ERF Medien Magazin Oktober 2022
Gutes Leben
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THEMA <strong>ERF</strong> MEDIEN MAGAZIN ı 10.<strong>2022</strong> ı 7<br />
WIE WIR DAS EINFACHE UND REDUZIERTE NEU ENTDECKEN KÖNNEN<br />
Sich begrenzen im Überfluss<br />
VON ANSELM GRÜN<br />
Unser Leben bietet einen immensen Reichtum, ja Überfluss: zahllose Reize, Inputs, Möglichkeiten,<br />
Chancen, Informationen. Doch damit ist auch die Angst verbunden, etwas zu verpassen. Dieses Phänomen<br />
ist eine sehr charakteristische Erscheinung für unsere Gesellschaft: Sich zu begrenzen, fällt<br />
offenbar schwer, sich festzulegen, scheint gefährlich. Anselm Grün spricht verschiedene Bereiche an,<br />
wo uns Überfluss und Masslosigkeit begegnen – und wie wir darauf reagieren können.<br />
Die Masslosigkeit unserer Selbstbilder<br />
Viele Menschen leiden darunter, dass sie sich selbst nicht<br />
annehmen können. Wenn ich danach frage, warum sie<br />
sich nicht annehmen können, dann wird sehr oft klar: Die<br />
Bilder, die sie von sich haben, entsprechen nicht ihrer Realität.<br />
Sie können sich nicht annehmen, weil sie illusionäre<br />
Bilder von sich selbst haben. Da gilt es, Abschied zu nehmen<br />
von diesen masslosen Selbstbildern, dass ich immer<br />
perfekt sein muss, immer erfolgreich, immer cool, immer<br />
alles im Griff haben muss. In der Psychologie spricht man<br />
davon, dass man betrauern muss, dass man nicht so perfekt<br />
ist, wie man es gerne wäre. Für viele ist der Ausdruck<br />
«betrauern» zu negativ. Aber es tut weh, sich von Illusionen<br />
verabschieden zu müssen. Daniel Hell, ein Psychiater,<br />
der sich sehr mit dem Thema der Depression beschäftigt<br />
hat, meinte einmal, die Depressionen seien<br />
Der Überfluss und die Fähigkeit, sich zu entscheiden<br />
Psychologische Forschungen haben ergeben, dass sich die<br />
Menschen schwertun, wenn sie vor zu vielen Möglichkeiten<br />
stehen. Das beginnt schon beim Einkaufen. Wenn<br />
es nur drei Käsesorten im Supermarkt gäbe, würde ich<br />
mich leichter mit meiner Entscheidung tun, welche Sorte<br />
ich kaufe. Doch nicht nur beim Einkaufen werden wir mit<br />
zu vielen Möglichkeiten konfrontiert, sondern auch bei<br />
der Entscheidung, welchen Beruf wir ergreifen, welches<br />
Fach wir studieren oder mit wem wir unser Leben teilen<br />
wollen.<br />
Eine Studentin hatte im Abitur exzellente Noten. Sie<br />
konnte alles studieren: Medizin, Mathematik, Musik und<br />
Sport. Nach langem Hin und Her hat sie sich für die Medizin<br />
entschieden. Nach zwei Jahren müssen Medizinstudenten<br />
auf das Physikum hin lernen. Da hat sie<br />
oft ein Hilfeschrei der Seele gegen diese<br />
masslosen Selbstbilder. Unsere Seele rebelliert<br />
dagegen, wenn wir zu grosse Bilder<br />
von uns haben, die wir niemals ausfüllen<br />
können.<br />
WENN DU ERKENNST,<br />
DASS ES DIR AN NICHTS<br />
FEHLT, GEHÖRT DIR<br />
DIE GANZE WELT.<br />
dem Musikstudium nachgetrauert: «Hätte<br />
ich doch lieber Musik studiert. Dann könnte<br />
ich jetzt Klavier spielen. Das wäre viel<br />
schöner, als auf das Examen zu büffeln.»<br />
Das Nachtrauern entzieht uns alle Energie.<br />
Die Heilung von der Masslosigkeit unserer Selbstbilder<br />
sieht der heilige Benedikt in seiner Regel, die er schon vor<br />
1500 Jahren geschrieben hat, in der Demut. Demut ist für<br />
uns heute eher ein negativer Begriff. Doch das lateinische<br />
Wort «humilitas» kommt von «humus = Erde». Demut<br />
besteht also im Mut, von unseren hohen Ideen hinabzusteigen<br />
und unsere eigene Menschlichkeit und Erdhaftigkeit<br />
anzunehmen. Demut ist auch die Fähigkeit, mit<br />
beiden Füssen auf der Erde zu stehen, anstatt irgendwelche<br />
spirituellen Höhenflüge zu starten, die uns von der eigenen<br />
Wirklichkeit wegziehen.<br />
Auch hier gilt: Die Studentin sollte betrauern, dass sie<br />
sich gegen das Musikstudium entschieden hat. Betrauern<br />
heisst: Musikstudium wäre auch schön. Aber ich verabschiede<br />
mich von dieser Möglichkeit. Nur wenn ich mich<br />
wirklich verabschiede und betrauere, dass ich nicht Musik<br />
studiere, kann ich mich mit ganzer Kraft auf das Medizinstudium<br />
einlassen.<br />
Eine Entscheidung für etwas ist immer auch eine Entscheidung<br />
gegen etwas. Jede Entscheidung engt ein. Viele<br />
wollen sich lieber alle Türen offenhalten als sich für eine<br />
Tür entscheiden. Doch dann machen sie oft die Erfahrung,