Vision
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Wahrnehmung der realen Welt mit den physischen, äußeren Augen und Ohren (daher ihre natur- und<br />
heilkundlichen Kenntnisse) und der Schau jener göttlichen und kosmischen Zusammenhänge, zwischen<br />
dem Sehen und Hören des Daseins und dem Hören und Sehen des Seins, der ontischen Qualität<br />
des Seins. Die Unterscheidung von auf Fakten beruhendem Verfügungswissen und das diese Fakten<br />
deutende Orientierungswissen, wie es in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion nicht nur im Kontext<br />
religiöser Bildung, sondern auch in den Naturwissenschaften thematisiert wird 46 , deutet sich in diesem<br />
Reflexionsprozess an. In dieser Diskussion spiegelt sich die alte Verhältnisbestimmung und Verbindung<br />
von Wissen und Weisheit, wie sie sich in der Person Hildegards zusammenfinden.<br />
Aus der Selbstdarstellung der Hildegard zu Beginn der ersten <strong>Vision</strong>sschrift ergibt sich darüber hinaus<br />
ein weiterer Aspekt:<br />
Und wieder hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen: „Rede also von diesen wunderbaren<br />
Dingen, schreibe sie, wohlbelehrt, nieder und sprich davon. […] Und plötzlich erhielt<br />
ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen<br />
Bücher des Alten und Neuen Testaments. 47<br />
Dieser Satz erinnert an die Darstellung der Berufungserlebnisse der alttestamentlichen Propheten<br />
(z.B. Jes 6), aber auch an die Berufung des Augustinus oder des Franz von Assisi und spiegelt sich auch<br />
im Turmerlebnis Martin Luthers und anderer Persönlichkeiten der Kirchengeschichte. Was Hildegard<br />
in ihren <strong>Vision</strong>en widerfährt, ist letztlich als Sinnerschließung der Überlieferung zu beschreiben. Sie<br />
kommt zu hermeneutischer Klarheit: „Es geht ihr etwas auf…“. Ihr „Sehen“ entspricht jenen hermeneutischen<br />
Prozessen, die die Jünger Jesu auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13ff.) durchwandern oder<br />
Paulus vor den Toren Damaskus (Apg 9) erst mit Blindheit und dann mit neuem Sehen erlebt. Hermeneutik<br />
ist in diesem Sinne immer eine „Entdeckung des Neuen“, die dem Charakter der <strong>Vision</strong> entspricht.<br />
Mit diesem hermeneutischen Prozess, den Hildegard durchläuft, zeigt sich auch der Unterschied zu<br />
den Mystikern und Mystikerinnen ihrer Zeit. Die klassischen Mystiker und Mystikerinnen haben den<br />
Aufstieg der Seele zu Gott zum Thema; den Aufstieg zum göttlichen Sein über viele Stufen, an dessen<br />
Ende die mystische Vereinigung der Seele mit der Gottheit bzw. dem himmlischen Bräutigam steht.<br />
Dabei erleiden sie ekstatische Zustände, geraten außer sich, sind nicht mehr bei sich bis sie wieder<br />
zurückfallen in ein als nichtig erfahrenes Sein. Diese Form der Mystik speist sich eher aus neuplatonischen<br />
Quellen und den von ihnen abhängigen Überlieferungen. Der Abstand zwischen göttlichem<br />
Sein und dem Nicht-Sein wird als unendlich erfahren und nur durch die mystische Schau und Vereinigung<br />
überbrückt. Gott und Mensch gleichen zwei Liebenden, die sich in ekstatischer Innigkeit in den<br />
Armen liegen und bei erneuter Trennung in depressiven oder melancholischen Schmerz verfallen.<br />
Anders bei Hildegard: Gott bleibt im Himmel! Und ist dennoch dem Menschen in seinem Kosmos ganz<br />
nah. Die Erhabenheit ihres Gottesbildes korrespondiert mit einer den Menschen zur Einsicht („Wisse<br />
die Wege!“) bringenden, aber auch zur Verantwortung („Liber vitae meritorum“) führenden Erfahrung<br />
und hat die Harmonie zwischen Gott – Mensch und Kosmos („De operatione dei“) als heilsgeschichtliche<br />
Basis und Perspektive zum Ziel. Dies kann an einigen ihrer <strong>Vision</strong>en und deren bildlicher Darstellung<br />
Erläuterung finden.<br />
46 Vgl. die Ergebnisse bei Google mit dem Suchbegriff „Verfügungswissen Orientierungswissen“.<br />
47 Von Bingen, Hildegard: Wisse die Wege, a.a.O., S. 5.<br />
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