smartLiving Magazin Stuttgart | Ausgabe 05/2023
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Architektur<br />
<strong>smartLiving</strong>.<br />
ARCHITEKTUR. IMMOBILIEN. WOHNEN. LIFESTYLE.<br />
Rahmen der Promotion von Ferdinand Ludwig bei Prof. Gerd<br />
de Bruyn (IGMA) und Prof. Thomas Speck (Plant Biomechanics<br />
Group Freiburg, Universität Freiburg) in Zusammenarbeit mit<br />
dem Bildhauer Cornelius Hackenbracht.<br />
Der Baubotanische Steg in Wald-Ruhestetten wurde 20<strong>05</strong> als ein experimentelles Bauwerk realisiert:<br />
64 senkrecht und 16 diagonal angeordnete Bündelstützen aus Weide, die auf etwa 2,5 Metern Höhe eine begehbare Fläche tragen.<br />
Schwertfeger und Oliver Storz mit Prof. Gerd de Bruyn. Ihr Ziel<br />
ist es, lebende pflanzliche Strukturen als frei formbare, architektonische<br />
Baum-Tragwerke in der Dimension ausgewachsener<br />
Bäume zu konstruieren, um dabei in kurzer Zeit Grünräume zu<br />
bilden, die die ästhetischen und ökologischen Qualitäten von<br />
Bäumen mit baulichen Nutzungsfunktionen verbinden. Bereits<br />
seit mehreren Jahren realisieren sie begehbare Objekte aus lebenden<br />
Pflanzen, die mit einfachen Strukturen die räumlichen<br />
Qualitäten der Baubotanik veranschaulichen.<br />
AUF GLEICHBLEIBENDER HÖHE<br />
Das erste größere Projekt ist ein Steg, der im Frühjahr 20<strong>05</strong> realisiert<br />
wurde und heute in Wald-Ruhestetten in der Nähe des<br />
Bodensees begangen werden kann. Das Tragwerk besteht aus<br />
64 Bündeln schnell wachsender Weidenarten, die auf über 2 m<br />
Höhe einen 20 m langen Metallsteg tragen. Die vertikalen „Weidenstützen“<br />
wurden derart um die technischen Bauteile herumgewunden<br />
und über und unter den Bauteilen mit Kunststoffbändern<br />
verbunden, dass es zu einer Verwachsung (Überwallung)<br />
der Bauteile kommt. Durch diese Methode bilden sich relativ<br />
rasch Strukturen, die von Anfang an die gewünschte Größe aufweisen<br />
und bereits eingeschränkt begehbar sind.<br />
Weil alle lasttragenden und aussteifenden Konstruktionselemente<br />
aus lebenden Bauteilen bestehen, konnte auf die klassische<br />
Verwendung eines Fundaments verzichtet werden: Das Bauwerk<br />
verankert sich über das Wurzelwerk selbstständig im Boden.<br />
Durch den Austrieb neuer Triebspitzen und Blätter entwickelte<br />
der Steg nach seiner anfangs eher technisch anmutenden<br />
Struktur eine lebendige Erscheinung. Während der Wachstums-<br />
+prozesse verändern sich die Details durch Verwachsungen und<br />
Überwallungen, das Tragwerk wird davon jedoch nicht beeinträchtigt:<br />
Da Holzpflanzen nur an den Triebspitzen in die Höhe<br />
wachsen, wächst die Stegplattform nicht mit, sondern bleibt in<br />
ihrer Ausgangsposition.<br />
SAFTFLUSS DURCH BYPASS<br />
Im Rahmen dieses ersten und weiterer, pavillonartiger Projekte<br />
konnten die Forscher bereits viele Erfahrungen über die Eigenschaften<br />
lebender Tragkonstruktionen und deren Tragverhalten<br />
sammeln. Erste Probleme traten v. a. in Verbindung mit dem<br />
Verhalten auf Klimabedingungen sowie durch Auswirkungen<br />
der Wachstumsprozesse auf Detailverbindungen auf. So zeigten<br />
sich an den ersten Versuchsbauten Behinderungen des Saftflusses<br />
infolge von Strangulation des Pflanzenmaterials. Die anfänglich<br />
mit Kunststoffbändern zusammengehaltenen Triebe erfordern<br />
gerade an diesen Detailpunkten eine besondere Vorsicht,<br />
um den Saftfluss nicht einzuschränken. Bei dem Steg wurden<br />
an einigen Stellen bereits „Bypässe“ angelegt, um ihn langfristig<br />
sicherstellen zu können. Dazu wurden neue Triebe der<br />
gleichen Pflanze in einer Art Pfropfen unterhalb und oberhalb<br />
der Schwachstelle angesetzt, um den Saftstau zu überbrücken.<br />
Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass die Pflanzen in den<br />
Bündelstützen zu dicht standen: Es kam zu einem Konkurrenzkampf<br />
um die lebensnotwendige Ressource Licht. Einige Pflanzenstränge<br />
blieben in ihrer Entwicklung zurück oder starben<br />
ab. Um dies zu vermeiden, muss jeder Pflanze ein adäquater<br />
Kronenraum zugeordnet sein. In folgenden Versuchen konnten<br />
viele dieser ersten Kinderkrankheiten behoben werden. Eine<br />
Einschränkung bleibt bei der am Steg angewendeten Konstruktionsmethode<br />
jedoch immer: Die Höhe möglicher Strukturen<br />
ist schon allein durch die Größe der Pflanze auf wenige Meter<br />
limitiert.<br />
PFLANZE + PFLANZE = TURM<br />
Mit einem 2009 realisierten Turm in einer Riedlandschaft in<br />
Wald-Ruhestetten konnte diese Höhenlimitierung nun aufgehoben<br />
werden. Das Bauwerk ist mit knapp 9 m und mit drei begehbaren<br />
Aussichtsplattformen mit je rund 8 m 2 Grundfläche das<br />
bisher anspruchsvollste der Baubotanik. Das Projekt entstand im<br />
Zum ersten Mal kam eine neue Methode der Pflanzenverbindung<br />
zum Einsatz, die auf einer alten botanischen Erfahrung<br />
beruht: Pflanzen gleicher Art können ähnlich dem Pfropfen zu<br />
einem einzigen Organismus verwachsen. Hierzu werden mehrere<br />
Pflanzen mitsamt ihren Wurzelballen derart im Raum angeordnet<br />
und miteinander verbunden, dass sie zu einem einzigen<br />
Organismus zusammenwachsen.<br />
Als Basis des Turms wurde eine fachwerkartige Struktur aus<br />
mehreren einjährigen, 2 m großen Silberweiden angelegt, wobei<br />
nur die untersten Pflanzen in den Erdboden gesetzt wurden.<br />
Alle anderen wurzeln in Pflanzcontainern, die in sieben Ebenen<br />
übereinander von einer temporären Gerüststruktur getragen<br />
werden. Im Verlauf des Pflanzenwachstums entwickeln die untersten<br />
Pflanzen ein leistungsfähiges Wurzelsystem im Erdboden<br />
und die oberen können auf den unteren „anwachsen“. Nach und<br />
nach sollen dann die Pflanzcontainer entfernt und die Wurzeln<br />
der oberen Pflanzen gekappt werden. Die Pflanzen verwachsen<br />
so zu einer physiologischen Einheit, die nicht nur mechanisch<br />
belastbar ist, sondern auch den Austausch von Wasser und<br />
Nährstoffen zwischen den ursprünglich getrennten Pflanzen ermöglicht.<br />
Im Wachstumsverlauf entwickelt der so entstandene<br />
Gesamtorganismus genügend Stabilität, um die drei eingewachsenen<br />
Plattformen aus verzinktem Stahl und die Nutzlasten des<br />
Bauwerks tragen zu können.<br />
Das anfängliche Stützgerüst kann dann abgebaut werden. Aufgrund<br />
dieser neuen Methode ist es möglich, baubotanische<br />
Strukturen unmittelbar in der Dimension ausgewachsener<br />
Bäume zu realisieren und auch andere, für urbane Räume besser<br />
geeignete Baumarten einzusetzen, z. B. im Vergleich zu den<br />
„lichtbedürftigeren“ und schnellwüchsigen Weiden langlebige<br />
Platanen. Doch ist etwas Geduld erforderlich, das Verwachsen<br />
benötigt seine Zeit: Für den gesamten „Fertigungsprozess“ sind<br />
einige Vegetationsperioden notwendig, beim Turm voraussichtlich<br />
fünf bis zehn Jahre.<br />
EINE FRAGE DES TRAININGS?<br />
Für die Realisierung dieser ersten Bauwerke waren viele Versuche<br />
vonnöten. Dabei wurde u. a. die Elastizität von Holzpflanzen<br />
bis zum Versagen (Brechen) getestet und die Reaktion der Tragstrukturen<br />
auf Veränderungen der Umweltfaktoren detailliert<br />
untersucht. Denn gerade die schwer vorhersehbaren Bedingungen<br />
eines Bauplatzes spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle<br />
und sorgen oft für Überraschungen. So entwickeln sich nach Süden<br />
orientierte Pflanzen meist kräftiger als die beschatteten auf<br />
der Nordseite. Einerseits begrüßen die Botaniker diesen Einfluss<br />
des Zufalls auf die Gestalt ihrer Bauten, andererseits sind sie aber<br />
auch verpflichtet, die Entwicklung der Tragfähigkeit möglichst<br />
genau zu kennen.<br />
Der Platanenkubus Nagold wurde 2012 von Ferdinand Ludwig<br />
und Daniel Schönle zur der Landesgartenschau entworfen.<br />
Im Rahmen der Testreihen zeigt sich, dass Bäume, wenn sie an<br />
Gerüsten fixiert werden, die „Motivation“ verlieren, stark in der<br />
Dicke zu wachsen. Doch gerade diese ist für die Stabilität entscheidend.<br />
Daher wird untersucht, ob sie sich durch einen zusätzlich<br />
aufgebrachten künstlichen Biegestress „trainieren“ lassen:<br />
In der Versuchsstation werden zusätzliche Gewichte an die<br />
Pflanze gehängt, die sie über computergesteuerte Winden nach<br />
einem ausgeklügelten System hin- und herwiegen. So werden<br />
Wachstum und Stabilität angeregt.<br />
Doch auch wenn die Stabilität im Lauf der Zeit durch Dickenwachstum<br />
zunehmen kann – verglichen mit konventionellen<br />
Konstruktionen ist die Lastaufnahme „natürlich“ begrenzt. Und<br />
wie bei konventionellen Bauten bestimmen die Verbindungsdetails<br />
die Tragfähigkeit: Versuche im Rahmen der Promotion von<br />
Oliver Storz zum Druck-/Zug-Verhalten der Verbindungen haben<br />
gezeigt, dass neben der Durchmesserzunahme der einzelnen<br />
Stämme insbesondere der Grad der Überwallung die Tragfähigkeit<br />
wesentlich beeinflusst.<br />
Bei einfacheren Bauten könnte aufbauend auf diesen Daten die<br />
Standsicherheit des lebenden Tragwerks rechnerisch nachgewiesen<br />
werden. Für die gesamte Standfestigkeit des Bauwerks<br />
ist aber auch das Wurzelwerk mit zu berücksichtigen, das sich<br />
leider sowohl der visuellen Kontrolle als auch vielen Messungen<br />
entzieht. Bei experimentellen Bauten wie dem Turm ist der Einfluss<br />
zufälliger Entwicklungen so groß, dass auf Belastungstests<br />
zurückgegriffen wird. Als lebende Konstruktionen unterliegen<br />
botanische Bauwerke eben anderen Gesetzmäßigkeiten. Doch<br />
gerade dies verleiht ihnen ihren Reiz – sie bleiben im Wandel.<br />
Um sicherzugehen, werden aber auch hier Sicherheitszuschläge<br />
vorgesehen. Das Tragwerk des Turms ist so geplant, dass ein bestimmter<br />
Prozentsatz der Pflanzenstränge absterben kann, ohne<br />
das Gesamtsystem zum Einsturz zu bringen.<br />
Auf der Grundlage der bisherigen Forschungsergebnisse sind<br />
bereits weitere Projekte in Planung.<br />
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©Autor: Dietmar Kern<br />
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Foto: Cira Moro<br />
Foto: Schwarzwald Tourismus GmbH<br />
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