(gruppen)interview Mit Tatendrang in die Zukunft Veranstaltungstipp Resümee und Ausblick zum 40-jährigen Bestehen des Colloquiums 3. Welt mit Albrecht Recknagel, ehem. Geschäftsführer von terre des hommes, 30.8.<strong>2022</strong>, VHS Osnabrück, 19.30 h Jubiläumsfeier 40 Jahre A3W & Colloquium Dritte Welt 2.9.<strong>2022</strong>, Lagerhalle, 18.30 h Stephanie Seeger, Carl-Heinrich Bösling, Reinhard Stolle und Franz Wirtz (v.l.): Das A3W wird zum „Eine Welt Zentrum“ (EWZ) und verweist damit auf ein neues Verständnis globaler Zusammenarbeit und globaler Lösungsansätze 10 <strong>STADTBLATT</strong> 8.<strong>2022</strong>
Ein Laden voller Waren, die nicht nur gut aussehen, sondern auch fair produziert Pund gehandelt sind. Im hinteren Bereich Regalmeter um Regalmeter voller Bücher, Ordner und Infoblätter: Am 2. September feiert das Aktionszentrum 3. Welt sein 40-jähriges Bestehen. Grund genug mit den Vereinsakteuren Reinhard Stolle, Franz Wirtz, Carl-Heinrich Bösling und Stephanie Seeger Bilanz zu ziehen und einen Blick in die Zukunft des Aktionszentrums, des Welt-Ladens und des Dritte-Welt-Colloquiums zu wagen. INTERVIEW NOAH SCHNARRE | FOTO REBECCA BRASSE <strong>STADTBLATT</strong>: In ihrem Buch „Imperiale Lebens - weise“ (2017) führen Ulrich Brand und Markus Wissen aus, dass die Lebensweise des globalen Nordens maßgeblich auf der Ausbeutung des globalen Südens beruht. Was bedeutet diese These für Ihre Arbeit? REINHARD STOLLE: Dahinter verbirgt sich die Forderung des globalen Südens: Ändert euch und eure Gesellschaften, dann ist uns am meisten geholfen. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass sich sogenannte Entwicklungshilfe und Entwicklungs - politik nur auf Solidaritätsbekundungen und Hilfsprojekte bezieht. Es muss auch darum gehen, in den Industrienationen im Bereich Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Fairtrade ein Umdenken herzustellen und nachhaltige Prozesse zu initiieren. CARL-HEINRICH BÖSLING: Die damalige entwicklungspolitische Debatte hatte in dieser Hinsicht eine klar imperialistische Färbung. Der globale Norden projizierte seine eigene prozesshafte Entwicklung, die Industrialisierung, die Herausbildung von Menschenrechten usw. eins zu eins auf den globalen Süden. Man schickte Entwicklungshelfer und Konzepte, die dann nur umgesetzt werden müssten, und so gelinge dann eine positive Entwicklung. Dass dieser Ansatz maßlos und illusionistisch war, zeigen uns heute zahlreiche Bespiele. <strong>STADTBLATT</strong>: Was ist Ihr entwicklungspolitischer Ansatz? FRANZ WIRTZ: Die Arbeit unseres Vereins stützt sich auf zwei Säulen: Die erste Säule ist der alternative und faire Handel, den wir mit dem „Welt-Laden“ in der Bierstraße umsetzen. Was in diesem Bereich an Gewinn erwirtschaftet wird, fließt direkt in die zweite Säule, die Bildungsarbeit. Hier versuchen wir eine Schnittstelle für in Osnabrück ansässige Initiativen, Akteure und Interessierte zu sein, stellen Material zu Verfügung und planen gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen. <strong>STADTBLATT</strong>: Inwieweit ist die Universität Osnabrück in diese Bildungsarbeit integriert? CARL-HEINRICH BÖSLING: Bereits vor unserer Vereinsgründung gab es in Osnabrück Professoren und Universitätsmitarbeitende, die sich alle in ihrem Teilbereich mit Themen der sogenannten Dritten Welt befassten. Dadurch, dass es auch damals schon die große Kinderhilfsorganisation terre des hommes in Osnabrück gab, liefen viele Kontakte hin und her. Schnell kam dann der Impuls nach einem stärkeren entwicklungspolitischen Austausch, in dem auch die Universität stärker mit eingebunden seien sollte. Daraus ist das „Dritte- Welt-Colloquium“ entstanden. FRANZ WIRTZ: Damals wie heute ist es uns ein Anliegen, dass das durch die Forschung generierte Wissen nicht nur einer kleinen Fachwelt, sondern der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Daher sind wir froh, mit der Volkshochschule einen Bündnispartner gefunden zu haben, der es uns ermöglicht, unsere Themen unterschwellig an die Osnabrückerinnen und Osnabrücker heranzutragen. Das Meiste ist natürlich sehr global politisch angesetzt, wir versuchen aber auch immer wieder einen Bezug zum lokalen Handeln herzustellen. „Unsere Arbeit ist heute aktueller als noch vor 30 Jahren.“ Reinhard Stolle <strong>STADTBLATT</strong>: Lassen Sie uns nun etwas genauer auf den „Welt-Laden“ und den fairen Handel eingehen. STEPHANIE SEEGER: In unserer heutigen globali - sierten Welt konsumieren wir immer mehr Dinge, die nicht aus Deutschland stammen. Das sind Handelsbewegungen und -ströme, die wir nicht mehr rückgängig machen können. Unser Anliegen ist es daher, diese Prozesse neu zu gestalten. Unser Laden ist nur ein kleines Zahnrad innerhalb einer internationalen Bewegung, die Produkte ein - fordert, die unter den Gesichtspunkten der Fairness produziert werden. Natürlich wissen wir, dass der momentane Welthandel, der unter diesen fairen Bedingungen abläuft, nur einen sehr geringen Prozentsatz ausmacht und die Welt nicht ver - ändern wird. Unser Ansatz ist es viel mehr, unseren Kundinnen und Kunden hier kompetente Auskunft über alterna tive Produktionsbedingungen zu geben. <strong>STADTBLATT</strong>: Haben Sie in diesem Bereich konkrete Forderungen an die Stadt Osnabrück? STEPHANIE SEEGER: Seit 2010 darf sich die Stadt Osnabrück „Fair Trade Town“ nennen und auch mit dem Nachhaltigkeitspreis ist sie ausgezeichnet worden. Das geschah natürlich nicht ohne Grund. Wir glauben aber, dass die Stadt in diesen Bereichen noch deutlich mehr tun kann. Das versuchen wir einzufordern, denken Projekte mit und stoßen sie an. So sollte in der Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt zum Beispiel auch die Verknüpfung zum fairen Handel hergestellt werden, der den Umweltschutz und nachhaltige Handelsbeziehungen inkludiert. REINHARD STOLLE: Insbesondere die Beschaffungsarbeit der Stadt kann noch deutlich optimiert werden. Momentan setzen wir uns dafür ein, dass in der Stadtverwaltung eine Stelle geschaffen wird, die sich damit befasst, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Beschaffungswesen arbeiten, die also Elektronik, Papier, Kaffee usw. anschaffen, gezielt zu schulen und sie über faire, geeignete Produkte zu informieren. Es gibt schon zahlreiche Städte, die ihre Verwaltungen nach diesen fairen Produktstandards umgebaut haben. Wir müssen das Rad also nicht neu erfinden, sondern nur auf den Zug aufspringen. <strong>STADTBLATT</strong>: Lassen sich die global politischen Probleme durch diese fairen Handelsprozesse lösen? FRANZ WIRTZ: Wir wissen genau, dass wir durch unsere Initiative die Welt in ihren global politischen Abhängigkeiten nicht verändern können. Aber wir können Beispiele aufzeigen, Signale geben und mischen uns in politische Diskussionen der Osnabrücker Bürger:innenschaft, der Kommune und überregional ein. REINHARD STOLLE: Und wir sind nicht der Ansicht, dass man durch den Konsumentenansatz und über den fairen Handel globale Unrechtsstrukturen verändern oder aushebeln kann. Aber wir können darüber informieren und deutlich machen, warum das so ist und was man ändern muss, damit sich die gesamte Situation für alle verbessert. Und das ist eigentlich unser entwicklungspolitischer Ansatz: Immer wieder deutlich zu machen, dass es diese Unrechtsstrukturen gibt, dass wir damit etwas zu tun haben. Wenn wir bei uns etwas ändern, dann hat das auch Auswirkungen auf den globalen Süden. Deshalb ist es auch wichtig, nicht nur über den globalen Süden zu sprechen, sondern auch Menschen aus dem globalen Süden hier zu Wort kommen zu lassen, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Zu unserem 40. Jubiläum haben wir daher auch die südafrikanische Aktivistin Ruth Weiss eingeladen, die schon zahlreiche Veranstaltungen von uns bereichert hat. <strong>STADTBLATT</strong>: Wie wird sich Ihr Verein in Zukunft aufstellen? FRANZ WIRTZ: Da der Begriff „Dritte Welt“ nicht ganz unumstritten und auch ideologisch aufge - laden ist, werden wir uns in das „Eine Welt Zentrum“ kurz EWZ umbenennen, um damit aufzuzeigen, dass wir ein neues Verständnis von globaler Zusammenarbeit und globalen Lösungsansätzen haben. REINHARD STOLLE: Was unsere zukünftige Arbeit angeht, sind wir mit Projekten schwerpunktmäßig in Südafrika engagiert. Aber vieles von dem ist in den letzten drei Pandemiejahren einfach eingeschlafen und muss erst wieder reaktiviert werden. Außerdem sehen wir, dass Themen wie Krieg, Hunger und Unterentwicklung, die schon vor langer Zeit im Colloquium von uns behandelt wurden, durch die Entwicklungen der letzten drei Jahre und insbesondere der letzten sechs Monate immer brisanter und schwieriger werden. Unsere Arbeit ist heute aktueller als noch vor dreißig Jahren. <strong>STADTBLATT</strong> 8.<strong>2022</strong> 11