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Vision

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…viele Geheimnisse […] die dem Menschen nicht kundgetan werden sollen, denn solange er<br />

der Sterblichkeit unterliegt, wird er die ewigen Dinge nicht vollkommen erkennen können. 50<br />

Hildegard sieht mit ihrem inneren Auge und zugleich hört sie mit ihrem inneren Ohr. Zur <strong>Vision</strong> tritt<br />

die Audition. Sie hört Sphärenklänge, himmlische Symphonien – kosmische Musik. Die Musik der Menschen<br />

ist demgegenüber ein Nachklang aus dem Paradies – eine Erinnerung, die der Mensch in sich<br />

trägt und zugleich ein Vorausklingen der Engelchöre:<br />

All diese Chöre aber verkünden, wie du hörst, mit wunderbaren Stimmen jeder Art von Wohlklang<br />

die Wunder, die Gott in den Seelen der Seligen wirkt und sie verherrlichen Gott auf wunderbare<br />

Weise. 51<br />

Diese <strong>Vision</strong> ist ein Beispiel für die Harmonie der Trias „Gott – Kosmos – Mensch“, die Hildegards<br />

<strong>Vision</strong>en grundlegend prägen. In diesem Weltbild hat alles seine Ordnung, jeder ist an seinem Platz,<br />

niemand hat aber auch das Recht, sich einen anderen Platz zu suchen, als den, der ihm von Gott zugewiesen<br />

ist. Im Zentrum steht nicht der ohnmächtige oder leidende Gott, sondern der Allmächtige, der<br />

Schöpfer des Himmels und der Erde. „Der Erhabenheit ihres Gottesbildes entsprechend belässt Hildegard<br />

Gott im Himmel.“ 52<br />

Dieses Weltbild ist im doppelten Sinne konservativ: Die überkommenen Ständeordnungen, die das<br />

Mittelalter prägen und bis an die Schwellen der Neuzeit Bestand haben werden, werden theologisch<br />

gerechtfertigt und gleichzeitig entsteht ein darin bewahrender und behütender und motivierender<br />

ethischer Impuls:<br />

[…] so mögen die Gläubigen ihn, ihr Haupt [d.h. Christus, M.K] getreulich nachahmen, ihre Hoffnung<br />

auf das Himmlische setzen und sich in großem Verlangen nach guten Werken festigen. 53<br />

Christliche Ethik gründet in diesem Zitat zwar in einer imitatio jesu christi, anders aber als z.B. im Leben<br />

und Denken Franz von Assisis nicht orientiert an den Worten des irdischen Jesus, sondern am im Heiligen<br />

Geist gegenwärtig wirkenden erhöhten Herrn:<br />

Wer immer Erkenntnis im Heiligen Geist und die Flügel des Glaubens besitzt, übergehe daher<br />

meine Mahnungen nicht, sondern sein Herz verkoste sie und nehme sie liebend gern entgegen.<br />

Amen. 54<br />

Der Kosmos-Mensch<br />

oder: Wenn Gott durch Christus mit dem Menschen schwanger geht<br />

Diese Miniatur stellt die zweite <strong>Vision</strong> aus dem ersten Buch von „De operatione dei“ dar. Während für<br />

den gegenwärtigen Betrachter spontan die Erschließung des Bildes von der Mitte her erfolgt, geht die<br />

<strong>Vision</strong> der Hildegard den umgekehrten Weg. Das ist nicht unerheblich, sondern entscheidend für den<br />

Denkprozess Hildegards: Sie denkt von Gott, nicht vom Menschen her! Im Mittelpunkt steht zwar der<br />

Mensch, umrahmt aber von mehreren Ringen eines gewaltigen Schöpfungsrades: die schwangere<br />

Kraft der Liebe einer feurigen Christus-Gestalt, von der der Mensch gehalten und umarmt wird. Gott,<br />

50 Ebd., S. 99.<br />

51 Ebd., S. 99.<br />

52 Diers, Michaela, a.a.O., S. 65.<br />

53 Von Bingen, Hildegard: Wisse die Wege, a.a.O., S. 100.<br />

54 Ebd., S. 97.<br />

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