Festspielzeit Sommer 2023 - 2
Das Magazin der Bregenzer Festspiele
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Die meisten Menschen im<br />
deutschsprachigen Raum<br />
begegnen Werther zum ersten<br />
Mal in der Schulzeit. Sie sind in<br />
Kanada aufgewachsen: Liest man<br />
dort die Werke von Goethe?<br />
Kady Evanyshyn: Nein, Goethes<br />
Literatur ist in Kanada nicht so<br />
bekannt, aber man kennt ihn natürlich<br />
schon in Bezug auf die Literaturgeschichte.<br />
Sein Schaffen hatte<br />
Einfluss auf viele nachfolgende Geschichten<br />
und man merkt sein Wirken<br />
noch heute. Mittlerweile habe<br />
ich zur Vorbereitung Die Leiden des<br />
jungen Werther gelesen. Ich verstehe<br />
nun besser, warum es in der Schule<br />
gelesen werden soll: Die Sprache ist<br />
nicht besonders kompliziert und die<br />
Gefühle sind leicht nachvollziehbar.<br />
Was waren Ihre Gefühle, nachdem<br />
Sie den Briefroman gelesen hatten<br />
und wussten, dass Sie in die Rolle der<br />
Charlotte schlüpfen werden?<br />
Ich habe beim Lesen alles unterstrichen,<br />
was Werther über Charlotte<br />
sagt, denn sie hat im Buch keine<br />
persönliche Perspektive. Für mich<br />
waren zwei Dinge sehr interessant.<br />
Zuerst: Goethes Stil ist so angenehm<br />
zu lesen. Wie er die Natur<br />
beschreibt, ist so detailliert, es fühlt<br />
sich an, als könnte man wirklich alles<br />
sehen. Zweitens: Werther ist sofort<br />
komplett verliebt in Charlotte und<br />
man sieht, dass alles, was sie macht,<br />
in seinen Augen perfekt ist. Aber<br />
zwischen den Zeilen erkennt man<br />
auch die Zweifel, die sie hat: ob sie<br />
eine gute Mutter für die Kinder ist<br />
und Albert richtig liebt. Man muss<br />
sich wirklich auf die Gefühle einlassen<br />
und nicht einfach nur lesen.<br />
Charlotte ist im Libretto zu<br />
Massenets Oper Werther viel<br />
präsenter als bei Goethe.<br />
Wie ist sie dort charakterisiert?<br />
Sie ist sehr jung. Und sie hat als<br />
Halbwaise die Mutterrolle für ihre<br />
Geschwister übernommen. Das ist<br />
für mich ehrlich gesagt eine schwierige<br />
Rolle zu spielen. Als junge Frau<br />
wollte sie vielleicht einfach frei sein,<br />
aber sie muss für vieles Verantwortung<br />
übernehmen. Im ersten Akt<br />
sieht man diese Augenblicke, in<br />
denen sie wirklich frei ist: beispielsweise,<br />
als sie auf den Ball geht. Aber<br />
dann ist sie auf einmal wieder allen<br />
und allem verpflichtet. In Bezug<br />
auf Werther ist es nicht anders:<br />
Vielleicht ist Charlotte zuerst ein<br />
bisschen in ihn verliebt. Aber am<br />
Ende will er so viel von ihr. Und ich<br />
glaube – und deswegen ist für mich<br />
die Geschichte so tragisch –, sie<br />
denkt, sie sei schuld an seinem Tod.<br />
Sie haben erwähnt, Charlotte sei<br />
eine schwierige Rolle. Gibt es abseits<br />
des Romans und des Librettos Dinge,<br />
die Ihnen in der Vorbereitung geholfen<br />
haben?<br />
Es ist ein Prozess. Während meines<br />
Studiums an der Hochschule habe<br />
ich die Methode nach Konstantin<br />
Stanislawski erlernt, einem russischen<br />
Regisseur und Theoretiker,<br />
der Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
das Theaterspiel reformierte und<br />
von Schauspieler:innen die intellektuelle<br />
Identifizierung mit einer Rolle<br />
forderte: Was ist der Hintergrund<br />
und das Hindernis von Charlotte?<br />
Ich habe viel darüber nachgedacht.<br />
Für mich kommt Inspiration von allem:<br />
Ich kann nicht genau sagen, ich<br />
habe dies oder jenes zur Vorbereitung<br />
angeschaut oder gelesen.<br />
Ich wollte beispielsweise auch<br />
keine Videoaufzeichnungen von<br />
Werther schauen, um mich nicht<br />
beeinflussen zu lassen. Ich setze<br />
mich mit Charlottes Grenzen auseinander:<br />
Wie ist das, wenn man<br />
zu etwas »Ja« sagt und später<br />
»Nein« – was bedeutet das? Im März<br />
habe ich zudem viele Bücher gelesen<br />
über Beziehungen zwischen Mutter<br />
und Kind. Und ich habe Bezüge zu<br />
meiner Biographie gefunden: Meine<br />
Großmutter verstarb, als meine<br />
Mutter 25 Jahre alt war – und auch<br />
meine Mutter hatte eine kleine<br />
Schwester. Ihre Beziehung war<br />
also ähnlich wie jene von Charlotte<br />
und Sophie.<br />
Also gibt es in der Oper viele<br />
Themen, die in der heutigen Zeit<br />
noch Gültigkeit haben.<br />
Ja genau! Unsere Regisseurin Jana<br />
Vetten möchte mit einem feministischen<br />
Blick auf das Stück schauen.<br />
Sie setzt Charlotte ins Zentrum. Ich<br />
weiß noch nicht im Detail, was das<br />
für meine Rolle bedeutet – das gilt es<br />
während der Proben herauszufinden<br />
und ich bin sehr offen dafür.<br />
Im März gab es zur Vorbereitung<br />
eine Meisterklasse. Sie haben<br />
dort eng mit der Kammersängerin<br />
Brigitte Fassbaender zusammengearbeitet<br />
– der Charlotte des<br />
letzten Jahrhunderts schlechthin.<br />
Wie war das?<br />
Mit ihr eine ganze Woche zu arbeiten,<br />
war wunderbar – auch der frühe<br />
Termin im März war ideal. So hatten<br />
wir Zeit, alles zu verarbeiten und<br />
weiterzuentwickeln. Die Meisterklasse<br />
war einerseits sehr technisch:<br />
Brigitte Fassbaender hat uns auf<br />
schwierige Stellen hingewiesen und<br />
erklärt, worauf wir besonders achten<br />
müssen. Es gibt nicht viele, die das<br />
Stück so gut kennen wie sie. Auch<br />
die musikalischen Aspekte, die sie<br />
ansprach, waren äußerst interessant.<br />
Massenet schrieb klar und<br />
deutlich, was er im Stück wollte, aber<br />
man braucht wirklich einen feinen<br />
WERTHER<br />
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