Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
14<br />
BIEL BIENNE 12. MÄRZ 2024<br />
CINÉMA<br />
BIEL BIENNE 12 MARS 2024<br />
VON<br />
LUDWIG<br />
HERMANN<br />
Ein Erstlingsfilm,<br />
der vieles wagt und<br />
doch nicht alles hält.<br />
Wenn Claudine mit der<br />
Bahn zu Berge fährt, in modischen<br />
Stiefeletten über den<br />
Staudamm der Grande Dixence<br />
stöckelt, könnte das der Anfang<br />
eines Agentenfilms sein. Ist es<br />
aber nicht. Heute ist Dienstag,<br />
Claudine (Jeanne Balibar) hat<br />
frei, die 55-Jährige geht – wie<br />
immer – ihrem speziellen<br />
Vergnügen nach. Das heisst:<br />
Ab ins Berghotel und in den<br />
Speisesaal, wo die Gäste am<br />
Morgenessen sind. Und an Einzeltischen<br />
einsame Herren ihre<br />
Brötchen streichen.<br />
Fremdschämen. Was da<br />
der Genfer Regisseur Maxime<br />
Rappaz mit der Modeschneiderin<br />
Claudine im Sinne hat,<br />
ist – für einen Erstlingsfilm<br />
– ein starkes Stück: Die Dame<br />
mit den Stiefeletten sucht<br />
einen willigen Partner für ein<br />
Schäferstündchen. Zielstrebig<br />
nimmt sie an einem strategisch<br />
günstigen Tischchen Platz. Die<br />
Wahl ist bald getroffen: Mit<br />
einem der Männer beginnt die<br />
Liebeshungrige ein Flirtspiel.<br />
So intensiv, so unverhohlen,<br />
dass sich das Kinopublikum<br />
beinahe fremdschämen muss.<br />
Die Anmache gelingt. Im<br />
Zimmer des Passanten kommt<br />
das Paar gleich zur Sache.<br />
Nach getanem Werk verabschiedet<br />
man sich – tschüss<br />
und auf Nimmerwiedersehen.<br />
Für einen Schweizer Film,<br />
für einen Erstling, ein ungewöhnlicher,<br />
überraschender<br />
Auftakt. Claudine fährt zurück<br />
ins Tal, zu ihrem behinderten<br />
halbwüchsigen Sohn<br />
(Jean-Antoine Dubey) und<br />
zur Arbeit im Modeatelier:<br />
Fortsetzung des Alltags bis<br />
am nächsten Dienstag.<br />
Fehlende Ideen. Claudines<br />
erster Sexpartner war ein<br />
Italiener, es folgten ein Engländer,<br />
ein Schweizer und ein<br />
Deutscher namens Michael<br />
(Thomas Sarbacher). Der, ein<br />
Weltenbummler, möchte seinen<br />
Aufenthalt im Wallis verlängern,<br />
möchte mit Claudine<br />
«etwas Ernsthaftes» anfangen<br />
– und bringt prompt ihre Gefühle<br />
durcheinander. Für den<br />
Start in eine neue Zukunft fehlt<br />
der nicht mehr ganz so jungen<br />
Frau der Mut. Schade, denn<br />
dem 37-jährigen Filmschaffenden<br />
Maxime Rappaz gehen die<br />
zündenden Ideen aus. Der erste<br />
Teil steht da wie ein Fremdkörper,<br />
was folgt ist ein Zurück in<br />
den vornehm zurückhaltenden,<br />
prüden Schweizer Film.<br />
Laissez-moi HH(H)<br />
Was, wenn sich der italienische<br />
Hotelgast als Mafioso<br />
entpuppt hätte, der Engländer<br />
als Leibwächter von King<br />
Charles oder der Schweizer<br />
als Kuckucksuhren-Fabrikant?<br />
Was, wenn der Auserwählte die<br />
Dame mit den Stiefeletten in<br />
eine launige, munter unterhaltende<br />
Kinowelt entführt hätte?<br />
So aber geht Claudine (eine<br />
eindrückliche Jeanne Balibar)<br />
am Schluss einsam durch eine<br />
Allee einer ungewissen Zukunft<br />
entgegen. Wie damals Alida<br />
Valli in Carol Reeds Klassiker<br />
«Der dritte Mann». n<br />
PAR<br />
LUDWIG<br />
HERMANN<br />
Darsteller/Distribution: Jeanne Balibar,<br />
Thomas Sarbacher, Pierre-Antoine Dubey<br />
Buch & Regie/Scénario & réalisation:<br />
Maxime Rappaz (2023)<br />
Dauer/Durée: 93 Minuten/93 minuten<br />
Im Kino/Au cinéma: REX 2<br />
Un premier film qui<br />
ose beaucoup, mais qui<br />
ne tient pas la route.<br />
Lorsque Claudine prend<br />
le train pour aller à la montagne,<br />
qu’elle se balade en<br />
bottines à la mode sur le barrage<br />
de la Grande Dixence,<br />
cela pourrait être le début<br />
d’un film d’espionnage.<br />
Mais ce n’est pas le cas.<br />
Aujourd’hui, c’est mardi,<br />
Claudine (Jeanne Balibar)<br />
a congé, cette femme de<br />
55 ans s’adonne - comme<br />
toujours - à son plaisir particulier.<br />
Soit, aller à l’hôtel<br />
de montagne et dans la salle<br />
à manger, où les clients<br />
prennent le petit-déjeuner.<br />
Et à des tables individuelles,<br />
des messieurs solitaires tartinent<br />
leurs petits pains.<br />
Liebe auf Zeit:<br />
die Modeschneiderin und<br />
der Weltenbummler<br />
(Jeanne Balibar,<br />
Thomas Sarbacher).<br />
Gêne. Ce que le réalisateur<br />
genevois Maxime Rappaz a en<br />
tête avec la couturière Claudine<br />
est - pour un premier film -<br />
une belle audace: la dame aux<br />
bottines cherche un partenaire<br />
consentant pour une séance<br />
de débauche. Déterminée, elle<br />
prend place à une petite table<br />
stratégiquement placée. Le<br />
choix est vite fait: La femme<br />
en mal d’amour commence à<br />
draguer l’un des hommes. Si<br />
intensément, si ouvertement,<br />
que le public du cinéma en est<br />
presque gêné.<br />
Passage à l’acte. Dans<br />
la chambre du client, le couple<br />
passe directement aux choses<br />
sérieuses. Une fois l’acte accompli,<br />
ils se quittent - au revoir et<br />
à jamais. Pour un film suisse,<br />
pour un premier film, c’est un<br />
début inhabituel et surprenant.<br />
Claudine retourne dans la vallée,<br />
Amour fugace:<br />
la couturière et<br />
le globe-trotter<br />
(Jeanne Balibar,<br />
Thomas Sarbacher).<br />
auprès de son fils adolescent<br />
handicapé (Jean-Antoine<br />
Dubey) et au travail dans l’atelier<br />
de mode: retour au quotidien<br />
jusqu’au mardi suivant.<br />
Manque d’idées. Le premier<br />
partenaire sexuel de Claudine<br />
était un Italien, suivi d’un<br />
Anglais, d’un Suisse et d’un<br />
Allemand nommé Michael<br />
(Thomas Sarbacher). Ce dernier,<br />
un globe-trotter, souhaite<br />
prolonger son séjour en Valais,<br />
veut commencer «quelque<br />
chose de sérieux» avec Claudine<br />
– et chamboule aussitôt<br />
ses sentiments. La jeune<br />
femme, qui n’est plus si jeune,<br />
manque de courage pour se<br />
lancer dans un nouvel avenir.<br />
C’est dommage, car Maxime<br />
Rappaz, cinéaste de 37 ans,<br />
manque d’idées lumineuses.<br />
La première partie se pose là<br />
comme un corps étranger, ce<br />
qui suit est un retour au film<br />
suisse prude et distingué.<br />
Et si le client italien de<br />
l’hôtel s’était révélé être un<br />
mafieux, l’Anglais un garde<br />
du corps du roi Charles ou le<br />
Suisse un fabricant de coucous?<br />
Et si l’élu avait entraîné la dame<br />
aux bottines dans un monde de<br />
cinéma capricieux et joyeusement<br />
divertissant? Mais à la fin,<br />
Claudine (une Jeanne Balibar<br />
impressionnante) marche seule<br />
dans une allée vers un avenir<br />
incertain. Comme Alida Vallin<br />
dans le classique «Le troisième<br />
homme» de Carol Reed. n<br />
Wie ein<br />
unorthodoxer<br />
Lehrer der<br />
Chancenungleichheit<br />
begegnet.<br />
VON MARIO CORTESI<br />
Die Kinder der sechsten<br />
Klasse in der Grundschule<br />
einer Grenzstadt zählen zu<br />
den schlechtesten Schülern<br />
Mexikos. Ihre Welt ist geprägt<br />
von Armut, Gewalt, Drogenbanden<br />
und Apathie. Die<br />
Lehrer versuchen die Kinder<br />
mit anmassender Disziplin zu<br />
erziehen, was chancenlos ist<br />
und die Noten nicht verbessert.<br />
Eines Tages übernimmt<br />
der neue Lehrer Sergio Juarez<br />
die sechste Klasse in der<br />
Schule, was dort meist dem<br />
letzten Schuljahr gleichkommt.<br />
Obwohl er über wenig didaktische<br />
Fähigkeiten und fundierte<br />
Ausbildung verfügt,<br />
verfolgt er einen radikal<br />
ungewohnten Ansatz, um<br />
den übersehenen, chancenlosen<br />
Kindern die Neugierde<br />
und die Freude am Lernen<br />
zurückzugeben. Die authentische<br />
Geschichte hat sich<br />
2012 zugetragen und Aufsehen<br />
über die Landesgrenzen von<br />
Mexiko hinaus gefunden. Der<br />
50-jährige, in Kenia geborene<br />
Filmemacher Christopher Zalla<br />
hat diesen amerikanischen Film<br />
gedreht, sein Drehbuch basiert<br />
auf einem Zeitungsartikel.<br />
Drei Schicksale. Im Mittelpunkt<br />
steht der unkonventionelle<br />
Primarlehrer Sergio<br />
(Eugenio Derbez), der gegen das<br />
längst überholte Schulsystem<br />
und die passive Lehrerschaft<br />
rebelliert. Er verblüfft seine<br />
Schüler, indem er Schulplan,<br />
Bewertungsmechanismen und<br />
Gehorsam zum Teufel wünscht<br />
und die Lernenden ermutigt,<br />
Fehler zu machen und sie auf<br />
neue Art zum Denken anregt.<br />
Zwei Schülerinnen und ein<br />
Schüler werden dabei in den<br />
Fokus gerückt. Paloma lebt mit<br />
ihrem Vater, einem kranken<br />
Lumpensammler, in einer<br />
bescheidenen Hütte am Rande<br />
der stinkenden Müllberge,<br />
träumt davon, Raumfahrt-<br />
Ingenieurin zu werden. Lupe<br />
sollte eigentlich zum Baby ihrer<br />
arbeitenden Mutter schauen,<br />
holt sich – vom Lehrer motiviert<br />
– Philosophie-Bücher in<br />
der städtischen Bibliothek,<br />
möchte Lehrerin werden. Nico<br />
schliesslich ist zwar gescheit<br />
und lernfähig, aber in den Fängen<br />
von Drogen-Kriminellen.<br />
Alle drei haben in der Gesellschaft,<br />
in der sie gross werden,<br />
keine Chance, ihre Träume zu<br />
verwirklichen.<br />
Wohlfühlfilm. Christopher<br />
Zalla erzählt diese fast<br />
abenteuerlich wirkende Schul-<br />
Geschichte über einen innovativen,<br />
noch heute an dieser<br />
Ungewohnt:<br />
Der Lehrer<br />
Sergio (Eugenio<br />
Derbez) begrüsst<br />
seine Schüler am<br />
Boden liegend.<br />
Schule tätigen Pädagogen<br />
spannend und fast anekdotenhaft.<br />
Streift die Probleme, die<br />
sich vor den pubertierenden<br />
Kindern auftürmen, geht<br />
aber auch mit der korrupten<br />
Schulverwaltung ins Gericht,<br />
die Geld für nicht gelieferte<br />
Computer kassiert. Obwohl<br />
es eigentlich trotz aller Kritik<br />
ein Wohlfühlfilm ist, gleitet<br />
Zalla nie ins Rührselige oder<br />
in emotionalen Kitsch ab,<br />
sondern bleibt zurückhaltend<br />
und glaubwürdig. n<br />
Darsteller/Distribution:<br />
Eugenio Derbez, Daniel Haddad<br />
Regie/Mise en scène:<br />
Christopher Zalla (2023)<br />
Länge/Durée: 125 Minuten/125 minutes<br />
Im Kino/Au cinéma: REX 2<br />
Radical HHH(H)<br />
Inhabituel:<br />
Sergio l’instituteur<br />
(Eugenio<br />
Derbez) accueille<br />
ses élèves allongé<br />
sur le sol.<br />
Comment un<br />
enseignant peu<br />
orthodoxe fait<br />
face à l’inégalité<br />
des chances.<br />
PAR MARIO CORTESI<br />
Les enfants de sixième de<br />
l’école primaire d’une ville<br />
frontalière comptent parmi les<br />
plus mauvais élèves du Mexique.<br />
Leur monde est marqué par la<br />
pauvreté, la violence, les gangs<br />
de trafiquants de drogue et l’apathie.<br />
Les enseignants tentent<br />
d’éduquer les enfants avec une<br />
discipline arrogante, ce qui n’a<br />
aucune chance et n’améliore<br />
pas les notes.<br />
Un jour, le nouveau professeur<br />
Sergio Juarez prend en<br />
charge cette classe de sixième,<br />
généralement la dernière de la<br />
scolarité. Bien qu’il ne dispose<br />
que de peu de compétences<br />
didactiques ni d’une solide formation,<br />
il adopte une approche<br />
radicalement inhabituelle pour<br />
redonner la curiosité et le plaisir<br />
d’apprendre à ces enfants négligés<br />
qui n’ont aucune chance.<br />
L’histoire authentique s’est<br />
déroulée en 2012 et a fait sensation<br />
au-delà des frontières du<br />
Mexique. Le cinéaste Christopher<br />
Zalla, 50 ans, né au<br />
Kenya, a réalisé ce film américain,<br />
au scénario basé sur un<br />
article de journal.<br />
Trois destins. Au centre<br />
donc, Sergio Juarez (Eugenio<br />
Derbez), instituteur peu<br />
conventionnel qui se rebelle<br />
contre le système scolaire depuis<br />
longtemps dépassé et le corps<br />
enseignant passif. Il étonne ses<br />
élèves en envoyant promener le<br />
programme scolaire, les mécanismes<br />
d’évaluation et l’obéissance,<br />
et en les encourageant<br />
à faire des erreurs et à penser<br />
d’une nouvelle manière. Deux<br />
filles et un garçon sont ainsi mis<br />
en exergue. Paloma vit avec son<br />
père, un chiffonnier malade,<br />
dans une modeste cabane au<br />
bord de montagnes d’ordures<br />
nauséabondes, et rêve de devenir<br />
ingénieure en aérospatiale.<br />
Lupe est censée garder le bébé<br />
de sa mère qui travaille, elle va<br />
chercher, motivée par son professeur,<br />
des livres de philosophie<br />
à la bibliothèque de la ville, elle<br />
veut devenir institutrice. Nico,<br />
enfin, est certes intelligent et<br />
capable d’apprendre, mais il est<br />
tombé dans les griffes de trafiquants<br />
de drogue. Tous trois<br />
n’ont aucune chance de réaliser<br />
leurs rêves dans la société dans<br />
laquelle ils grandissent.<br />
AUF EINEN BLICK … EN BREF…<br />
HHHH ausgezeichnet / excellent<br />
HHH sehr gut / très bon<br />
HH gut / bon<br />
H Durchschnitt / médiocre<br />
– verfehlt / nul<br />
Bénéfique. Christopher<br />
Zalla raconte de manière<br />
captivante et presque<br />
anecdotique cette histoire<br />
d’école qui paraît un peu<br />
rocambolesque, celle d’un<br />
pédagogue innovant qui<br />
travaille encore aujourd’hui<br />
dans ce collège. Il évoque<br />
les problèmes qui s’accumulent<br />
devant les enfants<br />
en pleine puberté, mais s’en<br />
prend aussi à l’administration<br />
corrompue qui encaisse<br />
de l’argent pour des ordinateurs<br />
non livrés. Bien qu’il<br />
s’agisse en fait d’une œuvre<br />
bénéfique, malgré toutes les<br />
critiques qu’elle contient,<br />
Christopher Zalla ne tombe<br />
jamais dans la mièvrerie ou<br />
le kitsch émotionnel, mais<br />
reste discret et crédible. n<br />
Mario<br />
Cortesi<br />
Ludwig<br />
Hermann<br />
l Oppenheimer (Beluga) HHHH HHHH<br />
l La Tresse (Rex 1+2) HHH(H) HHHH<br />
l Dune: 2 (Apollo, Beluga, Rex 1) HHH(H) HHH(H)<br />
l Poor Things (Beluga) HHH(H) HHH(H)<br />
l The Zone of Interest (Lido 1) HHH(H)<br />
l Anatomie d’une chute (Apollo, Lido 1) HHH HHH<br />
l Operation Silence – Flükiger (Lido 2) HHH HHH<br />
l Bob Marley: One Love (Apollo) HH(H) HHH<br />
l Bon Schuur Ticino (Lido 1, Rex 2) HH HH<br />
l Drive-Away Dolls (Beluga) H(H) H(H)<br />
Biel Bienne-Bewertung / Cote de Biel Bienne: HHHH ausgezeichnet / excellent HHH sehr gut / très bon HH gut / bon H Durchschnitt / médiocre – verfehlt / nul