FINDORFF GLEICH NEBENAN Nr. 29
FINDORFF GLEICH NEBENAN ist das Stadtteilmagazin für Findorff und Bremen für Handel, Dienstleistung, Kultur & Politik
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PROFILE<br />
q SILKE MÜLLER ÜBER SOCIAL MEDIA UND DIE GEFAHR, UNSERE KINDER ZU VERLIEREN<br />
» Es gibt es eine totale Gewaltverherrlichung.«<br />
SILKE MÜLLER<br />
DIGITAL-<br />
BOTSCHAFTERIN<br />
<strong>FINDORFF</strong> <strong>GLEICH</strong> <strong>NEBENAN</strong> | 18<br />
L<br />
iebe Frau Müller, Sie haben ein eindrucksvolles<br />
verstörendes Buch über Gewalt, Missbrauch<br />
und Rassismus in Klassen-Chats<br />
und die gefährlichen Tiefen einer digitalen<br />
Parallelwelt geschrieben. Welches Erlebnis<br />
hat Sie ermutigt, oder hat es zwingend gemacht,<br />
dass Sie Ihre Erfahrungen in einem<br />
Buch versammeln ?<br />
Ich glaube, der Begriff zwingend ist der bessere.<br />
Ich bin als Schulleiterin mit dem Thema »Soziale Netzwerke«<br />
und wie sie die Welt der Kinder verändern und beeinflussen seit<br />
ungefähr 2016 öffentlich unterwegs. Es gibt das Forum »Bildung<br />
Digitalisierung« in Berlin, das erstmals den Föderalismus überwunden<br />
hat und ganz viele Schulen aus dem Bundesgebiet<br />
zusammenholt und zu verschiedenen Themen diskutiert. Dort<br />
habe ich 2016 erstmals über dieses Thema gesprochen. 2018<br />
kam TikTok, die Inhalte veränderten sich, gingen rasend schnell<br />
viral, das Suchtverhalten potenzierte sich. Wir erkannten: Jetzt<br />
haben wir ein Problem. Nach einem Porträt in der Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung – dort wurde ich als streitbare Direktorin<br />
vorgestellt – rief mich mein heutiger Schriftstelleragent an und<br />
meinte, es sei genau jetzt der richtige Zeitpunkt, ein Buch über<br />
digitale Ethik zu schreiben. Und weil ich viele Menschen – Eltern<br />
und Großeltern – erreichen wollte, habe ich mich dann dafür<br />
entschieden, ein Buch zu schreiben.<br />
Können Sie drei eindrucksvolle Schilderungen von Kindern<br />
oder Jugendlichen benennen, die den Ernst der Situation<br />
illustrieren ?<br />
Zum einen gibt es eine totale Gewaltverherrlichung. Es gibt<br />
Foltervideos, in denen unsere Kinder die Kastration eines Mannes,<br />
der auf einen Tisch gefesselt wurde, ansehen müssen. Tierquälerei<br />
ist ein großes Thema: zum Beispiel ein Film über die<br />
Tötung eines Welpen. Auf der anderen Seite dreht sich wirklich<br />
viel um Cybermobbing. Kinder machen sich gegenseitig fertig,<br />
eben nicht nur auf dem Schulhof, sondern gestreamt auch im<br />
Netz. Das sind dann schon Vorfälle, die oft mit sexualisierter<br />
Gewalt zu tun haben. Ich schreibe in meinem Buch davon, dass<br />
ein Mädchen während einer sehr, sehr intimen Situation gefilmt<br />
wurde und das Video von dem Jungen dann so verändert wurde,<br />
dass nur noch sie zu sehen und zu hören war. Dieses Video<br />
ging überall viral – nicht nur an seiner Schule, auch an unserer<br />
Schule. Aber es gibt auch Beispiele, bei denen Kinder selber<br />
eine Rolle annehmen und sich in Gefahr begeben: Ein junges<br />
Mädchen macht bei einer Dickpic-Challenge mit, bei der es<br />
darum geht, wer als erste das Bild eines erigierten Penis erhält.<br />
Dafür geht sie bewusst auf die Plattform Knuddels, gibt sich als<br />
älter aus und steigt bewusst in eine sexualisierte Sprache ein. Sie<br />
provoziert mit dem Wissen, dass es sich auf der anderen Seite<br />
um ältere Männer handelt und wartet nur, als erste diese Bilder<br />
zu bekommen. Auch diese Dimension gibt es.<br />
Und eigentlich kommen täglich neue Challenges dazu !<br />
Gerade auch im Bereich Tierquälerei in einer abscheulichen<br />
Dimension: Kinder, wahrscheinlich aus dem asiatischen Raum,<br />
stecken eine Babykatze in einen Mixer und betätigen diesen.<br />
Doch die Katze ist nicht tot. Danach geben sie das Tier in die<br />
Mikrowelle. Dieses Video ist bei Twitter aufgetaucht, fand<br />
seinen Weg über Screenshots und Filmausschnitte zu TikTok<br />
und damit in unsere Kinderzimmer. Schlimm daran sind auch<br />
die Kommentare, Smilies und Äußerungen. Das ist sehr, sehr<br />
besorgniserregend, weil die Hemmschwelle scheinbar immer<br />
weiter sinkt. Kinder verrohen ! Es gibt überdies im Moment den<br />
Trend, dass Soldaten an der Front in der Ukraine sogenannte<br />
TikTok-Livestreams machen, das heißt, sie haben GoPro-Kameras<br />
am Helm und streamen dann live von der Front– und unsere<br />
Kinder sind live dabei. Es treten auch immer wieder gesundheitsgefährdende<br />
Trends wie die Blackout- oder Hot-Chip-<br />
Challenge auf, das ist einfach unaufhaltsam.<br />
Sie sind Schulleiterin. Haben Sie das Gefühl, dass die Schulen<br />
um die Gefahren für unsere Kinder wissen und entsprechend<br />
handeln ?<br />
Absolut nicht. Das Bewusstsein, dass wir eine Verantwortung<br />
haben, wir in der Schule, Elternhäusern, aber auch Gesellschaft,<br />
ist, glaube ich, immer noch nicht ausreichend verankert. Ich<br />
habe nicht mit der Resonanz auf mein Buch in der Form gerechnet,<br />
dass viele Schulen mit Fragen zum Beispiel zu unserer<br />
Social Media-Sprechstunde auf mich zukommen oder um ein<br />
Referat bitten.<br />
Sie sind die erste niedersächsische Digitalbotschafterin. Was<br />
machen Sie da konkret und hilft das bei Ihrem Anliegen ? u<br />
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