Pfarrblatt der Pfarre Pfandl - Ausgabe 209
Das Pfarrblatt widmet sich in dieser Ausgabe den Worten. Worte bewegen, wandeln, gestalten... Das Pfarrblatt-Team wünscht viel Freude beim Lesen!
Das Pfarrblatt widmet sich in dieser Ausgabe den Worten.
Worte bewegen, wandeln, gestalten...
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Eine Frau ging langsam und entspannt einen schmalen Weg entlang, den eine Wiese<br />
säumte. Sie genoss die Zeit, sich in <strong>der</strong> Natur aufzuhalten, um von den Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
ihres Alltags Abstand zu gewinnen. Jetzt bückte sich die Frau, um ein zartes Gewächs behutsam<br />
aufzurichten, das von an<strong>der</strong>en Gräsern über wuchert und nie<strong>der</strong>gedrückt worden war.<br />
Das war nicht ganz einfach, es schien, als würde das Kraut Wi<strong>der</strong>stand leisten.<br />
Dann hörte die Frau eine leise, brüchige Smme. „Geh ruhig weiter, ich bin nichts Beson<strong>der</strong>es!“<br />
Die Frau hielt erstaunt inne. Sprach wirklich das Kraut zu ihr? „Aber warum habe<br />
ich dann gerade dich entdeckt?“, fragte sie lächelnd. Und das Kraut antwortete tatsächlich.<br />
„Vielleicht willst du mich ausreißen, weil dich mein Anblick stört unter den hübschen Pflanzen<br />
um mich herum. Ich bin doch nur ein unscheinbares Unkraut!“<br />
„Warum ein ‚Un-Kraut‘, fragte die Frau. „Die Vor silbe ,Un‘ bedeutet im Allgemeinen, dass<br />
etwas nicht da ist o<strong>der</strong> beschreibt eher etwas Negaves.“ „Diesen Namen haben mir die<br />
Menschen gegeben“, antwortete das Kraut leise. „Un-Kraut wird überall herausgerissen, ist<br />
läsg, unwürdig und unschön anzusehen.“<br />
Die Frau schaute das Kraut nachdenklich an. „Mir scheint, dass du dich dieser Meinung<br />
anschließt, du bist so zusammengekauert, als möchtest du dich unsichtbar machen.“<br />
Das Kraut nickte traurig. „Ich mache mich klein, damit ich übersehen und nicht als unerwünscht<br />
vernichtet werde.“ Die Frau hielt inne. „Dann möchtest du eigentlich durchaus<br />
leben und wachsen?“ Das Kraut nickte vorsichg mit einem bereits verwelkten Bla. „Ach<br />
weißt du, ich mag die Sonne und auch den Wind und in <strong>der</strong> Nacht den Mond und die Sterne.<br />
Aber immer ist da auch die Angst, dass mir von den Menschen all das genommen wird.<br />
Wenn sie meine Wurzeln ausreißen, ist es aus mit mir!“<br />
Die Frau überlegte nur einen Augenblick. „Pass auf, kleines Kraut, ich mache dir einen<br />
Vorschlag, und du hast die Wahl, ihn anzunehmen o<strong>der</strong> abzulehnen. Ich grabe dich vorsichg<br />
mit deinen Wurzeln aus und nehme dich mit in meinen Garten. Dort wählen wir<br />
einen beson<strong>der</strong>en Platz für dich, und niemand wird dir mehr etwas zuleide tun! Denn da<br />
bist du sicher und kannst all das, was du magst, genießen, und du brauchst keine Angst<br />
mehr zu haben, von den an<strong>der</strong>en Pflanzen zerdrückt o<strong>der</strong> von Menschen vernichtet zu werden.<br />
Dann bist du kein Un-Kraut mehr, son <strong>der</strong>n ein Kraut, das leben darf!“ Das Pflänzchen<br />
richtete sich hoffnungsvoll ein wenig auf. „Warum willst du das für mich tun? Es gibt doch<br />
dort sicher viel schönere Geschöpfe als mich, die bunte Blüten tragen und vielleicht sogar<br />
wun<strong>der</strong>bar duen!“ Die Frau lächelte nachdenklich. „Weißt du, ich mag es nicht, wenn<br />
Menschen, Tiere o<strong>der</strong> Pflanzen verstoßen werden, nur weil sie keiner gängigen Norm entsprechen.<br />
Darf ich dich jetzt ausgraben?“<br />
Das Kraut nickte zagha und ungläubig. Behutsam grub die Frau es aus und trug es vorsichg<br />
nach Hause. Dort pflanzte sie es, wie versprochen, im Schutz eines biegsamen<br />
Farnstrauches liebevoll wie<strong>der</strong> ein. „So, du kleines Kraut, jetzt kannst du aufrecht wachsen<br />
und brauchst nichts mehr zu befürchten. Ich passe sorgsam auf dich auf!“ Das Kraut blickte<br />
sich vorsichg um. „Aber auch hier wachsen Blumen, die so viel schöner sind als ich!“ Die<br />
Frau antwortete mit einem nachsichgen Kopfschüeln. „Weißt du, es ist wichg zu akzep-<br />
eren, dass es immer und überall Unterschiedlichkeiten gibt, sowohl bei den Menschen,<br />
den Tieren und auch bei den Pflanzen. Und doch ist jedes Lebewesen einzigarg in seinem<br />
Sosein. So solltest auch du dich nicht länger als ‚Un-Kraut‘ empfinden und bezeichnen. Du<br />
bist schön auf deine individuelle Art und Weise, du hast die Kra zum Wachsen, du empfindest<br />
Freude am Wechsel <strong>der</strong> Jahreszeiten. Und wenn du anfängst, dich selbst zu mögen,<br />
wirst du das auch den an<strong>der</strong>en Pflanzen vermieln und Freunde gewinnen. Genieße dein<br />
Krautleben, und mach dich nicht kleiner als du bist.“ Das Kraut reckte sich jetzt glücklich an<br />
seinem neuen Platz und fasste ein Vertrauen, das es so noch nicht kannte.<br />
Mit freundlicher Genehmigung <strong>der</strong> Gestalherapeun und Lyrikerin Inge Wuthe aus Köln<br />
Copyright: Aus dem Buch „Die an<strong>der</strong>e Seite“ von Inge Wuthe, ISBN 9 783754 134733<br />
Foto Löwenzahn: Karoline Schodterer