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TOPFIT Winter 2022/2023

Bescheid wissen - gesund bleiben Ihr Magazin für Gesundheit, Fitness und Wellness

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Diagnose & Therapie<br />

17<br />

sellschaft zu finden. Gemeinsam mit der Universitätsklinik<br />

für Psychiatrie und Psychotherapie<br />

haben wir diese Behandlungslücke geschlossen:<br />

Mit der Psychiatrischen Transitionsstation stehen<br />

beiden Kliniken nun 16 stationäre Behandlungsplätze<br />

zur Verfügung: 8 kinder- und jugendpsychiatrische<br />

und 8 erwachsenpsychiatrische<br />

Betten, zudem bis zu 4 tagesklinische Plätze.<br />

Haben die psychischen Erkrankungen bei<br />

Heranwachsenden zugenommen?<br />

Prof. Schulte-Körne: Die Zahl der jungen Patienten<br />

mit einer behandlungsbedürftigen psychischen<br />

Erkrankung ist seit Jahren hoch. Studien<br />

zur Neuerkrankungsraten zeigen jedoch, dass in<br />

den Pandemiejahren stressassoziierte Erkrankungen<br />

wie Angst-, Depression und Essstörungen<br />

bei jungen Menschen deutlich zugenommen<br />

haben – diese Ergebnisse decken sich auch mit<br />

meiner persönlichen Erfahrung.<br />

Sie haben dann in Partnerschaft mit der<br />

Beisheim Stiftung für Kinder und Jugendliche<br />

das digitale Infoportal „Corona und Du“<br />

ins Leben gerufen – mit zahlreichen Tipps,<br />

damit sie psychisch gestärkt durch diese<br />

Zeit zu kommen …<br />

Prof. Schulte-Körne: … auf dem Infoportal werden<br />

unter anderem ganz alltägliche Probleme<br />

wie Langeweile oder Stress angesprochen und<br />

Lösungen aufgezeigt, um besser damit umzugehen.<br />

Für schwerwiegende Probleme und starke<br />

psychische Belastungen verweist „Corona und<br />

Du“ auf anerkannte Anlaufstellen und andere<br />

Möglichkeiten, therapeutische Unterstützung zu<br />

bekommen.<br />

Welche Auswirkungen der Corona-Pandemie<br />

hat den jungen Menschen besonders<br />

zu schaffen gemacht?<br />

Prof. Schulte-Körne: Während der Pandemie haben<br />

wir verschiedene Effekte gesehen. Vor allem<br />

die Lockdowns und das Homeschooling haben<br />

bei den Kindern und Jugendlichen erhebliche<br />

Spuren hinterlassen. Dabei hatten nicht nur der<br />

Bewegungsmangel, sondern auch die massive<br />

Einschränkung der sozialen Kontakte erhebliche<br />

Auswirkungen auf die psychische Gesundheit<br />

der jungen Menschen. Vor allem der regelmäßige<br />

Austausch mit Gleichaltrigen kann Kindern<br />

und Jugendlichen helfen, Stresssituationen<br />

einigermaßen zu bewältigen. Fällt diese wichtige<br />

Kompensationsmaßnahme weg, kann die Belastung<br />

überbordend werden. Deutlich zugenommen<br />

hat vor allem die Anzahl der Jugendlichen<br />

mit Depressionen und Essstörungen. Viele von<br />

ihnen sind so schwer krank, dass sie auf eine stationäre<br />

Behandlung dringend angewiesen sind.<br />

Inzwischen kommt noch der Ukraine-Krieg<br />

dazu. Befürchten Sie, dass die Anfrage nach<br />

stationärer bzw. teilstationärer oder auch<br />

nach ambulanter Behandlung weiter steigen<br />

wird?<br />

Prof. Schulte-Körne: Das ist sogar sehr wahrscheinlich.<br />

Wobei die kindliche Psyche auf Belastungen<br />

oft verzögert reagiert – das konnten<br />

wir schon während der Corona-Pandemie beobachten.<br />

So haben wir zum Beispiel einen Anstieg<br />

der Erkrankungsrate nicht gleich nach dem<br />

ersten Lockdown festgestellt, sondern erst einige<br />

Monate später.<br />

Gibt es Risikofaktoren für die Entstehung<br />

einer psychischen Erkrankung?<br />

Prof. Schulte-Körne: Einige Risikofaktoren gibt es.<br />

Dazu gehört zum Beispiel eine genetische Disposition:<br />

Oft leben die betroffenen Jugendlichen in<br />

einer Familie, in der weitere Familienmitglieder<br />

psychisch erkrankt sind. Generell ist es so, dass<br />

Jugendliche in bestimmten Lebensphasen besonders<br />

vulnerabel sind, vor allem in der Entwicklungsphase<br />

vom 12. bis zum 20. Lebensjahr. Sind<br />

die Jugendlichen in dieser Zeit heftigen Stressoren<br />

ausgesetzt, ohne zu wissen, wie sie damit<br />

umgehen sollen, ist die Wahrscheinlichkeit für<br />

die Entstehung einer psychischen Erkrankung<br />

deutlich erhöht.<br />

Ein leider oft vernachlässigter Aspekt ist die ungute<br />

Macht der Bilder in den Medien – ein Aspekt,<br />

der gerade in diesen Tagen besondere Beachtung<br />

verdient. Denn Bilder und Filme vom<br />

Kriegsgeschehen überfordern Kinder in erheblichem<br />

Maße – bis hin zur Auslösung eines Traumas.<br />

In Anbetracht der erheblichen Belastung<br />

für die Kinderseele, die von diesen Bildern ausgeht,<br />

ist es dringend geboten darüber nachzudenken,<br />

wie die Kinder davor geschützt werden<br />

können.<br />

Vor gut einem Jahr haben Sie unter dem<br />

Titel „Ich bin alles“ das deutschlandweit<br />

einzigartige digitale Infoportal zu Depression<br />

und psychischer Gesundheit zusammen<br />

mit der Beisheim Stiftung gestartet. Viele<br />

Beiträge sind von Jugendlichen für Jugendliche<br />

und damit in einer Sprache, die<br />

von allen verstanden wird …<br />

Prof. Schulte-Körne: … genau. „Ich bin alles“-Portal<br />

richtet sich an Kinder und Jugendliche mit<br />

Depression, sowie an ihre Eltern, aber auch an<br />

nicht erkrankte Kinder und Jugendliche, die sich<br />

zu dem Thema informieren möchten. Das Infoportal<br />

basiert auf der S3-Behandlungsleitlinie,<br />

die ich selbst mit koordiniert habe, und die den<br />

aktuellen wissenschaftlichen Stand zur Behandlung<br />

von Kindern und Jugendlichen mit einer<br />

Depression zusammenfasst.<br />

Dass Jugendliche selbst zu Wort kommen und<br />

zum Beispiel über ihre Erkrankung sprechen,<br />

war uns ein ganz wichtiges Anliegen. Wir haben<br />

auch junge Moderatoren, die Therapeuten interviewen.<br />

Zudem gibt es verständliche Erklärvideos<br />

zu Krankheitsursachen und Behandlungsmethoden.<br />

All das haben wir im Austausch mit<br />

Jugendlichen und mit der Unterstützung von<br />

Medienpädagogen und Kommunikationsprofis<br />

entwickelt – über einen Zeitraum von gut drei<br />

Jahren. Es geht darum, dass gerade Kinder und<br />

Jugendliche diese Inhalte, die sie gesundheitlich<br />

betreffen, genau verstehen.<br />

Und das ist nicht immer der Fall?<br />

Prof. Schulte-Körne: Nein. Fakt ist: Jugendliche<br />

fühlen sich häufig nicht wahrgenommen. Und<br />

dieses Gefühl spiegelt sich dann in Äußerungen<br />

wider wie „Ich kann ja eh nichts machen.“ Oder:<br />

„Mich hört ja sowieso niemand an.“ Die Jugendlichen<br />

empfinden es so, als würden sie nicht als<br />

repräsentierter Teil unserer Gesellschaft behandelt<br />

werden. Dabei sind ihre Sorgen häufig auch<br />

die der ganzen Gesellschaft; die Kriegsangst, die<br />

gerade viele umtreibt, ist ein gutes Beispiel dafür.<br />

Aber es stimmt schon: Die Einbindung von<br />

Kindern und Jugendlichen in gesellschaftliche<br />

Prozesse findet oftmals nicht statt. Immer noch<br />

wird über die Kinder und Jugendlichen entschieden,<br />

aber nicht mit ihnen. Das sollte uns, wie<br />

ich finde, doch sehr zu denken geben. Und wir<br />

sollten überlegen, wie es gelingen kann, Kinder<br />

und Jugendliche an diesen Prozessen direkt zu<br />

beteiligen.<br />

Haben Sie Lösungsvorschläge?<br />

Prof. Schulte-Körne: Viele Strukturen und Prozesse<br />

sind ja vorgegeben, deshalb ist es nicht leicht,<br />

etwas zu verändern. Aber es wäre schon viel gewonnen,<br />

wenn Kinder und Jugendliche aktiv in<br />

die medizinische und vor allem therapeutische<br />

Entscheidung mit eingebunden werden. Wenn<br />

sie selbst artikulieren können, was sie wollen und<br />

was nicht. Und wenn man sie erst einmal darüber<br />

aufklärt, was es konkret bedeutet, mit einem<br />

bestimmten Medikament, einer Psychotherapie<br />

oder eben auch in einer spezialisierten Klinik<br />

stationär behandelt zu werden – und das altersgerecht<br />

und in für sie verständlichen Worten.<br />

Zur Person<br />

Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne<br />

Direktor der Klinik für Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie, Psychosomatik<br />

und Psychotherapie<br />

LMU Klinikum<br />

Tel: +49 (0)89 4400 55901<br />

E-Mail: kjp@med.uni-muenchen.de<br />

Die beiden digitalen Infoportale<br />

„ich bin alles“ und „Corona und du“<br />

sind erreichbar unter:<br />

www.ich-bin-alles.de bzw. unter<br />

www.corona-und-du.info<br />

Fotos: © LMU Klinikum München<br />

<strong>TOPFIT</strong> 4 / <strong>2022</strong>

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