PROMAGAZIN Dezember 2022
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WIRTSCHAFT | Solidarität<br />
Solidarität | WIRTSCHAFT<br />
Eine Frage der<br />
mentalen Disziplin<br />
Die Langfassung des Interviews<br />
finden Sie im Internet auf<br />
www.pro-magazin.de<br />
Stefanie Stahls Bücher, allen<br />
voran »Das Kind in dir<br />
muss Heimat finden«, stehen<br />
seit Jahren auf den<br />
Top-Rängen der Bestsellerlisten.<br />
Foto: Susanne Wysocki<br />
Zur Person<br />
Stefanie Stahl arbeitet<br />
als Psychotherapeutin<br />
und Buchautorin in Trier. Ihre<br />
zehn Bücher wurden in fast 30 Sprachen<br />
übersetzt und über eine Million<br />
Mal verkauft. Sie ist gefragt als Expertin<br />
in Zeitungen und Fernsehshows<br />
und hat bereits mehrere tausend Menschen<br />
in Seminaren und Coachings begleitet.<br />
„Ohne Bindung könnten wir nicht überleben”, sagt Psychologin und<br />
Bestsellerautorin Stefanie Stahl. Gerade in Krisenzeiten ist das besonders<br />
deutlich. Zusammenhalt und Solidarität spielen dabei eine<br />
große Rolle.<br />
Ihr neues Buch „Wer wir sind?” behandelt<br />
den Bauplan unserer Psyche. Jeder<br />
von uns nimmt die Welt subjektiv<br />
wahr. Welchen Rat geben Sie Menschen<br />
in den aktuellen Krisensituationen?<br />
Stefanie Stahl: Ich muss mir überlegen,<br />
was bei mir jeden Tag anliegt und<br />
mich zuallererst um mein eigenes Leben<br />
kümmern. Ganz wichtig dabei ist,<br />
dass ich mir überlege, in welchen Bereichen<br />
ich Kontrolle habe und selbst<br />
Einfluss nehmen kann. Denn es bringt<br />
mich keinen Schritt weiter, wenn ich<br />
mich in Weltuntergangsszenarien hineinsteigere.<br />
Ich kann die Welt nicht retten,<br />
aber vielleicht kann ich einen kleinen<br />
Einfluss nehmen, um mein<br />
Ohnmachtsgefühl zu verändern. Wer<br />
Geld übrig hat, kann etwas spenden,<br />
wer Zeit hat, kann sich irgendwo engagieren.<br />
So kann ich den kleinen Beitrag<br />
leisten, den ich mich im Stande fühle<br />
zu leisten.<br />
Derzeit nehmen Menschen die Realität<br />
offenbar sehr unterschiedlich wahr.<br />
Wie lässt sich das erklären?<br />
Stahl: Wenn wir etwas wahrnehmen,<br />
also sehen, fühlen oder riechen, wird<br />
der Eindruck blitzschnell und unbewusst<br />
mit unserer Erinnerung verglichen,<br />
auch im zwischenmenschlichen<br />
Bereich. Und wenn ich als Kind<br />
und Jugendlicher sehr viel Ablehnung<br />
erfahren habe und sehr viele Erlebnisse<br />
hatte, bei denen ich das Gefühl hatte,<br />
dass ich nicht richtig ankomme,<br />
dass ich nicht richtig verstanden werde<br />
oder dass ich auf Missbilligung stoße,<br />
dann ist das ein Großteil meiner<br />
persönlichen Erinnerungen im zwischenmenschlichen<br />
Bereich. Und<br />
dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch,<br />
dass ich Eindrücke, die mir da draußen<br />
begegnen, schnell negativ aufnehme,<br />
weil meine Erinnerung so geprägt<br />
ist. Vor allem rechne ich dann<br />
auch damit, abgelehnt zu werden.<br />
Und entsprechend organisiere ich<br />
mein Verhalten.<br />
In Ihren Büchern sprechen Sie viel über<br />
Selbstwert und Glaubenssätze. Wie<br />
wichtig sind diese beiden Aspekte in<br />
der Gesellschaft?<br />
Stahl: Sie sind total wichtig. Selbstreflektion<br />
und Mitgefühl wären ganz<br />
wichtige Schlüssel, um die Probleme<br />
dieser Welt zu lösen. Wenn jeder Einzelne<br />
in der gesamten Welt für sich reflektieren<br />
und seine Prägungen, Glaubenssätze<br />
und die psychologischen<br />
Zusammenhänge kennen würde, hätte<br />
er dadurch auch viel mehr Kontakt<br />
zu seinen eigenen Gefühlen. Wenn es<br />
mit den Eltern beispielsweise nicht so<br />
toll läuft, passt das Kind sein Verhalten<br />
an die Eltern an. Es übernimmt<br />
quasi die Verantwortung – der Preis<br />
dafür ist, dass es einen Teil seiner Gefühle,<br />
seine eigenen Bedürfnisse und<br />
Wünsche nach hinten stellt. Es gibt<br />
viele Erwachsene, die sagen, sie haben<br />
keinen guten Kontakt zu den eigenen<br />
Gefühlen oder zu dem, was sie<br />
eigentlich wollen oder nicht wollen.<br />
Doch je weniger ich selbst fühle, desto<br />
weniger mitfühlend kann ich auch gegenüber<br />
anderen Menschen sein.<br />
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<strong>Dezember</strong> <strong>2022</strong><br />
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