Die Halden-Kultur des Ruhrgebiets In kaum einem Landstrich der Welt hat sich die Natur im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte dermaßen drastisch verändert wie im Ruhrgebiet. Vor der Industrialisierung lebten die Menschen hier in einer grünen Oase. Dann wurde die Naturidylle für viele Jahre von Schloten und Hochöfen dominiert, Rauch und Kohlepartikel schwängerten die Luft. Die ehemals verschlafene, aber gesunde Umgebung verwandelte sich in eine gesundheitsgefährdende Industrielandschaft, <strong>vor</strong> der Besucher aus unberührteren Gegenden gewarnt wurden. Der „Kohlenpott“ entwickelte jedoch nicht nur äußerlich seine Eigenart. Der Abstieg in die Tiefe, den die „Kumpel“ für ihre harte Arbeit in den Flözen vollziehen mussten, prägte die Menschen auch in ihrem privaten Alltag. Nicht umsonst sagt man den „Ruhrpöttlern“ eine gewisse raue Herzlichkeit nach, deren Charme auf der Kombination von Unkompliziertheit, Kameradschaftlichkeit und Tatkraft beruht: Diese Eigenschaften brauchte und lernte man unter Tage. Ein erneuter Umschwung fand statt, als die 70er und 80er Jahre das Ende der Schwerindustrie brachten und viele ihrer Relikte zu Kulturobjekten umgewidmet wurden. Licht und Wärme, die zu<strong>vor</strong> nur auf dem Umweg über fossile Brennstoffe aus dem Erdinnern gewonnen wurden, versucht man nun auf direkterem Wege zu erlangen: durch Nutzung erneuerbarer Energien, z.B. durch Sonnenlicht-Kollektoren. Dies kann durchaus als ein neues Kapitel in der Geschichte unserer Region gelten. Die Halde Rungenberg in Gelsenkirchen-Buer mit ihren Lichtkanonen. 8 <strong>Gesundheit</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong> 3|2010 Sichtbare Zeichen dieser Wandlung sind die Halden. Entstanden sind sie aus dem Abraum, der bei der Kohleförderung entstand und aufgeschüttet wurde. In den ersten Jahren stiegen immer wieder weiße, nach Schwefel riechende Dämpfe aus diesen künstlichen Bergen, die neben Tonschiefer, Mergel, Sandstein und Pyrit zu ca. 20% aus Kohlepartikeln bestanden. Kam dieses Gemisch mit Sauerstoff in Berührung, so reagierte der Kohlenstoff mit dem Schwefel des Pyrits, und der Berg begann im Inneren zu glühen und Dämpfe freizusetzen. Das Innere der Erde, das bekanntlich immer warm ist, hatte sich buchstäblich nach außen gekehrt. Das Jahr 1967 brachte eine Vorschrift, die inzwischen erkalteten Halden zu begrünen. Da das Abraum-Material für Vegetation jedoch keinen geeigneten Boden abgibt, musste man nachhelfen oder warten, bis die Verwitterung und der Wind die Grundlage für Pflanzenbewuchs geschaffen hatten. Die genügsame Birke war der erste Baum, der hier Fuß fassen konnte und nun auf vielen Halden dichte Haine bildet. Eine besondere Sinngebung erhielten die Halden durch den Landschaftskünstler Hermann Prigann (1946-2008). Er verwandelte die Berge in den „Skulpturenwald Rheinelbe“, indem er verschiedene Halden mit Kunstobjekten aus Materialien versah, die den Industrierelikten ehemaliger Zechen entlehnt sind (Holz, Stahl und Beton). Damit war der letzte Schritt getan zu einer grundlegenden Änderung der Blickrichtung: Das Ruhrgebiet hat den Blick aus der Tiefe in die Höhe gewandt. Drei Halden, bei denen sich ein Aufstieg besonders lohnt, stellen wir Ihnen hier <strong>vor</strong>: Die Halde Rheinelbe in Gelsenkirchen- Ückendorf eignet sich besonders als Ausflugsziel. Der Kegel, der die Spitze krönt, hat sich bisher als resistent gegen alle Begrünungsversuche erwiesen. Auf dem höchsten Punkt steht ein Phantasiekörper mit dem Titel „Himmelstreppe“, zu dem man über einen langen, spiralförmig angelegten Weg aufsteigen kann. Bei schönem Wetter wird der Spaziergänger mit einem fantastischen Ausblick über das Ruhrgebiet belohnt. Die Halde an der Beckstraße in Bottrop wird von der Stahlkonstruktion „Tetraeder“ gekrönt, die sich ca. 80 Meter über die Umgebung erhebt. Die Stahlpyramide des Architekten Wolfgang Christ hat auf verschiedenen Ebenen Aussichtsplattformen, die man über frei hängende Treppen erreicht. Besucher sollten schwindelfrei sein – dann allerdings belohnt der Blick über die Landschaft jede Anstrengung. Auch die Figuren aus verschiedenfarbigen Steinen, mit denen ein Bottroper Bürger die Plattform verzierte, sind sehenswert. Die Halde Rungenberg in Gelsenkirchen- Buer kann man auch als zwei Halden betrachten. Der markant eingekerbte obere Kegel, der als einziger Teil des ansonsten grünen Berges völlig kahl ist, ist schon von Weitem sichtbar. Auf beiden Seiten der Kerbe stehen Lichtkanonen, die besonders in der Dunkelheit ihren Reiz entfalten: Sie ergänzen mit ihren Lichtstrahlen das fehlende Kegelstück und setzen so die Pyramidenkonstruktion in die Nacht hinein fort. Fotos: Q3design, S.9: marmai-Fotolia.com, Sebastian Bernig-Fotolia.com
Buchtipp 1. Über alle Berge von Wolfgang Berke 2.Vom Schachtstumpf zur Himmelstreppe Ein Aufsatz von Joachim von Königslöw Ausflugsziel 80 Meter erhebt sich der „Tetraeder“ auf der Halde an der Beckstraße in Bottrop und bietet nach dem Aufstieg einen atemberaubenden Blick über die Landschaft. Die „Himmelstreppe“ auf der Halde Rheinelbe in Gelsenkirchen-Ückendorf. <strong>Gesundheit</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong> 3|2010 9