Ärzteblatt Mai 2006 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern
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LEITARTIKEL<br />
Es ist schon ein eigenartiges Bild: Zehntausende Ärztinnen<br />
und Ärzte aller Fachrichtungen, alte wie junge, aus Praxis<br />
und Klinik auf der Straße, mit Transparenten in der Hand und<br />
Trillerpfeifen im Mund. Und mit ihnen demonstrieren ihre<br />
nichtärztlichen Mitarbeiter und Vertreter von Patientenorganisationen<br />
... Nach einer Umfrage der „Welt“ haben im März<br />
78% der Bevölkerung Verständnis für die Proteste der Ärzte<br />
geäußert.<br />
Schon berufsbedingt sind Ärztinnen und Ärzte eher duldsam<br />
und verständnisvoll – sogar für politische Zwänge und leere<br />
Kassen. Vor allem sind sie aber Individualisten, deren Interessen<br />
oftmals noch weiter auseinander liegen als die Fachgebiete,<br />
die sie repräsentieren. Die Vielzahl ärztlicher Verbände<br />
und Organisationen trägt auch nicht gerade zu einem einheitlichen<br />
Bild des Berufsstandes bei.<br />
Es ist politische Kontinuität,<br />
die Ärztinnen<br />
und Ärzte auf<br />
die Straße treibt; Kontinuität<br />
über eine<br />
Vielzahl von Legislaturen<br />
der unterschiedlichstenpolitischen<br />
Couleur hinweg:<br />
Es ist die Kontinuität<br />
der großen<br />
Worte, die nie an<br />
Taten gemessen werden<br />
können. Kontinuierlich<br />
wird jedem<br />
alles versprochen,<br />
werden die leeren<br />
Sozialkassen verheimlicht<br />
und deren Ursachen<br />
verschleiert. Es ist die Kontinuität der politischen<br />
Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Bürger, der immer<br />
Wähler aber nur manchmal Patient ist! Nicht etwa die demographische<br />
Entwicklung, eine mittlerweile jahrzehntelange<br />
verfehlte Arbeitsmarktpolitik, die Gesellschaft des langen<br />
Lebens und die explosionsartige wissenschaftliche und technische<br />
Entwicklung auf dem Gebiet der Medizin und „ihrer<br />
Anhangsgebilde“ sind die Ursache – die Ärzte sind schuld!<br />
„Die Ärztinnen und Ärzte geben zu viel Geld aus und ihre<br />
Selbstverwaltung verteilt dieses Geld falsch.“ Der Sündenbock<br />
war schon vor vielen Jahren gefunden worden und seitdem<br />
wird unverdrossen auf ihn eingeprügelt. Nicht nur die syste-<br />
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Protest der Sündenböcke<br />
matisch betriebene Rufschädigung und die völlig mangelhafte,<br />
ständig sinkende materielle Anerkennung ärztlicher Leistung,<br />
sondern vor allem die ausufernde Bürokratie, die<br />
paradoxen Regreßregelungen und der ständige Mißbrauch<br />
des Arztes als Handlanger einer verfehlten Gesundheitspolitik<br />
hat das Faß zum Überlaufen gebracht.<br />
„Ulla, jetzt reicht´s“ war denn auch vielfach zu hören und zu<br />
lesen auf dem 2. nationalen Protesttag der Ärzteschaft am<br />
24. März in Berlin. Es ist nicht nur die Zahl der Protestierenden<br />
(über 32.000 nach Schätzungen der Polizei), ebenso wichtig<br />
sind die geschlossenen Praxen, deren Inhaber nicht nach Berlin<br />
gekommen sind. Wichtig ist die Vielschichtigkeit des ärztlichen<br />
Protestes: Bundesärztekammer und Kassenärztliche<br />
Bundesvereinigung unterbrachen ihre Sitzungen für die Demonstration;<br />
Vertragsärzte und Klinikärzte marschierten gemeinsam<br />
(auch wenn den Medien vorab souffliert wurde, es<br />
handle sich „nur“ um den Protest der Kassenärzte) und sogar<br />
politisch privilegierte Verbände beteiligten sich am Protest.<br />
Die Furcht der Politiker wird nachvollziehbar, wenn das<br />
„Divide et Impera!“ nicht mehr funktioniert. Und dann ist der<br />
Protest auch noch originell und kreativ (weitere Bilder sind<br />
im Internet unter www.aek-mv.de) ...<br />
Inzwischen wird die Gesundheitspolitik von der großen Koalition<br />
thematisiert. Eine ehrliche Analyse muß die Basis für<br />
einen grundlegenden Wandel bilden – die Zeit drängt: Auf<br />
dem bevorstehenden Ärztetag in Magdeburg (23. bis 26. <strong>Mai</strong>)<br />
möchten wir gerne Ergebnisse diskutieren, die aus der Sackgasse<br />
heraus führen. Die Ärzteschaft wird sich ihrer konstruktiven<br />
Mitarbeit dabei nicht verweigern. Eine Kontinuität<br />
im Sinne des „Weiter so!“ darf und kann es aber nicht geben.<br />
Der 3. nationale Protesttag ist bereits terminiert: 19. <strong>Mai</strong><br />
<strong>2006</strong> vor dem Roten Rathaus in Berlin. Wir seh´n uns!<br />
Dr. Wilfried Schimanke<br />
ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN