Psychotherapeutenjournal 2/2006 (.pdf) - medhochzwei Verlag GmbH
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Zum Postulat der störungsspezifischen Indikation<br />
... aus der Sicht der Wissenschaft<br />
Das störungsspezifische Indikationsverständnis<br />
in der Psychotherapie entspricht<br />
einem ätiologisch orientierten medizinischen<br />
Krankheitsmodell. Es geht davon<br />
aus, dass bestimmte Krankheiten auf bestimmte<br />
Ursachen zurückzuführen sind, die<br />
ihrerseits durch unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten<br />
beseitigt werden können.<br />
Die Indikationsfrage heißt dann: Welche<br />
Behandlungsmaßnahme ist für die<br />
Beseitigung welcher Ursache und damit<br />
welcher Krankheit angezeigt? (Wampold,<br />
2001).<br />
Eine so gestellte Indikationsfrage ist relativ<br />
leicht zu beantworten, wenn es um die<br />
Indikation von „Psychotherapie“ als Heilmaßnahme<br />
in Abgrenzung von anderen,<br />
z. B. medizinischen, pharmakologischen,<br />
physiotherapeutischen, rehabilitativen Heilmaßnahmen<br />
geht. Dann greift die eingangs<br />
zitierte Indikationsregel, die festlegt, dass<br />
Psychotherapie immer dann indiziert ist,<br />
wenn eine seelische Krankheit vorliegt. Diese<br />
Indikationsregel greift aber nicht mehr,<br />
wenn es um verfahrensspezifisch differentielle<br />
Indikationsstellungen geht, wenn also<br />
gefragt wird: Welches psychotherapeutische<br />
Verfahren bzw. welche psychotherapeutische<br />
Methode bzw. welches psychotherapeutische<br />
Setting ist für die Beseitigung<br />
welcher psychischen Störung angezeigt?<br />
Zur Beantwortung dieser Fragestellung<br />
wären unterscheidbare störungsspezifische<br />
Indikationsangaben für jedes Psychotherapieverfahren,<br />
für jede Psychotherapiemethodik<br />
und für jedes psychotherapeutische<br />
Setting erforderlich. Solche differentiellen<br />
Indikationsregeln werden zwar<br />
pragmatisch gehandhabt, lassen sich jedoch<br />
weder theoretisch noch empirisch<br />
hinreichend begründen.<br />
Nun ist es allerdings so, dass die Angemessenheit<br />
des ätiologischen Krankheitsmodells<br />
in der Medizin selbst zunehmend<br />
und grundsätzlich infrage gestellt wird, da<br />
es zwar für Infektionskrankheiten eine begrenzte<br />
Gültigkeit hat, aber ansonsten von<br />
sachlich unangemessenem linearen oder<br />
monokausalen Denken bestimmt wird. Es<br />
bedarf nach der heute in der Medizin vorrangig<br />
vertretenen wissenschaftlichen Auf-<br />
132<br />
fassung einer Revision zugunsten eines<br />
konditionalen Krankheitsverständnisses,<br />
nach dem Krankheit wesentlich von den<br />
Lebensumständen des Patienten bzw. deren<br />
patientenseitigen Interpretation abhängt<br />
und der Arzt selbst nicht nur zum<br />
diagnostischen Instrument, sondern auch<br />
zu einem wichtigen therapeutischem<br />
Agens wird (SVR, 2001).<br />
Eine solche alternative Sichtweise gilt in<br />
besonderem Maße für den Bereich der<br />
psychischen Störungen. Sie werden dem<br />
heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand<br />
entsprechend in engem Zusammenhang<br />
mit der Person des Patienten, seinen<br />
biografischen Erfahrungen und seiner aktuellen<br />
Lebenssituation gesehen und einem<br />
komplexeren biopsychosozialen<br />
Krankheitsmodell zugeordnet. Mit einfachen<br />
Worten: „Psychotherapeuten behandeln<br />
nicht Störungen, sondern Menschen<br />
mit Störungen.“ Das bedeutet, dass individuellen<br />
Bedingungen bei einer diagnostizierten<br />
psychischen Störung nicht vernachlässigt<br />
oder gar ausgeklammert werden und<br />
damit nicht unbeachtet bleiben dürfen.<br />
Menschliches Erleben und Verhalten ist<br />
zudem nur sehr selten eindimensional determiniert,<br />
und es folgt ebenso selten einer<br />
linearen Dynamik. Es wird vielmehr<br />
durch vielfältige rekursive Prozesse unterschiedlicher<br />
Einflussfaktoren charakterisiert.<br />
Deshalb sind die üblichen ätiologischen<br />
Rückschlüsse höchst fragwürdig und Indikationsaussagen,<br />
die sich allein auf eine<br />
Störungsphänomenologie beziehen, unzureichend.<br />
Differentielle störungsspezifische<br />
Indikationsaussagen bzw. Behandlungsansätze<br />
gehen damit von irreführenden Voraussetzungen<br />
aus und sind der Sache nach<br />
unangemessen. Sie stellen nach Auckenthaler<br />
1997 eine unzulässige „Medikalisierung<br />
der Psychotherapie“ dar und beruhen<br />
– so Zurhorst, 2003 – auf einem generellen<br />
„szientistischen Selbstmissverständnis“.<br />
Anzumerken bleibt jedoch, dass ein medizinisches<br />
Krankheitsmodell und damit ein<br />
störungsbezogenes Indikationsverständnis<br />
im Bereich der Psychotherapie auch heute<br />
noch von einigen Fachkollegen vor allem<br />
der kognitiv-behavioralen Richtung vertreten<br />
wird (z. B. Turner & Calhoun, 1992,<br />
Ammermann & Hersen, 1993, Chambless,<br />
1996, Chambless & Hollon, 1998, Reinecker,<br />
2003), die damit als Referenzquelle<br />
für die oben genannten Dokumente gelten<br />
können. Die Lehrbücher zur Klinischen<br />
Psychologie und Psychotherapie sind in<br />
ihren anwendungsbezogenen Teilen ausnahmslos<br />
störungsbezogen in Kapitel gegliedert,<br />
die jeweils „Psychotherapie bei ...“<br />
beschreiben und damit indirekt eine störungsspezifische<br />
Indikation psychotherapeutischer<br />
Vorgehensweisen suggerieren.<br />
Das gleiche gilt für diverse Fallbücher, die<br />
Kasuistiken an Hand der ICD-Klassifikationen<br />
darstellen. Zudem kommen immer<br />
wieder neue Bücher auf den Markt, die<br />
Psychotherapie bei Angststörungen, Borderline-Patienten,Persönlichkeitsstörungen,<br />
bei Zwängen und Phobien, Ess-Störungen,<br />
Alkoholabhängigkeit etc. zum Inhalt<br />
haben – um nur einige Beispiele aus<br />
neueren <strong>Verlag</strong>skatalogen zu nennen (vgl.<br />
auch die bei Hogrefe erscheinende Serie<br />
„Fortschritte der Psychotherapie“) – und<br />
deren Autoren damit ein störungsbezogenes<br />
Indikationsverständnis von Psychotherapie<br />
dokumentieren, tradieren und<br />
dem Leser nahe legen.<br />
Eine störungsspezifische Orientierung findet<br />
sich auch in den vom Bundesministerium<br />
für Gesundheit erlassenen Ausbildungs-<br />
und Prüfungsordnungen für Psychologische<br />
Psychotherapeuten bzw. Kinderund<br />
Jugendlichenpsychotherapeuten<br />
(BMG, 1998). Sie sieht vor, dass über das<br />
gesamte Spektrum der Psychotherapieindikation<br />
in einem Verfahren ausgebildet<br />
wird, nimmt diese Ausbildung dann aber<br />
im Einzelnen in störungs- bzw. symptomspezifischer<br />
Anwendung der Behandlungsmethodik<br />
des Verfahrens vor. Dem folgt<br />
auch der sich auf die Ausbildungsinhalte<br />
beziehende Gegenstandskatalog des Instituts<br />
für Medizinische und Pharmazeutische<br />
Prüfungsfragen für die schriftlichen<br />
Prüfungen nach dem Psychotherapeutengesetz<br />
(impp, 2004).<br />
... aus der Sicht der empirischen<br />
Forschung<br />
Obwohl es seit langem eine größere Anzahl<br />
von empirischen Indikationsstudien<br />
gibt, ließen sich bislang keine eindeutigen<br />
Zusammenhänge zwischen störungsbezogenen<br />
Indikationskriterien und psy-<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2006</strong>