04.01.2023 Aufrufe

#ticinomoments 2023

  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

50<br />

KOLUMNE<br />

Caro Ticino<br />

Es war der Sommer 2003, ich war 17. Die Hitze schmolz den Asphalt, die Luft stand still, und<br />

die Fahrt von Vezia nach Locarno dauerte über eine Stunde, aber ich wollte in einem anderen See<br />

baden als in meinem Haussee, dem Luganersee. Ein naiver Wunsch, vielleicht sinnlos, aber in der<br />

Pubertät reicht etwas Wind in den Haaren, um einen Geist zu entflammen. Ich setzte meinen Helm<br />

auf, startete meinen Roller und nahm die Kantonsstrasse Richtung Norden. Es war ein kleiner<br />

gelber Fünfziger, der bergab (mit Rückenwind) 45 km/h erreichte, und ich hatte ihn noch nie gebeten,<br />

mich über die Grenzen der Region Lugano hinaus zu bringen. Dies war das erste Mal, dass ich über<br />

den Monte Ceneri fuhr, ohne den Zug zu nehmen oder in das Auto eines Verwandten zu steigen; so<br />

erlebte ich die Angst, dass der Motor mitten im Anstieg ausfallen würde, und die Überraschung, die<br />

jede Haarnadelkurve in der Abfahrt bewirkte, in aller Einsamkeit. Es war eine kurze Reise, die aber<br />

für mich Unabhängigkeit und Freiheit bedeutete.<br />

17 Jahre später: Wir schreiben den Sommer 2020. Ich fahre auf denselben Strassen, aber diesmal<br />

auf einer Harley-Davidson. Dabei folge ich dem Ufer des Lago Maggiore und biege auf der Höhe<br />

von Brissago nach rechts in Richtung Cortaccio ab. Mein Ziel ist es, die Schmugglerwege des Zweiten<br />

Weltkriegs zu erkunden; eine wichtige Etappe in der Entstehung meines Buches «Il coraggio di<br />

Lilly», das mich auch nach Ascona und Umgebung führen wird. Im Mittelpunkt der Geschichte steht<br />

Lilly Volkart, eine Erzieherin aus Zürich, die in einem Kinderheim in der Nähe des Monte Verità bis<br />

zu ihrem Tod im Jahr 1988 über 4'000 Kinder aufgenommen hat. Eine Geschichte, die mich (wieder<br />

einmal) daran erinnert hat, wie wichtig es ist, sich mit dem Kontext auseinanderzusetzen, innerhalb<br />

dessen man einen Roman ansiedeln will.<br />

Es gibt mehrere Gründe, warum ich schreibe. Einer davon ist der Wunsch, in einem Gebiet, das<br />

ich gut kenne, Geschichten abzufangen, die mir noch nicht bekannt waren. Man muss den Blickpunkt<br />

ändern, am richtigen Ort graben und erzählen, ohne dabei das Gefühl des Staunens zu verlieren, das<br />

man hat, wenn man zum ersten Mal ein neues Land sieht. Ich habe das Glück, in einer Ecke der Schweiz<br />

zu leben, die für Tausende von Menschen ein Ort des Aufbruchs, der Durchreise und des Ankommens<br />

war. Berge und Täler, in denen sich so viel Leben und so viele literarische Ausgangspunkte verbergen,<br />

dass es unmöglich ist, sich nicht zu begeistern – selbst nach langer Zeit.<br />

Liebes Tessin, ich kann dir nicht sagen, wo ich in 17 Jahren sein werde. Vielleicht werde ich<br />

immer noch hier leben, wahrscheinlich werde ich auf einem Zweirad unterwegs sein, auf jeden Fall<br />

werde ich weiterhin leidenschaftlich schreiben. Eins steht fest: Wo auch immer wir im Jahr 2037<br />

stehen werden – ein Tag am See oder eine gute Geschichte werden genügen, um einander wiederzufinden,<br />

einen Blick auszutauschen und festzustellen, dass es Dinge gibt, die sich mit der Zeit nicht<br />

verändern. Und unsere Bindung ist eine davon.<br />

©Elizabeth La Rosa<br />

Mattia Bertoldi wurde 1986<br />

in Lugano geboren und<br />

wuchs zwischen den Tischen<br />

des familienbetriebenen<br />

Grottos auf. Nach dem<br />

Studium der italienischen<br />

und englischen Sprachund<br />

Literaturwissenschaft<br />

an der Universität Zürich,<br />

begann er, in verschiedenen<br />

Bereichen zu schreiben.<br />

Heute arbeitet er im<br />

Kommunikationsdienst der<br />

Tessiner Regierung und ist<br />

Chefredakteur der Fachzeitschrift<br />

TicinoVino Wein. Sein<br />

neuester Roman erzählt die<br />

Geschichte von Lilly Volkart<br />

in Ascona und ist im Verlag<br />

TEA/tre60 erschienen.<br />

Mattia Bertoldi<br />

<strong>#ticinomoments</strong> <strong>2023</strong> © Ticino Turismo <strong>2023</strong> Herausgeber: Ticino Turismo, Via Canonico Ghiringhelli 7, 6501 Bellinzona,<br />

ticino.ch Kontakt: info@ticino.ch Text und Redaktion: Catherina Sitar; Veronica Pingue (Ticino Turismo) Illustration: Luca Battaglia;<br />

Variante Agenzia Creativa Art Direction und Grafik: Sabina Franzoni (Ticino Turismo) Fotos: Fabio Balassi, Luca Crivelli, Giacomo Mirarchi/<br />

Redesign Swiss Sagl, Jacques Perler, Milo Zanecchia, Nicola Demaldi, Switzerland Tourism/Giglio Pasqua, Christof Sonderegger,<br />

LAC/Studio Pagi, Alessio Pizzicannella F o t o l i t h o g r a fi e: Prestampa Taiana SA Druck: Tipo-Offset Aurora SA A u fl a g e : 9'000 Exemplare<br />

Das Magazin von Ticino Turismo erscheint einmal jährlich in Deutsch, Italienisch, Französisch und Englisch Printed in Switzerland.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!