Christkatholisch_2023-18
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
8 Hintergrund<br />
<strong>Christkatholisch</strong> <strong>18</strong>/<strong>2023</strong><br />
Franz Peter<br />
Murbach<br />
Foto: Jakob Ineichen<br />
Randbemerkung<br />
Mit dem Kopf in den Sternen<br />
und die Füsse auf dem Grat<br />
Ein seltsamer Anblick: Unter mir links<br />
und rechts sowie über mir ein Himmel<br />
voller Sterne, zu dem ich auf einem<br />
schmalen Schatten hinaufstieg:<br />
der Gipfelgrat des Kun, eines 7000ers<br />
am Rande von Zanskar. Mit dem<br />
Kopf in den Sternen und den Füs sen<br />
auf einem schwindeligen Grat, war<br />
ich noch nie so hoch gewesen. Grosser<br />
Erfolg. Einige Nächte zuvor hatten<br />
wir im Team die Sternschnuppen gezählt<br />
... Nachdem ich einen Monat<br />
in die Schweiz zurückgekehrt war,<br />
rief der Berg erneut. Ich unternahm<br />
eine einsame Trekking-Biwak-Tour<br />
zwischen Wallis und Aostatal. An<br />
einem bestimmten Samstag teilte<br />
ich auf dem Fenêtre de Durand ein<br />
improvisiertes Essen mit zwei Frauen<br />
und einem Mann aus Israel, die von<br />
Italien aus aufgestiegen waren. Eine<br />
unwahrscheinliche Begegnung auf<br />
einem historischen Pass: Während<br />
des letzten Krieges hatten jüdische<br />
Familien und andere vom Faschismus<br />
verfolgte Menschen über diesen<br />
Pass Zuflucht in der Schweiz gefunden.<br />
Der Abend kam, der Berg leerte<br />
sich, und ich blieb allein zurück. Ich<br />
träumte mit offenen Augen. Plötzlich<br />
explodierte eine Sternschnuppe<br />
mit unglaublicher Wucht, gefolgt<br />
von mehreren anderen. Ich sammelte<br />
alle meine Wünsche, aber dieser<br />
Stern erfüllte mich mit einer seltsamen<br />
Befangenheit. Am nächsten<br />
Tag erfuhr ich, dass Israel gerade mit<br />
unglaublicher Barbarei angegriffen<br />
worden war, zur selben Zeit, als ich<br />
mit den Jugendlichen war. Das war<br />
erschütternd. Ist es zu naiv zu hoffen,<br />
dass die Wünsche nach Frieden,<br />
Gesundheit, Freiheit, Glück und Liebe<br />
in Erfüllung gehen können?<br />
Schlag, dem Menschen eine Aufklärung,<br />
die er aus Geschriebenem erst<br />
durch langwieriges Lesen empfängt.»<br />
Hitlers hypnotische Wirkung<br />
zog Tausende in seinen Bann<br />
Mit ihrem feien Sensorium zeigt die<br />
Autorin den Aufstieg Hitlers schon in<br />
den 1920er-Jahren. Sie dokumentiert<br />
seine hypnotische Wirkung und seine<br />
Inszenierung in öffentlichen Auftritten<br />
als Mann der «kleinen Leute». Dorothy<br />
Thompson beschreibt und erklärt<br />
ihre eigene Reaktion: «Ich sah in<br />
ihm den kleinen Mann, aber vielleicht<br />
liegt darin, und gerade darin, das Geheimnis<br />
seines enormen Erfolges».<br />
Thompson zeigt, wie Hitler die Propaganda<br />
in Szene setzte. Der «kleine<br />
Mann» konnte sich im Führer wiedererkennen<br />
und ermöglichte so überhaupt<br />
erst seinen Aufstieg. Thompson<br />
analysiert Minderwertigkeitsgefühle<br />
und Ängste eines «Mobs von Kleinbürgerinnen<br />
und Kleinbürgern» und<br />
einen tiefverwurzelten Judenhass, den<br />
Adolf Hitler nicht erfunden hatte. Sie<br />
beleuchtet auch die Beihilfe der Königsfamilie,<br />
der Hohenzollern, die<br />
Verbindung mit den Konservativen<br />
und die Verantwortung des Auslands.<br />
Mit Ihrem Essay beschreibt die Journalistin<br />
Situationen, in denen Demokratien<br />
scheitern und zunächst legal<br />
geführte Wahlen eine Diktatur herbeiführen<br />
können. Dorothy Thompson<br />
gibt mit ihrem Interview aus dem Jahr<br />
1932 eine psychologische Untersuchung<br />
eines Rechtspopulismus, wie er<br />
auch heute Erfolge feiert.<br />
Den Hitlerismus verstehen<br />
Thompson sieht in Hitler einen Mann,<br />
«dessen Miene einer Karikatur gleicht»,<br />
doch in ihrem Treffen gibt ihr der künftige<br />
Diktator ganz nebenbei einen Einzelunterricht<br />
seiner Rhetorik: Anstatt<br />
die drei Fragen zu beantworten, die sie<br />
ihm stellen durfte, setzt Hitler zum aufbrausenden<br />
Pamphlet an und beantwortet<br />
die Fragen gar nicht. Thompson<br />
legt dar, dass Hitlers Überzeugungskraft<br />
nicht in einem politischen Programm<br />
liegt, sondern in den Gefühlen,<br />
die er bei seinen Anhängern weckt.<br />
Dorothy Thompson untersucht dieses<br />
Gefühl. Sie sieht schon früh, dass dieser<br />
aufgeblasene Mann mit dem Schnauzer,<br />
mit dem ihn viele nachmachen, gekonnt<br />
die Kränkungen, Minderwertigkeitsgefühle,<br />
Ängste und Ressentiments seiner<br />
Zuschauer und Zuhörer bedient. Es ist<br />
das, was Charlie Chaplin später in seinem<br />
Film «Der grosse Diktator» (1940)<br />
unnachahmlich spielen wird – noch<br />
heute sehenswertes und grosses Kino.<br />
Allen, die das Buch lesen, sei dieser<br />
Film sehr empfohlen. Eine Sandkastenfigur<br />
«Adolf Hitler» zu nennen, bekommt<br />
eine Bedeutung, über die sich<br />
interessante Gespräche führen lassen.<br />
Niklas Raggenb≤ass<br />
Dorothy Thompson<br />
«Ich traf Hitler!»<br />
Das Buch ist eine engagierte Studie<br />
in politischer Psychologie mit einem<br />
auffallend aktuellen Warnruf, sich<br />
auch heutigen Demagogen gegenüber<br />
kritisch zu verhalten. Der Essay<br />
wird neben zahlreichen Abbildungen<br />
mit Thompsons Text «Abschied von<br />
Deutschland» ergänzt. 1934 war die<br />
Amerikanerin aufgrund ihres Porträts<br />
über Hitler gezwungen, das Land zu<br />
verlassen. Mit dieser Ausweisung sorgten<br />
die Nazis dafür, dass die Journalistin<br />
schlagartig berühmt wurde.<br />
DVB Verlag<br />
Erscheinung <strong>2023</strong><br />
276 Seiten<br />
ISBN: 978-3-903244-23-8