Vision
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Im Zeitalter vor der Entwicklung der Buchdruckkunst bedeutet die Tradierung von Schriften höchstes<br />
handwerkliches Geschick. Klöster sind die „Kopierläden“ der damaligen Zeit, für manchen Mönch oder<br />
manche Nonne bedeutet das Abschreiben auch nur eines Buches ein Lebenswerk. Die Darstellung der<br />
Bilderbibel im Kap. 1 sowie der Hinweis auf die „Einhorndarstellung“ im Kap. 4 deuten nicht nur auf die<br />
hohe ästhetische Gestaltung dieser Bücher, sondern auch auf den vorherrschenden Analphabetismus,<br />
der nicht nur in den unteren Schichten der Bevölkerung vorherrschte. Auch Fürsten und Könige waren<br />
oft nicht genug in der Technik des Lesens und Schreibens unterrichtet, so dass sie gerade diese „Bilderbücher“<br />
für den eigenen Gebrauch in Auftrag gaben. Nicht ohne Grund werden deshalb später die<br />
<strong>Vision</strong>en der Hildegard im Rupertsberger Kodex nicht nur ausführlich schriftlich niedergelegt, sondern<br />
mit entsprechendem Bildmaterial dargestellt und ergänzt.<br />
Hildegard selbst beschreibt sich oft als indocta, womit sie allerdings nicht ihre mangelnde Bildung<br />
betonen will. Es ist eher als Hinweis darauf zu sehen, dass ihr als Frau eine systematische Ausbildung<br />
an einer der Kloster- oder Domschule verwehrt war. In dieser Weise ist sie mit einem modernen Begriff<br />
als Autodidaktin zu verstehen.<br />
Auf der Krankenstation: Die folgende Szene zeigt Hildegard auf der Krankenstation des Klosters.<br />
Zunächst erteilt sie eine Heilanleitung für einen Mönch, der sich gegeißelt hat:<br />
Ich wollte leiden. – Wer das Fleisch abtötet, tötet dessen Bewohner: die Seele. Gott will Barmherzigkeit,<br />
nicht Opfer. (zu den Schwestern) Welche Kräuter können helfen, den Wundbrand zu<br />
verhindern? […] Allein durch Gebete und Fasten werden unsere Kranken hier nicht gesund. Die<br />
Scharfgabe… […] Auch die Musik kann deine Wunden heilen und deine Seele.<br />
Neben den heilkundlichen Anweisungen wird Musik als Therapie angeordnet: Eine Schwester spielt<br />
ein Saiteninstrument und singt am Bett des Kranken, während eine andere seine Wunden auswäscht.<br />
Währenddessen betreut Hildegard eine vermutlich psychisch kranke Frau mit einem Edelstein.<br />
Halt ihn an deiner Kehle bis er warm wird. Danach wirst du keinen Zorn mehr verspüren.<br />
Im Klostergarten: Die Szene zeigt Hildegard bei einer Unterrichtsstunde im Kräutergarten des Klosters.<br />
Sie fragt die Schwestern nach den Heilkräften der unterschiedlichen Kräuter. Im Gartenhaus erläutert<br />
Hildegard die Grundlagen ihrer medizinischen Kenntnisse, die die Ganzheitlichkeit von Körper<br />
und Geist/Seele betonen:<br />
Aber die Pflanzen und Kräuter können ihre Heilkraft nur entfalten, wenn der Mensch eins ist, mit<br />
der Natur und mit Gott. Erst muss unsere Seele heil werden. Und dann kann der Körper folgen.<br />
Die Quellenlage der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards von Bingen ist etwas unübersichtlich<br />
und nicht eindeutig auf sie selbst zurückzuführen. Eine von ihr genannte Schrift „Subtilitates diversarum<br />
naturarum creaturarum“ ist nicht erhalten, andere Schriften wurden im Laufe des Überliefungsprozesses<br />
von anderen Autoren und Herausgebern ergänzt. Erhalten sind das „Liber simplicis<br />
medicinae“, das seit dem Erstdruck „Physica“ 7 genannt wird und das „Liber compositae medicinae“,<br />
das seit der Druckedition unter dem Namen „causa et curae“ geführt wird. 8 Die Quellenlage dieser<br />
heil- und naturkundlichen Werke ist problematisch, vor allem weil nicht eindeutig geklärt werden<br />
kann, welche der Teile auf ihre Autorenschaft zurückgeführt werden können.<br />
7 Dt. Übersetzung: Von Bingen, Hildegard (1997): Heilkraft der Natur-„Physica“ – Rezepte und Ratschläge für ein gesundes<br />
Leben. Freiburg-Basel-Wien: Herder Verlag.<br />
8 Dt. Übersetzung: Von Bingen, Hildegard (1997): Heilwissen – Von den Ursachen und der Behandlung von Krankheiten. Freiburg-Basel-Wien:<br />
Herder Verlag.<br />
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