ERF Medien Magazin Oktober 2022
Gutes Leben
Gutes Leben
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THEMA <strong>ERF</strong> MEDIEN MAGAZIN ı 10.<strong>2022</strong> ı 9<br />
«<br />
ICH KANN DAS EINFACHE LEBEN<br />
NUR DANN GENIESSEN,<br />
WENN ICH MICH VERABSCHIEDE<br />
VON DEM DRUCK,<br />
ALLES HABEN ZU MÜSSEN,<br />
UND VON DER ANGST,<br />
ETWAS VERSÄUMEN ZU KÖNNEN.<br />
»<br />
kommt aus dem Griechischen und meint: Übung, Training.<br />
Verzichten bedeutet eigentlich: Training in die innere Freiheit.<br />
Wenn ich den Verzicht so sehe, dann spornt er mich<br />
an, mich innerlich frei zu machen von dem Druck, alle<br />
Bedürfnisse erfüllen zu müssen. Wer jedes Bedürfnis sofort<br />
erfüllen muss, der ist unfrei, er wird zum Sklaven seiner<br />
eigenen Bedürfnisse.<br />
Die Weisen haben zu allen Zeiten das einfache Leben<br />
gepriesen. Aber ich kann das einfache Leben nur dann<br />
geniessen, wenn ich mich verabschiede von dem Druck,<br />
alles haben zu müssen, und von der Angst, etwas versäumen<br />
zu können. Der Dichter Jean Paul hat die Erfahrung<br />
gemacht, dass wenig genügt, um sich glücklich zu fühlen:<br />
«Man kann die seligsten Tage haben, ohne etwas anderes<br />
dazu zu gebrauchen als blauen Himmel und grüne Frühlingserde.»<br />
Wer den blauen Himmel und die grüne Frühlingserde<br />
geniessen kann, der ist wirklich glücklich. Wer<br />
immer noch mehr haben oder ständig aussergewöhnliche<br />
Erlebnisse haben muss, der wird vor lauter Gier nicht bei<br />
dem stehen bleiben, was er gerade tut oder was er gerade<br />
erlebt. So wird das Leben an ihm vorbeigehen.<br />
Wer verzichten kann, der ist nicht arm oder ärmlich.<br />
Er erlebt eine andere Weise von Reichtum, den Reichtum<br />
seiner Seele. Der chinesische Weise Laotse hat das so ausgedrückt:<br />
«Wenn du erkennst, dass es dir an nichts fehlt,<br />
gehört dir die ganze Welt.» Wenn ich genug habe an dem,<br />
was mir Gott geschenkt hat, an meinem Leib und meiner<br />
Seele, an den Menschen, mit denen ich lebe, und an den<br />
Dingen, die ich besitze, dann gehört mir die ganze Welt.<br />
Ich bin einverstanden mit der Welt. Und so bin ich auch<br />
einverstanden mit mir, mit meinem Leben.<br />
Für die griechische Philosophie war diese Erfahrung<br />
des Einsseins das Ziel reifer Menschwerdung. Viele<br />
Menschen leiden heute unter Einsamkeit und Vereinsamung.<br />
Peter Schellenbaum meint einmal, die Kunst<br />
der Menschwerdung bestünde darin, das Alleinsein in<br />
ein All-Eins-Sein zu verwandeln. Viele Menschen suchen<br />
heute in den sozialen <strong>Medien</strong> ständig den Kontakt mit<br />
anderen Menschen, um ihrer Einsamkeit aus dem Weg zu<br />
gehen. Doch die vielen Kontakte können uns die Einsamkeit<br />
nicht nehmen. Wenn wir nicht in Kontakt sind mit<br />
andern, fühlen wir uns einsam. Wenn ich aber in der Stille<br />
in den Grund meiner Seele eintauche und dort spüre, wie<br />
ich eins bin mit Gott, eins mit der Schöpfung, eins mit<br />
allen Menschen, dann fühle ich mich verbunden mit allen<br />
Menschen. Die vielen Kontakte, die heute die Menschen<br />
in den sozialen <strong>Medien</strong> eingehen, wollen letztlich Zugehörigkeit<br />
und Verbundenheit. Doch wahre Verbundenheit<br />
entsteht nicht durch die vielen Kontakte, sondern durch<br />
das Mitfühlen. Wenn ich mich in die Menschen hineinfühle,<br />
dann entsteht wirkliche Verbundenheit. Das meint<br />
Jesus, wenn er uns auffordert: «Seid barmherzig, wie es<br />
auch euer Vater ist.» (Lukas 6,36) Das griechische Wort<br />
«oiktirmon» meint: mitfühlen. Gott fühlt mit uns. Und<br />
wir werden Gott ähnlich, wenn wir mitfühlen mit allen<br />
Menschen. Das verbindet uns und schenkt uns inneren<br />
Frieden und Dankbarkeit.<br />
USER ZUR PERSON<br />
Pater Anselm Grün ist Mönch der Benedikxxxxxxx<br />
tinerabtei Münsterschwarzach. Bekannt<br />
wurde er als Führungskräftetrainer, Autor<br />
spiritueller Bücher und Referent.<br />
Er veröffentlicht auf YouTube und seiner<br />
Facebookseite immer sonntags die Auslegung<br />
des Evangeliums als Video.