Psychotherapeutenjournal 2/2006 (.pdf) - medhochzwei Verlag GmbH
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Zum Postulat der störungsspezifischen Indikation<br />
Inge Frohburg<br />
Zusammenfassung: Der erste Teil des Beitrages befasst sich mit einem störungsorientierten<br />
Indikationsverständnis, so wie es teilweise fachintern, vor allem aber in<br />
verschiedenen berufs- und sozialpolitisch wichtigen Psychotherapie-Dokumenten (u. a.<br />
des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie, im Förderschwerpunkt Psychotherapieforschung<br />
und in Psychotherapie-Leitlinien und Behandlungs-Manualen) vertreten<br />
wird. Argumente aus theoretischer Sicht, Ergebnisse vieler empirischer Forschungsarbeiten<br />
und auch das Expertenwissen klinisch tätiger Psychotherapeuten<br />
belegen übereinstimmend, dass ein störungsbezogenes Indikationsverständnis zwar<br />
für die Psychotherapie allgemein gelten kann, jedoch nicht für verfahrensabhängige<br />
differentielle Indikationsstellungen. Der zweite Teil des Beitrages wendet sich deshalb<br />
alternativen, den heutigen wissenschaftlichen Kenntnissen eher entsprechenden<br />
Indikationsmodellen zu. Aus den kritischen Bewertungen der unterschiedlichen Ansätze<br />
werden abschließend Schlussfolgerungen für berufs- und sozialrechtliche Regelungen<br />
und die künftige verfahrensspezifisch differentielle Indikationspraxis und<br />
-forschung gezogen.<br />
Unter „Indikation“ wird per definitionem die<br />
Gesamtheit der Umstände und Gründe<br />
verstanden, die bei einem Krankheitsfall die<br />
Anwendung einer stimmten Behandlungsweise<br />
sinnvoll und erforderlich erscheinen<br />
lassen. Im vertraglichen Versorgungskontext<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung ist<br />
Psychotherapie immer dann indiziert, wenn<br />
beim Patienten eine „seelischen Krankheit“<br />
vorliegt, die ihrerseits als krankhafte Störung<br />
der Wahrnehmung, des Verhaltens,<br />
der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen<br />
und der Körperfunktionen verstanden<br />
wird („Psychotherapie-Richtlinien“<br />
vgl. Rüger, Dahm & Kallinke, 2005, 107f).<br />
Dabei sollte gesichert sein, dass die Motivationslage<br />
des Patienten, seine Umstellungsfähigkeit<br />
oder Eigenheiten seiner neurotischen<br />
Persönlichkeitsstruktur und ggf.<br />
seiner Lebensumstände dem Behandlungserfolg<br />
nicht entgegenstehen. Weitergehende<br />
Bestimmungen zur Indikation von<br />
Psychotherapie enthalten die „Psychotherapie-Richtlinien“<br />
nicht.<br />
Für die Kennzeichnung seelischer Krankheiten<br />
bzw. krankhafter psychischer Störungen<br />
gibt es über 500 Diagnosebezeichnungen.<br />
Sie sind zuletzt in den internatio-<br />
130<br />
nal gebräuchlichen Klassifikationssystemen<br />
ICD-10 Kapitel V (F) = Internationale Klassifikation<br />
psychischer Störungen (WHO/<br />
Dilling u. a. 2001, 2005) und DSM-IV =<br />
Diagnostic and Statistical Manual of Mental<br />
Disorders (APA 1994, Saß u. a., 2003)<br />
mit Bezug auf ihre Manifestationsformen<br />
mit Verzicht auf Angaben zu ihren Ursachen<br />
oder Entstehungsbedingungen beschrieben<br />
und kodifiziert worden.<br />
Die Einführung der diagnostischen Klassifikationsstandards<br />
hat zu einer besseren<br />
Verständigung von Psychiatern, Klinischen<br />
Psychologen und Psychotherapeuten geführt,<br />
die Entwicklung standardisierter Verfahren<br />
zur Diagnostik psychischer Störungen<br />
angeregt und differenzierte epidemiologische<br />
Untersuchungen ermöglicht<br />
(Wittchen & Jacobi; 2002).<br />
Der Bezug auf diagnostische Klassifikationsstandards<br />
hat jedoch zugleich Verwirrungen,<br />
Missverständnisse und Fehlentwicklungen<br />
im Hinblick auf Indikationsfragen im<br />
Bereich der Psychotherapie mit sich gebracht.<br />
Aus der allgemein gefassten Indikation<br />
„Psychotherapie bei seelischen<br />
Krankheiten“ wurde vielfach abgeleitet,<br />
dass unterschiedliche symptomatische<br />
Ausprägungen seelischer Krankheiten auch<br />
nach unterschiedlichen psychotherapeutischen<br />
Bedingungen verlangen. Mit Bezug<br />
auf die diagnostizierte Störung (Symptomatik)<br />
sollte also nicht nur entschieden<br />
werden, ob „Psychotherapie“ indiziert ist,<br />
sondern zugleich, welche Art von Psychotherapie,<br />
d. h. welches psychotherapeutische<br />
Verfahren, Erfolg versprechend ist und<br />
gelegentlich, welches therapeutische Setting<br />
(ambulante oder stationäre Behandlungen,<br />
Einzel- oder Gruppentherapie)<br />
infrage kommt. „Störungsbezogene Indikation<br />
von Psychotherapie“ wurde damit ausgedehnt<br />
auch auf „störungsbezogene Indikation<br />
von Psychotherapieverfahren“ und<br />
der entsprechend der eingangs zitierten<br />
Definition weiter gefasste Begriff der „Indikation“<br />
zugleich eingeengt auf „störungsbezogene<br />
Indikation“.<br />
Ein solches störungsbezogenes Indikationsverständnis<br />
liegt verschiedenen berufs- und<br />
sozialpolitisch wichtigen, richtungweisenden<br />
Psychotherapie-Dokumenten zugrunde<br />
und wird teilweise auch fachintern vertreten.<br />
Das soll im ersten Teil der folgenden<br />
Ausführungen belegt und erörtert<br />
werden. Im zweiten Teil wird auf alternative<br />
dem heutigen Entwicklungsstand der<br />
wissenschaftlichen Erkenntnisse eher entsprechende<br />
Indikationsmodelle eingegangen.<br />
Aus den kritischen Bewertungen der<br />
unterschiedlichen Ansätze werden in einem<br />
dritten Teil abschließend Schlussfolgerungen<br />
für die berufs- und sozialrechtliche<br />
Regelungen und die künftige Indikationspraxis<br />
und -forschung gezogen.<br />
1. Das störungsbezogene<br />
Indikationsverständnis<br />
Das störungsspezifische Indikationsverständnis<br />
geht – wie bereits angedeutet –<br />
von einer direkten Beziehung zwischen<br />
einer bestimmten nach ICD oder DMS di-<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2006</strong>