ERF Medien Magazin Oktober 2022
Gutes Leben
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8 ı<br />
THEMA<br />
dass sie vor lauter verschlossenen Türen stehen. Ich muss<br />
mich entscheiden, durch EINE Tür zu gehen, anstatt vor<br />
lauter offenen Türen stehen zu bleiben.<br />
Viele junge Menschen tun sich auch schwer, sich für<br />
einen Freund oder eine Freundin zu entscheiden. Sie haben<br />
Angst, dass sie dadurch ihr Leben einengen und sich durch<br />
die Bindung an einen Menschen anderen Möglichkeiten<br />
des Lebens verschliessen. Ich habe junge Frauen und Männer<br />
erlebt, die attraktiv waren und keine Probleme hatten,<br />
Freunde und Freundinnen zu finden. Doch sie konnten sich<br />
nicht entscheiden, weil sie ständig dachten, dass vielleicht<br />
noch eine attraktivere oder intelligentere Freundin oder<br />
ein noch imponierender Freund in ihr Leben treten könnte.<br />
Andere haben Angst, sich zu binden, weil der Freund oder<br />
die Freundin dann entdecken würde, dass sie gar nicht so<br />
perfekt sind, wie sie sich nach aussen geben. Letztlich ist<br />
es wieder die Masslosigkeit des eigenen Selbstbildes, von<br />
dem sie sich nicht verabschieden können. Es wäre für sie<br />
schlimm, wenn der andere erkennen würde, dass hinter<br />
dieser selbstsicheren Fassade ein unsicherer Mann oder<br />
eine Frau ohne Selbstwertgefühl steckt oder jemand mit<br />
Ängsten und neurotischen Lebensmustern.<br />
Die Angst, etwas zu versäumen<br />
In den <strong>Medien</strong> werden uns wunderbare Urlaubsziele vor<br />
Augen geführt. Auf Facebook oder Instagram erzählen uns<br />
Freunde, wo sie im Urlaub waren. Das erzeugt in vielen<br />
Menschen den Druck, dass sie auch unbedingt dahin<br />
müssten. Oder wenn ein Freund einen guten Film gesehen<br />
hat, muss man ihn auch sofort sehen. Es ist ja gut, wenn<br />
wir uns gegenseitig anregen, in einen guten Film zu gehen<br />
oder ein gutes Buch zu kaufen. Doch bei vielen entsteht ein<br />
Druck, sie müssten alles auch erleben, was die Bekannten<br />
erlebt haben. Sie würden etwas versäumen, wenn sie nicht<br />
auf die Malediven oder nach Thailand reisen würden. Und<br />
wenn sie es dann tun, sind sie oft enttäuscht und wollen<br />
sich die Enttäuschung nicht eingestehen. Daher müssen<br />
sie wiederum vor ihren Freunden von ihrem Urlaub<br />
schwärmen, um der Durchschnittlichkeit und Banalität<br />
ihres Lebens zu entfliehen. Sie müssen sich selbst ständig<br />
darstellen, um mit den Selbstdarstellungen der andern<br />
konkurrieren zu können.<br />
Manche nehmen ihr Smartphone mit ins Bett, um ja<br />
keine Nachricht vom Freundeskreis zu versäumen. Doch<br />
damit versäumen sie das Eigentliche – das Leben. Vor<br />
lauter Angst, eine wichtige Nachricht oder Neuigkeit zu<br />
versäumen, werden sie unfähig, sich auf das Leben und<br />
auf den jetzigen Augenblick einzulassen. Mit ihrer Angst,<br />
Nachrichten oder Erlebnisse zu versäumen, versäumen sie<br />
das Leben.<br />
Die Kunst zu verzichten<br />
Verzichten hat für viele Menschen einen negativen Klang.<br />
Doch schon Sigmund Freud meint, wer nicht verzichten<br />
könne, der würde nie ein starkes Ich entwickeln. Verzichten<br />
gehört wesentlich zum Menschen. Psychologen<br />
sagen uns: Gierige Menschen sind unfähig, zu geniessen.<br />
Geniessen kann nur der, der verzichten kann. Wenn ich<br />
zu viele Torten esse, aus Angst, ich könnte eine gute Sorte<br />
verpassen, dann kann ich das Essen nicht mehr geniessen.<br />
Hildegard von Bingen sagt einmal, Disziplin sei die Kunst,<br />
sich immer freuen zu können. Wenn ich zu viel esse, kann<br />
ich mich nicht mehr freuen. Da ärgere ich mich dann eher<br />
darüber, dass ich nicht aufhören konnte.<br />
Was wir im Deutschen mit dem Wort «Verzicht» beschreiben,<br />
nennt die christliche Tradition Askese. Askese