, aber das hat sich schon lange
geändert. St.Pauli hat eine wehrhafte
Fanszene und das bekommen Nazihools
anderer Vereine regelmäßig zu spüren.
Welche Absichten hattest du mit
deinem Film GEGENGERADE? Wolltest
du polarisieren?
Polarisieren ist ein Begriff, der dem
Film übergestülpt wurde. Gegengerade
war die logische Weiterentwicklung von
Chaostage. Das Porträt einer Null
homogenen Kultur, in der die
Fußballereignisse auf dem Platz höchstens
zweitrangig sind.
Wie ist deine Beziehung zu Fußball,
bzw. zum FC St. Pauli speziell?
Über Gegengerade bin ich irgendwie
in Hamburg kleben geblieben. Im Umfeld
der Fanszene habe ich Freundschaften
geschlossen, die bis heute geblieben sind.
Die Spiele sind immer noch ein Ort, an dem
man sich begegnet, sich Austausch und
jede Menge abgefahrene Dinge erlebt. Der
Ballsport an sich hat mich eigentlich noch
nie sonderlich gejuckt.
Welche Filme mit Punkbezug findest
du selber gut, dass du sie als Klassiker
bezeichnen würdest?
Also, ich kenne sie wahrscheinlich
alle. Die ersten Punkfilme, die ich in die
Finger bekam, waren Sid & Nancy, Repo
Man und – obwohl natürlich übelste Nazis
im Zentrum der Handlung stehen – Romper
Stomper.
https://www.sabotakt.com/
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32
Frauen* in Punkfilme
Vor und hinter der Kamera
PUSSY RIOT: A PUNK PRAYER (Screenshot)
Obwohl Patti Smith die bekannteste Punk-Künstlerin ist, die
mit dem legendären New Yorker CBGB-Club in den 1970er Jahren
in Verbindung gebracht wird, bedeutet dies nicht, dass sie
die einzige Frau in der New Yorker Szene war. Frauen* waren
als Sängerinnen wie Debbie Harry von der Band Blondie, Joan
Jett, Instrumentalistinnen (Poison Ivy von The Cramps, Tina
Weymouth von Talking Heads, Fotografinnen (Roberta Bayley)
und Autorinnen (Mary Harron) aktiv vertreten.
Parallel zur britischen Punk-Szene blühte
die New Yorker Szene und die Punkszene
an der US-Westküste auf. Sie wurde
1981 in dem Dokumentarfilm The
Decline of Western Civilization unter der
Regie von Penelope Spheeris (s. Artikel
und Interview hier im Heft) verewigt.
Der Film zeigt Auftritte ausgewählter
Bands und Interviews mit
Bandmitgliedern und Punks. Die
Regisseurin widmete drei Frauen* ihre
Aufmerksamkeit im Film: den
Sängerinnen Exene Cervence von der
Band X, Alice Bag von der Band BAGS
sowie der Bassistin Lorna Doom von der
Band Germs. Die Arbeit von Spheeris
zeigt, dass die Künstlerinnen ein
unverzichtbarer Teil der Punkszene
waren, der sie angehörten.
Die feministische Riot-Grrrl-Bewegung
ist ein weiteres wichtiges Kapitel in der
Geschichte des Frauenpunks. Die
Wurzeln von Riot Grrrl gehen auf die
Punkszenen der späten 1980er und
frühen 1990er Jahre in Washington und
Olympia zurück. Letzteres war unter
33
anderem die Heimat der Band Bikini
Kill, deren Sängerin Kathleen Hanna bis
heute als Ikone der Bewegung gilt. Riot
Grrrl war eine direkte Reaktion auf die
Vorherrschaft weißer, heterosexueller
Männer in der Punkszene.
Die Geschichte der Frauen* in der
amerikanischen Punkmusik wird zwar oft
vergessen und von der
Medienberichterstattung
ausgeklammert, aber es gibt eine Fülle
bemerkenswerter Persönlichkeiten.
Gesellschaft vorgegebenen
Verhaltensrahmen passen. Die Punk-
Subkultur kann, wie andere Subkulturen
auch, das Bedürfnis befriedigen, einer
Gruppe anzugehören und Kontakt zu
Menschen mit ähnlichem Geschmack
und ähnlichen Ansichten zu haben.
Eine der wichtigsten von ihnen ist Patti
Smith, die oft als die ‚Patin des Punk‘
bezeichnet wird. Ihre Proto-Punk-Songs
aus dem Album Horses, das bei seiner
Veröffentlichung bereits als Klassiker
galt und Slam-Poetry mit Rockklängen
kombinierte, verschafften ihr Kultstatus.
Sie war als Künstlerin nicht nur den
musikalischen Trends voraus, sondern
auch den Modetrends. Der lässige
maskuline Look der Sängerin brach mit
den Klischees von Weiblichkeit.
Wahrscheinlich war es Smith zu
verdanken, dass die amerikanische
Punkmode für Frauen oft utilitaristischer
aussah als ihr britisches Pendant, das
von Vivienne Westwood und ihrer Sex-
Boutique eingeführt wurde.
Punk ist per Definition ein Ort für viele
Menschen, die nicht in den von der
In ihrem Buch „Pretty in Punk: Girls'
Gender Resistance in a Boys'
Subculture“ beschreibt Lauraine
Leblanc ihre eigenen Erfahrungen und
die anderer Frauen in der Punk-
Subkultur. Für die Autorin ermöglichte
es ihr, als Punk Selbstvertrauen zu
entwickeln und ihr Aussehen zu
akzeptieren, das von Gleichaltrigen als
unattraktiv angesehen wurde. Leblanc
beschreibt, dass sie sich vor ihrem
Eintritt in die Subkultur für ihre
Schönheit schämte. Nach ihrem Beitritt
konnte sie ihren Peinigern antworten: „Ja
[ich bin hässlich], aber ich bin
wenigstens absichtlich hässlich“. Wie das
von der Autorin zitierte Beispiel zeigt,
34
kann Punk Mädchen* und Frauen*
helfen, Selbstvertrauen zu gewinnen und
einschränkende Normen bezüglich des
Aussehens abzulehnen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Frauen*
innerhalb dieser Gruppe keine Probleme
haben. Leblanc zufolge stellt sich „die
Punk-Subkultur [...] zwar als egalitär und
sogar feministisch dar, ist aber in
Wirklichkeit weit davon entfernt“. Trotz
der aktiven Beteiligung von Frauen* an
der Subkultur und der Schaffung eines
eigenen, feministischen Subgenres der
Punkmusik ist der Punk immer noch eine
stark maskulinisierte Subkultur, was sich
nur zögerlich ändert.
In „Girl Zines: Making Media, Doing
Feminism“ beschreibt Alison Piepmeier
dieses Phänomen am Beispiel von Sarah
Dyer. Sarah Dyer ist eine amerikanische
Comicautorin und Künstlerin mit
Wurzeln in der Zine-Bewegung der
späten 1980er und frühen 1990er Jahre.
Laut Piepmeier wurde Dyer von den
Mitgliedern der Subkultur oft respektlos
behandelt. Denn Frauen „drinnen“
werden [von anderen Mitgliedern] oft als
„Freundinnen von jemand anderem“ und
nicht als aktive Mitglieder der Gruppe
wahrgenommen. Die Autorin hebt auch
die Tatsache hervor, dass Frauen* von
vielen Forscher*innen, die sich auf den
männlichen Teil der Punk-Subkultur und
der Punk-Musikszenen konzentrieren,
marginalisiert werden. Laut Leblanc
werden Frauen* fälschlicherweise als
marginale, unwichtige Mitglieder einer
bestimmten Subkultur bezeichnet, was
nicht der Wahrheit entspricht.
Die oben genannten Aspekte sind nur ein
Ausschnitt der Probleme, die
Künstlerinnen und Fans im
Zusammenhang mit dem Punk-Milieu
haben. Diese Beispiele zeigen jedoch,
dass die Erinnerung an die Erfahrungen
und Errungenschaften der Frauen* in
der Punk-Subkultur in Vergessenheit zu
geraten droht und die Situation zwischen
Frauen* und Männern weiterhin
angespannt ist. Die Stellung der Frauen*
in der Punk-Subkultur lässt sich mit dem
von Shirley und Edwin Ardener
geprägten Begriff der Muted Group
beschreiben. Wie Elaine Showalter in
ihrem Artikel „Feminist Criticism in the
Wilderness“ erklärt, beschreibt der
Begriff eine Situation, in der „Frauen
eine zurückhaltende Gruppe darstellen,
deren kulturelle und reale Grenzen sich
überschneiden, aber nicht vollständig in
die Grenzen der dominanten
(männlichen) Gruppe fallen“. In einer
solchen Beziehung diktiert die
dominante Gruppe (im Fall der Punk-
Subkultur sind es die cis-männlichen
Punks) die Form der gesamten
Gemeinschaft (Subkultur), und die
zurückhaltende Gruppe (Punks) ist
gezwungen, sich dieser Form
anzupassen. Der Bereich der weiblichen
Erfahrung, der Männern nicht
zugänglich ist, wird als wilde Zone
bezeichnet. Showalter stellt fest, dass es
nach Ansicht vieler Forscherinnen sehr
wichtig ist, diese Erfahrungen zu
analysieren und sie öffentlich zu machen.
Um die weibliche Geschichte des Punks
nicht auszulöschen, lohnt es sich, die
Leistungen der Punk-Künstlerinnen
sowie der Mitglieder der Subkultur und
der Fans der Punk-Musik zu betrachten,
einschließlich derer, die in kulturellen
Texten dargestellt werden. Die
Darstellung von Figuren, die mit dem
Punk in Verbindung gebracht werden,
hilft dabei, die Wahrnehmung von Punk-
Frauen* zu verstehen, sowohl von denen,
die mit der Gemeinschaft in Verbindung
stehen, als auch von denen, die nicht
dazu gehören.
35
Times Square
Times Square ist ein Musikdrama aus
dem Jahr 1980 unter der Regie von Allan
Moyle. Der Film erzählt die Geschichte
von zwei Teenagern, die sich in einer
psychiatrischen Klinik kennenlernen.
Trotz ihrer Differenzen freunden sich der
rebellische Nicky Marotta (gespielt von
Robin Johnson) und die schüchterne
Pamela Pearl (gespielt von Trini
Alvarado) an und entkommen gemeinsam
aus der Anstalt. Nach ihrer Flucht leben
sie auf den Straßen von New York und
verstecken sich vor Pams betrügerischen
Eltern. Die Mädchen gründen eine Band,
schreiben Songs und treten im Radio auf
– dank eines freundlichen DJs (Tim
Curry), der sie berühmt macht. Ihre
Freundschaft endet mit einem Konzert
am Times Square, nach dem Pam in ihr
verlassenes Leben zurückkehren muss.
Moyle stellt die beiden Protagonistinnen
durch Kontraste einander dar. Auf den
ersten Blick haben sie mehr gemeinsam,
als sie scheinbar nicht haben. Die
Mädchen kommen aus verschiedenen
sozialen Schichten, haben
unterschiedliche Charaktere,
Temperamente und Vorlieben. Die beiden
Personen haben die Möglichkeit, sich auf
neutralem Boden kennenzulernen, völlig
losgelöst von ihrem Alltag. Trotz ihres
anfänglichen Widerwillens gewinnen die
Protagonistinnen einander langsam für
sich. Als es ihnen gelingt, aus dem
verschlossenen Gebäude zu entkommen,
zeigt Nicky ihrer neuen Freundin ihre
Punkwelt. Für beide Charaktere
bedeuten Punkmusik und der Punk-
Lifestyle etwas anderes.
Die Figur des Nicky wird dem Publikum
gleich in der ersten Sequenz des Films
als junger Punk in Lederjacke
vorgestellt, der durch die Straßen der
Armenviertel streift. In der
Eröffnungssequenz am Ende spielt das
Mädchen ein Lied auf der Gitarre vor
dem Gebäude einer Diskothek. Als eine
Frau im Disco-Outfit gegen die von Nicky
gespielte Musik protestiert, zertrümmert
sie die Scheinwerfer eines Autos, das
dem Besitzer der Disco gehört. Der
Regisseur unterstreicht in der Sequenz
sowohl den rebellischen Charakter der
Figur als auch den Antagonismus
zwischen der Punk-Subkultur (geprägt
mit gewaltaffinen Ausbrüchen) und den
Liebhaber*innen der damals modischen
Disco-Musik. Die Punkmusik ist zunächst
Nickys einzige Quelle des
Verständnisses. Die Teenagerin rebelliert
gegen die Erwachsenen und die
vorherrschenden
Verhaltenskonventionen. Sie hat keinen
Kontakt zu ihren Eltern, und ihre
tieferen Probleme werden auch von den
Ärzt*innen im Krankenhaus ignoriert, die
nur daran interessiert sind, sie zu
beruhigen/ruhig zu stellen. Dank des
36
Punk scheint Nicky weniger einsam zu
sein. Die Musik von u. a. den Ramones
lässt sie wissen, dass sie nicht die
Einzige ist, die von ihrem Umfeld
missverstanden wird. Andererseits findet
die Figur ein Ventil für unterdrückte
Emotionen, wenn sie beginnt, ihre
eigenen Lieder zu schreiben.
Die zweite Protagonistin, Pam, wird als
Tochter des Bürgermeisters von New
York City vorgestellt, die die Kampagne
„Take Back the City“ gegen die
Gentrifizierung der Stadt leitet. Sie trägt
ein konservatives Outfit, das an eine
Schuluniform erinnert, und ihr Haar ist
ordentlich frisiert. Der Vater versucht,
seine Tochter für ein politisches Spiel zu
benutzen. Bei einem Treffen zur
Förderung seiner Aktivitäten erzählt er
eine fiktive Geschichte über einen Streit
mit einem Teenager. Pam ist empört über
das Verhalten ihres Vaters und
entschließt sich zu einem unerwarteten
Akt der Rebellion: Sie rennt aus dem
Zimmer und knallt die Tür zu. Die
natürliche, jugendliche Reaktion wird als
mögliches Anzeichen einer Krankheit
interpretiert. Bis sie ins Krankenhaus
eingeliefert wird, ist der einzige Trost in
Pams einsamer Existenz, die
wahrscheinlich von Gleichaltrigen
isoliert ist, ihre Lieblingsradiosendung.
Da sie niemanden hat, dem sie sich
anvertrauen kann, geht die Jugendliche
eine einseitige, parasoziale Beziehung
mit dem Radio-DJ ein, der ihre Briefe
vorliest und sie während der Sendung
beantwortet.
Die Worte des Mannes, der dazu
ermutigt, „in unbekannte Gewässer zu
fischen“, erweisen sich als prophetisch.
Nachdem sie zusammen mit Nicky
weggelaufen ist, nimmt Pam schnell
ihren Lebensstil an. Das Mädchen
wechselt ihre Kleidung und ihre Frisur
zu einer jugendlicheren, Frisur. Das
Leben eines Punks hilft der Heldin,
Selbstvertrauen zu gewinnen, gibt ihr
aber auch Raum, um lange verborgenen
Kummer auszudrücken und ihre
Bedürfnisse mitzuteilen. Wie sie in einem
Brief an ihren Vater schreibt, „brauchen
wir nicht deine Antidepressiva, wir
brauchen dein Verständnis“. Obwohl der
Punk für Pam ein vorübergehendes
Abenteuer und kein Weg für den Rest
ihres Lebens ist, hat Punk einen
bedeutenden Einfluss auf die
Entwicklung ihrer Persönlichkeit.
Ein sehr wichtiger Aspekt des Films ist
die Gründung des Musikduos The Sleez
Sisters durch Nicky und Pam. Der Name
der Band selbst ist bezeichnend. „Sleez“
ist eine vereinfachte Schreibweise des
Wortes „sleaze“, was so viel wie Schmutz
und moralische Korruption bedeutet. Der
Name der Gruppe symbolisiert Rebellion
und die Ablehnung von Regeln, die von
Autoritäten auferlegt werden, in Pams
Fall von ihrem Vater, in Nickys Fall von
Ärzt*innen und der Polizei. Im Radio
37
singen die Mädchen: „Neger,
Schwuchtel, Trottel / deine Tochter ist
eine von ihnen“. Der Text des Liedes
kann das Gefühl der Verachtung
ausdrücken, das sie von den
Erwachsenen erfahren haben, und ein
Gefühl der Solidarität mit Gruppen von
Menschen zum Ausdruck bringen, die
von der Mittel- und Oberschicht,
vertreten durch Pams Vater, ignoriert
und sogar verachtet werden. Musik
ermöglicht es, sich selbst auszudrücken
und gemeinsam etwas zu schaffen.
Im Film singen Nicky und Pamela den
Song „Your daughter is one“ live und
reagieren damit auf die Angriffe von
Pamelas Vater David Pearl, der eine
städtische Initiative zur Säuberung und
Sanierung des Times Square leitet.
„Miss Rosie Washington
I'm sticking pins into your brain
I'm manslaughtering you with
voodoo
Can you hear the drums?
Can you feel the pain yet, faggot
social worker?
Yeah, and Mr. Pearl
I hate you with every rotten tooth in
my head
Black-eyes to YOU, fucking Nazi(…)“
Im letzten Akt des Films wird die von
den Figuren gegründete Punkband unter
den New Yorker Mädchen populär. Vor
allem die einheimischen Teenager finden
Verständnis für Nickys Charakter, so wie
Nicky zuvor bei ihren Punk-Idolen Halt
gefunden hatte. Die Mädchen sind vom
Kleidungsstil der jungen Künstlerin
begeistert und versammeln sich, um dem
Konzert der Sleez Sisters zu lauschen.
Das Konzert wird vorzeitig abgebrochen
und die Freundinnen werden getrennt.
Aber wie Nicky sagt: „Sie mögen mich
besiegen, aber sie werden nicht euch alle
besiegen“ – die Punk-Künstlerin kann
ihren Zuhörer*innem helfen, eine neue
Gemeinschaft aufzubauen, und ihre
Musik kann Kraft geben.
Ladies and Gentlemen, The
Fabulous Stains
Der Film erzählt die Geschichte
der fiktiven Band The Fabulous Stains.
Die Außenseiterin Corinne (Diane Lane)
bildet die Gruppe mit ihrer Cousine
Tracy (Marin Kanter) und ihrer Freundin
Jessica (Laura Dern). Durch eine Laune
des Schicksals erhält die
Mädchengruppe die Chance, ihre
Heimatstadt zu verlassen und mit der
Punkband The Looters auf Tournee zu
gehen. Mit der Zeit überwältigt die
Popularität von The Fabulous Stains ihre
älteren Kollegen. Trotz Konflikten und
Widrigkeiten haben die Teenager Erfolg
und treten im Musikfernsehen auf.
Die Hauptfigur des Films, Corinne,
verkörpert das Punk-Ethos des „Nno
38
future“. Die verwaiste Teenagerin ist
nihilistisch, hat keine Ausbildung und
keine Pläne für die Zukunft. Sie
empfindet Abneigung gegen ihre
Heimatstadt und träumt davon, sie zu
verlassen. Die Protagonistin ist zwar von
der Punkmusik selbst fasziniert, was sich
beispielsweise in ihrer Reaktion auf das
erste Konzert von The Looters zeigt,
aber wichtiger scheint für sie das
Versprechen eines anderen Lebensstils
zu sein, den der Punk bietet. Erst ist es
ein Traum, dann wird es mit den ersten
Erfolgen Realität. Eine musikalische
Karriere ermöglicht es, eine ungewisse
Vergangenheit hinter sich zu lassen. Um
eine Rückkehr in ihr altes, verhasstes
Leben zu vermeiden, kann die
Protagonistin zu Plagiaten und anderen
moralisch fragwürdigen Praktiken
greifen.
Die Auftritte der Band bieten einen
Raum, in dem patriarchalische Normen
offen herausgefordert werden. Corinnes
Äußerung des Slogans:
„Wir sind The Stains und wir lassen uns
nicht unterkriegen“ ist wahrscheinlich
ein Ausdruck der Rebellion gegen
männliche Erwartungen. Wenn man
bedenkt, dass die Mitglieder von The
Fabulous Stains wahrscheinlich Kinder
der Hippie-Generation sind, könnte dies
auch eine Ablehnung der von ihnen
vertretenen Werte darstellen. Es sei
daran erinnert, dass die Zeit der
sexuellen Revolution in den 1960er
Jahren nicht nur die Freiheit der
Umgangsformen mit sich brachte,
sondern auch die Erwartung der Männer
an den Zugang zu Sex/one night stands
für Frauen*.
Der erste Auftritt der Band kann als
symbolische Ankündigung einer neuen
Ära der Rockmusik gelesen werden. Die
Fabulous Stains treten vor einem
typischen Kleinstadtpublikum auf, das
gekommen ist, um eine Hardrockband
ähnlich wie KISS zu hören. Das Publikum
bevorzugt den klassischen, maskulinen
Rock. Die Teenager*innen von The Stains
sind Vertreter*innen des immer beliebter
werdenden Punkrocks, der hier ein
wenig an das Subgenre Riot Grrrl
erinnert, das ein paar Jahre später
auftauchen sollte. Das Publikum,
insbesondere der männliche Teil,
reagiert negativ auf die Aufführung und
die radikalen, feministischen Slogans der
Mädchen, beschimpft sie und wirft sogar
ein Getränk nach der Sängerin.
Diane Lane als Corinne ‘Third Degree’ Burns
Corinnes Fernsehauftritte vor und nach
den Konzerten sorgen jedoch dafür, dass
die Band ein treues Publikum hat und sie
zu einem Idol unter Teenagern wird. Die
Jugendlichen sehen Corinne als eine
Person, die ihre Dilemmata und
Frustrationen zum Ausdruck bringt. So
schreibt ein Jugendlicher in einem Brief
an einen Fernsehsender: „Corinne
spricht laut aus, worüber ich tagelang
nachdenke.“ Dank des Interesses ihrer
Altersgenossen werden The Fabulous
Stains immer beliebter. Die Band wird
zum Vorbild für junge Leute, die sich
ähnlich unkonventionell und gewagt
kleiden und sich mit Make-up und
Frisuren schminken, die vom Stil der
Gruppe inspiriert sind. Gruppen junger
Mädchen schaffen ihre eigene Version
der Punk-Subkultur, die es ihnen
ermöglicht, sich von den herrschenden
Normen zu lösen und Freund*innen mit
39
ähnlichen Interessen und Problemen zu
finden.
Her Smell
Her Smell ist ein psychologisches
Musikdrama unter der Regie von Alex
Ross Perry, das 2018 uraufgeführt
wurde. Der Film begleitet die Sängerin
Becky Something (Elizabeth Moss) von
einem Konzert ihrer Band Something
She über eine Zeit, in der die Künstlerin
mit Sucht und einem instabilen
Geisteszustand kämpft, bis hin zur
Auflösung der Musikgruppe. Perrys Film
hat keine klassische Handlung.
Stattdessen stellt der Regisseur die
Situation der Hauptfigur in Form von
kurzen Episoden dar. Her Smell ist einer
der wenigen Filme über fiktive Punk-
Künstlerinnen, der sich auf die Figur
einer reifen Frau konzentriert. Die
bereits erwähnten Fabulous Stains
widmen sich in ihren Werken jungen
frau*lichen Protagonistinnen, die am
Anfang ihrer musikalischen Karriere
stehen. Punk wird in ihnen oft als
jugendliche Rebellion gesehen. Alex Ross
Perry beleuchtet in Her Smell eine
erwachsene Figur, für die Musik und
Punkkultur keine vorübergehende Phase,
sondern eine Lebenseinstellung sind.
In dem Film seziert Perry das
romantisierte Bild des rebellischen
Künstlers. Die Eröffnungssequenz des
Films ist in einer für Musikfilme
typischen Weise gedreht. Die Kamera
folgt der Band, wenn sie aus dem
Backstage-Bereich kommt, begleitet vom
begeisterten Jubeln ihrer Fans. Das
Publikum ruft Beckys Namen und
erklärt, dass es sie liebt. Die Hauptfigur
lächelt daraufhin charismatisch. Auf der
Bühne wirkt sie stets selbstbewusst und
entspannt. Der Regisseur zeigt jedoch in
dem Moment, in dem Becky die Bühne
verlässt, dass ihre Haltung auf der
Bühne wenig mit der Realität zu tun hat.
In Her Smell wird den negativen
Aspekten des Lebens einer Punk-
Künstlerin viel Aufmerksamkeit
gewidmet. Der in der Punk-Subkultur
verbreitete Konsum von Alkohol und
Drogen und die Überschreitung
normativer Verhaltensnormen haben
negative Auswirkungen auf die
Protagonist*innen. Die Drogen und der
selbstzerstörerische Lebensstil führen zu
psychischer Instabilität, die sich auf ihre
zwischenmenschlichen Beziehungen zu
Familie, Freund*innen und Kolleg*innen
auswirkt.
Depressionen und Angststörungen, die
sich in der Angst, das Haus zu verlassen,
äußern. Darüber hinaus hat sie
rechtliche Probleme, denn es wurden
mehrere Klagen gegen sie eingereicht,
und ihr Urheberrecht an der Musik, die
sie mit Something She geschaffen hat,
wurde widerrufen.
Alex Ross Perry stellt die Welt der
Punkmusik in einem eindeutig negativen
Licht dar. Alkohol, Drogen und
transgressives Verhalten, die bei
40
weiblichen und männlichen Punk-
Künstler*innen beliebt sind, werden in
Her Smell nicht auf romantische Weise
dargestellt, sondern als Faktoren, die zu
mehr Selbstvertrauen und Freiheit
verhelfen oder die Einsamkeit
verringern.
Her Smell: Agyness Deyn, Elisabeth Moss
Im Gegenteil, der Punk-Lebensstil
zerstört die Bindungen der Hauptfigur zu
anderen Menschen und führt zur
Isolation. In der Schlussszene singt Her
Smell Something She einen Song auf der
Party ihres Managers zum Abschluss
ihrer Karriere. Der Auftritt der Band
läuft gut, und der Manager verlangt von
Becky eine Zugabe. Daraufhin umarmt
die Künstlerin ihre Tochter, der sie
verspricht, zukünftig besser auf sie
aufzupassen. Die Heldin beschließt, auf
Familie und Stabilität zu setzen. Es stellt
sich vielmehr heraus, dass Punk nicht
die Art ist, um auf die hier skizzierte
selbstzerstörerische Art und Weise für
den Rest ihres Lebens zu leben. Die
einstige Rebellin wird konservativ. Ein
ernüchterndes Fazit und ein
enttäuschendes Ende dazu. Nicht nur,
dass der Regisseur allgemeine Klischees
in Verbindung mit Punk herleitet und die
Protagonistin mit einer
selbstzerstörerischen Etikette ausstattet,
sondern auch, dass Punk als
Lebenseinstellung trotz aller
Widersprüche in Her Smell als
nihilistisch und als ein moralisch
„falscher“ Weg skizziert wird: Punk als
eine vorübergehende, altersbedingte
Phase. Das
konservative
Denken passt
aber zu
ehemaligen
Protagonist*innen
der Punk-
Subkultur.
Viv Albertine
spielte einst bei
The Slits und
kämpfte damals
wie andere
Frauen in
Punkbands, als
Musikerin in einer
Band anerkannt
zu werden. Aber
sie sieht keinen
Sinn darin, dass ihre eigene Tochter
ihrem Beispiel folgen sollte.
„Ehrlich gesagt, als junge Frau würde
ich heute nicht in einer Band sein wollen.
In der ersten Welt ist Musik nicht mehr
revolutionär, sie wurde als Medium von
der westlichen Konsumgesellschaft
absorbiert, und Rockmusik wird nie
wieder diese radikale Kraft sein.
Dasselbe ist schon mit der Dichtung,
dem Ballett, der klassischen Musik und
dem Theater passiert. Wir hatten unsere
60-Jahre Rebellion, jetzt ist die Zeit für
eine neue radikale Form. Ich bin nicht
nostalgisch. Ich bin froh, damals gelebt
und das getan zu haben, aber weinen wir
nicht darum. Was soll es? Weiter geht
es!“ 1
1 Zitiert nach Robert Rotifer in der Sendung „tonart“
vom 19.08.2016
41
42
Normalzustand.
Undergroundfilm
zwischen Punk
und
Kunstakademie
Die Film-Ausstellung in München
präsentierte mit dem Untertitel
„Undergroundfilm zwischen Punk und
Kunstakademie“ eine Auswahl von
Experimentalfilmen mit überwiegend
digitalisierten Super-8-Filme als Loop.
Zum Programm gehörten Filme wie Alte
Kinder (Christiane Heuwinkel, Matthias
Müller, Maija-Lene Rettig u.a., Bielefeld),
Anarchistische Gummizelle („Der
schwarze Film“, Stefan Ettlinger, Heinz
Hausmann, Otto Müller und Uli Sappok,
Bertram Jesdinsky, Düsseldorf 1981), von
Jörg Buttgereit („Mein Papi“, Berlin
1981), Die Tödliche Doris
(„Wasserballet“, Wolfgang Müller u.a.
Berlin 1984), Knut Hoffmeister
(„Berlin/Alamo“, Berlin 1979), Notorische
Reflexe (Christoph Doering, Knut
Hoffmeister, Ghazi Twist, Sacha v.
Oertzen, Yana Yo u. a., Berlin), PELZEmultimedia
& LÄSBISCH-TV,
Schmelzdahin („In Diep Hust“, Jochen
Lempert, Jürgen Reble, Jochen Müller,
Bonn 1984), Schwarze Schokolade,
Teufelsberg Produktion und Yana Yo
(„Pommes Frites statt Körner“, Berlin
1981).
Laut Kuratorin Stephanie Weber machte
das Zusammenspiel der ausgewählten
Filme „eine betont ungekonnte und
gekonnt unprofessionelle Form des
Filmens – und damit des ‚Kunstmachens‘
– sichtbar, die sich keiner starren
stilistischen oder inhaltlichen Kategorie
zuordnen lässt: mal narrativ, mal
abstrakt, mal provokativ, mal poetisch
schöpfen die Filme aus diversen Quellen,
die vom avantgardistischen sowjetischen
Film der 1920er-Jahre über die burleskhysterische
Handschrift der
amerikanischen Undergroundfilmszene
bis hin zum Musikvideo und Horrorfilm
reichen.“
Punk und Underground auf
Super-8
Mauer, kalter Krieg, tonnenweise
Haarspray – sind das die Achtziger?
Wenn man tiefer gräbt, kann man das nur
43
verneinen. Angesteckt durch die Do-ityourself-Haltung
des Punkrock
experimentierten junge Künstler*innen
mit Film-, Musik- und Performance-
Elementen und formierten so den
deutschen Underground. Vor allem in
Westberlin, aber auch in Bonn oder
Düsseldorf traf Punk auf Kunst, Dada auf
B-Horror und Protest auf Unsinn.
Die teilweise sehr seltenen Beiträge von
»Normalzustand« beweisen zwei Dinge
zweifellos: Erstens waren die Achtziger
eine großartige Zeit für Kunst- und
Filmexperimente. Und zweitens braucht
man nichts weiter als ein paar
Freund*innen, eine Super 8-Kamera und
eine Idee, um diese in die Tat
umzusetzen.
Die Punkbewegung in Deutschland war
auch eine Filmbewegung. Ab den späten
70er Jahren formierten sich von
Bielefeld, Bonn und Düsseldorf bis Westund
Ostberlin lokale Filmszenen. Super-
8, ein Schmalfilmformat für den
Hausgebrauch, spielte in dieser
Entwicklung eine entscheidende Rolle.
Es war ebenso günstig in der
Anschaffung wie einfach in der
Bedienung und fand dementsprechenden
Anklang. In Westberlin entstanden bald
alternative Kinos, die sich auf Super-8
und andere experimentelle Formate
spezialisierten. Der eigentliche Ort der
alternativen Filmformen blieb jedoch der
zwanglosere Kontext der Bars und
Musikclubs. Im SO36, dem damals
polemisch diskutierten und umkämpften
Ort der Westberliner Punk- und
Anarchoszene, organisierte Martin
Kippenberger 1979 das N.Y. Narrativ
Film Festival, über das Kontakte mit der
New Yorker Underground Filmszene
geknüpft wurden. Die Ausstellung vereint
eine Auswahl von Underground-Filmen
aus Deutschland und den Vereinigten
Staaten aus den späten 70er bis 90er
Jahren und somit aus zwei Szenen, die
sich trotz gemeinsamer Feindbilder
(allen voran die Mainstream
Filmproduktion) stark voneinander
unterscheiden. Auf beiden Seiten des
Atlantiks bediente man sich bei den
unterschiedlichsten Genres wie dem
Amateurfilm, dem HomeMovie und dem
Horror- und Experimentalfilmgenre. US-
Produzent*innen wie Nick Zedd konnten
zudem auf eine mehrere jahrzehntealten
amerikanischen Underground-
Filmtraditionen zurückgreifen, deren
Hang zum Camp sie zu neuen absurden
Höhen trieben.
Yana Yo drehte 1981 ihren ersten Super-
8-Film „Pommes Frites statt Körner“. In
diesem experimentellen Kurzfilm (7
Minuten) skizziert Yana die
klaustrophobische „Inselstadt“ West-
Berlin. In ihrem Film jagt eine in Leder
gekleidete junge Frau die Berliner Mauer
entlang. Ihre Schritte haben weder
Zweck noch Ziel. Das Rennen durch eine
Stadt, die von der Berliner Mauer
umgeben ist, wird zu einem absurden
Akt, weil die Endstation immer ein mit
Graffiti besprühter Betonstreifen sein
wird.
Darauf folgte 1981 der Kurzfilm
„Normalzustand“. Zum Rhythmus der
Musik von Fehlfarben und deren Song
„Apokalypse“ schneidet Yana Yos Super-
8-Film Normalzustand fahrende Panzer,
Nahkampfszenen, Supermarktregale,
einen brennenden Dummy aus Plastik,
dazwischen verrissene Bilder nächtlicher
Straßen. Der Film funktioniert wie ein
Videoclip zum Katastrophensong von
Fehlfarben, in dem es im Refrain heißt:
„Ernstfall – es ist schon längst so weit.
Ernstfall – Normalzustand seit langer
Zeit“. Auffällig ist die Überlichtung. „Die
Konturen der vom Fernseher abgefilmten
Szenen verlieren sich immer wieder in
hohem Kontrast in zu hellen Flächen,
entwerfen eine Ästhetik, die typisch für
die frühen 1980er Jahre erscheint und
deren technische Grundlage oft im
mehrfachen Kopieren analogen
Videomaterials lag, oder eben in der
falschen Belichtung des Super-8-
44
Umkehrfilms. Die Kriegsbezüge in
Apokalypse ergänzt Yana Yo durch Bilder
rotierender Magnetbandspulen eines
Großrechners. Yos Verweis auf den
Computer steht hier gleichfalls als
Symbol für eine rationalisierte Welt, in
der Industrie- und Staatsapparate das
Leben kontrollieren und speichern“ 1 .
Nicht selten entsteht hier der Eindruck,
einen Videoclip der Band Fehlfarben zu
sehen.
Ebenfalls 1981 erschien ein weiterer
Kurzfilm von Yana Yo.
„Gehindieknieunddrehdichnichtum“ ist
ein Schwarz-Weiß-Film auf Super-8 mit
Musik von DAF und Saal 2. Zum DAF-
Song „Tanz den Mussolini“ sind
uniformierte chinesische Kinder zu
sehen, die Gymnastik-Übungen machen.
Philipp Meinert und Martin Seeliger
erkennen in ihrem Buch „Punk in
Deutschland: Sozial- und
kulturwissenschaftliche Perspektiven“
hinsichtlich der Super-8-Bedienung eine
„forcierte filmästhetische Ebene“,
bedingt durch „Bewegung und
Schnelligkeit“. Standard bei Super-8
waren 18 Bilder/s. Etwas gehobene
Modelle boten eine Zeitlupe, der Film lief
dann bei der Aufnahme meist etwa
doppelt so schnell, also mit ca. 36
Bilder/s, bei noch besseren Kameras mit
54 Bilder/s, in selteneren Fällen sogar 70
Bilder/s. In dieser Klasse war überdies
ein Zeitraffer üblich, dabei lief der Film
mit der halben Geschwindigkeit, also 9
Bilder/s in der Kamera sowie die vom
Kino bekannten 24 Bilder/s. Diese
Arbeiten/Effekte setzen einen Projektor
voraus.
Mit „Berlin Super 80 - Music & Super
8 Underground Berlin-West 78-84“
erschien 2004 ein Multimedia-Rückblick
auf West-Berlins Subkultur zwischen
1978 und 1984. Erstmalig wurden die
frühen Werke der Super 8-Film-
1 Zit. Nach Florian Wüst, Emergency in Real-Time, in:
„Who says concrete doesn’t burn, have you tried?“
b_books, Berlin 2008
Avantgarde dieser Zeit dokumentiert und
um die Musik und Kunst der
Anarchist*innen, Aktivist*innen, Punks
und „Genialen Dilletanten“ der
Mauerstadt ergänzt.
Dabei handelt es sich um eine Reise
durch den West-Berliner Art/Punk/Wave-
Underground, die als Begleitmaterial
zum hübsch aufgemachten 100-seitigen
Booklet mit einer Audio-CD oder als
Doppel-LP (u.a mit Einstürzende
Neubauten, Die Tödliche Doris, Malaria)
und einer DVD mit 120 Minuten Super8-
Filmen, in eine Pappbox daherkommt 2 .
Blixa Bargeld wollte 1981 ein
Weltuntergangsfestival mit befreundeten
Bands machen, Wolfgang Müller wollte
mit der Veranstaltung lieber die
neodadaistische Bewegung der „Genialen
Dilletanten“ 3 ins Leben rufen. Gewonnen
haben sie beide, wenn man sich im
Nachhinein die von Rolf S. Wolkenstein
zusammengestellte „Super 80“-
Filmkompilation anschaut und die
beiliegende CD durchhört. Das
Markenzeichen für das Berlin dieser Zeit
ist tatsächlich eine gehörige Portion
Härte in Sachen Musik geworden, die
allerdings immer wieder mit abstrusen,
manchmal auch gerade wegen ihrer
monotonen Blödheit witzigen Images
(Frontstadthumor) kombiniert wird.
2 http://www.monitorpop-entertainment.de/?
cat=products&subcat=103&id=121
3 https://www.underdog-fanzine.de/2016/03/25/
geniale-dilletanten-die-kunst-der-selbstaneignung/
45
46
Yana Yo – Als Super 8 ein
Lebensgefühl war
„Pommes Frites statt Körner“ von Yana Yo auf Super-8; 1981
Nach einer Buchhändlerlehre
studierte Yana von 1979 bis 1984
in Berlin „Bildende Kunst“ bis
zum Abschluss als
Meisterschülerin.
Yana hat Anfang der 80er Jahre
mehrere Kurzfilme auf Super-8
gedreht. In einer Zeit des
sogenannten Kalten Krieges, wo
der Alltag von Ängsten eines
atomaren Krieges begleitet
wurde. West-Berlin war eine
Insel, das Leben hier zugleich
beschaulich und exzessiv. Die
wachsende Hausbesetzer*innen-
Szene wurde militanter. Anfang
der 80er-Jahre war die
Hausbesetzer*innenbewegung in
West-Berlin eines der großen
Themen der Politik. Demgegenüber
entwickelte sich eine kreative,
subversive Subkultur, die auf
viele Menschen eine
Anziehungskraft ausübte. Einige
sahen in der Mauer weniger ein
Symbol eines Unrechtsstaats,
sondern vielmehr eine
künstlerische Herausforderung.
In den 80er-Jahren gab es viele
Leute, die nach West-Berlin
gerade gekommen sind, weil sie
bestimmte Qualitäten gesehen
haben, zum Beispiel eine
bestimmte Zeit, die man braucht,
um etwas zu entwickeln. Es gibt
eine Reihe von Filmen, die die
Zustände festhielten und
skizzierten. So ist „B-MOVIE:
Lust und Sound“ in West-Berlin
über die Musik- und
Künstler*innenszene Berlins in
den 80er Jahren ist
47
Liebeserklärung und
Dokumentation in einem. Alles
ist immer in Bewegung, neue
Bands gibt es in ständig
wechselnden Konstellationen.
„Pommes Frites statt Körner“
lautet der Titel des 7-minütigen
Kurzfilms von Yana aus dem Jahr
1981, einem experimentellen
Super-8-Film über die
klaustrophobische „Inselstadt“
West-Berlin. Mit „Normalzustand“
schneidet Yana fahrende Panzer,
Nahkampfszenen,
Supermarktregale, einen
brennenden Dummy aus Plastik,
dazwischen verrissene Bilder
nächtlicher Straßen zu einem
apokalyptischen Super-8-Kurzfilm
zusammen. Der Film funktioniert
wie ein Videoclip zum
Katastrophensong von Fehlfarben.
Es folgen weitere Filme auf
Super-8 mit Musik von DAF
(Gehindieknie...; Die
Architektur der Teilung,
Muttererde mit Musik von
MALARIA! (1982) u. a. 1989 ist
Yana nach Köln gezogen, lebt und
arbeitet seit 2020 in der Eifel,
ist bei „Bündnis 90/Die Grünen“
aktiv. Ihre Underground-Filme
und Bilder werden auf
Ausstellungen gezeigt. Mich
haben Yanas künstlerischen
Arbeiten zwischen Dada,
Subkultur und zeitgenössischem
Gesellschaftsporträt und ihr
Gespür fürs Absurde und
Abseitige interessiert.
Yana, die Filmreihe »Normalzustand«
– Undergroundfilm zwischen Punk
und Kunstakademie – vereint eine
Auswahl von Experimentalfilmen, die
in den späten 1970er- bis frühen
1990er-Jahren in Deutschland
entstanden. Wie war deine
Verbindung zwischen Punk und
Kunst begründet?
Kunst und
Punk (später
Post-Punk)
waren in dieser
Zeit in Berlin
sehr
miteinander
verwoben, und
ich war
passenderweise
seit 1979
Kunststudentin
und lebte in
Berlin.
Die Hälfte
meiner Freund*innen waren
Musiker*innen, die andere Hälfte
(Lebens-)Künstler*innen. Wir wollten uns
vom Establishment distanzieren, haben
das Leben als Experiment angesehen,
waren gegen AKWs, für Multi-Kulti,
haben nebenbei Häuser besetzt und
alternativ gelebt. Mit Kunst Geld zu
verdienen war völlig verpönt. Ich
studierte Malerei an der Hochschule der
Künste, machte aber zugleich
Experimentalfilme, Ausstellungen,
Performances und Tonstudio-Aufnahmen,
wo ich u.a. zu Gudrun Guts 1 Schlagzeug
sang, was dann von John Peel in seiner
Radioshow auf BBC ausgestrahlt wurde.
Geld habe ich damit nicht verdient.
»Wir wollten uns vom Establishment
distanzieren, haben das Leben als
Experiment angesehen!«
1 Mit Bands wie Mania D., Malaria! und Matador hat
Gudrun Gut von Berlin aus Musikgeschichte
geschrieben – und dies aktuell auch im Wortsinne
getan: „M_Dokumente“ ist der Titel eines Buches, in
dem sie zusammen mit ihren ehemaligen
Bandkolleginnen Beate Bartel, Bettina Köster sowie
diverse Wegbegleiter*innen und Expert*innen wie
Nick Cave, Christine Hahn, Annett Scheffel oder
Diedrich Diederichsen auf über 40 Jahre unter dem
Motto „Mehr Kunst in die Musik, mehr Musik in die
Kunst“ zurückblicken.
48
Betrachtest du Film als subversive
Kunst? Wie „subversiv“ kann Kino
heute noch sein?
Für mich bedeutet subversive
Kunst eine Form der Zerstörung von
Sehgewohnheiten, um neue Sichtweisen
zu erschaffen. Film als Teil der Künste
kann ebenso wie Literatur oder Malerei
dazu beitragen, Ungewöhnliches zu
vermitteln oder Wissen völlig neu zu
präsentieren. Das umfasst auch politisch
heikle Fragen und das vorurteilsfreies
Betrachten sozialer, politischer und
ökonomischer Realitäten. Gerade habe
ich z.B. eine neue Doku auf ARTE
gesehen: „Unterm Radar“ zum Thema
„Wege aus der digitalen Überwachung“,
auf die ich aufmerksam geworden bin,
weil mein Sohn Rubin den Filmton dafür
gemacht hat. Diese Themen finde ich
momentan sehr interessant, weil sie sich
mit der Unterwanderung eines alles
beherrschenden Systems befassen.
Subversion 2.0.
»Alles roch nach Untergang,
Rebellion und Aufbruch.«
In Düsseldorf war es die Nähe
zwischen Kunsthochschule und dem
Ratinger Hof, in Berlin der Einfluss
von Punk auf die JUNGEN WILDEN.
Unter dem Begriff der „Neuen
Wilden“ oder auch „Jungen Wilden“
wird im Allgemeinen die deutsche
neoexpressive Kunst der 1980er
Jahre zusammengefasst, die sich in
Berlin, Hamburg und Köln zentrierte.
Findest du dich da wieder?
Anfang der 1980er Jahre habe ich
mich selbst unter dem Label der „Jungen
Wilden“ verortet, da ich bei Helmut
Middendorf einen Super 8-Kurs belegte
und bei Karl-Horst Hödicke studierte, der
als „Vater der Jungen Wilden“ galt. Dies
und viele Kontakte zu dieser Szene z. B.
im „Exil“ haben mich damals sehr
beeinflusst. Ebenso meine Besuche im
„Ratinger Hof“ und bei Düsseldorfer
Künstler*innen und Musiker*innen. Die
Kölner*innen habe ich erst nach meinem
Umzug 1989 nach Köln kennengelernt,
da waren sie schon Legende.
Meine ersten Filme wurden dann auch
durch Teilnahme an einigen
Ausstellungen Anfang der 1980er Jahre
(„Im Westen nichts Neues“, „Volkskunst“
und „Berlin Notes“) in diesen „Jungen
Wilden“-Kontext gebracht.
Für meine Soloausstellung in Hannover
1983 in der Galerie Odem wurde ich in
der Zeitung ebenso als „Junge Wilde“
angekündigt. Dennoch gehörte ich
eigentlich zur darauf folgenden
Generation, die nicht mehr in dem Maße
vom Hype berührt war wie die
sogenannten „Moritzboys“ 2 , die
„Mühlheimer Freiheit“ 3 und die
Düsseldorfer*innen und
Hamburger*innen. Der Zug war schon
abgefahren, bevor ich mit dem Studium
1984 fertig war.
Was war denn für dich Anfang der
80er Jahre in West-Berlin in dieser
Hinsicht besonders reizvoll?
Diese „Alles ist erlaubt“-
Atmosphäre kam mir damals wie ein
Versprechen der Freiheit vor. Ich war
Anfang 20, studierte nach einer
Buchhändlerlehre in der Provinz endlich
Kunst und durfte in der großen Stadt
machen, was ich wollte. Alles roch nach
Untergang, Rebellion und Aufbruch und
brach mit meinen bisherigen Seh- und
Hörgewohnheiten. Mein Leben war so
2 Rainer Fetting, 1949 in Wilhelmshaven geboren,
studierte wie Yana Yo an der Hochschule der Künste
in Berlin und war Ende der 1970er Jahre
Mitbegründer und Protagonist der Galerie am
Berliner Moritzplatz. Diese wurde von einer Gruppe
junger Künstler*innen gegründet, die unter dem
Begriff „Neue Wilde" oder auch „Moritzboys“
bekannt wurden. Ihre Malerei war emotional und
direkt, heftig und sehr farbig und vor allem:
gegenständlich.
3 1979-84 bestehende Gruppe neoexpressionistischer
Maler, die international erfolgreich war. Der Name
geht auf den Gründungsort, ein Hinterhofatelier im
Kölner Stadtteil Mülheim mit der Adresse Mülheimer
Freiheit zurück.
49
expressiv, experimentell und
abenteuerlich wie die Kunst und Musik
dieser Zeit.
Bands wie Einstürzende Neubauten,
Deutsch Amerikanische
Freundschaft, Der Plan, Palais
Schaumburg, Die Tödliche Doris,
Freiwillige Selbstkontrolle, SYPH,
Fehlfarben waren Zeugnis dieser
kreativen, experimentellen Ära,
Punk, Avantgarde und Kunst zu
verknüpfen. Wie entstand die Idee,
dass du mit Super-8-Kamera ein Teil
davon sein wolltest und so eine neue
Ausdrucksform gefunden hattest?
Diese Musik stand für Anarchie,
Rebellion, Unangepasstheit und
Kreativität. Da sie und einige ihrer
Berliner Protagonist*innen täglich in
meinem Leben präsent waren, wurde
meine Sicht auf die Dinge dadurch stark
geprägt. Auch durch die Freundschaften
zu anderen Künstler*innen, die bereits
mit Super-8 gearbeitet hatten oder auch
im Versuchsstadium wie ich waren,
sammelte ich erste Erfahrungen.
Negativfilme organisierte Middendorf
durch die Hochschule. Schon bald
machte ich eigene avantgardistische
Filmchen, angeregt durch alte
Avantgarde-Klassiker und neue schräge
Bands wie „Die tödliche Doris“ und viele
andere. „U.V.A“ hieß dann auch unsere
neue Gruppe von Super 8-Filmer*innen,
die sich jeden Dienstag bei mir im
Wedding trafen, um uns auszutauschen
und Veranstaltungen zu planen. Die
meisten dieser Leute hatten auch ihre
Filme Padeluun 4 für die Tour „Alle
Macht der Super 8“ mitgegeben. Wir
4 padeluun ist ein deutscher Künstler und Netzaktivist,
der für digitale Bürgerrechte eintritt. Er gründete
1984 zusammen mit Rena Tangens das Kunstprojekt
und die Galerie Art d’Ameublement. Ende der 1970er
Jahre war padeluun in der Düsseldorfer New-Waveund
der Berliner Punk-Szene als Performance-
Künstler und als Super-8-Filmer aktiv. Er war
sporadisches Mitglied von Minus Delta t und ist einer
der Protagonisten in Jürgen Teipels Roman
Verschwende Deine Jugend.
veranstalteten Projektionen an der
Berliner Mauer und anderen Orten ohne
Erlaubnis. Gleichzeitig haben wir unsere
Filme im „Mitropa“, im „Risiko“ und
„Cafe Central“ und in vielen anderen Off-
Locations gezeigt.
Ab 1982 wurde es dann schon offizieller,
als nach den Aufführungen in unserem
av-Geschoss das Super 8-Festival
„Interfilm“ entstand. Und die von mir
mitgegründete Multimediale Band
„Notorische Reflexe“ (Breshnev Rap)
ging auf Tour durch Europa, gesponsert
vom Goethe-Institut.
Wieso war Super-8 das ideale Format
für den Undergroundfilm?
Meine erste Kamera war eine sehr
kleine und handliche Canon mit einem
1:1 Objektiv. Damit konnte ich sogar
subversiv in Dunkelzonen filmen. Sie
passte in meine Jackentasche und war
immer dabei. Außerdem konnte ich die
Filme zu Hause schneiden und brauchte
kein Studio dafür. Das sorgte für große
Unabhängigkeit im Gegensatz zu Video.
Woher hattest du deine Kamera?
Ich hatte sie mir unter dem
Gesichtspunkt „Muss in die Jackentasche
passen und robust sein“ gekauft,
finanziert über Tresentätigkeit im Café
Mitropa. Ich weiß echt nicht mehr, wo ich
sie gekauft hatte, aber die Kamera war
auf jeden Fall gebraucht gekauft.
„Do it yourself“ lautete die Devise.
Sei was du sein willst und fühle dich
frei. Das klingt beinahe schon wieder
hippiesk....Von wem oder was hast du
dich in der Kunstform
leiten/Inspirieren lassen?
Sicherlich hat meine alternative
Vergangenheit als jüngstes Mitglied einer
Produzent*innengalerie und
Mitbewohnerin einer Anarcho-Kommune
in Ostwestfalen-Lippe Mitte bis Ende der
1970-er Jahre schon zu dem „hippiesken“
„DIY“ beigetragen. In Berlin gab es dann
50
unzählige weitere Einflüsse, von der
Punk-Musik über Avantgardefilme und
Punk-Design bis zur Performance-Kunst.
Helmut Middendorf zeigte uns, einer
kleinen Gruppe von Hödicke-
Student*innen an der Hochschule
unzählige Klassiker des Avantgardefilms,
von den 1920er -1960er Jahre. Diese
Filme haben mich sehr inspiriert, vor
allem Vertov, Richter, Eggeling, Man Ray
und später Kenneth Anger, Warhol und
Yoko Ono und auch neue
Experimentalfilme wie Christoph Drehers
„Okay, okay, Der moderne Tanz“. 5
Punk-beeinflusste Kunst und Kunstbeeinflusster
Punk bündelten eine
Reihe von Aspekten innerhalb des
Arbeitsprozesses in der Punk- und
Kunstgeschichte. Welche Aspekte
waren das bei dir?
Gesellschaftskritik war ein
wichtiger Aspekt, Offenheit in der Kunst
und Unabhängigkeit ebenfalls. Auch
dieser Spruch von Herbert Achternbusch
„Du hast keine Chance, aber nutzte sie“
hat mich geprägt. Aus heutiger Sicht
habe ich einfach den Freiraum genutzt,
den die damalige Melange aus Artschool,
Street fighting, Mauerstadt und DIY bot.
Es war nicht schwierig, Orte für die
Aufführungen von Super-8-Filmen zu
finden. Sie wurden von keiner Instanz
oder Zensur kontrolliert. Padeluun hat
für die Tour„Alle Macht der Super 8“
damals keinen einzigen Film abgelehnt,
der eingereicht wurde.
Er hatte viele Original-Filmspulen im
Gepäck, die sich während der Tour
allmählich auf maroden Projektoren
5 Noch zu seiner Zeit als Filmstudent realisierte
Christoph Dreher seit 1979 einige audiovisuelle
Musikvideos für seine Postpunk-/Postrock-Band Die
Haut (Der Karibische Western) und Nick Cave
(Tupelo, The Singer und Mercy Seat), der Film OK
OK – Der Moderne Tanz (zusammen mit Heiner
Mühlenbrock), die Found-Footage-Studie
Commercial – 40 One-Minute-Adventures in the
World of TV (mit Gusztav Hamos) sowie das
Spielfilm-Treatment Die Legionäre (mit Ellen El
Malki).
verschlissen haben. Ebenso haben wir
selbst bei den vielen Aufführungen in
Berlin unsere Filme auf alten Projektoren
geschreddert. Es ging aber auch genau
um diese Dekadenz. Nichts war für die
Ewigkeit gedacht. Unabhängigkeit und
das Leben im Jetzt waren wichtige
Aspekte.
Du wolltest mit POMMES FRITES
STATT KÖRNER in 5 Minuten 15
Minuten Länge Aspekte von
Konsumkritik bis Kriegsangst
aufgreifen. Wie ist dir das gelungen?
Es war mein erster Film, und
Gesellschaftskritik fand noch eher auf
abstrakter und persönlicher Ebene statt.
Es war meine eigene Sicht auf die
Mauerstadt, Brandmauern und
Abrissgebäude inbegriffen. Pommes aß
ich vorzugsweise nachts um vier Uhr in
der „Futterkrippe“ nach Besuch des
„Risiko“.
„Pommes Frites statt Körner“ stand
ursprünglich auf dem Badge, den ich
selbst gebastelt und auf meiner Jacke
installiert hatte, zusammen mit einem
Wurst-Badge. Das war eine dünne
Scheibe Salami, die schon nach ein paar
Tagen in allen Regenbogenfarben
schillerte und viele Menschen auf
Distanz hielt. Es war zugleich auch eine
Rebellion gegen meine Alternativen-ÖKO-
Vergangenheit.
Der Lauf an der Mauer entlang war
Ausdruck von ungezähmter Energie, aber
auch von einem Rennen im Kreis in
dieser Inselstadt, wo jede
Himmelsrichtung Osten war.
Etliche Jahre später gab es übrigens eine
sehr ähnliche Szene in „Lola rennt“, die
dann einer spiralförmigen Struktur folgt.
Manches wurde auch Zwängen
unterworfen und musste dadurch
verändert werden. Nach dem Erscheinen
der DVD „Alle Macht der Super 8“
schickte mir ein Musikwissenschaftler
vom anderen Ende der Welt eine Mail, in
der er mich fragte, ob die Musik zum
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Mauerlauf in „Pommes statt Körner“
wirklich die Originalmusik wäre. Als ich
ihm erklärte, dass das Originalstück von
„Richard Hell And the Voidoids“ aus
rechtlich-finanziellen Gründen nicht auf
der DVD erscheinen konnte, sondern ein
Freund aus Berliner Tagen (Fred
Heimermann) dafür extra einen neuen
Track eingespielt hatte, war sein
musikhistorisches Bild wieder
zurechtgerückt. Konsumkritik bis
Kriegsangst ist mir in „Normalzustand“
sicherlich direkter gelungen.
Wo du das schon erwähnst. Deine
Collage in Normalzustand führt diese
Aspekte weiter aus. Zu Fehlfarbens
„Apokalypse“ schneidest du
Alltagsszenen zusammen und
experimentierst mit Kontrasten und
Belichtungen. Tatsächlich warst du
aber von Peter Heins Text inspiriert.
Wie fanden denn Peter und
Fehlfarben dein Ergebnis zum ersten
Video einer ihrer Songs?
Das war tatsächlich mein erster
„Film zur Musik“, nun auf einem einzigen
Song basierend. Er war kein Produkt zur
Vermarktung wie bei Queen oder
Michael Jackson, sondern sollte die
Konsum-, Finanz- und Kriegskritik durch
Bilder und Musik unterstreichen. Ich saß
nächtelang am Küchentisch und habe die
einzelnen Kader ausgezählt, um genau
nach Takt und Text zu schneiden. Ich
hatte mittlerweile sehr viel Material
gefilmt und auch bei Freund*innen
Filmreste aus dem Müll geholt. Daraus
entstand dann diese apokalyptische
Collage.
Keine Ahnung, wie Fehlfarben das fand.
Ich habe nie ein Feedback von ihnen
erhalten. Hat mich damals aber auch
nicht interessiert.
Ebenso ging das mit DAF‘s Mussolini und
meinem Film
„Gehindieknieunddrehdichnichtum“, bei
dem ich für das Ende mit der Musik von
„Saal 2“ („ich habe Angst vor diesem
Tanz“) jeden einzelnen Kader in rot und
grün bemalt habe, um den Flicker zu
erzeugen.
Auch deren Musik habe ich eher im
stillen Einvernehmen verwendet (damals
ging das noch einfacher), denn beide
Filme liefen ganz oft öffentlich, u. a. auch
im Tempodrom, wo auch Gabi Delgado
von DAF zugegen war.
Was war denn für dich der
Soundtrack der frühen 80er Jahre
und hattest du auch mal überlegt,
Bands live on stage mit Super-8 zu
filmen?
Es gab für mich keinen speziellen
Soundtrack, sondern eine Melange aus
Fehlfarben, Plan, Neubauten, Mania D,
Thomas Voburka, afrikanischer Musik,
Mönchsgesängen und vielen in den
Hintergrund geratenen Underground-
Bands.
Bei unserer Band „Notorische Reflexe“
habe ich manchmal on stage gefilmt,
aber auch etliche Konzerte anderer
Bands mit Super 8 mitgefilmt. Für den
„1.Futurologischen Congress“ habe ich
mal für eine Tour Filme produziert, mit
„Matador“ zusammen einen Film und
eine Performance gedreht, aber die
„Genialen Dilletanten“ im Tempodrom
habe ich zusammen mit Adi Schröder mit
Video statt mit Super-8 dokumentiert,
weil Adi eine Videokamera geliehen
hatte, die viel länger aufnehmen konnte
als diese 3 Minuten dauernden Super 8-
Filme.
Hast du heute noch eine Super8-
Kamera, mit der du filmst oder ist
diese Phase endgültig abgehakt?
Abgehakt. Heute gibt es das
Mobile. Das ist noch kompakter und hat
den Ton gleich mit drin.
https://www.yanayo.de
52
53
Penelope Spheeris
Spheeris, die oft als Rock'n'Roll-Anthropologin bezeichnet
wird, lebt derzeit in Los Angeles.
Als Kind lebte Penelope Spheeris mit ihrer Familie in
verschiedenen Wohnwagenparks in Südkalifornien. Ihre
Teenagerjahre verbrachte sie in Orange County und schloss die
Westminster High School mit dem beängstigenden Prädikat
„höchstwahrscheinlich erfolgreich“ ab.
Sie arbeitete als Kellnerin und finanzierte sich so ein
Filmstudium. Sie erwarb an der UCLA einen Master of Fine Arts
in Theater Arts und arbeitete als Cutterin und Kamerafrau,
bevor sie 1974 ihre eigene Firma gründete. ROCK ‚N’ REEL war
die erste Produktionsfirma in Los Angeles, die sich auf
Musikvideos spezialisierte. In den siebziger und achtziger
Jahren produzierte, inszenierte und bearbeitete sie Videos für
große Bands und beendete ihre Musikvideoarbeit mit dem für
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einen Grammy nominierten Bohemian Rhapsody Video für WAYNE'S
WORLD.
The Decline of Western Civilization I
Spheeris' Spielfilmdebüt war 1979 der Dokumentarfilm
über die Punkszene von Los Angeles, THE DECLINE OF
WESTERN CIVILIZATION I, der von der Kritik begeistert
aufgenommen wurde.
Die LAPD sperrte den Hollywood Boulevard und der
Polizeichef Daryl Gates schrieb einen Brief, in dem er
verlangte, dass der Film in L.A. nicht mehr gezeigt werden
dürfe. Der erste Teil von Decline ist ein abendfüllender Blick
auf einige der ersten Punkbands von Los Angeles im Jahr
1979 und gibt einen Einblick in das Chaos der Moshpits, der
Posen auf der Bühne und der rohen Musik, die die breite
Öffentlichkeit gerade in Angst und Schrecken versetzte. Ein
wesentliches Merkmal war sicherlich die Gewalt vor, auf
und hinter Bühne. Die hier vertretenen Bands sind Germs, Black Flag, Fear,
Circle Jerks, X, Catholic Discipline und Alice Bag Band, zusammen mit
Beiträgen über das Slash Magazine und Clubbesitzer wie Bill Gazzarri. Zwischen
den hektischen Live-Auftritten der Bands, die oft mit Untertitel versehen sind,
spricht Spheeris mit den Bands darüber, wie sie Geld verdienen, mit Fans darüber,
was ihre Musik bedeutet, und darüber, ob die Leute Angst vor ihnen haben, wenn
sie die Straße entlanggehen. Der Dokumentarfilm ist, wie die Szene, die er
dokumentiert, blutig, sexistisch und rassistisch. Bands sprechen davon, dass sie
Mädchen wie Sixpacks an ihren „Löchern“ festhalten, der Sicherheitsdienst des
Whiskey a Go Go berichtet von Zuschauer*innen, die versuchen, Exene Cervenka
– Sängerin von X – das Kleid vom Leib zu reißen, Skinheads klappern rassistische
Tiraden ab. Es ist eine düstere und bedrohliche Blaupause junger, weißer,
männlicher Aggression; Kerle, die aufeinander einschlagen. „Es ist ja nicht so,
dass ich rausgehe und einen Juden umbringe“, sagt ein Punk-Teenie, der ein T-
Shirt mit einem Hakenkreuz trägt. „Aber vielleicht bringe ich einen Hippie um“,
schnaubt er.
Decline ist auf einer Ebene ein gut inszeniertes Dokument der aufkeimenden
Punkszene von L.A., von Darby Crash (Germs), der sich durch „Lexicon Devil“
schlurft, bis hin zu den Leser*innenbriefen an das Slash-Magazin, die zeigen, wie
die Welt den Punk wahrzunehmen begann. Spheeris lässt die Kamera auf den
Gesichtern und Gedanken verweilen und gibt uns ein umfassendes Gefühl dafür,
welche Art von Kids zu diesen Spektakeln pilgerten. Aber dieser Film ist auch eine
unfreiwillige Komödie. Und das liegt zum großen Teil an Spheeris' Schnitt und der
Tatsache, wie ernst die Fans Punk nehmen, aber auch wie ernst die Musiker*innen
ihn nehmen.
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THE DECLINE OF WESTERN
CIVILIZATION PART II: THE METAL YEARS
The Decline of Western Civilization Part II: The Metal Years
ist ein Dokumentarfilm von 1988. Der Film wurde zwischen
August 1987 und Februar 1988 gedreht und zeigt die
Chronik der Heavy-Metal-Szene in Los Angeles in den
späten 80er Jahren. Auch der zweite Film ihrer Trilogie
skizziert das Leben in Los Angeles zu verschiedenen
Zeitpunkten aus der Sicht aufstrebender Musiker*innen.
Der Film enthält Interviews mit und über Aerosmith, Kiss,
Alice Cooper und Ozzy Osbourne. Es zeigt Auftritte von
Faster Pussycat, Lizzy Borden, MOTÖRHEAD und
Megadeth. Spheeris' THE METAL YEARS wirft einen
detaillierten Blick auf kreischende Fans, verzweifelte
Groupies und Möchtegern-Rockstars, die so weit gehen, mit Selbstmord zu
drohen, wenn sie es nicht „schaffen“. Der Film schildert auch die harte Realität
des Musikgeschäfts, in dem der Traum, ein Star zu werden, unerreichbar bleibt.
The Decline of Western Civilization III
The Decline of Western Civilization III ist der Abschlussfilm
der Triologie aus dem Jahr 1998, der den Lebensstil von
obdachlosen Teenagern schildert.
Spheeris gab später an, dass der Film von 1998 eine
tiefgreifende Wirkung auf sie hatte. Sie begann eine
Beziehung mit einem Mann, den sie bei den Dreharbeiten
zu dem Film kennenlernte, meldete sich als Pflegeeltern an
und nahm schließlich fünf Kinder in Pflege.
DECLINE III liefert ein Einblick in das Leben der Hardcore-
Punkrock-Fans in Los Angeles. Das 90-minütige Werk, das
im Laufe von 13 Monaten gedreht wurde, ist das bisher
eindringlichste Werk.
Während sich der erste Teil der Trilogie mit der Entstehung eines neuen
Musikgenres beschäftigte, konzentriert sich Part III auf die Lebensweise und den
Hintergrund der Fans. Viele von ihnen sind obdachlos oder leben in besetzten
Häusern und verlassenen Gebäuden. Sie erwecken tiefe Empathie und
repräsentieren eine Subkultur, die mensch nicht ignorieren kann. DECLINE III
taucht in diese Subkultur ein und zeigt, dass Johnny Rottens „No Future“-Referenz
eine neue Bedeutung bekommen hat. Diese Szenen erinnern stark an Interviews
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mit Quebec Street Punks (Marcel, Manon) aus dem Dokufilm „Another state of
mind“ 1 , die das Leben auf der Straße glorifizieren.
Der Film ist eine seltsame Mischung aus Komödie und Tragödie, die Interviews mit
treuen Fans, nachdenklich stimmende Berichte von Kenner*innen der Szene und
Live-Auftritte von Punk- und HC-Bands miteinander verbindet: Final Conflict,
Litmus Green, Naked Aggression und The Resistance. Keith Morris (Circle
Jerks), Rick Wilder (Mau Maus) und Flea (Red Hot Chili Peppers) vergleichen die
ursprüngliche Bewegung der späten siebziger Jahre mit dem Punkrock von heute.
Unvergessliche Charaktere wie Why-Me?, Hamburger, Troll, Eyeball und Squid
zeichnen ein selten gesehenes Bild von Leben und Tod auf den Hinterhöfen
Hollywoods.
Suburbia
Immer noch fasziniert vom Thema Punkrock, schrieb und
inszenierte Penelope 1983 Suburbia, auch bekannt als
Rebel Streets und The Wild Side, ihren ersten narrativen
Film. Es ist eine beunruhigende und in gewisser Weise
prophetische Geschichte über rebellische, obdachlose
Kinder, die in verlassenen Häusern hocken, versuchen,
neue Familien zu gründen und sich gegenseitig zu
beschützen.
Der Film gewann den ersten Platz auf dem Chicago Film
Festival. Fast 25 Jahre später sollte ihr Dokumentarfilm THE
DECLINE OF WESTERN CIVILIZATION, PART III auf
unheimliche Weise die Ereignisse widerspiegeln, die sie in
hier bereits aufzeichnete.
Das Interview
»Ich komme aus einem Haushalt, in dem es die ganze Woche blutig
zuging.«
Wie bist du auf den Titel des Films
„The Decline of Western Civilization“
gekommen?
Wir alle, die wir beim Slash
Magazine arbeiteten, saßen eines Abends
auf dem Dach des Büros und tranken Bier.
Ich war etwa zur Hälfte mit den
Dreharbeiten fertig, und wir begannen
darüber zu sprechen, wie ich den Film
betiteln würde. Wir waren uns alle einig,
dass er etwas mit dem Respekt vor der
Entropie zu tun haben sollte. Wir sprachen
über Unordnung und die Störung des
Mainstreams.
1 Another State of Mind ist ein Dokumentarfilm, der im Sommer 1982 gedreht wurde und das Abenteuer zweier
Punkbands, Social Distortion und Youth Brigade, auf ihrer Tour durch Nordamerika und Kanada aufzeichnet.
57
Als ich nach Hause fuhr, kam mir der
Gedanke, dass der Film „Der Untergang
der westlichen Zivilisation“ heißen sollte,
was eine Ableitung des Buches von
Oswald Spengler mit dem Titel „Der
Untergang des Abendlandes“ ist.
Penelope Spheeris 2013: Fotocredit: Suzanne
Allison
Wie ist es dir gelungen, so viele Bands
für diesen Dokumentarfilm zu
gewinnen?
Im Grunde waren es einfach Bands, die ich
kannte und von denen ich ein Fan
geworden war. Ich habe mir Mühe
gegeben, die Germs zu filmen, weil sie in
jedem Club Hausverbot hatten. Ich musste
ein Proberaumstudio mieten, um sie zu
filmen. Und ich wusste wirklich, dass ich
Black Flag brauchte, denn wenn man
eine Band nennen müsste, mit der in
Südkalifornien alles begann, dann waren
sie es im Polliwog Park in Hermosa Beach,
Kalifornien.
Ich bin dem Sänger Keith Morris von
Circle Jerks ewig dankbar, weil er mir
geholfen hat, die Show zu organisieren,
die ich im Fleetwood – einem Club in
Redondo Beach, CA – gefilmt habe, wo er
im selben Bühnen-Programm wie Fear
auftrat.
Warum hast du nach der Punkrock-
Dokumentation „Decline of Western
Civilization“ mit „Suburbia“ einen
erzählerischen Punkrock-Film
gemacht?
Als ich den ersten „Decline“
gemacht habe, konnte ich keine Kinos
bekommen, das ganze Konzept wurde so
missverstanden. Alle hatten solche Angst,
dass sie den Film nicht buchen wollten.
Ich weiß noch, wie ich mich mit den
Gebrüdern Mann zusammensetzte, oben
am Hollywood Boulevard, sie hatten das
Mann Chinese, und sie sagten: „Niemand
wird sich einen Dokumentarfilm in einem
Kino ansehen, und niemand wird sich eine
Punkrock-Dokumentation ansehen. Wenn
du willst, dass die Leute einen Film über
Punkrock sehen, musst du einen
narrativen Film schreiben, der eine
richtige Geschichte hat, eine Handlung,
einen Anfang, eine Mitte und ein Ende.“
Der erste Decline konnte damals nicht
veröffentlicht werden, aber kürzlich wurde
er in das nationale Filmregister der
Library of Congress aufgenommen. Es hat
nur 40 Jahre gedauert! Die Leute haben es
endlich verstanden. Flea bezeichnete
„Suburbia“ als die Punkrock-Bibel, und die
Kids kennen es jetzt überall.
58
„Suburbia“ ist ein ziemlich düsterer
Film...
Ich habe nur meine eigenen
Probleme verarbeitet. Viele der
Geschichten sind Geschichten, die ich
selbst erlebt habe oder die meine
Freund*innen erlebt haben. Ich habe sie
einfach miteinander vermischt,
aufgewühlt und eine andere Sache daraus
gemacht. Die Mutter von Darby Crash
hatte vor Darby ein anderes Kind verloren,
das eine Überdosis genommen hatte, so
wie Darby selbst. Anstatt einen
Krankenwagen oder die Polizei zu rufen,
legten sie den jungen Mann in das Auto
der Mutter, und sie kam am Morgen
heraus, und so fand sie ihren Sohn.
Für die Rolle des Chris Pedersen habe ich
mich zuerst an Henry Rollins gewandt. Er
wäre perfekt gewesen. Rollins erzählte
mir in einer Talkshow, dass Black Flag
ihm sagten, wenn er den Film machen
würde, könnte er nicht mehr in der Band
sein. Also habe ich endlich aufgehört,
sauer zu sein, dass er es abgelehnt hat.
Wie war es, mit Roger Corman zu
arbeiten, der „Suburbia“ produziert
hat?
Er war sehr entgegenkommend, es
gefiel ihm, dass ich bereits die Hälfte des
Geldes hatte. Roger gab mir zwei oder
drei abgetippte Seiten mit Vorschlägen
darüber, wie man eine gute Regisseurin
ist.
Was stand dort?
„Setze dich so oft wie möglich auf
deinen Regiestuhl.“ „Drehen Sie immer
zuerst auf der einen Seite des Raumes und
drehen Sie dann die Kamera um und
drehen Sie auf der anderen Seite.“ Das
waren eigentlich gute Vorschläge, Roger
wusste, wie man Filme macht.
Nachdem ich „Suburbia“ gedreht hatte,
nahm er mich mit in sein Studio in
Venedig und sagte: „Ich muss dir dieses
Raumschiff zeigen, das wir gemacht
haben, denn wenn du einen Sci-Fi-Film
machen willst, können wir ihn hier
machen.“ Und ich dachte: „Du verstehst
mich überhaupt nicht, Roger. Ich stehe
nicht auf Sci-Fi!“
Woher kam das Interesse und die
Inspirationen zu Decline of Western
Civilization?
Ich glaube, ich habe einen sehr
guten Instinkt. Ich weiß, wann etwas
wichtig ist und bewahrt werden muss, und
ich glaube, das ist der Grund, warum ich
den ersten Film Decline of Western
Civilization gemacht habe. Ich habe
hauptsächlich an Rock ‚n‘ Reel
Musikvideos gearbeitet. Ich wusste, wie
man Musik filmt. Zu dieser Zeit hatte ich
so viel Übung in diesem Bereich.
Ich ging in diese Clubs wie The Mask,
Blackies, Club 88, Cathay de Grand and
the Cuckoo's Nest – und ich hatte die
Ausrüstung von der Arbeit an den
Musikvideos herumliegen und dachte:
‚Warum fange ich nicht einfach an, dieses
Zeug zu drehen? Das ist wichtig.‘
Niemand sonst hat zu der Zeit gefilmt. Ich
versuchte, Geld für den Film aufzutreiben,
also nahm ich ein paar Acht-Millimeter-
Kameras mit zu einem Ort, an dem die
Germs probten, um sie dem Finanzier zu
zeigen. Er sagte: „Nun, ich weiß es nicht.
Es war ziemlich verrückt, aber ich denke,
wir können es machen. Ich wollte einen
Pornofilm machen, aber ich denke, wir
können auch Punkrock machen.“ Die
Leute fragen: „Warum hast du die Bands
gedreht, die du gedreht hast?“ Nun, weil
sie alle im Fleetwood spielten. Ich meine,
ich mag sie alle. Ich mag mehr als das,
aber Film ist teuer und wir haben den
Film mit null Dollar Budget gedreht. Ich
musste einfach aufpassen, was ich drehte,
und ich konnte nicht zu viel drehen.
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Du hast den Film ja kurz vor Darby
Crashs Tod gedreht. Es hieß, du
hattest ihn bekocht?
Ich habe den Film in den Jahren '79
und '80 gedreht, und Darby Crash von The
Germs starb am 7. Dezember 1980, am
selben Tag, an dem John Lennon starb. Es
war folgendermaßen: Ich sagte: „Darby,
wie wäre es, wenn ich ein Interview mit
dir machen würde?“ Er sagte: „Oh Mann.
Ich bin gerade aufgewacht. Ich habe einen
ziemlichen Kater. Ich fühle mich nicht
danach.“ Ich sagte: „Nun, komm schon.
Ich habe die Ausrüstung.“ Er sagte:
„Kannst du was zu essen mitbringen?“ Ich
sagte: „Wie wäre es, wenn ich Speck und
Eier mitbringe und du dir dein eigenes
Frühstück machst?“ Er sagt: „Das ist mir
egal. Bring einfach etwas zu essen mit und
wir drehen, was du willst.“ So ist das
passiert.
Was war dir denn wichtig, mit The
Decline Of Western Civilzation
auszudrücken?
Man zwingt dem Film nicht seine
eigene Meinung auf. Das ist es, was ich
immer versucht habe zu tun. Das ist der
Untergang der westlichen Zivilisation. Das
ist Punkrock. Magst du es? Na schön.
Wenn du es nicht magst, auch gut. Habt
eine Meinung dazu, ich werde euch meine
nicht sagen.
Und was mochtest du an der Punk-
Szene?
Was ich an der Punk-Szene mochte,
ist eigentlich dasselbe, was ich an der
Metal-Szene mag: Man kann nicht
gleichzeitig wütend und deprimiert sein,
weil es dieselbe Emotion ist. Es war ein
Ausdruck von Frustration und Wut. Ich
mochte das, denn solange niemand
verletzt wird, hilft es wirklich, zu sagen,
was man denkt und alles rauszulassen. Die
Leute fragen immer: „Hattest du keine
Angst bei den Dreharbeiten zu den
Filmen?“ Ich antworte: „Nein, ich hatte
keine Angst. Ich komme aus einem
Haushalt, in dem es die ganze Woche
blutig zuging.“ Selbst als ich Decline of
Western Civilization III drehte, war ich
schon viel älter. Ich drehte immer mit
einer Kamera, und ich erinnere mich, dass
ich beim Drehen dachte: ‚Weißt du was,
das ist das totale Chaos, das totale Chaos.
Leute werden verletzt, autsch, hoppla, sei
vorsichtig, aber es ist belebend.‘ Ich habe
es einfach geliebt.
https://www.penelopespheeris.com/
Filmografie (Auswahl):
• 1979: Aus dem Leben gegriffen
(Real Life)
• 1981: The Decline of Western
Civilization
• 1984: Suburbia
• 1985: Blind Rage (The Boys
Next Door)
• 1986: Hollywood Cop (Hollywood
Vice Squad)
• 1987: Dudes – Halt mich fest,
die Wüste bebt! (Dudes)
• 1988: The Decline of Western
Civilization Part II: The Metal
Years
• 1990: Thunder and Mud
• 1992: Wayne’s World
• 1998: The Decline of Western
Civilization Part III
• 1998: The Thing in Bob's Garage
• 2001: We Sold Our Souls for
Rock ‚n‘ Roll
• 2003: The Crooked E: The
Unshredded Truth About Enron
• 2005: The Kid & I
• 2008: Gospel According to Janis
• 2011: Five (Fernsehfilm)
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More Punk Movies
Blank Generation (1980)
Regisseur Ulli Lommel (1944–2017) war von Anfang an Mitglied der Fassbinder-Familie,
emigrierte in den 80er Jahren als Trashkino-Akteur in die USA. Den Einstand lieferte er mit Andy
Warhol an der Seite mit dem Rock’n’Roll-Western COCAINE COWBOYS und eben BLANK
GENERATION, einer stylish wie atmosphärischen Liebesphantasmagorie auf das Punkphänomen.
Eine Pariser TV-Journalistin heftet sich an die Fersen des Up-and-Coming-Rockstars Richard Hell
und wird verschlungen vom Underground rund um den Szeneladen CBGB. Die feisten Sounds der
Voidoids, die Straßen von Manhattan – nie waren sie so schön wie auf diesen inkognito von Ed
Lachman (Werner Herzog, Ulrich Seidl) gedrehten Kinogemälden.
Bomb City (2017)
„Destroy everything!“
„Bomb City“ erzählt die Geschichte von zwei jugendlichen Cliquen, die Ende der 90er in Texas
aneinandergeraten. Das auf einer wahren Begebenheit beruhende Drama hält sich nicht
sonderlich mit differenzierter Gegenüberstellung auf, das Herz schlägt hier für die lauten Punks,
nicht die arroganten High-School-Sportler*innen. Doch der starke Kontrast macht im
Zusammenspiel mit einem überzeugenden Hauptdarsteller die Wirkung des Films umso größer.
Unterstützt von einer feinen Leistung des Hauptdarstellers Dave Davis ist Bomb City ein
aufrichtiges und leidenschaftliches Plädoyer für Toleranz und Gerechtigkeit.
Trailer: https://youtu.be/Mqgrp8B6D34
Chaostage – We are the punks! (2008)
Chaostage – We Are Punks! (mit u. a. Helge Schneider, Ralf Richter, Ben Becker, Martin
Semmelrogge, Claude-Oliver Rudolph, Rolf Zacher, Uwe Fellensiek, Stipe Erceg, Christoph
Letkowski und Henriette Müller) ist „Deutschlands erster relevanter Punkfilm“ des Regisseurs
Tarek Ehlail. Der Episodenfilm beruht auf dem Roman Chaostage des Zap-Herausgebers Moses
Arndt. Dabei mischt Tarek einen fiktionalen Erzählstrang um zwei Punk-Kumpels mit
dokumentarischem Material, lässt den Interviewpartner*innen aber Raum für kurze Statements.
Der Film sollte laut Tarek in einem Interview mit Jan Sedelies der Peiner Allgemeinen
Zeitung‚ entweder mit einem Augenzwinkern oder mit drei Promille geschaut werden.
Kompletter Film (engl. Untertitel): https://youtu.be/kM1wuxEoT7Y
Class of '84 (1982)
Eine amerikanische Highschool im Jahr 1984: Lehrer und Rektor sind längst keine Autorität mehr.
Der 16-jährige Stegman und seine Punk-Gang haben die Führung übernommen und herrschen
mit Gewalt und Gemeinheit. Als Musiklehrer Andrew Norris an die Schule kommt, will er dem
Treiben friedlich ein Ende setzen – jedoch ohne Erfolg. Schließlich steht sein Auto in Flammen
und ein Schüler kommt zu Tode. Nun ist es an der Zeit, sich zu wehren. Der Titelsong „I am the
future“ wurde von Alice Cooper vertont. Der Film zeigt auch eine Performance der kanadischen
Punkband Teenage Head. Der Filminhalt ist roh, anstößig, vulgär und gewalttätig, er beinhaltet
auch Merkmale von Talent und Witz und wurde von Leuten gespielt und inszeniert, die darauf
bedacht waren, ihn zu etwas Besonderem zu machen.
Kompletter Film (englisch mit spanischen Untertiteln): https://youtu.be/wb0MXivyeuA
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Control (2008)
Control ist ein biografischer Film über Ian Curtis (1956–1980), Sänger der englischen Post-Punk-
Band Joy Division. Er basiert auf dem Buch Touching from a Distance von Curtis’ Witwe Deborah
und ist das Spielfilm-Regiedebüt des zuvor vor allem als Musikfotograf mit einer eigenen
Bildsprache in Erscheinung getretenen Niederländers Anton Corbijn. Über zwei Stunden wird das
Leben von Ian Curtis skizziert. Die Filmmusik stammt von „New Order“ oder von der Band „Joy
Division“ selbst. Mit der Verfilmung des Lebens von Ian Curtis konnten sechs Auszeichnungen
und eine Nominierung erreicht werden. Dabei handelt es sich um den Preis als den besten
europäischen Film auf den Filmfestspielen von Cannes, gleichzeitig erhielt er dort die Caméra
d’Or – Mention spéciale.
Trailer: https://youtu.be/POR9sAORhUo
Dorfpunks (2009)
Dorfpunks ist ein deutscher Spielfilm von Lars Jessen. Die gleichnamige Romanvorlage schrieb
sein Freund Rocko Schamoni. Regisseur Lars Jessen folgt dem Autor Rocko Schamoni sehr
respektvoll durch seinen Roman, der autobiografische Elemente enthält und von dem Bedürfnis
erzählt, sich Ausdruck zu verschaffen, sei es als Musiker oder als Schriftsteller. Lars Jessens Film
ist insgesamt zu banal. Er ist nicht genau genug, um Einblick in die merkwürdigen Falten der Zeit
zu gewähren, und nicht komisch genug für eine Farce. Dorfpunks wird weder dem Punk noch
dem Dorf gerecht. Axel Prahl gelingt es, eine glaubwürdige Figur darzustellen, wenn er als
Kneipier wortkarg, aber mit ausladender Geste ein Fenster in die weite Welt der Musik öffnet,
auch jenseits des Punk.
Ganzer Film: https://youtu.be/IL1CLz_Wu_E
Green Room (2015)
In Jeremy Saulniers Hinterland-Überlebens-Thriller Green Room gerät eine Punkband mit einer
Horde Neonazis aneinander und muss bald schon um ihr Überleben kämpfen. Das anfängliche
Kammerspiel entwickelt sich dabei zu einer gewaltaffinen Hetzjagd.
Die Punk-Band The Ain’t Rights, bestehend aus drei Männern und einer Frau, ist finanziell am
Ende. Seit Wochen erfolglos auf Tour leben die Mitglieder in einem muffigen Bus am
Existenzminimum. Auf den letzten Drücker gelingt es der Band, einen Gig in einem abgelegenen
Schuppen an Land zu ziehen. Doch schon mit ihrem ersten Cover-Song, Nazi Punks Fuck Off der
Dead Kennedys, scheinen es sich die Punks mit dem anwesenden Publikum verscherzt zu haben,
denn die aufgebrachte Menge besteht überwiegend aus Neonazis. Obwohl sich die Lage vorerst
wieder beruhigt, nimmt der Abend ein jähes Ende, als die Musiker*innen durch eine
verhängnisvolle Verkettung diverser Ereignisse die Leiche einer jungen Frau inklusive deren
Mörder im Bandraum entdecken. Im Hinterzimmer ist auch eine ideologische Feindin mit
eingesperrt: Ein übrig gebliebenes Skin-Mädchen, das erst klarstellen muss, dass sie für die
Skinheads draußen genauso als ungewollte Zeugin gilt. Während die Band-Mitglieder darauf
insistieren, dass die Polizei gerufen wird, kontaktieren die Clubbetreiber derweil den Barbesitzer
Darcy Banker (Patrick Stewart), der wiederum ganz andere Pläne hat, um das Problem aus der
Welt zu schaffen. Ähnlich fatalistisch wie das Szenario gestalten sich entsprechend auch die
Dialoge der Protagonist*innen und sind dabei von jeglicher ironischen Brechung befreit, was
eben auch die eigentlich so simple Handlung ziemlich eindringlich und intensiv macht.
Trailer: https://youtu.be/Q8XSARX3DQg
62
How to Talk to Girls at Parties (2017)
„I can come with you, to the Punk. I have 48 hours!“ (Elle Fanning)
How to Talk to Girls at Parties basiert auf einer Kurzgeschichte des Autors Neil Gaiman aus dem
Jahr 2006. Im Vorfeld wurde der Film als Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen Punks und Aliens
beschrieben. Der Film spielt im Londoner Vorort Croydon im Jahr 1977. Die Queen feiert ihr
Thronjubiläum, während rebellische Teenager*innen den Punk als Ausweg entdecken. Eines
Nachts geraten Enn und seine Kumpels in eine seltsame Latex-Aktionskunstparty, die in Wahrheit
von Aliens auf Klassenfahrt gefeiert wird. Wild und bunt und gut gelaunt geht es zu in dieser
Edeltrash-Perle. Am Ende kommt es auf den Straßen von London zur Konfrontation zwischen
Punks und Aliens. Der Film macht riesig Spaß, dürfen doch alle mal ihre üblichen Images über
Bord werfen und einfach Punk sein. Nicole Kidman als Punk-Königin fluchen zu sehen, während
sie ihre akkumulierte weibliche Weisheit an andere weitergibt und dabei Schnaps säuft und
raucht, ist wahrlich ein Genuss.
Trailer: https://youtu.be/nWzHaRM8jeo
Jubilee (1978)
Königin Elizabeth I. reist ins späte 20. Jahrhundert. In Großbritannien entdeckt sie eine
deprimierende Landschaft, in der das Leben ziellos vor sich hin läuft. Drei Post-Punk-Mädchen
fristen ihr Dasein und töten hin und wieder aus Langeweile Menschen. Mit Jubilee kanalisierte
der britische Filmemacher Derek Jarman politischen Dissens und künstlerischen Wagemut in eine
Mischung aus Geschichte und Fantasie, musikalischem und filmischem Experimentieren, Satire
und Wut, Mode und Philosophie. Jubilee vereint viele kulturelle und musikalische Ikonen der Zeit,
darunter Toyah Willcox, Little Nell, Wayne County, Adam Ant und Brian Eno (mit seiner ersten
Original-Filmmusik), um eine einzigartige Vision zu schaffen. Seiner Zeit voraus und oft
erschreckend genau in seinen Vorhersagen, ist der Film ein faszinierendes historisches Dokument
und ein großartiges Werk der Filmkunst.
Trailer: https://youtu.be/EmU1s9FA8J4
London Town (2016)
In einem Londoner Vorort der späten 70er Jahre hat der 14-jährige Shay (Daniel Huttlestone) es
nicht leicht: Mutti ist in eine Hippie-Kommune gezogen und er muss neben seinen schulischen
Verpflichtungen nun auch den Haushalt regeln und sich um seine jüngere Schwester Alice (Anya
McKenna-Bruce) kümmern. Als Shay durch die ihm noch unbekannte Teenagerin Vivian (Nell
Williams) an die Punkband The Clash herangeführt wird, ist es um ihn geschehen: Die Musik
spricht zu ihm und gibt ihm die nötige Kraft, seinen harten Alltag zu bewältigen. Und wenn das
nicht reicht, dann gibt es noch Joe Strummer (Jonathan Rhys Meyers), den Sänger von The Clash,
der dem Jungen bei zufälligen Begegnungen die richtige Menge an „punkiger“ Weisheit mit auf
den Weg geben kann. Durch Jonathan Rhys Meyers glaubwürdige Performance als Clash-
Frontmann Joe Strummer kommt ein wenig frischer Wind in die Sache, doch auch hier limitiert
das Drehbuch durch ebenso halbgare wie halbherzige Sprüche dessen Einfluss auf die
Geschichte. So erfasst das Coming-of-Age-Drama vor historischem Hintergrund die Frontlinien
zwischen Thatcherismus, Protestmusik, Arbeitslosigkeit und Ausländerfeindlichkeit nur
oberflächlich.
Kompletter Film (deutsch): https://youtu.be/5Hg6OW230DA
OI! Warning (1999)
Das Spielfilmdebüt der Brüder Benjamin und Dominik Reding weist auf den Aspekt der Gefahr
hin, dem innerhalb der Geschichte über einen Jugendlichen, der bei den Dortmunder Skinheads
andockt, eine tragende Bedeutung zu und erreicht eine brisante soziokulturelle Relevanz.
63
Janosch flieht vor seiner Mutter zu seinem Idol, dem Skin, Kickboxer und Oi-Konzerte-Abtänzer
Koma und nistet sich bei ihm am Dortmunder Stadtrand ein. Er wird in die Skin-Szene eingeführt,
lernt aber auch den netten Punk Zottel kennen und lieben. Schließlich muss er sich zwischen
Koma und Zottel entscheiden. Als er sich schließlich für Zottel und gegen Koma entscheidet, hat
dies furchtbare Konsequenzen.
Die Kritiken über den in Schwarzweiß gedrehten Coming-ogf-age-Film, der auf einigen
internationalen Filmfestivals aufgeführt und ausgezeichnet wurde, fielen überwiegend
beeindruckt bis begeistert aus, womit nicht zuletzt der künstlerische Anspruch der Regisseure
honoriert wurde, der sich in ihrem teilweise experimentellen Umgang mit Bildern und Tönen
manifestiert.
https://youtu.be/hIGRivviSCE
Repo Man (1984)
Not just a job, it's an adventure.
„Repo Man“ ist ein Film von Alex Cox (Sid & Nancy), der Sci-Fi mit Road-Movie und Krimi-Komödie
verbindet. Dies ist die Art von Subversion, die Hollywood vor ein Rätsel stellt, weil Alex Cox keiner
bekannten Formel folgt und sich nicht an die Regeln hält.
Vorstadtpunk Otto (Emilio Estevez) braucht Kohle. Zufallsbekanntschaft Bud (Harry Dean Stanton)
bietet ihm einen Job als Repoman: Otto soll säumigen Ratenzahler*innen die Autos klauen. Ein
64er Chevy allerdings bereitet Bud und Otto besondere Probleme. Dieser wird von einem
verrückten Wissenschaftler gefahren, der in seinem Kofferraum tote und radioaktiv verstrahlte
Aliens transportiert. Natürlich sind auch mehrere Geheimorganisationen und Konkurrenzfirmen
hinter dem Wagen her, der durch die Strahlung immer gefährlicher wird. Der britische Regisseur
bannte die Null-Bock-Attitüde der 80er-Jahre-Jugend auf Zelluloid. Sein Erstlingswerk genießt bis
heute Kultstatus. „Repo Man“ hat nicht viel gekostet, geht Risiken ein, wagt unkonventionelles, ist
lustig und hat ein tollen Soundtrack mit Iggy Pop (Titelsong), Black Flag (TV Party), Suicidal
Tendencies (Institutionalized), Circle Jerks (When the shit hits the fan), Plugz (Reel Teen), FEAR
(Let's have a war) u. a.
Trailer: https://youtu.be/DLGrXGEMOSo
Richy Guitar (1984)
„Der Film mit den Ärzten“. So wurde Richy Guitar einst beworben. Richy (Farin Urlaub) träumt
von einer Karriere als erfolgreicher Gitarrist. Doch sein Talent im Umgang mit dem 6-
Saiteninstrument lässt zu wünschen übrig. Er bemüht sich und er hat Ideen, aber niemand will
ihm eine Chance geben. Bis er Igor (Bela B.) kennenlernt, einen Schlagzeuger, der in Berlin als
Straßenmusiker auftritt. Gemeinsam mit Hans (Sahnie) gründen sie eine Band und wollen den
Durchbruch im Musikgeschäft schaffen. Doch Richy hat Probleme mit seinem Vater, der von der
ganzen Band-Idee gar nichts hält. Und seine Freundin fühlt sich auch vernachlässigt. Als Richy
endgültig das Geld ausgeht, will er als Roadie bei der Nena-Tournee wenigstens genug Geld
verdienen, um seine Musikausrüstung behalten zu können.
Während des Films spielt die Band die Titel „Teenager Liebe“ und „Grace Kelly“ von der 1983
erschienenen EP „Zu schön um wahr zu sein!“. Die Ärzte, in der damaligen Besetzung Farin
Urlaub, Bela B. und Sahnie, bezeichnen den Film heute als „Jugendsünde“. Unter den Fans der
Band gilt er als Kultfilm. Ein bisschen Haarspray, grauer West-Berliner Maueralltag, Herzschmerz,
ein bisschen Rebellentum, vor allem aber ganz viel Frühe-80er-Jahre-Kolorit machen den Charme
dieser holperigen Inszenierung aus.
https://youtube.com/playlist?list=PL6EA7EB28D64AA053
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Rock’n’Roll Highschool (1979)
„Oh Baby, Fun, Fun!“ Die Trash-Highschool-Komödie unter der Regie von Allan Arkush, Jerry
Zucker und Joe Dante (die auch für das Drehbuch verantwortlich sind), war der Versuch, eine
Teenie-Komödie mit zeitgemäßer Musik zu verknüpfen. Zusammen mit dem Autor Joseph
McBride entsteht ein Drehbuch, in dem zum großen Finale das Schulgebäude in die Luft gejagt
wird.
Die Vince Lombardi High School ist dem Rock’n’Roll-Virus verfallen, die Schüler*innen sind Nerds,
Dumpfbacken oder verliebt und bescheren ihren Lehrer*innen Nervenzusammenbrüche. Als
jedoch die neue Rektorin Miss Evelyn Togar ihre Stelle antritt, schickt sich die selbsternannte
Musikhasserin an, dem unmoralischen Treiben einen Riegel vorzuschieben. Nur hat sie die
Rechnung ohne den Kampfgeist und Tricks ihrer Schüler*innen gemacht.
Die RAMONES schreiben eigens den bekannten Titelsong und spielen im Film immer wieder sich
selbst auf einer cool-lässigen und unnahbaren Art. So ist die Traumsequenz, in der die
Protagonistin Riff Randall (P. J. Soles) zum Song I Want You Around die vier Ramones im
Badezimmer begrüßt, schon sehr kultig. Gedreht wird überwiegend auf dem Gelände der bereits
geschlossenen Mount Carmel High School in South Central Los Angeles. Dass das Gebäude
ohnehin abgerissen werden soll, passt hervorragend in den Kram der Regisseure: Sie lassen die
Sprengung einfach mitfilmen. Dass die Explosionen dabei so heftig ausfallen, dass viele der am
Set Agierenden vor lauter Schreck geflüchtet sein sollen, kann mensch anhand der Schlussszenen
(ab 1:29:40) sehr gut nachvollziehen. „Hit it, Marky!“
Kompletter Film (englisch): https://youtu.be/A5nsILjY86w
The Runaways (2010)
It's 1975 and they're about to explode.
Die 70er Jahre sind eine Ära, in der sich abseits von DISCO in diversen Genres einiges tat. Punk,
Hard Rock, New Wave... Es war eine Zeit des musikalischen Auf- und Umbruchs, in der Risiken
gewagt und Tabus gesprengt wurden. Eines dieser Tabus brachen The Runaways, die als eine der
ersten Frauen*bands im Rock/Punk schon allein dadurch Aufmerksamkeit erregten, dass sie
elektrische Gitarren spielten. Oder wie Joan Jetts Gitarrenlehrer im Film voller Vorurteile sagt:
„Girls don't play electric guitar.“
Die Band revolutionierte die Musikszene insbesondere für Frauen* und bewies, was zuvor
niemand für möglich gehalten hatte: Frauen* können sehr wohl rocken. Dass Regisseurin Floria
Sigismondi, die auch für das Drehbuch verantwortlich war, eben dieser Aspekt sehr wichtig war,
zeigt sich in der Konzeption des Filmes: Er dreht sich um die Entstehung, den Erfolg und letztlich
den Fall von The Runaways und konzentriert sich dabei maßgeblich auf die Musik. Der Film ist
nicht nur ein Biopic der Runaways, sondern gewissermaßen auch eine Coming-of-Age-Story, die
sich auf Cherie Curie (Dakota Fanning) und Joan Larkin/Jett (Kristen Stewart) konzentriert. Ein Film
ohne Tiefgang, der dank der hervorragenden Leistung der Hauptdarstellerinnen „The Runaways“
als solides Biopic funktioniert!
Trailer: https://youtu.be/uHpEJ749TRM
Rude Boy (1980)
Rude Boy ist ein halbdokumentarischer Film, der zum Teil eine Charakterstudie und zum Teil eine
„Rockumentary“ über die britische Punkband The Clash ist. Das Drehbuch enthält die Geschichte
eines fiktiven Fans namens Ray, der mit tatsächlichen öffentlichen Ereignissen der damaligen
Zeit, einschließlich politischer Demonstrationen und Clash-Konzerten, konfrontiert wird. Über
einen Zeitraum von mehreren Jahren gefilmt, wirkt der geschriebene Dialog wie improvisiert. Es
gibt gute Konzertaufnahmen, aber der Versuch, Rays Geschichte und seiner Konfrontation mit
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der Gruppe darzustellen, ist wenig gelungen. Eine glaubhafte Auseinandersetzung mit den
Problemen einer Generation findet nicht statt.
Trailer: https://youtu.be/PsXzZEFqEag
SLC! Punk (1998)
SLC Punk! ist eine US-amerikanische Subkultur-Studie über den Alltag zweier Punks aus Salt Lake
City mit komödiantischen und dramatischen Elementen von Regisseur James Merendino mit
Matthew Lillard (Serial Mom, Scream, Scooby-Doo) in der Hauptrolle und Til Schweiger in einer
Nebenrolle. Stevo und Bob (Michael A. Goorjian) sind die einzigen beiden Punks an dem College
und wollen nach dem Abschluss ein letztes Mal das Leben feiern, bevor sie im Herbst der Ernst
des Lebens einholt. Merendinos Film zeigt den „Sommer des Hasses,“ wie Stevo und Bob ihn
erleben, mit Partys, Konzerten, Schlägereien mit Rednecks und Nazis, Liebe und inspirierenden
Gesprächen. Stevos Eltern waren früher Hippies und wollten die Gesellschaft verändern, jetzt
gehören sie zum Establishment. So wollen Stevo und Bob niemals werden. Am Ende verändert
ein einschneidendes Erlebnis Stevos Leben. Er wird nach dem Herbst in Harvard Jura studieren
und sagt: „Wenn der Typ, der ich damals war, den Typen treffen würde, der ich heute bin, würde
er mich zusammenschlagen.“ Ein sehr unterhaltsamer Film, der Milieustudie und Drama ist,
feinfühlig erzählt, aber auch nicht frei von Klischees ist.
Trailer: https://youtu.be/fcFm96WxAZY
Smithereens (1982)
Regisseurin Susan Seidelman begründete ihre unverwechselbare Vision von New York City mit
diesem Debütfilm, dem Drama und Lo-Fi-Original für ihre lebendigen Porträts von Frauen*, die
sich neu erfinden. Nach ihrer Flucht aus New Jersey zieht die punkige Wren (Susan Berman) in die
Stadt, um berühmt zu werden. Wenn sie nicht gerade selbst Werbeflyer klebt oder in der
Peppermint Lounge rumhängt, lässt sie sich auf Paul (Brad Rinn), der in einem Van am Highway
lebt und Eric (Richard Hell) ein, der ihr bei der Flucht aus New York – wovon sie schnell die
Schnauze voll hat – helfen kann, um ins neue Punk-Mekka Los Angeles zu gelangen. Aber es wird
schnell klar, dass sie der falschen Person vertraut. Auf 16-mm-Film gedreht, der den Glanz und
Glamour der Innenstadt der 1980er Jahre einfängt, mit einem abwechselnd stimmungsvollen
Soundtrack von The Feelies und anderen. Smithereens ist der erste amerikanische Independent-
Film, der um die Goldene Palme in Cannes kämpfte, ist eine unvergängliche Momentaufnahme
einer vergangenen Ära.
Kompletter Film (englisch): https://youtu.be/mD4J2XPFCcE
Sid & Nancy (1986)
Love kills.
Alex Cox erzählt die obsessive Liebesgeschichte zwischen Sid Vicious und dem heroinabhängigem
Groupie Nancy Spungen. Gary Oldman und Chloe Webb brillieren in dieser legendären Punk-
Romantik-Version. Eine Liebe zwischen Drogenexzessen und Musik. Die Geschichte ist bekannt:
Eines Morgens wird Nancy erstochen aufgefunden. Die Polizei verhaftet Sid Vicious. Doch zu
einem Prozess kommt es nicht. Sid Vicious stirbt kurz vorher an einer Überdosis Heroin. Im
Hotelzimmer beginnt die Rückblende, in der Sid seine Beziehung zu Nancy Spungen Revue
passieren lässt. Drehbuchautor und Regisseur Alex Cox inszenierte einen Film, der hinter die
Kulissen der Punk-Szene blickt, mit brillanten Bildern und einem herausragenden Gary Oldman
(Das fünfte Element, Léon der Profi) in der Rolle des Sid Vicious. Ein besonderer Leckerbissen ist
der Auftritt von Courtney Love. Cox schuf ein Meisterwerk, das viele Klischees bedient und in
vielen Szenen überzogen wirkt. Dennoch ist der Film eine selbstzerstörerische Milieustudie , ein
Drama, Biopic und eine Romeo- und Julia-Liebesgeschichte. (Filmzitat von Malcolm McLaren,
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dargestellt von Schauspieler David Hayman: „Sidney ist mehr als nur ein normaler Bassist, er ist
das absolute Desaster. Er ist ein Symbol, eine Metapher. Er verkörpert die ganze Dimension der
nihilistischen Generation. Er ist ein Anti-Typ“).
https://youtu.be/TubehkbjOuI
Tank Girl (1995)
1988 starteten die Engländer Jamie Hewlett und Alan Martin, damals noch keine 30, die Legende
von Tank Girl aus der britischen Underground-Comic-Szene heraus – mit reichlich Fanzine-Feuer
und Punk-Allüren. 1995 kam die Comic-Verfilmung „Tank Girl“ mit Lori Petty, Naomi Watts, Ice-T,
Iggy Pop und Malcolm McDowell in die Kinos und floppte. Im Jahr 2033 ist von der Menschheit,
wie wir sie kannten, nicht so wahnsinnig viel übrig geblieben. Schuld daran ist ein Meteor, der
einige Jahre zuvor auf die Erde einschlug und damit eine Trockenheit auslöste, die noch immer
andauert. Wasser ist ein wertvolles Gut geworden, um das auch schon mal mit Waffengewalt
gekämpft wird. Punkgirl Rebecca lebt mit ihrer WG in einer der letzten grünen Oasen, weil sie
eine illegale Quelle angezapft hat. Als Kesslee (Malcolm McDowell), skrupelloser Herrscher über
die Wasserreserven, davon erfährt, macht er das Haus dem Erdboden gleich. Rebecca wird
gefangengenommen und ins Arbeitslager gesteckt. Mithilfe der Jet Girls kann sie entkommen und
macht fortan per Panzer Kesslee die Hölle heiß.
Eine der besten Szenen, weil völlig willkürlich und ohne jeden Sinn, ist eine Art Musical-Nummer,
die zwischendrin eingebaut wird. Und auch sonst ist hier alles überdreht, eigenartig, teils richtig
bizarr. Malcolm McDowell (Uhrwerk Orange), hat an seinem Wasser-Overlord sichtlich Spaß,
gleiches gilt für Lori Petty als Tank Girl, die mit einer Energie durch die Gegend wirbelt, als hätte
sie einen Eimer Energy Drink geleert. Was dem Film fehlt, ist eine glaubwürdige Geschichte oder
auch Figuren, bei denen hinter der schrillen Fassade etwas steckt. Regisseurin Rachel Talalay ist
zu sehr damit beschäftigt, alles Mögliche auf die Leinwand zu werfen und vergisst, aus dem
Chaos auch etwas zu schaffen. So ist der Film eine kuriose, absurde, futuristisch-emanzipierte
Öko-Variante des Action-Klassikers „Mad Max“ mit Musik von DEVO, HOLE, ICE-T, L7...Übrigens
hat sich die Produktionsfirma von Tank Girls australischer Landsfrau Margot Robbie vor drei
Jahren die Filmrechte an „Tank Girl“ gesichert. Diese Neuverfilmung mit Tankgirl im Stile von
Harley Quinn würde ich gerne sehen wollen!
Original-Trailer: https://youtu.be/mef757ZGUIU
Tod den Hippies! Es lebe der Punk! (2015)
„Scheiß Hippies. Verdammtes Gesockse!“
Ein Film über Berlin in den 80er Jahren, als Berlin eine Insel war, Zufluchtsort und Heimat der
Kaputten, Verirrten und Ausgestoßenen. Regisseur Oskar Roehler lässt das wilde Berlin der 80er
Jahre auferstehen und zeigt in klischeebeladenen Bildern einen exzessiven Lebensstil zwischen
Rausch, Punk und die Suche nach Liebe und Anerkennung. Die Nebenfiguren sind glänzend
besetzt (so z. B. Alexander Scheer als Blixa Bargeld). Prägung erhält der Film vor allem durch Tom
Schilling als Robert und Frederick Lau, der den schwulen Neo-Nazi Gries mit Gespür für
Zwischentöne spielt. Einsamkeit und Verlorenheit scheinen bei den meisten Figuren auf, sogar
bei Roberts Eltern: Hannelore Hoger als exzentrische Schriftstellerin und Samuel Finzi als
nostalgischer Ex-Kassenwart der RAF.
Eine Groteske und ein Drama in Zeiten von Subversion, Selbstfindung und RAF. Trotz
überzeichneter Szenen bietet alleine Roberts Tour de Farce ein kontrastreiches
Unterhaltungsprogramm mit Schönheiten wie Sanja (Emilia Schüle) und absurdem, etwa, wenn
Roberts schwuler Neo-Nazikumpel Gries „Karriere“ als Sänger der Band „Anal Fucking Bastards“
macht.
Trailer: https://youtu.be/jVZ5cchMRBI
67
Verschwende deine Jugend (2003)
München 1981. Während überall woanders was los ist, passiert in München gar nichts. Jedenfalls
ist das der Eindruck des 19-jährigen Harry Pritzel (Tom Schilling). Die Musik der Neuen Deutschen
Welle rollt, Harry ist Fan von DAF (Deutsch-Amerikanische Freundschaft) und leidenschaftlicher
Manager der Münchener Nachwuchsband Apollo Schwabing, in der seine Freunde Vince (Robert
Stadlober), Melitta und Freddie spielen. Im Hauptberuf allerdings macht er eine Lehre als
Bankkaufmann – ohne jede Leidenschaft. Sein Traum: Apollo Schwabing tritt bei einem DAF-
Konzert als Vorgruppe auf. Und Harry ist bereit, alles zu tun, um diesen Wunsch Wirklichkeit
werden zu lassen. Vom politischen und kulturellen Zeitgeist Anfang der 80er Jahre zeigt der Film
allerdings wenig. Die Story könnte genauso gut heute spielen, wäre da nicht die sogenannte Neue
Deutsche Welle. Ansonsten merkt mensch den Zeitsprung an den DM-Scheinen, den
Langspielplatten und der Tatsache, dass CDs noch fast futuristisch erscheinen.
What We Do Is Secret (2007)
„What We Do Is Secret“ ist ein biografisches Dokudrama über das kurze, turbulente Leben von
Darby Crash (bürgerlich: Jan Paul Beahm), dem Sänger der Punkband The Germs aus Los Angeles,
der sich am 7. Dezember 1980 durch eine Überdosis Heroin das Leben nahm.
Nachdem sie gemeinsam von der Highschool geflogen sind, gründen zwei Kumpels, Darby Crash
und Pat Smear (Nirvana, Foo Fighters), 1977 in Los Angeles die Punkband The Germs. In seinem
kurzen Leben verkörperte Crash unfreiwillig mehr ironische Widersprüche, als er vielleicht
beabsichtigt hatte. Crash eiferte seinem Idol Sid Vicious von den Sex Pistols nach, ritzte sich auf
der Bühne, spritzte Heroin und war fest entschlossen, sich selbst zu zerstören. Dafür hatte er sich
einem Fünfjahresplan verschrieben, den nur er vollständig verstand. Wie Darby (Shane West) in
einem der Faux-Rockumentary-Interviews des Films ankündigt: „Ich habe eine sehr, sehr genaue
Vorstellung davon, was ich erreichen möchte und wie ich es schaffen werde. Und ich brauche
Leute, die mir helfen, es zu tun.“ Vor der Punkmusik waren es Shirts und ein Logo (ein blauer
Kreis), mit denen GERMS ihre Ambitionen manifestierten: schlecht, gewaltaffin und verstörend zu
sein. „What We Do Is Secret“ reproduziert Interviews mit Darby, ehemaligen Germs und anderen
in ihrem Kreis, die von Claude Bessy (Sebastian Roche), alias Kickboy Face, Mitbegründer des
SLASH-Magazins, geführt wurden. Der Rest des Films besteht aus neu inszeniertem Performance-
Material, das von allzu vertrauten Dead-Rock-Star-Biopic-Klischees begleitet wird.
Trailer (englisch): https://youtu.be/5zVJklX2XRs
Wild Zero (1999)
„Rock and Roll hat keine Grenzen, Nationalitäten und Geschlechter.“
Wild Zero ist ein Zombie-Trash-Actionfilm von Tetsurō Takeuchi. Die Hard Fan Ace folgt der Band
„Guitar Wolf“ von Auftritt zu Auftritt, sei der Konzertort auch noch so entlegen. Als er nach einem
Gig in einen Streit zwischen der Gruppe und einem dubiosen Club-Besitzer gerät, rettet er die
Band versehentlich und bekommt vom Lead-Sänger Seiji (as himself) eine Trillerpfeife geschenkt,
mit der er das Trio jederzeit rufen kann (!). Ace begibt sich auf den Weg zum nächsten Konzert,
macht unterwegs aber eine erschreckende Feststellung: Der Planet wird von Außerirdischen
angegriffen, die die Menschen in Zombies verwandelt haben. Tetsurō Takeuchi setzt hier nicht auf
authentische Darstellungen. Zerballerte Köpfe, Explosionen und Raumschiffe kommen aus dem
Computer, was ziemlich billig/trashig ausfällt. Der Film ist komisch, roh und grobkörnig – was
mitunter für den Charme dieser absurden Mischung aus apokalyptischer Dystopie und
treibender Punk-Rock-Farce sorgt. Es gibt Zombies, die so übertrieben fett geschminkt sind, dass
sie mehr wie animierte Comicfiguren wirken. Der Soundtrack wurde zur gleichen Zeit als Album
(Wild Zero) der Band veröffentlicht.
Trailer: https://youtu.be/cv5AYlKGt1E
68
69
AIB #133
64 DIN-A-4 Seiten; € 3,50.-
AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
https://www.antifainfoblatt.de/
Seit März 2020 erleben wir im Alltag
erhebliche Einschränkungen aufgrund der
Corona-Pandemie und den staatlichen
Maßnahmen/Verordnungen, die Pandemie
einzudämmen. Damit einhergehen
reaktionäre Denkweisen, antisemitische
Verschwörungserzählungen und extrem
rechte Ansichten, die die sogenannte
Querdenker-Bewegung bis heute prägt. Der
AIB-Schwerpunkt „Pandemieleugner“ will
versuchen, die „rechten Ideologiefragmente
der verschwörungsideologischen
Pandemieleugnug als verbindende
Elemente aufzuzeigen“.
Seit Beginn der Corona-Pandemie und der
damit verbundenen Proteste gegen die
Eindämmungsmaßnahmen der
Bundesregierung sind auch
souveränistische Individuen und Gruppen
wie Reichsbürger*innen in diesen
Zusammenhängen aktiv. Während der
aufkommenden Anti-Lockdown-Proteste um
„Querdenken 711“ waren
„Reichsbürger*innen“ und andere
Souveränist*innen offen Teil der sich
bildenden „Querdenken“-Bewegung.
Minimalkonsens der sehr heterogenen
Bewegung ist ein grundlegendes
Misstrauen gegenüber medialen,
wissenschaftlichen und politischen Eliten.
Die Protestierenden unterfüttern ihre Kritik
mit Gegenwissen und tauschen sowohl
online (bspw. auf dem Messengerdienst
Telegram) als auch auf ihren
Kundgebungen „alternative“
Einschätzungen zum Coronavirus und zu
den Gegenmaßnahmen aus.
„Querdenker*innen“ argumentieren auf
einer grundlegend anderen Wissensbasis
und Einordnung von Fakten. Dieses Wissen
wird gespeist und genährt auf youtube oder
Telegram, auf denen „kritisches Denken“
und persönliches Erfahrungswissen mit
wissenschaftlich unbelegten
Argumentationsgrundlagen vermengt wird,
weil das Bauchgefühl mehr wiegt als
akademisch-abstraktes Wissen. So entsteht
ein Gegenwissen (gefühlte Fakten) und ein
Alternativ-Milieu zum „Mainstream“, das
sich gegen die gängige Politik und ihre
Regierung richtet und hat die Funktion,
diese zu delegitimieren, verändern oder gar
abzulösen (Tag X). Eine Protestkultur, um
eine Rückkehr zur alten Normalität zu
erreichen, wird aufgrund des bestehenden
und andauernden Kontrollverlustes als ein
eigenmächtiges Instrument genutzt, schafft
dabei Kooperationen und Mitstreiter*innen,
die zu extremeren
verschwörungstheoretischen
Überzeugungen führen.
Pandemieleugner*innen und Anti-
Coronamaßnahmen-Personen sind der
Meinung, aufgeklärt und kritisch zu sein.
Das hat Konsequenzen: Die Suche nach
Schuldigen. Die Kluft zwischen
umfassender und komplexer, nicht zuletzt in
statistischer Weise begriffener Realität
einerseits und der individuell
wahrgenommenen Situation andererseits
wird nicht anerkannt; Intellektuelle und
akademische Wissenschaftler*innen, die auf
der Bedeutung dieser Kluft beharren,
werden als Repräsentant*innen einer Welt
abgelehnt, die mit dem richtigen und
wahren Alltagswissen der „echten“
Bevölkerung nichts mehr zu tun haben.
70
Gesamteindruck:
Antifaschist*innen haben noch kein
erfolgreiches Konzept im Umgang mit
rechten Anti-Corona-Protesten. Aber ich
stelle fest, dass auch in kleinen Städten
antifaschistische Initiativen und bürgerliche
Allianzen in der Lage sind, sich im
ländlichen Raum organisierte sogenannten
„Spaziergänger*innen“ in den Weg zu
stellen. Doch die Gefahr ist relativ groß,
dass durch die andauernden und
wechselnden, evaluierten Maßnahmen, die
Corona-Pandemie einzudämmen, sich
Pandemieleugner*innen und sogenannte
„Querdenker*innen“ radikalisieren und sich
extrem rechte Kräften anschließen, um
Systemkritik an Politik und Medien und
ungehemmt mit zunehmender
Gewaltbereitschaft zu äußern.
ANKER
36 DIN-A-5-Seiten; € ???
chriz@42zines.de
Chriz hat noch ein „halb fertiges Zine
in den Weiten meines alten Läpppis
gefunden“. Die Intention, das Zine fertig zu
stellen, ist eine geplante Reise in den
Südwesten Portugals. Denn dort hat er vor
sechs Jahren ein Interview mit Nürni vom
Casa do burro gemacht und möchte ihm das
in Fanzine-Form mitbringen.
Gesamteindruck:
Zusätzlich zum hier in großzügiger Art und
Weise layoutiertem Interview hat Chriz das
Leit-Thema „Anker“ als eine Art roter Faden
ausgewählt. „Anker lichten und prüfen,
welche davon noch hilfreich sind, wie sie
beschaffen sein müssen(…)“. Leitmotive
sind Themenfelder, die ihn in Corona-
Pandemie-Zeiten geprägt haben und immer
noch beschäftigen. Das drückt Chriz in sehr
offener Art und Weise aus und skizziert
berufliche und familiäre Umstände, die der
Alltag unter Pandemie-Bedingungen mit
sich bringen: Reflexion, Veränderung,
Energieverlust, Depression. Was liegt da
näher, dem Stress, den Sorgen und Nöten
für einen Augenblick zu entfliehen.
Gleichwohl weiß Chriz, dass sich sein
Zustand nicht allein durch Urlaub
verbessern wird. Das auf 14 Seiten mit
Fotos gestreckte Interview – und
anschließendem Nachtrag/Spendenaufruf –
mit Nürni vom Casa do Burro ist dann der
Lese-Höhepunkt und legt offen, wie
selbstbestimmtes Leben einhergeht mit
Freiheit, Gelassenheit und Toleranz. Doch
das Wohn- und Feriendomizil wurde in der
Vergangenheit immer wieder heimgesucht
von den Folgen großer Waldbrände und
Feuerschäden. Ein Blick auf die Homepage
(https://www.casadoburro.com/) macht
richtig Lust auf das Projekt und einen
Kurzurlaub auf den Hof. Anker ist Symbol
für „fest machen, ankommen, bleiben, da
sein“. In diesem Sinne hat Chriz auch einen
inhaltlichen Bezug zu Halt und der Tiefe
hergeleitet, was in Krisenzeiten Hoffnung
und Zuversicht verspricht. Das ist ihm sehr
gut gelungen.
HANSA ZENECA #3 +CD
68 DIN-A-5-Seiten; € 1,50
hansazeneca@riseup.net
Maks hat Selbstzweifel und betont im
Editorial, dass diese Ausgabe die letzte sein
71
könnte, was vielleicht auch an seinen
(überhöhten) Ansprüchen an sich und
anderen liegt. Bis dahin verknüpft Maks
pro-feministische Inhalte mit FLINTA*-
Personen gegen eine offensichtliche
Männerdominanz in der Punk-Community
und Reise- und Konzertberichte. Maks
erneut in England unterwegs und berichet
über die Hürden, in Corona-Pandemiezeiten
und nach dem Brexit in England
einreisen zu können. In Brighton gibt es
veganes Essen und ein Konzertbesuch im
lokalen Club mit u. a. den vegan queer
bisexuellen Punks von „Joe and the
Shitboys“. Wieder zurück in „Teutschland“
besucht Maks das „Pankdemic“-Festival mit
4 Bands in Dortmund und anschließendem
Interview mit der Konzertgruppe, die
zukünftig ein Awareness-Konzept
entwickeln will, um bspw. Transphobie bzw.
Transfeindlichkeit im Publikum
entgegenzutreten. Das von Schlossi
übersetzte Interview mit Vez (WONK UNIT)
liefert Hintergründe zu ihren musikalischen
Aktivitäten und eine Stellungnahme zu
Sexismus im Punk. Warum Maks THE
KLEINS ins Fanzine-Boot zurückgeht, ist
wohl nur mit dem Insiderwissen zu
erklären, dass THE KLEINS „bis heute
herhalten müssen, wenn es um schlechte
running gags geht“. Maks’ Besuch in der
‚Baracke‘ endet in vorsorglichen
Entschuldigungs- und Ausredenformulierungen,
die immer dann benutzt
werden, wenn er sich bei Freund*innen
verabschiedet und es ihm nicht gut geht.
Mit „Anarchopunk und Antisemitismus“
folgt ein kontroverses Interview mit
‚Schlomo‘ (ein Pseudonym), der/die sich mit
dem Thema befasst hat. Im Verlauf entsteht
allerdings der Eindruck, dass er/sie sich
jede Kritik gegenüber Israel (sic!) verwehrt.
Dabei gibt es sehr wohl berechtigte Kritik,
etwa mit der israelischen Siedlungspolitik
in Ost-Jerusalem. Rechtsnationale Israelis
verbitten sich eine Einmischung aus
Europa, was ihre Absicht verstärkt,
überhaupt an einer 2-Staaten-Lösung
interessiert zu sein. Schlomo schlussfolgert
sehr einseitig in Richtung Antideutsche
Kritik. Die antideutsche Kritik solidarisiert
sich mit Israel aus der Erkenntnis, dass die
Welt, so wie sie heute eingerichtet ist, den
Antisemitismus immer aufs Neue
hervorbringt. Schlomos Beispiele von Punk
-und Anarchobands, die (angeblich)
antisemitische Inhalte reproduzieren, sind
mir nicht schlüssig genug, was Schlomo
auch vielfach zugibt und die entsprechende
Band/Person von den Vorwürfen per se freispricht.
Bei solch einem komplexen Thema
hätte Maks gut daran getan, sich mit dem
Thema fachlich zu beschäftigen und mit
Schlomo ein Streitgespräch zu führen, da er
ansonsten Gefahr läuft, vorgeführt zu
werden.
Gesamteindruck:
Maks freut sich wie Hulle, fährt E-Roller
und reist wieder gerne. Wenn er aber so
viel Wert auf eine politische Balance der
Geschlechter legt, sollte er sich in anderen
Bereichen besser vorbereiten. Davon
abgesehen ist der Inhalt zur aktuellen
Ausgabe eine unterhaltsame Mischung und
überdeutlichem FLINTA*-Support!
LOTTA #85
64 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.-
Lotta, Am Förderturm 27, 46049
Oberhausen
www.lotta-magazin.de
Der Schwerpunkt „Ostdeutschland
rechtsaußen?!“ beleuchtet das Phänomen
extrem rechter Umtriebe, Ausschreitungen
und politische Wahlerfolge der AfD im
„Osten“ der Republik.
Die Gewaltexzesse in Rostock-Lichtenhagen
und Hoyerswerda waren noch nicht
aufgearbeitet, versagten in den Folgejahren
Politik und Behörden im Umgang mit der
extremen Rechten, die bis heute
hemmungslos offen agieren kann. Für viele
Betroffene herrscht ein Klima der Angst vor,
geprägt von Hass und Gewalt, Drohungen
und Mord. Spätestens nach den
rassistischen Ausschreitungen in Heidenau,
Freital oder Chemnitz, mit der Entstehung
von PEGIDA sowie den Wahlerfolgen der
AfD mit dezidiert völkisch-nationalistischen
Landesverbänden in Thüringen und
72
Sachsen zieht sich eine erneute Debatte um
die Spezifika der extremen Rechten in
„Ostdeutschland“ durch die letzten Jahre.
Mit Ausnahmen größere Städte wie Leipzig
oder Dresden gibt es durchaus Landstriche,
die wie in Mittelsachsen ein Netzwerk
völkischer Neonazi-Familien etabliert, die
durch die „Initiative Zusammenrücken“ als
rechte Siedlungsgemeinschaft einen
Sehnsuchtsort für Heimatverbundenheit,
völkische Traditionen und einer „gesunden
Volkssubstanz“ Ausdruck verliehen
bekommt.
Die Fragen nach den Gründen der
gesellschaftlichen Akzeptanz oder Duldung
von Rechtsaußen erklärt Marcel Hartwig
u.a. mit einem „mentalitätsgeschichtlichem
Hintergrund“, bei dem sich „bisherige
Lebensentwürfe“ wandelten und eine
„Fortexistenz eines spezifischen deutschen
Nationalismus in der DDR“ eine
wesentliche Rolle spielte. Die extreme
Rechte profitiert von Faktoren
gesellschaftlicher Entwicklung wie
Abwanderung, schwach aufgestelltem
Demokratieverständnis. Marcel
schlussfolgert, dass Ostdeutschland zum
Testfeld für extrem rechte Realpolitik wird.
Sebastian Friedrich und Volkmar Wölk
skizzieren die Entwicklung,
Erfolgsbedingungen und Grenzen der AfD
im Osten. Antifaschistischer Protest ist
meist in größeren Städten zu beobachten,
wo Student*innen leben. Das Netzwerk
Polylux legt einen großen Fokus auf den
ländlichen Raum, weil viele der
Aktivist*innen selbst dort aufgewachsen
sind. So erhalten/erfahren bspw.
Geflüchtete, Migrant*innen und Menschen
in prekären Lebenslagen zunächst
Unterstützung und Solidarität.
Antifaschistischer Support ist nötig, wo er
gebraucht wird.
Gesamteindruck:
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung,
Marco Wanderwitz konsternierte, dass die
Diktaturerfahrung der DDR verhindert,
dass ein Teil der Ostdeutschen in der
Demokratie ankommt. Andere, wie etwa die
ostdeutsche Historikerin Christina Morina,
verweisen dagegen auf die Nach-Wende-
Erfahrung. Hinzu kommt die eher schwache
Struktur der Zivilgesellschaft. Dabei ist sie
eine wichtige Schule für die Demokratie,
indem sie durch Prozesse der Verhandlung,
der Konfliktaustragung, der Entwicklung
von Respekt über Vereine und andere
Gesellschaften eine Voraussetzung für
demokratische Kultur legt. Hier hat die
extreme Rechte zu lange unbehelligt
agieren können und besetzt mit Erfolg,
Engagement und politische Kreativität
bürgerliche und gesellschaftliche Milieus.
Die AfD im Osten ist eine Partei, in der
Menschen an der Spitze mitwirken, die als
Autohändler, Hausmeister oder
Handwerker die Sprache der Menschen
sprechen. Darin erkennen sich viele wieder.
Die westdeutsche Rechte hat
Ostdeutschland als die Region erkannt, die
besser als jede andere für ihre Zwecke
entwickelt werden kann. Aus
antifaschistischer Perspektive ist die
ostdeutsche extrem rechte
Erfolgsgeschichte eine enorme
Herausforderung, die mit dem Netzwerk
Polylux Hoffnung bringt, eine starke
Zivilgesellschaft zu fördern.
OX #160
148 DIN-A-4-Seiten; € 6,50.- + CD
OX-Fanzine, Postfach 110420, 42664
Solingen
www.ox-fanzine.de
Das OX wird teurer, dafür sind die
Stromkosten im OX-Headquarter dank
Photovoltaikanlage gesunken. Ausgeglichen
ist auch der Inhalt zwischen Punk bis
Thrash Metal, Vergangenes und Aktuelles.
Konzerterinnerungen aus den 80er Jahren
mir DAF und X-Mal Deutschland, subjektiv
ausgewählte Platten für die Ewigkeit und
lecker essen. Was folgt ist gewohnte Kost:
Tom van Laak durchlebt hypochondrische
und physische Episoden der
„Befindlichkeiten“, während Mille von
KREATOR Theatralik wichtig findet und
einfach ein bisschen „bekloppt“ ist, alles
andere sei langweilig. Ben Kowalewicz von
BILLY TALENT verehrt Pearl Jam komplett,
73
während BETONCOMBO ihren legendären
Mauerstadt-Punk skizzieren. In die gleiche
Kerbe, nur ein paar Jährchen später, taucht
der/die Leser*innen ein in die Historie von
CERESIT (81), die ihren Sound von Fun
Punk hin zum metallischen Punk evaluiert
haben. SLIME läuten derweil ihren 4.
Frühling ein und schlagen mit neuem
Sänger Tex ein weiteres Kapitel auf. Mir
gefallen die neuen Songs sehr gut und Tex
skizziert offenbar auch wegen seiner
Biografie und der Textinhalte eine
authentische Lebenswelt. Seiten später gibt
es erneut Einblicke in das Vinyl-
Produktions-Drama, mit der Konsequenz,
dass einige „Hobby-Labels“ den Betrieb
einstellen und „kleinere“ Bands lange
Wartezeiten auf Vinyl-Pressung hinnehmen
müssen.
Gesamteindruck:
Die Mischung stimmt. Punk und Metal als
mögliche Symbiose, um Vorurteile und
Gemeinsamkeiten abzuklären. Die
punkhistorischen Aufarbeitungen sind wie
immer die Lese-Highlights, täuschen aber
nicht darüber hinweg, dass eben nicht alles
relevant ist und die Quantität überwiegt,
heißt: weniger ist mehr, bedeutet: mehr
Schwerpunkte mit Punkbezug und
ausgewählte Bands mit längeren
Interviews, als die hier präsentierten
überflüssigen Schnellschüsse, die nicht
über allgemein bekannte Band-Infos
hinausgehen.
PLASTIC BOMB #118
48 DIN-A-4-Seiten; € 5,00.-
Plastic Bomb, Heckenstr. 35, 47058
Duisburg
https://www.plastic-bomb.eu/wordpress/
Ronja hat daas Gefühl, dass wieder
„mehr Energie in die Sache gekommen ist,
dass es wieder mehr, vor allem jüngere,
Menschen im Punk gibt.“ Auch Schlossi hat
eine zündende Idee, wähnend sie damals
und heute vergleicht und es nicht
nachvollziehen kann, „dass man auf sich auf
Veranstaltungen trotz 2G+ nicht sicher
fühlt, weil man zu einer Risikogruppe
gehört(...)“. Basti investiert Zeit und
74
private Ersparnisse ins neu erworbene
Haus der verstorbenen Oma und bastelt an
einer digitalen Version seiner
„Gruftneurosen“.
Fini und Bonny erklären ihr Konzeptalbum,
das nach langer Wartezeit endlich auf Vinyl
gepresst worden ist und wissen, dass sie für
„mal eben rein hören die falsche Adresse“
sind!“ Ronja interviewt Annette (Bärchen
und die Milchbubis), die über die NoFun-
Connection, über NDW und die Stimmung
in den 80er Jahren berichtet. Dann gibt es
mehrere Artikel über Krisen und Konflikte
zu Geflüchteten auf dem Meer, an der
polnischen, polnisch-belarussichen Grenze,
in Bosnien, wo freiwillige Helfer*innen und
Aktivist*innen vor Ort Hilfe leisten oder
daran erinnern, wie die Logik des
europäischen Migrations-Systems
funktioniert.
Basti skizziert die deutsche Rechtspflege,
die Richter mit extrem rechter Gesinnung
emporbrachte und -bringt und beschreibt
Fallbeispiele.
Nach Vorkriegsjugend kommen die
Nachkriegsratten, die manchmal höflich,
asozial und oft durstig sind. Das von Philipp
geführte Interview mit Dirk von Lowitzow
(TOCOTRONIC) ist das eigentliche
Highlight, weil hier Kultur, Politik und
Sachverstand verknüpft werden.
Gesamteindruck:
Die aktuelle Ausgabe ist ein kunterbuntes,
chaotisches Allerlei aus Punk und Politik
mit dem ausgeprägten Sinn, Witz und
Ernsthaftigkeit zu versprühen. Das mag auf
den ersten Blick verwirren, auf den zweiten
Blick unterstreicht das den sehr
unterschiedlichen Anspruch der einzelnen
Schreiberlinge, die ihre Begeisterung,
Empörung oder Neugier zum Ausdruck
bringen.
RAUDITUM #6
64 DIN-A-5-Seiten; €3,00.-
www.facebook.com/rauditumfanzine
Herausgeber „De Wessi“ macht
Pause. Quereinsteiger Ugly erfuhr davon
erst während der Fertigstellung zur neuen
Ausgabe und offenbart, dass diese eine
Notnummer sei.
Zunächst gibt es eine Reihe von
Bandvorstellungen. Diese sind in meinen
Augen überflüssig, weil sie nicht über eine
allgemeine Bandinfo hinausgehen und
nichts Neues bietet, was es nicht auch im
www nachzulesen gibt.
Ganz anders dagegen ist das Interview mit
der von mir sehr wertgeschätzten Patti
Pattex, die zum einen biografisches und
bandhistorisches wiedergibt, zum anderen
lange Statements und klare Worte zu
Diskriminierung und Sexismus
ausformuliert. Darüber hinaus druckt Ugly
ein Statement von ihr ab, das sie offenbar
nach einem Kommentar auf einen der
sozialen Netzwerk-Kanäle ausführt und sich
auf einen Artikel bezieht, in dem ein mir
unbekannter Autor Sexismus kritisiert, aber
gleichzeitig „Prollkacke“ (gemeint sind
Bands wie Lokalmatadore, Die Kassierer u.
ä.) gut findet. Pattis offene, ehrliche
Meinung zum Thema ist gut und wichtig
und legt offen, dass in der Punk-Community
frauen*feindliche Verhaltensweisen
reproduziert werden. Patti ist reflektiert
und wütend zugleich, räumt auf mit
Definitionen, was Punk eben nicht ist und
nicht alles darf.
Diesen Text nimmt Ugly zum Anlass, eigene
Verhaltensweisen zu reflektieren und ist
von sich über gemachte Fehlverhalten
enttäuscht, ohne Fallbeispiele zu benennen
und bleibt bei allgemeinen Kritikpunkten,
verknüpft im Gedankenkonstrukt Sexismus
mit Rassismus und schlussfolgert, dass
„Intension (sic!) und Bewusstsein“ dafür
verantwortlich sind.
Im etwas konfusen Artikel „Islam-Bashing“
erklärt Ugly dann Feminizid und
Ehrenmord mit der Annahme, dass diese
von männlichen Tätern verübt werden. Das
allein ist aber kein rein „islamisches
Phänomen“. Ich bevorzuge – seinem
Gedankenkonstrukt folgend – patriarchale
Auslegungen als Grund/Problem, die im
Islam, Christentum und anderen Religionen
vorHERRschen.
75
Gesamteindruck:
Für eine Notnummer hat Ugly durchaus
eine kontroverse und vielseitige Ausgabe
zusammengestellt. Aufgelockert durch
einige Comics (Magenbitter,
Sesam)/Zeichnungen ist die aktuelle
Ausgabe auch eine Streitschrift zu Themen
über Sexismus und Religion. Streitfragen
und -themen sind wichtig. Eine effektive
Streitschrift beinhaltet einen dialogischen
Moment, ist folglich auf eine Person oder
Personengruppe gerichtet. Und hierfür gibt
es in der aktuellen Ausgabe reichlich
Gelegenheiten.
ROCK-O-RAMA
„Als die Deutschen kamen“
Björn Fischer
448 Seiten; € 32,00
Hirnkost Verlag
https://shop.hirnkost.de/
ISBN:
PRINT: 978-3-949452-00-0
Über das Buch: Punkbands mit
provokanten Namen wie Böhse Onkelz,
Cotzbrocken, Oberste Heeresleitung oder
Stosstrupp sorgten bereits in der
Frühphase der wohl kontroversesten
deutschen Schallplattenfirma medial für
reichlich Zündstoff: Tonträger wurden
indiziert, zensiert oder
staatsanwaltschaftlich beschlagnahmt.
Wenige Jahre später hatte sich das einstige
Kultlabel der Punks in einen weltweit
agierenden Rechtsrock-Vertrieb verwandelt.
Dieses Buch bringt auf über 400 Seiten
endlich Licht ins Dunkel der Legenden,
Mythen und Mysterien und offeriert dabei
nicht nur Musik-Nerds und Szene-
Insider*innen exklusive Background-Infos,
sondern leistet darüber hinaus auch einen
zentralen Beitrag zur Historie des
Rechtsrock-Nukleus in Europa.
Gesamteindruck:
Wer war Herbert Egoldt? Der Versuch einer
charakterlichen Analyse scheitert daran,
dass bis auf wenige Ausnahmen keine*r
Herbert richtig kannte oder gar zu Gesicht
bekam. Der Musiker und Autor Björn
Fischer hat sich die Frage gestellt, wer der
Typ ist, um über ihn, das Label, die Bands
ein Buch zu schreiben. Einige beschreiben
Herbert als „Zuhältertyp“, „voll den
Netten“, als ein „Mysterium“ (Gernot
Nickel; The Nikoteens Manager), dem es
nach Einschätzungen vieler der hier zu
Wort kommenden Gesprächspartnern in der
Hauptsache ums Geld/den Profit ging:
„Platten zu veröffentlichen war seine
Lebensgrundlage“, resümiert ein enger
Bekannter und ehemaliger
Geschäftspartner Egoldts.
Darüber hinaus geht es nicht nur um die
Person Herbert Egoldt, sondern auch um
das geschäftliche Umfeld, den Labelbands,
deren Mitglieder einige Anekdoten und
Erinnerungen wiedergeben. Insofern ist das
Buch zum einen der Versuch, die Person
Herbert Egoldt charakterlich einzuordnen.
Andererseits ist das Buch aber auch eine
spannende Labelgeschichte, in der Bands
und ausschließlich männliche
Gesprächspartner den Kontakt/Umgang zu
und mit Herbert und den Aufnahmeprozess
im Studio in Köln beschreiben. Des
Weiteren war R-O-R auch ein Plattenladen,
der hier von einigen Bandmusikern und
Besuchern beschrieben wird. Die
kontroverse Labelpolitik, die spezielle
Covergestaltung und der typische Sound
(meist im Kölner Studio am Dom unter der
Leitung von Hans-Jürgen Fickel produziert)
waren viele Reviewer, Punks suspekt und
führte auch zu Ablehnung und Boykott, die
sich spätestens mit den Veröffentlichungen
der BÖHSE ONKELZ-Alben und der darauf
folgenden White Power-/RAC-Label-Ära
verstärkte. Auf der anderen Seite wird auch
eine immer wiederkehrende Naivität der
jungen Punk-Musiker offenbar, die wie die
Band M.A.F ihre eigene Unerfahrenheit
herausstellen: „Jung, dumm – im Sinne von
unerfahren – und ständig besoffen!“
Auch wenn es aus heutiger Sicht und nach
dem Lesen des Buches merkwürdig
erscheint, so hatte Rock-O-Rama in den
frühen 80ern zumindest hierzulande eine
nicht zu unterschätzende Bedeutung in der
Punkszene. Oder anders gesagt: man kam
um den Egoldt und seine Punk-Platten
76
kaum herum. Nostalgie hin und schaler
Beigeschmack her, Björn hat ein
umfassendes Bild zusammengestellt, das
aus den vielen detaillierten Erinnerungen
der vielen Gesprächspartnern geschuldet
ist und in Ansätzen das Psychogramm eines
Geschäftsmannes darstellt, dem es „nur
ums Geld und die Marktlücke“ ging (Ralf
aus Köln).
Tierbefreiung #113
72 DIN-A-4-Seiten; €4,00.-
die tierbefreier e.V., Postfach 160132,
40564 Düsseldorf
www.tierbefreiershop.de
Immer wieder ist in der
Tierbefreiung, dem Magazin und der
Bewegung insgesamt, die Rede von
Speziesismus. Die Redaktion und
Mitarbeiter*innen leisten Begriffserklärung
und ermöglichen verschiedene
Gesellschaftsanalysen durch die Brille des
(Anti-)Speziesismus.
Der Begriff Speziesismus wurde in den
1970er Jahren von dem Philosophen Peter
Singer und dem Psychologen Richard Ryder
geprägt. Durch die Bezugnahme auf den
biologischen Fachausdruck Spezies soll die
zentrale Annahme des Konzeptes zur
Geltung kommen, dass die Interessen der
eigenen Art den Interessen der anderen
Arten auf allen Ebenen vorgezogen werden.
Der Ansatz kritisiert diese speziesistische
Diskriminierung und lehnt die strikte
Trennlinie, die zwischen Mensch und Tier
gezogen wird, als ungerechtfertigt ab.
Stattdessen betonen Vertreter*innen dieses
Ansatzes die Ähnlichkeiten zwischen
menschlichen und nicht-menschlichen
Arten, die in der Fähigkeit zu leiden
begründet werden.
Tom Zimmermann interviewt Richard Ryder
und spricht mit ihm über den
Speziesismusbegriff, mögliche Strategien
zur Abschaffung. Zudem formuliert Richard
die zehn Prinzipien des „Painism“ und zwei
Referenzen.
Speziesismus in der Sprache ist ein
weiterer Artikel, den Kevin Pottmeier
erklärt. Die Sprache trägt dazu dabei, die
Gewalt an Tieren zu rechtfertigen und zu
verschleiern. Doch sie kann auch dazu
dienen, den Speziesismus zu überwinden.
In der menschlichen Sprache werden
immer wieder Suffixe, Präfixe, Vorsilben
genutzt, um Pflanzen („Unkraut“) oder
nicht-menschliche Tiere („Schädlinge“)
negativ zu konnotieren. Menschen werden
mit Begriffen wie Flüchtlingsstrom,
Migrationswelle zu einer bedrohlichen
Gefahr werden, die „eingedämmt“ werden
müsse. Nicht-menschliche Tiere werden
bspw. in der Fleischindustrie als zu
verarbeitendes „Stück“, „Produkt“
fremddefiniert, um die massive Gewalt an
Tieren zu versachlichen und nichtmenschlichen
Tieren Rechte wie
Selbstbestimmung, Freiheit abzusprechen.
Selbst wenn es sich um ein und dieselbe
Tätigkeit handelt, hindert uns das nicht
daran, für Menschen und nichtmenschliche
Tiere unterschiedliche Begriffe
zu verwenden: Menschen essen, Tiere
fressen, Frauen gebären, weibliche Tiere
werfen, Menschen sterben, Tiere verenden
und nach dem Tod sind wir Leichen, Tiere
hingegen Kadaver. Die Sprache dient hier
dazu, so manche LinguistInnen, eine
emotionale Distanz zwischen Mensch und
Tier zu schaffen.
Ina Schmitts diskursiver Artikel zu „Vegan
und Speziesismus“ stellt das aus heutiger
Sicht trendige Verhalten vieler
Veganer*innen aus ernährungstechnischen
Gründen der ursprünglichen Definition
eines radikalen Wandels des
gesellschaftlichen Mensch-Tier-
Verhältnisses gegenüber. In Anlehnung an
den Begriff Speziesismus ist eine vegane
Lebensweise in diesem Kontext allein auf
das Wohlbefinden des Menschen
ausgerichtet, wo positive Aspekte der
Ernährung in den Vordergrund gestellt
werden. In dieser Denkweise findet
keinerlei Solidarität mit von Ausbeutung,
Tötung nicht-menschlicher Tiere oder eine
bewusste tierbefreiungsorientierte
Denkweise statt.
77
Gesamteindruck:
Die menschliche Denkweise impliziert
erlernte, verinnerlichte Muster von
Speziesismus. Rassismus, Diskriminierung.
In dieser ist die menschliche ethische
Position verortet: wir Menschen gehören
der intelligenteren, überlegenen Art an und
deshalb können wir alle schwächeren
Lebewesen auch so behandeln, wie es uns
am meisten nützt. Fleisch essen ist normal.
Mit der Katze kuscheln auch. Es ist eine
soziale Ungerechtigkeit, die bisher immer
noch ein fester und allgemein akzeptierter
Bestandteil unserer Gesellschaft ist. Wir
Menschen stellen uns über die Tiere, weil
wir die Technologien dafür haben. Doch nur
weil wir diese Macht besitzen, ist es nicht
automatisch moralisch vertretbar, sie auch
auszunutzen. Es gilt, die soziale
Gerechtigkeit für Tiere einzufordern und
genau die menschlichen Denkstrukturen
angreifen, in der nicht-menschliche Tiere
ausgenutzt, ausgebeutet und getötet
werden. Speziesistische Diskriminierung ist
so gängig, dass sie von den meisten
Menschen nicht hinterfragt wird, es sei
denn, es handelt sich um eine
ungewöhnliche Form der Diskriminierung
oder um ein besonderes Ausmaß dieser. Die
Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere ist für
viele Menschen etwas Alltägliches. Umso
wichtiger, Diskriminierungs- und
Ausbeutungsverhältnisse zu beenden. Dafür
sollten wir unsere eigenen Denkmuster und
Verhaltensweisen immer wieder
reflektieren und eine systematische
Gewaltkultur aufgeben.
TRUST #212
68 DIN-A-4 Seiten; €3,50.-
Trust Verlag, Dolf Hermannstädter,
Postfach 110762, 28087 Bremen
https://trust-zine.de/
Dolf ist entsetzt, dass Bücher auf
seinen Stapel gelandet sind, die von
verschwörungstheoretischen Inhalten und
AutorInnen geprägt sind, hat diese aber
offensichtlich selbst und hofft, dass es „lieber
früher als später eine willkürlich oder
gewollte Vernunftheimsuchung der Menschen
gibt“.
Jan Röhlk hat Ohrwürmer im Kopf und
skizziert erneut seine wahnhafte Obsession,
über die Ursprünge von Bandnamen zu
recherchieren wie hier zu CHARLEY’S
GIRL(s). Sabrina Lügt erklärt und
kommentiert psychische Beeinträchtigungen
und medizinische Maßnahmen/Konsequenzen
(Medikamente und Therapie) der Boomer
Generation, um schlusszufolgern, dass wir an
dem System und nicht nur an uns arbeiten
sollten.
Jan Röhlk erarbeitet einen imaginären
Reisebericht und entführt uns an Orte, die
vielleicht nur ihn interessieren: Wo hat
welcher Punk einer legendären Band einen
Zahn verloren, die Klinke geputzt, den Bus
genommen oder an die Laterne gepinkelt?
Für Jan ist alles relevant und bedeutend,
begreift die wahnhafte Suche als Heroen-
Verehrung.
Viel besser und gehaltvoller indes ist Bennis
ausführliches Gespräch mit Ralf von
TISCHLEREI LISCHITZKI über das sehr
persönliche und politische Konzept zum
aktuellen Album, das NS-Verbrechen in Bezug
zur eigenen Familiengeschichte aufarbeitet
und skizziert.
Bela ist seit 2019 begeistert von SCHOL
DRUGS und interviewt Josh, Claas Reiners
analysiert das Debütalbum der SHITNEY
BERS und erkennt, dass die Songs
zweidimensional funktionieren. Bela befragt
Kira Roessler nach ihren musikalischen
Aktivitäten bzw. Stationen bei BLACK FLAG
und DOS; Mika hat über Umwege mit Tweety
von CHOKE COCOI ein tolles Interview
geführt und befragt sie nach Rechte der
Frauen* in den Philippinen, über Songinhalte
zu Gleichberechtigung und über Einfluss von
Musikerinnen.
Gesamteindruck:
Während Jan Röhlk sich immer mehr in
akribische Details verliert, ist der
Erkenntnisgewinn in Sabrina Lügts Kolumne
recht hoch. Des Weiteren ist der von Ralf
erläuterte Hintergrund zur
familiengeschichtliche Recherche über Opfer
der NS-Verbrechen spannend und
erschreckend zugleich. Zusammen mit Mikas
Interview mit Tweety sind das die Highlights
der aktuellen Ausgabe.
78
Hol Dir das UNDERrDOG nach Hause!
Ein appochales
Angebot
Ich bin der
Erste!
Gemein!
Ich krieg
wieder
keins ab!
Wahnsinn!
Ich flipp aus!
Ich hab‘s
schon!
" " "
ABO-SERVICE
Ich bestelle das UNDERDOG frei Haus für € 10.- (Inlands-Abo) bzw. € 15.- (Auslands-Abo) für 4
Ausgaben mit dem Recht, jederzeit schriftlich zu kündigen.
Bitte liefert das UNDERDOG ab Nummer _____ an:
(bitte eintragen. Wenn du nichts einträgst, beginnt dein Abo mit der zuletzt erschienenen
Ausgabe)
__________________________________
Name, Vorname
__________________________________
Straße, Hausnummer
__________________________________
PLZ, Ort
4 Ausgaben für €10.-
(Inlands-Abo) bzw.
€15.- (Auslands-Abo)
inklusive CD
_________________________________
Datum, Unterschrift
Ich zahle (Zutreffendes bitte ankreuzen!)
O bar (beigelegt)
O überweise (Empfänger: Fred Spenner) auf das Konto IBAN DE90 2806 6214 0016 7932 00
der Volksbank Wildeshausen, BIC GENODEF1WDH (Abo wird bei Eingang des Geldes gültig)
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✪UNDERDOG Fanzine ✪Fred Spenner ✪ Stolles Weg 1 ✪27801 Dötlingen