Carolo-Wilhelmina - Technische Universität Braunschweig
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CAROLO-WILHELMINA FORSCHUNGSMAGAZIN<br />
DER TECHNISCHEN<br />
UNIVERSITAT<br />
BRAUNSCHWEIG<br />
JAHRGANG XXXVII, HEFT 2/2002<br />
:<br />
Kompakte Rechner für die<br />
Raumfahrt:<br />
Mit der Entwicklung<br />
leistungsfähiger Computersysteme<br />
speziell für<br />
Raumfahrtmissionen<br />
befasst sich eine<br />
Arbeitsgruppe des Instituts<br />
für Datentechnik und<br />
Kommunikationsnetze.<br />
Der Einsatz im Weltraum<br />
stellt besonders hohe<br />
Anforderungen an<br />
solche Rechner.<br />
PRODUKTION NEUER<br />
ANTIBAKTERIELLER<br />
WIRKSTOFFE<br />
HEILENDE FRAUEN IM<br />
18. JAHRHUNDERT<br />
BAUWERKS-<br />
ÜBERWACHUNG<br />
STARKE UND SCHWACHE<br />
BINDUNGEN IN DER<br />
ORGANISCHEN CHEMIE
VON JOCHEN LITTERST<br />
PRÄSIDENT DER TECHNISCHEN<br />
UNIVERSITÄT BRAUNSCHWEIG<br />
Die Datenmanipulationen des Physikers<br />
Jan-Hendrik Schön, ein Träger des<br />
»<strong>Braunschweig</strong> Preises 2001«, veranlassen den<br />
TU-Präsidenten, wissenschaftliches<br />
Fehlverhalten zu thematisieren. Wenn<br />
Fälschungen in der Forschung auch<br />
grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden<br />
könnten, so zeige gerade das »Beispiel Schön«,<br />
dass die wissenschaftliche Selbstkontrolle<br />
funktioniere. Dennoch sollten die leitenden<br />
Wissenschaftler die Diskussion ethischer<br />
Grundsätze intensivieren, um Wiederholungen<br />
verhindern zu helfen.<br />
Wissenschaftliche Unredlichkeit war glücklicherweise<br />
bislang an unserer <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> kein Thema,<br />
das problematisiert werden musste. Wir haben uns vor<br />
einiger Zeit Leitlinien gegeben, wie wir mit Fällen wissenschaftlichen<br />
Fehlverhaltens umgehen wollen – natürlich in der Hoffnung, sie nie<br />
anwenden zu müssen. Nun rückt ein auf den ersten Blick eher externer<br />
Skandal die Frage der Verantwortung und Kontrolle näher in<br />
unser Blickfeld (ohne dass unsere Ethik-Kommission in Aktion treten<br />
müsste): Einem der drei Träger des »<strong>Braunschweig</strong> Preises 2001«<br />
wird vorgeworfen, Daten manipuliert, eventuell sogar erfunden<br />
zu haben.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
DER »FALL SCHÖN«<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
MANIPULATIONEN –<br />
EINE GLAUBWÜRDIG-<br />
KEITSKRISE DER<br />
WISSENSCHAFT<br />
Die drei Wissenschaftler Bertram Batlogg, Jan-Hendrik Schön und<br />
Christian Kloc, bis vor kurzem alle bei den renommierten Bell Labs<br />
beschäftigt, berichteten im Verlauf der letzten Jahre über bahnbrechende<br />
Entdeckungen mit ungeahnten Entwicklungsperspektiven.<br />
Neue Anwendungen mit Milliardenmärkten standen in Aussicht.<br />
Die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft war begeistert<br />
und feierte die Urheber. Bereits 2001 wurde die Gruppe –<br />
und insbesondere Jan-Hendrik Schön – als möglicher Nobelpreis-<br />
Kandidat gehandelt, wissenschaftliche Preise wurden weltweit zuerkannt,<br />
der Direktorenposten an einem Max-Planck-Institut<br />
wurde ihm angetragen.<br />
Bertram Batlogg, der frühere Leiter der Arbeitsgruppe bei Bell<br />
Labs, hatte zwischenzeitlich einen Lehrstuhl an der ETH Zürich erhalten,<br />
Schön arbeitete zeitweise bei Bell Labs, aber auch als Gast<br />
an der <strong>Universität</strong> Konstanz. Die Publikationstätigkeit insbesondere<br />
von Schön stieg in den folgenden Monaten unglaublich an, alle<br />
Veröffentlichungen wurden von höchstrangigen internationalen<br />
wissenschaftlichen Zeitschriften angenommen.<br />
Allerdings regte sich ab etwa Herbst 2001 erste öffentliche Kritik<br />
an einigen Arbeiten. Sicher entstand ein Teil der Kritik durch einen<br />
Keim des bei Erfolg nie ausbleibenden Neides von Kollegen, doch<br />
mehrten sich auch Stimmen, die monierten, dass wichtige Resultate<br />
von anderen Gruppen nicht reproduziert werden konnten, und<br />
selbst Batlogg musste einräumen, dies an seiner neuen Wirkungsstätte<br />
noch nicht erreicht zu haben. Einiges ließ sich mit den an den<br />
Bell Labs gebotenen optimalen experimentellen Bedingungen<br />
begründen, sodass dieser Sachverhalt eher Ungeduld, aber noch<br />
keinen zwingenden Verdacht hervorrief.<br />
Dringender Verdacht unwissenschaftlichen Umgangs mit Messdaten<br />
wurde schließlich geäußert, als in einigen Publikationen augenscheinlich<br />
identische Daten – allerdings mit unterschiedlicher<br />
Skalierung – als Ergebnisse für unterschiedliche Substanzen<br />
beziehungsweise elektronische Bauteile entdeckt wurden.<br />
Auf Drängen der »Scientific Community« wurde nach den sich<br />
häufenden Vorwürfen der Datenmanipulation insbesondere in den<br />
Publikationen Ende 2001 und Anfang 2002 eine Untersuchungs-<br />
1
2 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
kommission eingesetzt, die nun Ende September 2002 einen<br />
Bericht vorgelegt hat, in dem erdrückende Hinweise auf Datenmanipulation<br />
durch Jan-Hendrik Schön gegeben werden. Allen<br />
Koautoren wird bestätigt, nicht beteiligt gewesen zu sein, jedoch<br />
wird die Frage nach einer gestuften Mitverantwortung insbesondere<br />
des »Senior-Wissenschaftlers« aufgeworfen, deren Bewertung<br />
jedoch außerhalb der Aufgabe und Kompetenz der Kommission<br />
gesehen wurde.<br />
Verständlicherweise blieb auch die Beantwortung der Frage nach<br />
der Richtigkeit einzelner Forschungsergebnisse aus, dies könne erst<br />
nach Verifikation durch Reproduktion beziehungsweise eindeutige<br />
Falsifikation der Messreihen geschehen.<br />
Jan-Hendrik Schön hat den Vorwurf der Datenmanipulation in<br />
einigen Fällen zugegeben. Mittlerweile haben alle drei Wissenschaftler<br />
den »<strong>Braunschweig</strong> Preis« zurückgegeben. Jan-Hendrik<br />
Schön ist aber nach wie vor von der Richtigkeit seiner Beobachtungen<br />
überzeugt. Auch Bertram Batlogg glaubt, dass sich durch<br />
intensive Arbeit die wesentlichen beobachteten Phänomene reproduzieren<br />
lassen. Auszuschließen ist dies nicht.<br />
WISSENSCHAFTLICHE<br />
SELBSTKONTROLLE GREIFT<br />
Wissenschaftliches Fehlverhalten gab es schon immer und wird es<br />
immer wieder geben – auch Wissenschaftler sind nicht ohne<br />
menschliche Unzulänglichkeiten. Spektakuläre Fälle sind in den<br />
letzten Jahren vor allem aus der Medizin publik geworden, der Bereich<br />
der Physik wurde bislang als wenig anfällig für derartige Versuchungen<br />
gesehen – vielleicht weil dort seltener direkte wirtschaftliche<br />
Vorteile mit dem wissenschaftlichen Erfolg des einzelnen<br />
Forschers verbunden sind.<br />
Beruhigend ist, dass im »Fall Schön« die Aufklärung im Rahmen<br />
der wissenschaftlichen Selbstkontrolle ausgelöst und mit großer<br />
Offenheit betrieben wurde. Leider wird dies von den Medien und<br />
damit auch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.<br />
Ohne über die persönlichen Beweggründe Jan-Hendrik Schöns zu<br />
spekulieren, sollten wir uns allerdings als »Scientific Community«<br />
mit einer Reihe von Fragen beschäftigen.<br />
Lassen sich derartige Fälle bereits im Vorfeld erkennen und vermeiden?<br />
Wohl nur in beschränktem Maße, absichtliche Täuschung<br />
auf der Basis wissenschaftlichen Expertenwissens ist selbst für<br />
Spezialisten schwer zu erkennen. Ein so genanntes Vieraugenprinzip<br />
lässt sich nicht immer konsequent realisieren, und<br />
erfahrungsgemäß sind derartige Vorgänge nicht immer auf Einzelpersonen<br />
beschränkt.<br />
Wie weit geht die Mitverantwortung der Vorgesetzten, der Mitarbeiter,<br />
der Koautoren der Veröffentlichungen? Wissenschaftliche –<br />
wie jede andere menschliche – Zusammenarbeit bedarf eines hohen<br />
Maßes an gegenseitigem Vertrauen als Grundvoraussetzung. Dies<br />
gilt insbesondere, wenn die kooperierenden Partner in verschiedenen<br />
Orten, heutzutage oft weltweit, angesiedelt sind und damit<br />
nicht in ständigem persönlichen Kontakt stehen und zudem in<br />
verschiedenen Bereichen spezialisiert sind. Andererseits ergeben<br />
gerade diese Konstellationen meist eine intensivere Auseinandersetzung<br />
mit dem Forschungsgegenstand als die Bearbeitung in<br />
einer Gruppe mit eingefahrener, vorgefasster Meinung.<br />
Eine besondere Verantwortung kommt in jedem Fall den leitenden<br />
Wissenschaftlern zu, deren Erfahrung Fehlinterpretationen und<br />
offensichtliche Widersprüche gegen bekanntes Wissen vermeiden<br />
kann. Sie sind auch diejenigen, die Studierende und Nachwuchswissenschaftler<br />
in die Arbeits- und Denkweisen solider Forschung<br />
einführen: Dazu gehört zum Beispiel das genaue Protokollieren des<br />
Vorgehens und die vollständige Darstellung der Ergebnisse, das<br />
Zitieren von Resultaten anderer Wissenschaftler, die Bezug zu den<br />
präsentierten eigenen Arbeiten haben, und so weiter. (Dass derartige<br />
Selbstverständlichkeiten in einem der renommiertesten<br />
Labors der Welt nicht beachtet wurden, ist kaum nachzuvollziehen.<br />
Oder werden vielleicht doch Protokolle der wissenschaftlichen<br />
Öffentlichkeit vorenthalten? Welcher Wirtschaftsbetrieb<br />
lässt sich schon gerne in die Karten schauen?).<br />
WISSENSCHAFT UND ETHIK<br />
Ohne den moralischen Zeigefinger erheben zu wollen, sollten wir<br />
uns fragen, ob wir mit Studierenden und auch im Kollegenkreis die<br />
Diskussion ethischer Grundsätze vernachlässigen, weil wir sie für<br />
selbstverständlich erachten. Diese ethischen Grundsätze müssen<br />
über dem persönlichen Erfolg, über den Erwartungen des Vorgesetzten,<br />
der Firma rangieren. Diesem Anspruch ist vielleicht nicht<br />
jeder gewachsen, wir sollten daher alle Unterstützung gewähren,<br />
damit der Wissenschaftler sich das zutraut. Dies geschieht nicht<br />
durch neue Forderungen und Androhen von Folgen, sondern wir<br />
müssen verdeutlichen, dass es zu guter Wissenschaft gehört, auch<br />
Misserfolge zu akzeptieren, dass negative Resultate zwar weniger<br />
erfreulich, aber dennoch wertvoll sind.<br />
Ich wünsche mir eine rege Diskussion zu diesen Themen.<br />
Es werden sich gerade im laufenden Wintersemester an der TU<br />
Gelegenheiten dazu ergeben, etwa im Rahmen des Naturwissenschaftlich-Philosophischen<br />
Kolloquiums »Irrtum und Fälschung in<br />
der Wissenschaft«. ■<br />
JOCHEN LITTERST<br />
(Prof. Dr. rer. nat.); Jg. 1945; 1965-1971 Physikstudium an der TH München;<br />
1974 Promotion an der TU München; dort 1974 bis 1982 wissenschaftlicher<br />
Assistent, unterbrochen von Gastforscher-Aufenthalten in Moskau,<br />
UdSSR, und Straßburg, Frankreich; 1983 Habilitation (Experimentalphysik);<br />
anschließend Heisenberg-Stipendiat der DFG; Gastprofessuren<br />
in Rio de Janeiro, Brasilien, und Gastwissenschaftler am Argonne National<br />
Laboratory, USA; seit 1989 Professor am Institut für Metallphysik und<br />
Nukleare Festkörperphysik der TU <strong>Braunschweig</strong>; 1994-1999 geschäftsführender<br />
Leiter des Instituts; 1995-1997 Mitglied des Senats, 1997-1999<br />
Vizepräsident, seit 1.10.1999 Präsident der TU <strong>Braunschweig</strong>.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
4 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
14 Henning Hopf | Da sind die Chemiker viel galanter –<br />
über starke und schwache Bindungen<br />
Von Goethes »chemischer Gleichnisrede« in den »Wahlverwandtschaften« ausgehend, führt der<br />
Autor in grundlegende Fragen der Chemie ein, in starke und in schwache Bindungen. Kovalente<br />
Bindungen zählen zu den starken Bindungen und sind die typischen Bindungen der molekularen<br />
Chemie. Die schwachen Bindungen, auch nichtkovalente Bindungen genannt, werden in letzter<br />
Zeit intensiv von der supramolekularen Chemie erforscht. Die Aufgabe der modernen Organischen<br />
Chemie ist es, die starken und die schwachen Bindungen zur Erzeugung bestimmter Funktionen<br />
genau aufeinander abzustimmen, wie es in der Natur seit langem vorbildlich geschieht.<br />
▲ Dreidimensionale Struktur des Enzyms<br />
Glutamyl-tRNA-Reduktase.<br />
NEUES AUS DER<br />
UNTER ANDEREM<br />
MIT BERICHTEN ÜBER:<br />
30 Udo Peil | Bauwerksüberwachung:<br />
Notwendigkeit, Probleme und Möglichkeiten<br />
Der an der TU angesiedelte Sonderforschungsforschungsbereich<br />
(SFB) »Bauwerksüberwachung« beschäftigt sich mit dem Wachstumsmarkt<br />
der Baubranche – der Erneuerung und Erhaltung von<br />
Bauwerken, für die in Deutschland schon jetzt pro Jahr rund 250<br />
Milliarden Euro aufgebracht werden müssten. Ziel des SFB ist es,<br />
zuverlässige Methoden und Strategien zu entwickeln, die die<br />
Sicherheit und Nutzung von Bauwerken langfristig garantieren.<br />
Mitentscheidend dafür ist es, die Messtechnik für mechanische,<br />
physikalische und chemische Anwendungen zu verfeinern, um zu<br />
möglichst präzisen Aussagen über Lebensdauer und mögliche<br />
Schwachstellen der Bauwerke zu gelangen.<br />
06 Dieter Jahn, Jürgen Moser,Wolf-Dieter Schubert, Dirk W. Heinz | Strategien zur<br />
Entwicklung und Produktion neuer antibakterieller Wirkstoffe<br />
▲ Herausragende Eigenschaften<br />
durch ihre Bindungsverhältnisse:<br />
Synthetische Diamanten und aus ihnen<br />
für Anwendungen in der Elektronikindustrie<br />
herausgeschnittene Blöcke.<br />
Neue Strategien gegen Infektionskrankheiten, preisgünstige Vitamine und Enzyme für die Lebens-<br />
mitteltechnologie oder neue Wirkstoffe für Medizin und Landwirtschaft sind nur einige der Herausforderungen<br />
an die moderne Mikrobiologie.An der Schnittstelle von Biochemie, Biotechnologie,<br />
Genetik und Bioinformatik versuchen Mikrobiologen der TU gemeinsam mit Strukturbiologen der<br />
GBF interdisziplinäre Lösungsansätze zu entwickeln. Dabei dient die Biosynthese von Naturfarbstoffen,<br />
etwa Chlorophyll und Häm, als ein Modellsystem.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
58 Bettina Wahrig |<br />
Wissen aus »Großmutters Handkörbchen« –<br />
heilende Frauen im 18. Jahrhundert<br />
Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war es nicht unge-<br />
wöhnlich, dass Frauen ohne akademische Ausbildung<br />
medizinische Behandlungen durchführten. Es gab zahlreiche<br />
kompetente Frauen, die ein handwerklich orientiertes,<br />
empirisches Wissen besaßen, das sie zumeist<br />
durch mündliche Überlieferung erworben hatten. Seit<br />
Mitte des Jahrhunderts wurde unter anderem durch die<br />
Interessenpolitik der studierten Ärzte, die ihre Einnahmen<br />
durch die ungeliebte Konkurrenz gefährdet sahen,<br />
die Heiltätigkeit von Frauen stärker eingeschränkt.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
WELT DER WISSENSCHAFT<br />
▲ Das Mutterkorn – spätestens<br />
ab dem 18. Jahrhundert zur<br />
Beschleunigung der Wehentätigkeit<br />
eingesetzt.<br />
INHALT<br />
Dieter Jahn, Jürgen Moser,Wolf-Dieter Schubert,<br />
Dirk W. Heinz<br />
Strategien zur Entwicklung und Produktion<br />
neuer antibakterieller Wirkstoffe........................06<br />
Henning Hopf<br />
Da sind die Chemiker viel galanter –<br />
über starke und schwache Bindungen ..........................14<br />
Sabine Sonnentag<br />
Arbeit und Erholung – Ein neues Thema für<br />
die Arbeitspsychologie ................................................24<br />
Udo Peil<br />
Bauwerksüberwachung: Notwendigkeit,<br />
Probleme und Möglichkeiten ......................................30<br />
Rainer Tutsch<br />
Industrielle Messtechnik – kein Selbstzweck ..........40<br />
Harald Michalik<br />
TU-Computer für den Weltraumeinsatz................46<br />
Franz Rudolf Keßler<br />
Klimaeinfluss durch CO 2 in der Atmosphäre –<br />
Die Rolle des Treibhauseffektes ....................................52<br />
Bettina Wahrig<br />
Wissen aus »Großmutters Handkörbchen« –<br />
heilende Frauen im 18. Jahrhundert..............................58<br />
Hans-Ulrich Ludewig, Gudrun Fiedler<br />
Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft<br />
im Land <strong>Braunschweig</strong> 1939 bis 1945 ..................64<br />
Joachim Hentze<br />
»Unternehmertum in Unternehmen«<br />
als Instrument der Führung..........................................70<br />
Ulrich Menzel<br />
Ausländische Studierende an der<br />
TU <strong>Braunschweig</strong> ....................................................76<br />
AKTUELLES AUS DER TU<br />
Nachrichten aus der Forschung ....................................82<br />
Gauß-Medaille 2002 verliehen ....................................84<br />
Heinrich-Büssing-Preis ................................................84<br />
Publikationen ............................................................84<br />
Jubiläen ....................................................................85<br />
Personalia ..................................................................86<br />
Nachrufe ....................................................................87<br />
Impressum ................................................................88<br />
5
6 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
STRATEGIEN ZUR ENTWICKLUNG<br />
UND PRODUKTION NEUER<br />
ANTIBAKTERIELLER WIRKSTOFFE<br />
VON DIETER JAHN 1, JÜRGEN MOSER 1, WOLF-DIETER SCHUBERT 2 UND DIRK W. HEINZ 2<br />
Neue Strategien gegen<br />
Infektionskrankheiten,<br />
preisgünstige Vitamine und<br />
Enzyme für die Lebensmitteltechnologie<br />
oder neue<br />
Wirkstoffe für Medizin und<br />
Landwirtschaft sind nur<br />
einige der Herausforderungen<br />
an die moderne<br />
Mikrobiologie. An der<br />
Schnittstelle von Biochemie,<br />
Biotechnologie, Genetik und<br />
Bioinformatik versuchen<br />
Mikrobiologen der TU<br />
gemeinsam mit<br />
Strukturbiologen der GBF<br />
interdisziplinäre Lösungsansätze<br />
zu entwickeln.<br />
Dabei dient die Biosynthese<br />
von Naturfarbstoffen, etwa<br />
Chlorophyll und Häm, als<br />
ein Modellsystem.<br />
1) Institut für Mikrobiologie<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
2) Abteilung Strukturbiologie<br />
der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF), <strong>Braunschweig</strong><br />
ABBILDUNG 1<br />
Dreidimensionale Struktur des Enzyms Glutamyl-tRNA-Reduktase.<br />
Sie sind überall: die Farbstoffe des<br />
Lebens, wie Chlorophyll, Häme,<br />
Vitamin B 12 , ohne diese in der<br />
Chemie auch Tetrapyrrole genannten<br />
Pigmente gäbe es kein Leben auf der Erde.<br />
ABBILDUNG 2<br />
Strukturformel von Häm.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
DIE FARBSTOFFE<br />
DES LEBENS<br />
Die grünen Chlorophylle fungieren in Pflanzen<br />
und Bakterien als Sonnenkollektoren<br />
und ermöglichen die Umwandlung von<br />
Sonnenenergie in chemische Energie und<br />
damit Wachstum und Vermehrung. Von<br />
der dabei gebildeten Biomasse leben zahlreiche<br />
andere Organismen. Unser Blut<br />
wiederum hat seine rote Farbe durch den<br />
Hämanteil des Sauerstofftransportproteins<br />
Hämoglobin. Häme als Bestandteile der<br />
zellulären Kraftwerke erlauben uns aber<br />
auch eine effiziente Energiegewinnung<br />
über die Sauerstoffatmung. Schließlich<br />
sind Häme an vielfältigen enzymatischen<br />
Entgiftungsvorgängen beteiligt. Das rosa<br />
gefärbte Vitamin B 12 ist ebenfalls ein unersetzlicher<br />
Bestandteil menschlicher Biokatalysatoren.<br />
Man findet es deshalb weit<br />
verbreitet als Zusatz zu Lebensmitteln,<br />
etwa in Cornflakes oder Fruchtsäften.<br />
Die Bildung von Farbstoffen<br />
in Bakterien und Menschen<br />
Das allgemeine Vorläufermolekül zur<br />
Bildung aller Tetrapyrrole wird 5-Aminolävulinsäure<br />
(ALA) genannt. Mittels Baukastenprinzip<br />
wird zuerst aus zwei dieser<br />
Moleküle ein Pyrrolring (Fünfring) gebildet,<br />
bevor aus vier Pyrrolen das erste Tetrapyrrol<br />
zusammengefügt wird. So entstehen alle<br />
Tetrapyrrole. Aus diesem ersten Tetrapyrrol<br />
werden anschließend auf unterschiedlichen<br />
Wegen Häme, Chlorophylle, Vitamin B 12<br />
und viele andere Farbstoffe gebildet.<br />
Für uns waren allerdings die beiden unterschiedlichen<br />
Wege zur Bildung des Vorläufermoleküls<br />
ALA von besonderem Interesse.<br />
Es ist seit den Fünfzigerjahren des letzten<br />
Jahrhunderts bekannt, dass Menschen und<br />
Tiere ALA mit nur einem Enzym aus dem<br />
Stoffwechselzwischenprodukt Succinyl-<br />
Coenzym A und der Aminosäure Glycin<br />
bilden. In den Siebziger- und Achtzigerjahren<br />
wurde klar, dass Pflanzen, fast alle<br />
Bakterien und die Archaebakterien einen<br />
ganz anderen, sehr ungewöhnlichen Weg<br />
nutzen.<br />
Ausgangspunkt ist ein Metabolit, der<br />
eigentlich der zellulären Maschinerie zur<br />
Eiweißbildung zugeordnet wird: eine mit<br />
der Aminosäure Glutamat beladene Trans-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
fer-RNA (Glutamyl-tRNA). Über die Jahre<br />
konnten wir gemeinsam mit anderen<br />
Arbeitsgruppen zeigen, dass an dieser ALA-<br />
Bildung zwei Enzyme beteiligt sind. Wir<br />
konnten die Katalysemechanismen dieser<br />
beiden Enzyme aufklären und interessierten<br />
uns anschließend für die atomare Struktur<br />
des initialen Enzyms, genannt GlutamyltRNA-Reduktase.<br />
Farbstoffe und Wirkstoffe<br />
Zentral für unsere Strategie war der ungewöhnliche<br />
Befund, dass Menschen und<br />
Tiere im Vergleich zu Pflanzen und Bakterien<br />
völlig unterschiedliche Ausgangssubstrate<br />
und Biokatalysatoren für die<br />
Bildung ihrer ALA und damit aller ihrer<br />
lebenswichtigen Tetrapyrrole nutzen.<br />
Dieser Unterschied sollte uns den gezielten<br />
Eingriff in die Tetrapyrrolbiosynthese in<br />
Pflanzen und Bakterien ermöglichen, ohne<br />
Mensch und Tier zu beeinflussen. Um diese<br />
Strategie für die Entwicklung neuer Antibiotika<br />
und Herbizide sowie zur Optimierung<br />
der Vitamin-B 12 -Produktion gezielt<br />
zu nutzen, haben wir die atomare Struktur<br />
des initialen Enzyms des bakteriellen und<br />
pflanzlichen Weges, der Glutamyl-tRNA-<br />
Reduktase, bestimmt. Basierend auf der<br />
dreidimensionalen Struktur sollen nun<br />
zielgerichtet neue Hemmstoffe für dieses<br />
Enzym entwickelt werden, die bakterielle<br />
und pflanzliche Tetrapyrrolbildung verhindern,<br />
ohne gleichzeitig die Tetrapyrrolbiosynthese<br />
beim Menschen und Tier zu beeinflussen.<br />
Atomare Struktur eines<br />
Proteins erkennen<br />
Zur Aufklärung der atomaren Struktur eines<br />
Proteins – oder anderer Biomakromoleküle –<br />
stehen prinzipiell zwei verschiedene Methoden<br />
zur Verfügung: die Röntgenstrukturanalyse<br />
und die Kernresonanzspektroskopie<br />
(NMR). Während mittels NMR Strukturinformationen<br />
über kleinere Proteine in<br />
Lösung erhalten werden können, erfordert<br />
die Röntgenstrukturanalyse, die sich für Moleküle<br />
beliebiger Größe eignet, zunächst die<br />
Kristallisation des Proteins. Leider »widersetzen«<br />
sich Proteine häufig den Kristallisationsbemühungen<br />
des Experimentators, sodass<br />
sich dieser Prozess sehr lange hinziehen kann<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
7<br />
DIETER JAHN*<br />
(Prof. Dr. ); Jg. 1959; 1978-1984<br />
Studium der Biologie an der <strong>Universität</strong><br />
Marburg; 1987 Promotion im<br />
Fach Genetik über die Funktion von<br />
Transkriptionsregulatoren aus Krebszellen;<br />
1988-1992 Postdoc an der<br />
Yale University, New Haven, Connecticut,<br />
USA – Untersuchungen zur<br />
Chlorophyll-Bildung in Pflanzen und<br />
Grünalgen; 1994 Habilitation für<br />
das Fach Mikrobiologie an der <strong>Universität</strong><br />
Marburg – Arbeiten zur Genregulation<br />
in Bakterien; 1996-2000<br />
Professor für Biochemie in der Fakultät<br />
für Chemie und Pharmazie der<br />
<strong>Universität</strong> Freiburg – Enzymologie<br />
und Genregulation der Hämbildung<br />
in Bakterien; seit 2000 Professor<br />
für Mikrobiologie an der TU <strong>Braunschweig</strong>.<br />
http://www.tu-bs.de/institute/<br />
mikrobio/jahn/index.htm<br />
* Kontakt:<br />
TU <strong>Braunschweig</strong><br />
Institut für Mikrobiologie<br />
Prof. Dr. Dieter Jahn<br />
Spielmannstr. 7<br />
38106 <strong>Braunschweig</strong><br />
E-mail: d.jahn@tu-braunschweig.de<br />
Tel.: 0531/391-5801
10 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
JÜRGEN MOSER<br />
(Dr.); Jg. 1971; 1991-1996 Studium<br />
der Chemie an der <strong>Universität</strong> Freiburg,<br />
1996-1997 Diplomarbeit im<br />
Fach Biochemie über die Struktur der<br />
Phospholipase C; 1997-2000 Dissertation<br />
über den Katalysemechanismus<br />
der Glutamyl-tRNA-Reduktase;<br />
seit 2000 Akademischer Rat in der<br />
Arbeitsguppe von Prof. Jahn – Struktur-<br />
und Funktionsuntersuchungen<br />
an Enzymen der Hämbildung in Bakterien.<br />
und viel Kreativität erfordert. Durch Beschuss<br />
der Proteinkristalle mit gebündelten<br />
Röntgenstrahlen werden schließlich Beugungsbilder<br />
erzeugt, aus denen die atomare<br />
Struktur der Proteinmoleküle im Kristall<br />
über Umwege »berechnet« werden kann.<br />
Die Glutamyl-tRNA-Reduktase aus dem<br />
extrem thermophilen Archaeon Methanopyrus<br />
kandleri wurde im Komplex mit<br />
Glutamycin, einem synthetischen Substrat-<br />
Analogon, kristallisiert und die Struktur bei<br />
hoher Auflösung mittels Röntgenstrukturanalyse<br />
aufklärt. Das ungewöhnlich V-förmige<br />
Enzym besteht aus drei Domänen,<br />
die über eine lange α-Helix miteinander<br />
verbunden sind (Abb. 1). Das Enzym<br />
wechselwirkt spezifisch mit dem Hemmstoff<br />
Glutamycin über konservierte Aminosäuren<br />
im aktiven Zentrum der zentralen<br />
katalytischen Domäne (Abb. 3). Die Bindung<br />
von Glutamycin an das Enzym erklärt<br />
damit die chemischen Grundlagen der<br />
Substraterkennung und Katalyse.<br />
ABBILDUNG 3<br />
Die Bindung des Inhibitors Glutamycin<br />
im aktiven Zentrum des Enzyms<br />
Glutamyl-tRNA-Reduktase.<br />
NEUE HERBIZIDE UND<br />
ANTIBIOTIKA, PREIS-<br />
GÜNSTIGE VITAMINE<br />
Die Chlorophyllbiosynthese ist bereits ein<br />
erfolgreich genutzter Ansatz für die Entwicklung<br />
von Herbiziden, die eine Oxidase<br />
inhibieren. Allerdings besitzen Mensch und<br />
Tier ein Enzym gleichen Typs für ihre Hämbiosynthese,<br />
sodass längerfristig durchaus<br />
Probleme auftreten können. Wie schon erwähnt,<br />
besitzen aber Mensch und Tier<br />
keine Glutamyl-tRNA-Reduktase. Ausgehend<br />
von der Kenntnis der Bindung von<br />
Glutamycin im aktiven Zentrum der<br />
Glutamyl-tRNA-Reduktase auf atomarer<br />
Ebene ist daher eine gezielte, systematische<br />
chemische Weiterentwicklung dieses<br />
Moleküls geplant. Es wurde bereits in<br />
klinischen Studien gezeigt, dass die gezielte<br />
Inhibition der Hämbiosynthese einiger<br />
pathogener Bakterien, wie zum Beispiel<br />
Salmonellen, zum Verlust ihres pathogenen<br />
Potenzials führt. Allerdings gelingt es anderen<br />
pathogenen Bakterien, einen induzierten<br />
Hämmangel durch Hämaufnahme vom<br />
Wirt auszugleichen. Prinzipiell ist aber eine<br />
zur Herbizidentwicklung analoge Strategie<br />
zur Antibotikaentwicklung denkbar. Sie<br />
bedarf jedoch einer bakterienspezifischen<br />
Modifikation.<br />
Vitamin B 12 wird heute industriell mittels<br />
Bakterien hergestellt. Der limitierende initale<br />
Schritt der Biosynthese aller Tetrapyrrole,<br />
einschließlich des Vitamin B 12 , ist die<br />
Bildung von ALA. Dabei wird in vielen Bakterien<br />
Glutamyl-tRNA-Reduktase durch<br />
Bindung des Endprodukts Häm einem gezielten<br />
proteolytischen Abbau zugeführt. So<br />
wird bei hohem intrazellulären Hämgehalt<br />
die Konzentration des ersten Enzyms des<br />
gesamten Biosyntheseweges gesenkt und<br />
damit der metabole Fluss in den Weg erniedrigt.<br />
Durch Strukturstudien der Glutamyl-tRNA-Reduktase<br />
mit gebundenem<br />
Häm könnten gezielt hämresistente Enzyme<br />
konstruiert werden, die so zur Erhöhung<br />
der Vitamin-B 12 -Produktion in Bakterien<br />
beitragen. In Zusammenarbeit mit der<br />
BASF AG sollen dann die auf diese Weise<br />
verbesserten bakteriellen Vitamin-B 12 -Produzenten<br />
bis zur Produktreife entwickelt<br />
werden.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
INNOVATIVE IDEEN<br />
ZUR WIRKSTOFF-<br />
ENTWICKLUNG<br />
Natürlich ist die Tetrapyrrolbiosynthese nur<br />
ein möglicher Ansatz zur Entwicklung<br />
neuer Wirkstoffe für die Medizin. Angesichts<br />
der alarmierend steigenden Zahlen<br />
multiresistenter Keime – also pathogener<br />
Bakterien, gegen die das heutige Antibiotikarepertoire<br />
versagt – wird intensiv nach<br />
neuen Ansatzpunkten für Therapien gesucht.<br />
Dabei kann man sich die Kenntnis<br />
des gesamten Erbgutes von pathogenen<br />
Bakterien zu Nutze machen.<br />
Dieses Erbgut in Form eines Chromosoms<br />
unterteilt sich in tausende Informationseinheiten,<br />
die Gene genannt werden. Die<br />
meisten Gene enthalten die Information für<br />
Einweiße, die Funktionen als Biokatalysatoren<br />
(Enzyme), Regulatoren, Sensoren,<br />
Oberflächenkomponenten und so weiter erfüllen.<br />
Sie werden aus ökonomischen Gründen<br />
aber nur gebildet, wenn sie gebraucht<br />
werden. Dazu wird eine Abschrift des Gens<br />
gemacht, Boten-RNA genannt, die wiederum<br />
in das eigentliche Protein umgesetzt<br />
wird. Wenn es uns nun gelingt festzustel-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
len, welche Eiweiße ein pathogenes Bakterium<br />
besonders im Falle einer Infektion<br />
bildet, sind wir seiner Infektionsstrategie<br />
auf der Spur. Man kann dies heute mittels<br />
neuer Hochdurchsatzmethoden für fast alle<br />
Eiweiße eines Bakteriums untersuchen.<br />
Nachweisen lassen sich die Bildung der<br />
Boten-RNAs mit der Technologie des Genomics<br />
und die der Eiweiße mit Proteomics.<br />
Beim Genomics werden Teile jedes Gens<br />
eines Organismus auf einem Microchip immobilisiert.<br />
Eine fluoreszierende Abschrift<br />
der Boten-RNA wird daran angelagert. Je<br />
mehr von dieser Boten-RNA gebildet wurde,<br />
also je mehr das jeweilige Gen abgeschrieben<br />
wurde, desto mehr Fluoreszenz<br />
strahlt der entsprechende Chipbereich ab.<br />
Vergleichen wir nun die gesamte Boten-<br />
RNA eines frei lebenden und eines den<br />
Menschen infizierenden Bakteriums, werden<br />
uns die beobachteten Unterschiede in<br />
der Abschrift einzelner Gene über die bakterielle<br />
Infektionsstrategie informieren.<br />
Analog können direkt die gebildeten Proteine<br />
eines frei lebenden und eines den<br />
Menschen infizierenden Bakteriums verglichen<br />
werden. Dazu werden diese über eine<br />
zweidimensionale Gelelektrophorese einer-<br />
ABBILDUNG 5<br />
Genomics-Analyse durch zweidimensionale<br />
Gelelektrophorese.<br />
Jeder Punkt des Gels entspricht<br />
einem Eiweißmolekül des Bakteriums<br />
Pseudomonas aeruginosa.<br />
ABBILDUNG 4<br />
Elektronenmikroskopische Aufnahme des Krankheitserregers<br />
Pseudomonas aeruginosa.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
11<br />
WOLF-DIETER<br />
SCHUBERT<br />
(Dr.); Jg. 1966; 1986-1991 Studium<br />
der Chemie (M.Sc.) an der University<br />
of Cape Town, Südafrika; 1992-1997<br />
Dissertation in Kristallographie (Freie<br />
<strong>Universität</strong> Berlin) über die Struktur<br />
des cyanobakteriellen Photosystems I;<br />
1998 Postdoc am Institute of Bioscience<br />
and Human Technology<br />
(IBHT),Agency of Industrial Science<br />
and Technology,Tsukuba (MITI),<br />
Japan – Arbeiten an pflanzlichen<br />
Lectinen und Aminotransferasen;<br />
seit 1998 Postdoc an der GBF in<br />
<strong>Braunschweig</strong> – Struktur-/Funktionsuntersuchungen<br />
u. a. an bakteriellen<br />
Virulenzfaktoren.
12 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
DIRK W. HEINZ<br />
(Priv.-Doz. Dr.); Jg. 1960; 1980-1986<br />
Studium der Chemie an der <strong>Universität</strong><br />
Freiburg; 1986-1990 Dissertation<br />
in Biochemie (<strong>Universität</strong> Basel<br />
und CIBA-GEIGY AG) über Struktur<br />
und Funktion von Proteaseinhibitoren;<br />
1990-1993 Postdoc an der University<br />
of Oregon, Eugene, USA – Erforschung<br />
der Toleranz von Proteinstrukturenbzw.Aminosäureinsertionen<br />
und -substitutionen; 1993-1998<br />
Habilitand an der <strong>Universität</strong> Freiburg<br />
– Habilitation im Fach Biochemie<br />
über die Struktur der Phospholipasen<br />
C; 1998-2002 Nachwuchsforschergruppenleiter<br />
an der GBF in<br />
<strong>Braunschweig</strong> – Strukturuntersuchungen<br />
an bakteriellen Virulenzfaktoren;<br />
seit Mai 2002 Leiter der Abteilung<br />
Strukturbiologie an der GBF.<br />
ABBILDUNG 6<br />
Eingabemaske der Bioinformatik-Datenbank<br />
PRODORIC (http://prodoric.tu-bs.de).<br />
seits nach ihrer molekularen Masse und andererseits<br />
nach ihrer Ladung getrennt. Identifiziert<br />
werden die Proteine durch eine<br />
massenspektrometrische Analyse der molekularen<br />
Massen von durch Proteaseverdau<br />
erzeugten Fragmenten. Dieses Fragmentierungsmuster<br />
ist einmalig für jedes Eiweiß in<br />
der Natur. Bei dieser Art von Analytik entsteht<br />
durch die Untersuchung an tausenden<br />
von Genen gleichzeitig eine riesige Datenfülle,<br />
die es durch geeignete Bioinformatik-<br />
Werkzeuge zu analysieren gilt.<br />
Wir untersuchen in enger Zusammenarbeit<br />
mit Dr. Lothar Jänsch (GBF) und Dr. Jan<br />
Buer (GBF) mittels Proteomics und Genomics<br />
die Unterschiede zwischen frei lebendem<br />
und Mensch-assoziiertem Pseudomonas<br />
aeruginosa. Dieses Bakterium ist ein typischer<br />
Krankenhauskeim, der immungeschwächte<br />
Menschen befällt und durch<br />
seine Antibiotikaresistenz ein großes Problem<br />
in Kliniken darstellt. Außerdem ist der<br />
Keim eine der Haupttodesursachen von<br />
Menschen mit Mukoviszidose. Unsere ersten<br />
Ergebnisse deuten auf eine starke Beteiligung<br />
des anaeroben Stoffwechsels des<br />
Bakteriums – der ihm ein Überleben ohne<br />
Sauerstoff ermöglicht – bei der Infektion<br />
hin. Da Menschen diese Art Stoffwechsel<br />
nicht besitzen, könnte auch dies ein Ansatzpunkt<br />
zur Entwicklung neuer Antibiotika<br />
sein.<br />
Zur Auswertung und Dokumentation der<br />
gewonnenen Daten sowie deren Integration<br />
in schon vorhandene Literaturdaten<br />
haben wir im Rahmen des Bioinformatik-<br />
Kompetenzzentrums »Intergenomics« die<br />
Datenbank PRODORIC (http://prodoric.<br />
tu-bs.de) entwickelt. Mit ihr ist es möglich,<br />
die gewonnenen Daten in Modelle zellulärer<br />
Regulations- und Stoffwechselvorgänge<br />
umzusetzen. Diese Vorhersagen sollen uns<br />
helfen, mögliche Angriffspunkte für unsere<br />
experimentellen Ansätze zur Wirkstoffentwicklung<br />
zu erkennen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
VOM GEN ZUM PRODUKT<br />
Schließlich müssen Strategien entwickelt<br />
werden, um neu entdeckte Wirkstoffe ökonomisch<br />
und sicher herzustellen. Dabei<br />
sind Fragestellungen der Wahl und Entwicklung<br />
geeigneter Produktionswirte,<br />
Kultivierungs- und Aufschlussverfahren<br />
sowie Reinigungsprinzipien experimentell<br />
und theoretisch zu bearbeiten. Durch den<br />
Sonderforschungsbereich (SFB) 573 »Vom<br />
Gen zum Produkt« unter Leitung von<br />
Professor Dr. Dietmar Christian Hempel,<br />
Institut für Bioverfahrenstechnik, bietet<br />
die TU für diese Aufgaben ein kompetentes<br />
Forum. Die TU-Mikrobiologie will zum<br />
Erfolg des SFB durch die gentechnische<br />
Entwicklung von Bakterien und Pilzen<br />
einen Beitrag leisten. ■<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
LITERATUR<br />
1 Martens, J.-H., Barg, H., Warren, M. J.<br />
& Jahn, D. (2002) Microbial Production<br />
of Vitamin B 12 . Appl. Microbiol. Biotechnol.<br />
58, 275-285.<br />
2 Jahn, D., Hungerer, C. & Troup, B.<br />
(1996) Ungewöhnliche Schritte und<br />
umweltregulierte Gene der bakteriellen<br />
Hämbiosynthese. Naturwissenschaften<br />
83, 389-400.<br />
3 Jahn, D., Verkamp, E. & Söll, D. (1992)<br />
The role of transfer RNA in tetrapyrrole<br />
synthesis. Trends Biol. Sci. 17, 215-219.<br />
4 Moser, J., Lorenz, S., Hubschwerlen, C.,<br />
Rompf, A. & Jahn, D. (1999) Methanopyrus<br />
kandleri glutamyl-tRNA reductase.<br />
J. Biol. Chem. 274, 30679-30685.<br />
5 Moser, J., Schubert, W.-D., Beier, V.,<br />
Bringemeier, I., Jahn, D. & Heinz, D. W.<br />
(2001) V-shaped structure of glutamyltRNA<br />
reductase, the first enzyme of<br />
tRNA-dependent tetrapyrrole biosynthesis.<br />
EMBO J. 20, 6583-6590.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
6 Frankenberg, N., Erskine, P. R., Cooper,<br />
J., Shoolingin-Jordan, P. M., Jahn, D. &<br />
Heinz, D. W. (1999) High resolution<br />
crystal structure of a magnesiumdependent<br />
5-aminolevulinic acid dehydratase.<br />
J. Mol. Biol. 289, 591-602.<br />
7 Schobert, M. & Jahn, D. (2002) Regulation<br />
of heme biosynthesis in nonphototrophic<br />
bacteria. J. Mol. Microbiol.<br />
Biotechnol. 4, 117-124.<br />
8 Heinz, D. & Jahn, D. (2002) Strukturbiologie<br />
zur gerichteten Wirkstoffentwicklung.<br />
CHEManager 11, 14.<br />
9 Frere, F., Schubert, W.-D., Stauffer, F.,<br />
Frankenberg, N., Neier, R., Jahn, D. &<br />
Heinz, D. W. (2002) Structure of<br />
porphobilinogen synthase from Pseudomonas<br />
aeruginosa in complex with 5fluorolevulinic<br />
acid suggests a double<br />
Schiff base mechanism. J. Mol. Biol.<br />
320, 237-247.<br />
10 Krieger, R., Rompf, A., Schobert, M. &<br />
Jahn, D. (2002) The Pseudomonas<br />
aeruginosa hemA promoter is regulated<br />
by Anr, Dnr, NarL and integration host<br />
factor. Mol. Gen. Genet. 267, 409-417.<br />
13
14 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
»DA SIND DIE CHEMIKER VIEL<br />
GALANTER« – ÜBER STARKE<br />
UND SCHWACHE BINDUNGEN<br />
Von Goethes »chemischer Gleichnisrede« in den<br />
»Wahlverwandtschaften« ausgehend, führt der Autor in<br />
grundlegende Fragen der Chemie ein, in starke und in<br />
schwache Bindungen. Kovalente Bindungen zählen zu den<br />
starken Bindungen und sind die typischen Bindungen der<br />
molekularen Chemie. Die schwachen Bindungen, auch<br />
nichtkovalente Bindungen genannt, werden in letzter Zeit<br />
intensiv von der supramolekularen Chemie erforscht. Die<br />
Aufgabe der modernen Organischen Chemie ist es, die starken<br />
und die schwachen Bindungen zur Erzeugung bestimmter<br />
Funktionen genau aufeinander abzustimmen, wie es in der<br />
Natur seit langem vorbildlich geschieht.<br />
VON HENNING HOPF<br />
Institut für Organische Chemie<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong><br />
<strong>Braunschweig</strong><br />
ABBILDUNG 1<br />
Das periodische System der Elemente.<br />
Über die Chemie wird in diesen<br />
Tagen und Jahren manches gesagt<br />
und geschrieben, dass die sie<br />
praktizierenden Wissenschaftler »galant«<br />
seien, wird man darunter nicht finden. Um<br />
auf eine derartige Charakterisierung zu<br />
kommen, muss man fast 200 Jahre zurückgehen,<br />
bis in das Jahr 1809, als Goethe seinen<br />
Roman »Die Wahlverwandtschaften«<br />
veröffentlichte, aus dem das Titelzitat<br />
stammt.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
GOETHES »WAHLVER-<br />
WANDTSCHAFTEN« =<br />
EIN BINDUNGSROMAN?<br />
Die »Wahlverwandtschaften« waren ursprünglich<br />
als Novelleneinlage für den<br />
»Wilhelm Meister« gedacht, und so wie<br />
dieser der Bildungsroman par excellence<br />
ist, könnte man jenen als prototypischen<br />
Bindungsroman bezeichnen.<br />
Die Behauptung »Wahlverwandtschaften<br />
= Bindungsroman« wird besonders vom<br />
vierten Kapitel des ersten Teils des Romans<br />
gestützt, in dem Goethe in einer »chemischen<br />
Gleichnisrede« das Programm des<br />
Buchs vorstellt: »Wenn Sie glauben, dass es<br />
nicht pedantisch aussieht, so kann ich wohl<br />
in der Zeichensprache mich kürzlich zusammenfassen.<br />
Denken Sie sich ein A, das<br />
mit einem B innig verbunden ist, durch<br />
viele Mittel und durch manche Gewalt<br />
nicht von ihm zu trennen, denken Sie sich<br />
ein C, das sich ebenso zu einem D verhält;<br />
bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung;<br />
A wird sich zu D, C zu B werfen,<br />
ohne dass man sagen kann, wer das andere<br />
zuerst verlassen, wer sich mit dem andern<br />
zuerst wieder verbunden hat.«<br />
Eduard, eine der Hauptfiguren des Werks,<br />
setzt sich mit B gleich, Charlotte, seine<br />
Frau, mit A, C ist der so genannte Hauptmann,<br />
ein Soldat und Chemiker, D Ottilie,<br />
Charlottes Nichte. B glaubt, dass C ihm A<br />
entziehen und diese zur Freundin von D<br />
machen wird. Er ist von dieser Entwicklung<br />
überzeugt, weil der Hauptmann ihm mit<br />
der Reaktion Kalkstein, das ist chemisch<br />
Calciumcarbonat, mit Schwefelsäure zu<br />
Calciumsulfat (Gips), Kohlendioxid und<br />
Wasser ein chemisches Analogon liefert,<br />
dessen Überzeugungskraft er sich nicht entziehen<br />
kann. Dass es dann ganz anders<br />
kommt – davon handeln in einer Sprache,<br />
die alles andere als pedantisch ist, die<br />
»Wahlverwandtschaften«.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
DREI ARTEN<br />
STARKER BINDUNGEN<br />
Chemiker nennen eine Reaktion wie die<br />
obige eine Säure-Base-Reaktion und die Bindungen,<br />
die dabei geknüpft und gelöst werden,<br />
starke Bindungen, in diesem Fall »ionische<br />
Bindungen«. Damit sind wir endgültig<br />
bei der Chemie angelangt – das Wort »Wahlverwandtschaften«<br />
stammt übrigens nicht<br />
von Goethe, sondern von dem schwedischen<br />
Chemiker Torbern Bergman, der es bereits<br />
1775 in einer frühen »Bindungstheorie« verwandte.<br />
Zwischen wem sollen starke Bindungen geknüpft<br />
werden? Gibt es noch andere starke<br />
Bindungen als die erwähnten ionischen? Das<br />
sollen unsere ersten Fragen sein.<br />
Im Prinzip können alle der rund hundert<br />
Elemente, die wir heute kennen und die sich<br />
zu einem so genannten periodischen System<br />
der Elemente ordnen lassen, miteinander<br />
Bindungen eingehen. Abbildung 1 wurde im<br />
Foyer der chemischen Institute der TU<br />
<strong>Braunschweig</strong> am Hagenring aufgenommen,<br />
in dem die meisten Elemente in natura besichtigt<br />
werden können.<br />
Die Elemente lassen sich grob in zwei große<br />
Gruppen einteilen: die Metalle, in der Zahl<br />
weit überwiegend und auf den ersten Blick<br />
meistens an ihrem Glanz zu erkennen, und<br />
die Nichtmetalle – unter ihnen die Edelgase,<br />
die Halogene und so wichtige Elemente wie<br />
Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel, Phosphor,<br />
Wasserstoff und Kohlenstoff, die eigentlichen<br />
Elemente des Lebens.<br />
ABBILDUNG 2<br />
Synthetische Diamanten und aus ihnen für<br />
Anwendungen in der Elektronikindustrie<br />
herausgeschnittene Blöcke.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
15<br />
HENNING HOPF<br />
(Prof. Dr. Dr. h.c.); Jg. 1940;<br />
Geschäftsführender Leiter des<br />
TU-Instituts für Organische Chemie;<br />
Arbeitsgebiete: Organische<br />
Synthese, Stereochemie, Kohlenwasserstoffchemie,Reaktionsmechanistik,<br />
neue Materialien;<br />
für seine Arbeiten erhielt Professor<br />
Hopf zahlreiche Preise, darunter den<br />
Gay-Lussac/ Alexander-von-Humboldt-Preis,<br />
den Max-Planck-Preis,<br />
die Adolf-von-Baeyer-Denkmünze<br />
sowie weitere in- und ausländische<br />
Auszeichnungen.
16 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 3<br />
Computererzeugtes Bindungsmodell<br />
des Diamanten.<br />
Diese Bausteine der materiellen Welt gehen<br />
im Wesentlichen drei Arten von starken<br />
Bindungen ein – die uns bereits aus den<br />
»Wahlverwandtschaften« bekannten ionischen<br />
Bindungen, die kovalenten und die<br />
metallischen Bindungen:<br />
a) ionische Bindungen:<br />
Beispiel: Na + Cl ----> Na + Cl - ;<br />
b) kovalente Bindungen:<br />
Beispiel: 4H + C ----> CH 4 ;<br />
c) metallische Bindungen:<br />
Beispiele: Cu, Fe, Au, Ag.<br />
ABBILDUNG 4<br />
Die Kohlenstoffmodifikation Graphit<br />
in Flockenform.<br />
Ionische Bindungen findet man vorwiegend<br />
zwischen den Elementen links im periodischen<br />
System und solchen, die ganz rechts<br />
stehen. Das liegt daran, dass die links stehenden<br />
Elemente leicht Elektronen abgeben,<br />
die von den rechts angeordneten Elementen<br />
gerne aufgenommen werden. Auf<br />
diese Weise entstehen geladene Teilchen,<br />
Ionen, die sich aufgrund der Coulomb’schen<br />
Wechselwirkung anziehen: Gegensätze<br />
ziehen sich an.<br />
Ganz anders bei den kovalenten Bindungen,<br />
die bevorzugt von »mittelständigen«<br />
Elementen ausgebildet werden. Hier geben<br />
beide Partner ihre Elektronen in eine<br />
gemeinsame chemische Bindung: Gleich<br />
und gleich gesellt sich gern, ist hier das<br />
Motto, wieder ist eine starke chemische<br />
Bindung das Resultat.<br />
Im Falle der metallischen Bindung schließlich<br />
können die Elektronen nicht länger<br />
einzelnen Metallatomzentren zugeordnet<br />
werden, sondern verteilen sich leicht als<br />
bewegliches Elektronengas zwischen den<br />
positiv geladenen Metallrümpfen. Metalle<br />
leiten aus diesem Grund den elektrischen<br />
Strom.<br />
Kohlenstoff –<br />
ein chemischer Alleskönner<br />
Die kovalenten Bindungen sind die typischen<br />
Bindungen der Organischen Chemie,<br />
die ionischen Bindungen halten zahllose anorganische<br />
Verbindungen zusammen. Der<br />
mit Abstand wichtigste Bindungspartner in<br />
kovalenten Bindungen ist der Kohlenstoff.<br />
ABBILDUNG 5<br />
Computererzeugtes Bindungsmodell des Graphits.<br />
Die zentrale Rolle, die dieses Element<br />
spielt – definitionsgemäß ist die Organische<br />
Chemie die Chemie der Kohlenstoffverbindungen<br />
–, ist bereits in der zentralen<br />
Stellung dieses Elements im periodischen<br />
System der Elemente vorgegeben. Diese<br />
Stellung beruht auf der Elektronenkonfiguration<br />
des Kohlenstoffs, die wiederum<br />
Ursache der enormen strukturellen Vielfalt<br />
organischer Verbindungen ist, von denen<br />
heute mehr als 18 Millionen bekannt sind.<br />
Für Kohlenstoff waren bis vor kurzem<br />
zwei Modifikationen bekannt: Diamant und<br />
Graphit. Diamant ist eines der ungewöhnlichsten<br />
Materialien, das wir kennen: Er ist<br />
extrem hart – das griechische Wort diamant<br />
bedeutet unbezwingbar –, hat<br />
optische Eigenschaften, die die aller Gläser<br />
übertreffen, leitet vorzüglich Wärme und<br />
vieles anderes mehr – kein Wunder, dass er<br />
seit jeher hoch geschätzt und begehrt ist.<br />
Im Gegensatz zum gleichfalls schon immer<br />
attraktiven Gold, dem edelsten der Metalle,<br />
ist es allerdings den Chemikern gelungen,<br />
ihn zu synthetisieren (Abb. 2).<br />
Synthesediamanten werden heute für<br />
Anwendungen in der Elektronikindustrie,<br />
dem Maschinenbau, der Werkzeug- und<br />
Bohrtechnik, der Chirurgie und für zahllose<br />
andere Zwecke in großen Mengen hergestellt.<br />
Diese herausragenden Eigenschaften<br />
sind eine Folge der Bindungsverhältnisse im<br />
Diamanten (Abb. 3).<br />
Diamant bildet ein völlig regelmäßiges,<br />
unendliches dreidimensionales Netzwerk,<br />
ein Gitter (»Diamantgitter«) aus lauter<br />
Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen.<br />
Will man einen Diamanten zersplittern<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
oder pulverisieren, so muss dieses Netzwerk<br />
zerstört werden. Da schon die einzelnen<br />
C-C-Bindungen sehr stark sind, gelingt<br />
das nicht.<br />
Graphit unterscheidet sich vom Diamanten<br />
wie die Nacht vom Tage: Er ist schwarz<br />
(Abb. 4), zeigt metallischen Glanz, leitet<br />
den elektrischen Strom, ist weich – bleistiftminenweich,<br />
ist doch das »Blei« in diesem<br />
Schreibgerät tatsächlich Graphit.<br />
Dennoch: Auch hier besteht wieder ein<br />
deutlich ausgeprägter Zusammenhang zwischen<br />
Eigenschaften und Bindungsverhältnissen<br />
(s. Abb. 5).<br />
Graphit besteht aus Schichten, in denen<br />
die Kohlenstoffatome durch starke, kovalente<br />
Bindungen zusammengehalten werden;<br />
dabei treten in diesem Fall neben Einfach-<br />
auch Doppelbindungen auf. Der Zusammenhalt<br />
der Schichten wird durch<br />
schwache, nichtkovalente Bindungen verursacht,<br />
einen Bindungstyp, von dem noch<br />
die Rede sein wird.<br />
ABBILDUNG 7<br />
Der Benzolring –<br />
eine chemische Ikone.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 6<br />
Fulleren C 60 : eine kugelförmige<br />
Kohlenstoffmodifikation.<br />
Dass Kohlenstoff wirklich ein chemischer<br />
Alleskönner ist, der nicht nur glasklar und<br />
tiefschwarz, stark und schwach sein, sondern<br />
auch topologisch noch phantastische<br />
neue Möglichkeiten aufweisen kann, wissen<br />
wir seit 1989, als eine weitere Modifikation<br />
entdeckt wurde, die so genannte<br />
Fullerenform.<br />
Fullerene sind kugelförmige Kohlenstoffvarianten<br />
– zu dem unendlichen Netzwerk des<br />
Diamanten und den Ebenen des Graphits ist<br />
die Kugel als dritte geometrische Form getreten<br />
(Abb. 6). Namenspatron für diese neue<br />
Kohlenstoffvariante war der amerikanische<br />
Architekt und Erfinder Buckminster Fuller,<br />
der sich insbesondere mit der Konstruktion<br />
so genannter geodäsischer Dome beschäftigt<br />
hat. Die Fullerene sind molekulare Ausgaben<br />
der Kugelgebäude Fullers.<br />
Die Fullerenforschung hat in den letzten<br />
20 Jahren einen beispiellosen Aufschwung<br />
erlebt und große Teile der Chemie nachhaltig<br />
beeinflusst. Dabei wurden in den letzten<br />
Jahren auch noch röhrenförmige Kohlenstoffvarianten<br />
entdeckt, die so genannten<br />
Kohlenstoffnanoröhren, die formal durch<br />
Aufwickeln von Graphitschichten gebildet<br />
werden. Manchmal sind diese Röhrchen<br />
durch von den Fullerenen abgeleitete Halbkugeln<br />
an den Enden verschlossen. Der<br />
Hohlraum der Fullerene wird inzwischen<br />
als molekularer Container genutzt, in den<br />
andere Moleküle und Atome eingeschlossen<br />
werden können; Fullerene und Nano-<br />
ABBILDUNG 8<br />
Die 217 möglichen Kombinationen<br />
von sechs Kohlenstoff- und sechs<br />
Wasserstoffatomen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
röhren erfreuen sich aufgrund ihrer ungewöhnlichen<br />
strukturellen und elektronischen<br />
Eigenschaften überdies des großen<br />
Interesses von Physikern und Materialwissenschaflern.<br />
Kugelförmige Gebilde sind<br />
übrigens in der Natur nicht unbekannt, wie<br />
etwa das Kieselskelett der Radiolarien oder<br />
Strahlentierchen zeigt, die unter anderem<br />
Häckel in seinem Werk »Die Welträtsel« gezeichnet<br />
und beschrieben hat.<br />
Nicht nur auf der Erde,<br />
auch im Kosmos<br />
Nachdem wir den Kohlenstoff in seinen<br />
Erscheinungsformen kennen gelernt haben,<br />
wollen wir einen Blick auf die Verbindungen<br />
werfen, die aus ihm aufgebaut werden<br />
können. Dieses Bauen, Synthetisieren, ist<br />
das Projekt der Organischen Chemie, die<br />
mittlerweile – wie bereits erwähnt – bei<br />
über 18 Millionen unterschiedlichen, aber<br />
genauestens bekannten Strukturen angekommen<br />
ist.<br />
Die Vielfalt von C-C-Verknüpfungstypen<br />
auf der Erde und im Kosmos ist überwältigend<br />
und grenzenlos. Alle Stoffe, aus denen<br />
lebende Systeme bestehen – Pflanzen, Tiere,<br />
wir selbst –, bauen das Gerüst der jeweiligen<br />
Substanzen aus Kohlenstoffketten und<br />
-ringen auf.<br />
Das Problem der strukturellen Komplexität<br />
sei an zwei recht einfachen Beispielen<br />
näher erläutert.<br />
Das in der Öffentlichkeit bekannteste graphische<br />
Symbol für die Chemie ist das regelmäßige<br />
Sechseck des Benzols (Abb. 7);<br />
die Summenformel der Substanz lautet<br />
C 6 H 6 , das heißt, es werden zum Aufbau<br />
der Substanz sechs Kohlenstoffatome<br />
17
18 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 9<br />
Zahl der gesättigten Kohlenwasserstoffe, die bis zu<br />
20 Kohlenstoffatome enthalten.<br />
ABBILDUNG 10<br />
Eine kleine Auswahl interstellarer, durch kovalente<br />
Bindungen zusammengehaltener Moleküle.<br />
benötigt, die durch starke kovalente Bindungen<br />
ringförmig miteinander verknüpft<br />
sind, und sechs Wasserstoffatome, die diesen<br />
Ring absättigen.<br />
Fragt man jedoch nach der maximal möglichen<br />
Anzahl der molekularen Bauwerke,<br />
die sich mit diesen beiden Typen von »Ziegeln«<br />
errichten lassen, erkennt man rasch,<br />
dass es noch viele andere Verknüpfungspläne<br />
geben muss. Tatsächlich existieren insgesamt<br />
– wie sich mithilfe der Graphentheorie<br />
zeigen lässt und bei Einhaltung der Spielregel<br />
»Kohlenstoff ist vier-, Wasserstoff ist<br />
einwertig« – 217 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten,<br />
die eine Fülle chemisch<br />
und strukturell interessanter Strukturen<br />
repräsentieren.<br />
Viele der in Abbildung 8 gezeigten Kombinationen<br />
haben wir und andere Gruppen in<br />
den letzten Jahrzehnten herstellen können,<br />
und viele dieser Verbindungen sind wichtige<br />
Referenzsubstanzen für strukturelle,<br />
spektroskopische und chemische Untersuchungen<br />
geworden. Mit dieser Anzahl von<br />
Kohlenstoffatomen wird ein Komplexitätsgrad<br />
erreicht, der es erlaubt, zahlreiche der<br />
grundlegend wichtigen Probleme der Organischen<br />
Chemie anzusprechen, gleichgültig<br />
ob es sich dabei um Phänomene wie Aromatizität<br />
und Antiaromatizität, Kreuz- und<br />
Linearkonjugation, Ringspannung und Reaktivität<br />
oder anderes mehr handelt.<br />
Das zweite Beispiel ist weniger grundlagenforschungsorientiert,<br />
sondern entstammt –<br />
wenigstens partiell – dem Alltag, in dem gesättigte<br />
Kohlenwasserstoffe eine überaus<br />
wichtige Rolle spielen: sei es das Methan<br />
oder Ethan des Erdgases, das Butan des<br />
Gasfeuerzeugs, das Benzin im Auto- beziehungsweise<br />
das Kerosin im Flugzeugtank<br />
oder das Erdöl als Ausgangsmaterial der<br />
chemischen Industrie. Die Summenformel<br />
für diese Substanzen lautet C n H n+2 ; dabei<br />
ist n eine Laufzahl, die mit 1 beginnend im<br />
Prinzip beliebig groß werden kann. Wir<br />
wollen diese Zahl hier bei 20 begrenzen<br />
und uns fragen, wie groß die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten<br />
(= molekulare<br />
Grundrisse) ist: Abbildung 9 gibt die Antwort.<br />
Schon nach kurzer Zeit – beim Überschreiten<br />
von nur rund einem Dutzend<br />
Kohlenstoffatomen – erreicht man eine<br />
atemberaubende Vielfalt, die bei n = 20<br />
bereits die Zahl von drei Millionen Kombinationen<br />
mühelos überschreitet. Die überwiegende<br />
Mehrzahl dieser Substanzen wird<br />
nie hergestellt werden. Genauso sicher ist<br />
aber auch, dass das Methodenarsenal, das<br />
dem Chemiker heute zur Verfügung steht,<br />
ausreicht, jede dieser Kombinationen zu<br />
synthetisieren – sollte aus irgendeinem<br />
Grund Anlass dazu bestehen.<br />
Starke Bindungskräfte sind auch dort vonnöten,<br />
wo extremste äußere Bedingungen<br />
herrschen, etwa im interstellaren Raum, in<br />
dem zwar organische Verbindungen (auch<br />
hoch aktive) kaum die Chance haben, auf<br />
einen anderen Reaktionspartner zu treffen,<br />
in dem sie aber zum Beispiel ungehinderter<br />
Strahlenbelastung ausgesetzt sind. Eine<br />
kleine Auswahl von Substanzen, die in den<br />
letzten Jahren als Bestandteil der interstellaren<br />
Materie durch Radioastronomie nachgewiesen<br />
wurden, fasst Abbildung 10 zusammen.<br />
Neben C-C-Einfach- und Mehrfachbindungen<br />
zwischen Kohlenstoffatomen spielen<br />
hier auch kovalente Bindungen zwischen<br />
Heteroatomen (Sauerstoff, Stickstoff)<br />
und zwischen Kohlenstoffatomen und Heteroatomen<br />
eine Rolle. Hoch ungesättigte<br />
interstellare Verbindungen wie Cyanacetylen,<br />
Dicyanacetylen oder Cyandiacetylen<br />
lassen sich auch, wie wir haben zeigen können,<br />
mit Gewinn in der organischen Synthese<br />
»auf der Erde« nutzen. Auch hier ist<br />
also die Natur wieder die große »Anregerin«,<br />
nur beschränkt sich dieser Begriff<br />
nicht mehr ausschließlich auf unseren Planeten.<br />
Es gibt überdies experimentelle Belege<br />
für eine Verknüpfung interstellarer<br />
organischer Moleküle mit lebenswichtigen<br />
Biomolekülen, wie dem Grundkörper des<br />
Blatt- beziehungsweise des Blutfarbstoffs.<br />
Damit ist nicht gesagt, dass das Leben auf<br />
der Erde aus dem Weltraum importiert worden<br />
ist (so genannter Panspermismus), aber<br />
ausgeschlossen werden kann es auch nicht.<br />
SCHWACHE BINDUNGEN –<br />
LANGE VERNACHLÄSSIGT<br />
Den schwachen Bindungen, obwohl schon<br />
lange bekannt, wandten sich die Chemiker<br />
erst in neuerer Zeit in immer stärkerem<br />
Maße zu. Ursache war der kometenhafte<br />
Aufstieg der »Supramolekularen Chemie«.<br />
Ein Vergleich dieses Gebietes mit der klassischen,<br />
der molekularen Chemie ergibt:<br />
»Kovalente Bindungen sind starke Bindungen.<br />
Die Chemie, die auf ihnen beruht,<br />
heißt MOLEKULARE CHEMIE. Kovalente<br />
Bindungen sind für die Primärstruktur, das<br />
Skelett organischer Verbindungen, verantwortlich.<br />
Schwache Bindungen heißen häufig<br />
auch nichtkovalente Bindungen. Die<br />
Chemie, die auf ihnen beruht, heißt SUPRA-<br />
MOLEKULARE CHEMIE. Nichtkovalente<br />
Bindungen sind für höhere Strukturen organischer<br />
Verbindungen verantwortlich (Sekundär-,<br />
Tertiärstruktur) und haben einen<br />
starken Einfluss auf deren Funktion. Die<br />
wichtigsten nichtkovalenten Bindungen<br />
sind:<br />
a) Coulomb-Wechselwirkungen (Ion-Ion,<br />
Ion-Dipol, Dipol-Dipol u.a.m.),<br />
b) Wasserstoffbrücken,<br />
c) van der Waals-Kräfte.«<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
ABBILDUNG 11<br />
Wasserstoffbrücken im Gitter eines<br />
Eiskristalls.<br />
Zu den grundlegenden Bindungstypen der<br />
Supramolekularen Chemie zählt die Wasserstoffbrückenbindung,<br />
die die chemischen<br />
und physikalischen Eigenschaften<br />
von so einfachen Molekülen wie Wasser<br />
ebenso bestimmt wie die komplexer Biomoleküle<br />
(s. u.). Als sehr kleines, nur dreiatomiges<br />
Molekül müsste H 2 O eigentlich bei<br />
Raumtemperatur ein Gas sein – tatsächlich<br />
ist es eine sehr hoch siedende Flüssigkeit,<br />
von hoher Viskosität, hoher Oberflächenspannung,<br />
ungewöhnlichem Schmelzverhalten<br />
und so weiter. Ursache vieler dieser<br />
Eigenschaften sind zu einem beträchtlichen<br />
Maße die Wasserstoffbrücken, die zu einer<br />
Vernetzung der Wassermoleküle führen (gepunktete<br />
Linien), wie sich besonders deutlich<br />
an Eiskristallen erkennen lässt (Abb. 11).<br />
ABBILDUNG 13<br />
Das sieben α-Helices enthaltende Bacteriorhodopsin.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Es ist durchaus eine Ähnlichkeit mit dem<br />
oben vorgestellten Diamantgitter zu erkennen<br />
– nur sind die Gitterkräfte in diesem<br />
Falle wesentlich schwächer. Das Kristallgitter<br />
bricht schon bei null Grad Celsius,<br />
beim Schmelzen des Eises, zusammen.<br />
Überragende Rolle<br />
der Wasserstoffbrücken<br />
Wasserstoffbrücken spielen in der belebten<br />
Natur eine überragende Rolle: beim Aufbau<br />
vieler natürlicher Verbindungen und Materialien,<br />
ihrer Strukturierung, bei der Aufbewahrung<br />
und Weitergabe von Information,<br />
bei der Erzeugung von Spezifität in chemischen<br />
Reaktionen (z. B. in Enzymreaktionen).<br />
Eine Auswahl wichtiger Wasserstoffbrücken<br />
determinierter Strukturen soll dieses<br />
illustrieren.<br />
Abbildung 12 zeigt eine so genannte<br />
α-Helix, ein schraubenförmiges Strukturelement,<br />
das in der Natur weit verbreitet<br />
ist. Links und in der Mitte erkennen wir das<br />
durch kovalente Bindungen gebildete Skelett<br />
der α-Helix, das wären wieder die starken<br />
Bindungen, rechts auch die Wasser-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
stoffbrücken, die zur Bildung der Schraubenstruktur<br />
und ihrer Stabilität entscheidend<br />
beitragen. α-Helices findet man in<br />
vielen Eiweißen – so im Haar –, aber auch<br />
als Teilstrukturen der Enzyme.<br />
Im stufenweisen Aufbau komplexer Biomoleküle<br />
können mithilfe des Bauelements<br />
α-Helix zunehmend komplizierte Verbindungen<br />
aufgebaut werden. So zeigt Abbildung<br />
13 einen Ausschnitt aus dem so genannten<br />
Bacteriorhodopsin, einem Chromoprotein,<br />
das neben dem Photosynthesesystem<br />
der grünen Pflanzen das zweite in<br />
der Natur bekannte molekulare System ist,<br />
das Sonnenenergie in andere Energieformen<br />
umzuwandeln vermag. In der Abbildung<br />
können wir insgesamt sieben Helices<br />
erkennen, die dazu dienen, ein Molekül<br />
Vitamin A-Aldehyd zu umhüllen. Das Vitamin<br />
fungiert in diesem komplexen System<br />
als molekularer Schalter, es ist Baustein<br />
einer Bionanotechnologie.<br />
Die nächste Abbildung (Abb. 14) zeigt<br />
einen Ausschnitt aus einer biologischen<br />
Bänderstruktur, einem so genannten β-Faltblatt.<br />
Hier werden Eiweißketten durch<br />
Wasserstoffbrücken so zusammengehalten,<br />
dass eine ausgedehnte Blattstruktur<br />
ABBILDUNG 12<br />
Die α-Helix, ein komplexes<br />
Bauelement vieler Naturstoffe.<br />
ABBILDUNG 14<br />
Ein β-Faltblatt, wie es in der Seide vorkommt.<br />
19
20 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
entsteht. β-Faltblätter sind beispielsweise in<br />
der Seide enthalten und bestimmen deren<br />
Eigenschaften mit; sie werden beim Kochen<br />
zerstört – deshalb der Hinweis auf das handwarme<br />
Waschen von Kleidungsstücken aus<br />
diesem Material.<br />
Über die Doppelhelix der Erbsubstanz<br />
DNS ist inzwischen so viel gesagt und geschrieben<br />
worden, dass an dieser Stelle einige<br />
Sätze und zwei Abbildungen über dieses<br />
grundlegende Biopolymer genügen<br />
müssen. Die so genannte Basenpaarung<br />
(Abb. 15), die Voraussetzung für den Leseund<br />
Kopierprozess ist, beruht auf Wasserstoffbrücken,<br />
über deren genaue Natur sich<br />
Watson und Crick zunächst keineswegs im<br />
Klaren waren.<br />
Auch hier erkennt man wieder ein Aufbauprinzip<br />
– aus vergleichsweise einfachen<br />
Strukturen entstehen immer kompliziertere<br />
molekulare Arrangements. Abbildung 16<br />
zeigt einen dreilagigen DNS-Ausschnitt, in<br />
dem wir zwei »schwachen Bindungstypen«<br />
wieder begegnen, die wir bereits kennen:<br />
die Wasserstoffbrücken (gepunktete Linie<br />
im Zentrum des Moleküls) und die Wechselwirkungen<br />
zwischen den übereinander<br />
liegenden Basenpaaren, die an die lagige<br />
Struktur im Graphit erinnern. In der Tat<br />
unterscheidet sich der Schichtabstand in<br />
beiden Strukturen kaum (er beträgt rund<br />
3.4 Å).<br />
Nachdem die Bauprinzipien für Sekundär-,<br />
Tertiär- und andere Überstrukturen in der<br />
Natur einmal erkannt waren, wurden diese<br />
systematisch auf artifizielle Systeme über-<br />
ABBILDUNG 16<br />
Ein größerer Ausschnitt aus dem DNS-Molekül.<br />
ABBILDUNG 15<br />
Wasserstoffbrücken im DNS-Molekül: die Paarung der Basen Thymin und Adenin.<br />
tragen. Diese sind ein Teilgebiet der Supramolekularen<br />
Chemie, das sich derzeit mit<br />
sehr großer Geschwindigkeit entwickelt. Es<br />
gibt mittlerweile zahllose »künstliche« Spriralen,<br />
deren konstituierende Elemente<br />
nicht nur von Wasserstoffbrücken zusammengehalten<br />
werden, sondern zum Beispiel<br />
auch Wechselwirkungen von Metallatomen<br />
mit organischen Verbindungen<br />
(Ionen-Dipol-Wechselwirkungen) nutzen;<br />
Abbildung 17 zeigt eine kleine Auswahl<br />
synthetischer Helixstrukturen.<br />
Auch Röhrenstrukturen (Nanoröhren<br />
s. o.) konnten gezielt aus cyclischen Peptiden<br />
hergestellt werden, wie es besonders<br />
schön Abbildung 18 in Drauf- und Seitenansicht<br />
zeigt. Wie im Falle der Kohlenstoff-<br />
röhren bieten sich auch diese »Bioröhren«<br />
für Transportprozesse an. Selbst so komplexe<br />
Bausteine wie ganze DNS-Moleküle<br />
konnten inzwischen zur gezielten Konstruktion<br />
regulärer Nanostrukturen verwendet<br />
werden; dabei wurde wiederum<br />
das Prinzip der auf dem Wirken schwacher<br />
Bindungskräfte beruhenden Selbstorganisation<br />
genutzt.<br />
ABBILDUNG 17<br />
Supramolekulare Chemie:<br />
synthetische Helixstrukturen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Die »molekulare Maschine«<br />
Die bislang vorgestellten Beispiele mögen<br />
den Eindruck von der Konstruktion relativ<br />
statischer molekularer Objekte vermitteln.<br />
Dem ist jedoch nicht so. Weder sind Moleküle<br />
»von Natur aus« starr (starr sind allenfalls<br />
unsere Vorstellungen über sie, die<br />
ganz wesentlich von starren (mechanischen)<br />
Molekülmodellen geprägt sind),<br />
noch beschränkt sich die Supramolekulare<br />
Chemie lediglich auf die Konstruktion komplizierter<br />
Strukturen. Im Hintergrund steht<br />
immer – wie auch bei den meisten Biomolekülen<br />
– die Frage nach der Funktion. Ein<br />
»funktionierendes« komplexes organisches<br />
Molekül, das seinen Zusammenhalt dem<br />
gemeinsamen Wirken starker und schwacher<br />
Bindungen verdankt, sei abschließend<br />
mit einem Sensor für das wichtige Biomolekül<br />
Adenosintriphosphat (ATP) vorgestellt.<br />
Diese »molekulare Maschine« hat<br />
einer der Begründer der Supramolekularen<br />
Chemie, Jean-Marie Lehn aus Straßburg,<br />
konstruiert.<br />
ABBILDUNG 18<br />
Supramolekulare Chemie:<br />
Nanoröhren aus Cyclopeptiden.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 19<br />
Supramolekulare Chemie: ein ATP-Sensor.<br />
Basis des Moleküls ist ein großes Ringmolekül<br />
(Abb. 19), in dem vier positiv<br />
geladene Stickstoffatome zu erkennen sind.<br />
Auf diese vier Zentren senken sich vier Sauerstoffatome<br />
des Phosphatteils des zu detektierenden<br />
ATP-Moleküls ab, und es<br />
kommt zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken<br />
(gepunktete Linien). Dadurch wird<br />
der gesamte obere Teil des ATPs auf dem<br />
Templat fixiert. Nun trägt der Ring aber<br />
noch über einen Arm A ein Farbstoffmolekül,<br />
das ganz rechts im Bild gezeigte Acridin-System.<br />
Dieses wiederum bildet mit<br />
dem Adenosinteil des ATP durch schwache<br />
Bindungskräfte (breit gestrichelte Linie)<br />
einen Kontakt, durch den sich seine elektronischen<br />
Eigenschaften so ändern, dass es<br />
bei Bestrahlung des gesamten Assoziats zu<br />
einem starken und charakteristischen Lichteffekt<br />
kommt (Fluoreszenz). Mit dem ATP<br />
verwandte, aber eben andere Triphosphate<br />
zeigen diesen photochemischen Effekt<br />
nicht, das heißt, das obige supramolekulare<br />
System ist ein sensitiver und selektiver ATP-<br />
Detektor.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Die Konstruktion funktionaler supramolekularer<br />
Systeme nimmt einen breiten Raum<br />
in der modernen Organischen Chemie ein;<br />
dabei kommt es zur Erzeugung bestimmter<br />
Funktionen darauf an, die starken und die<br />
schwachen Bindungskräfte genau aufeinander<br />
abzustimmen – nicht anders als es die<br />
Natur schon seit langem vorbildlich tut.<br />
GALANTE CHEMIKER<br />
Das Wort »galant« aus dem Titelzitat<br />
kommt von »gala«, das bedeutet im<br />
Arabischen »das Ehrengewand, wie es<br />
morgenländische Herrscher ihren<br />
Günstlingen schenkten«. Aus dem Arabischen<br />
stammt bekanntlich auch das Wort<br />
»Chemie«. Dass sich unter den damaligen<br />
Günstlingen auch Chemiker befanden,<br />
steht außer Frage – und wenigstens diese<br />
waren dann galant. ■<br />
21
24 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ARBEIT UND ERHOLUNG –<br />
EIN NEUES THEMA<br />
FÜR DIE ARBEITSPSYCHOLOGIE<br />
Die Art und das Erleben<br />
von Aktivitäten, denen<br />
Menschen nach der Arbeit<br />
nachgehen, stehen in<br />
deutlichem Zusammenhang<br />
mit dem Befinden<br />
zur Schlafenszeit. Dabei<br />
fördern bestimmte<br />
Aktivitäten die Erholung<br />
mehr als andere. Vor allem<br />
»wenig anstrengende«,<br />
soziale und körperliche<br />
Aktivitäten sind hilfreich,<br />
während sich<br />
arbeitsbezogene eher<br />
negativ auswirken. Das<br />
angenehme Erleben der<br />
Aktivitäten und die<br />
Fähigkeit, von der Arbeit<br />
abzuschalten, sind äußerst<br />
wichtig. Dies wirkt sich<br />
wiederum auch auf die<br />
Arbeit aus: Erholte<br />
Arbeitnehmer sind<br />
engagierter.<br />
Freizeit und Erholung spielen im Alltag<br />
vieler Menschen eine wichtige<br />
Rolle. Man freut sich auf den Feierabend,<br />
plant für das Wochenende und<br />
knüpft große Erwartungen an den nächsten<br />
Urlaub. Man erhofft sich von der Freizeit<br />
angenehme Erlebnisse, Abstand von der<br />
VON SABINE SONNENTAG<br />
Institut für Psychologie,<br />
Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie,<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
ABBILDUNG 1<br />
Vor allem sportliche Aktivitäten fördern die Erholung.<br />
Arbeit und die Möglichkeit, sich den Personen<br />
und Dingen zu widmen, für die sonst<br />
keine Zeit bleibt. Den Fragen, was in diesen<br />
Freizeitperioden in psychologischer Hinsicht<br />
geschieht und wie es Menschen gelingt,<br />
sich in der Freizeit zu erholen, wurde<br />
in der Wissenschaft bislang recht wenig<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Aufmerksamkeit geschenkt. Gewiss, aus<br />
der vor allem soziologisch orientierten Freizeitforschung<br />
ist viel über Art und Umfang<br />
der Freizeitaktivitäten unterschiedlicher<br />
Bevölkerungsgruppen bekannt. Auch verfügen<br />
die meisten Menschen über Erfahrungen,<br />
was ihnen bei der Erholung hilft<br />
und was nicht. Systematische empirische<br />
Untersuchungen in der Arbeitspsychologie<br />
sind jedoch noch selten.<br />
Zentrale Aufgabe der Arbeitspsychologie –<br />
wie in ähnlicher Weise auch der Arbeitswissenschaften<br />
– ist es zu untersuchen, wie die<br />
Arbeit auf den Menschen wirkt, welche Arbeitsbedingungen<br />
und persönlichen Voraussetzungen<br />
einerseits gute Leistungen ermöglichen<br />
und welche Bedingungen andererseits<br />
das Befinden und die Gesundheit<br />
der Arbeitenden beeinträchtigen. Dabei<br />
zeigte sich in empirischen Untersuchungen,<br />
dass Arbeitssituationen, die vor allem durch<br />
ein hohes Maß an Stressoren (Zeitdruck,<br />
große Arbeitsmenge, unklare Aufgaben<br />
etc.) und geringen Handlungsspielraum gekennzeichnet<br />
sind, das Befinden und die<br />
Gesundheit der Arbeitenden beeinträchtigen<br />
(zusammenfassend Kahn & Byosiere,<br />
1992; Sonnentag & Frese, in press).<br />
Folgen ungünstiger Arbeitssituationen<br />
wirken sich sowohl kurzfristig (innerhalb<br />
weniger Stunden) als auch langfristig (über<br />
Monate und Jahre) aus. Die Frage ist, ob beziehungsweise<br />
wie die eher kurzfristigen<br />
Einflüsse ungünstiger Arbeitsbedingungen<br />
und Arbeitserfahrungen aufgehoben, quasi<br />
»rückgängig« gemacht werden können, sodass<br />
sie sich nicht zu längerfristigen Schädigungen<br />
entwickeln. Anzunehmen ist, dass<br />
dabei Erholungsprozesse eine große Rolle<br />
spielen. Kürzere Erholungsphasen, vor<br />
allem Arbeitspausen, wurden bereits in der<br />
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts intensiv<br />
untersucht (Graf, 1925). Längere Erholungsperioden,<br />
wie sie sich beispielsweise<br />
am Feierabend ergeben, wurden in der<br />
arbeitspsychologischen Forschung bislang<br />
weitgehend vernachlässigt.<br />
ERHOLUNG –<br />
WAS IST DAS?<br />
Allgemein lässt sich Erholung als ein der Beanspruchung<br />
entgegengesetzter Prozess beschreiben,<br />
bei dem die menschlichen Funktionssysteme<br />
in ihren Ausgangszustand<br />
zurückkehren (Meijman & Mulder, 1998).<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Im Idealfall ist Erholung durch eine »low<br />
baseline activity« gekennzeichnet, das<br />
heißt, die Funktionssysteme, die durch die<br />
Arbeit beansprucht werden, werden geschont<br />
(Craig & Cooper, 1992). Das Ergebnis<br />
von Erholung sind die Verbesserung des<br />
Befindens und die Wiederherstellung der<br />
Handlungs- und Leistungsfähigkeit.<br />
In einer Serie empirischer Untersuchungen,<br />
die an den <strong>Universität</strong>en Amsterdam<br />
und Konstanz begonnen und nun an der<br />
TU <strong>Braunschweig</strong> fortgeführt werden, gingen<br />
wir mehreren Fragen nach:<br />
■ Welche Aktivitäten helfen, um sich von<br />
der Arbeit zu erholen?<br />
■ Wie wirkt Arbeit auf Erholung?<br />
■ Wie wirkt Erholung auf Arbeit zurück?<br />
In methodischer Hinsicht wurde ein so genannter<br />
Tagebuch-Ansatz realisiert. Konkret<br />
bedeutet dies, dass die Untersuchungsteilnehmer<br />
über mehrere Tage (in der Regel<br />
fünf Arbeitstage) ein Tagebuch zu ihren Aktivitäten<br />
außerhalb der Arbeitszeit sowie zu<br />
ihrem Befinden ausfüllen sollten. Das Tagebuch<br />
war quantitativ orientiert, das heißt,<br />
die Untersuchungsteilnehmer sollten im<br />
Wesentlichen Antworten auf vorgegebene<br />
Fragen ankreuzen; ausführliche schriftliche<br />
Reflexionen, wie sie oft mit dem Begriff des<br />
Tagebuchs assoziiert werden, wurden nicht<br />
verlangt.<br />
Ein großer Vorteil eines solchen quantitativen<br />
Tagebuchs ist es, dass Aussagen zeitnah<br />
zum eigentlichen Geschehen erhoben<br />
werden und somit auf retrospektive und<br />
verallgemeinernde Aussagen, die unterschiedlichsten<br />
Verzerrungen unterliegen<br />
können, verzichtet wird. Darüber hinaus<br />
bietet sich die Möglichkeit, Variationen im<br />
Erleben und Verhalten einer Person – und<br />
nicht nur zwischen Personen – zu erfassen.<br />
Zusätzlich zu den Tagebüchern wurde als<br />
weiteres Untersuchungsinstrument ein<br />
Fragebogen eingesetzt. Ausgewertet wurden<br />
die Daten vor allem mit hierarchischen<br />
linearen Modellen (Bryk & Raudenbush,<br />
1992).<br />
ERHOLEN – ABER WIE?<br />
In einer ersten Untersuchung ging es in erster<br />
Linie um die Frage, welche Aktivitäten,<br />
denen außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit<br />
nachgegangen wird, zur Erholung bei-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
25<br />
SABINE SONNENTAG<br />
(Prof. Dr. rer. nat.); 1986 Diplom in<br />
Psychologie an der Freien <strong>Universität</strong><br />
Berlin, 1991 Promotion an der TU<br />
<strong>Braunschweig</strong>, 1997 Habilitation an<br />
der <strong>Universität</strong> Gießen; 1987-1991<br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am<br />
Institut für Psychologie der TU <strong>Braunschweig</strong>,<br />
1991-1992 und 1994-<br />
1995 Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
und Wissenschaftliche Assistentin<br />
am Fachbereich Psychologie der <strong>Universität</strong><br />
Gießen, 1992-1994 Habilitationsstipendiatin<br />
der Deutschen Forschungsgemeinschaft,<br />
1995-1999<br />
<strong>Universität</strong>sdozentin an der Faculteit<br />
der Psychologie der Universiteit van<br />
Amsterdam, 1999-2001 Professorin<br />
für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie<br />
an der <strong>Universität</strong><br />
Konstanz, seit 2001 Professorin für<br />
Arbeits- und Organisationspsychologie<br />
am Institut für Psychologie der TU<br />
<strong>Braunschweig</strong>.
26 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 2<br />
Die Arbeitsbedingungen haben wesentlichen Einfluss auf die Fähigkeit,<br />
in der Freizeit abschalten und sich erholen zu können.<br />
tragen. 100 Lehrer und Lehrerinnen nahmen<br />
an dieser Untersuchung teil. Über einen<br />
Zeitraum von fünf Tagen gaben sie in<br />
einem Tagebuch jeweils kurz vor dem Zubettgehen<br />
unter anderem an, wie viel Zeit<br />
sie auf einzelne Aktivitäten verwendet hatten<br />
und wie es zurzeit des Schlafengehens<br />
um ihr Befinden bestellt war. Es wurden<br />
fünf Hauptkategorien von Aktivitäten unterschieden:<br />
arbeitsbezogene Aktivitäten<br />
(Arbeitsaufgaben zu Ende bringen, Vorbereitungen<br />
für den nächsten Arbeitstag treffen,<br />
private Administration), Haushaltsaktivitäten<br />
(einschließlich Kinderbetreuung),<br />
»wenig anstrengende« Aktivitäten (fernsehen,<br />
ein Buch zur Entspannung lesen,<br />
faulenzen), soziale Aktivitäten (Freunde<br />
einladen, ausgehen) und körperliche Aktivitäten<br />
(Sport, Rad fahren).<br />
Wesentliche Ergebnisse waren: Das Befinden<br />
zur Schlafenszeit war umso besser, je<br />
weniger Zeit für arbeitsbezogene Aktivitäten<br />
aufgewendet und je mehr Zeit für wenig<br />
anstrengende, soziale und körperliche<br />
Aktivitäten verwendet wurde. Das zeitliche<br />
Ausmaß von Haushaltsaktivitäten hatte keinen<br />
Effekt auf das Befinden zur Schlafenszeit.<br />
Festzuhalten ist, dass bei diesen Be-<br />
rechnungen jeweils das Befinden beim<br />
Nach-Hause-Kommen mitberücksichtigt<br />
wurde: Die – durchaus plausible – Erklärung,<br />
dass man an Tagen, an denen man<br />
mit besserer Stimmung von der Arbeit nach<br />
Hause kommt, anderen Tätigkeiten nachgeht<br />
als an Tagen, an denen die Stimmung<br />
schlechter ist, und dass sich dadurch das<br />
Befinden weiter verbessert, konnte so ausgeschlossen<br />
werden. Auch weitere Merkmale<br />
der teilnehmenden Personen (Alter,<br />
Geschlecht und Anzahl der Kinder) sowie<br />
die wahrgenommene Arbeitssituation<br />
wurden in diesen Analysen statistisch<br />
kontrolliert.<br />
Natürlich sind Befindensverbesserung und<br />
Erholung nicht nur von der Art der Aktivitäten<br />
abhängig, denen man nach der Arbeit<br />
nachgeht. Deshalb wurden in einer zweiten<br />
und dritten Untersuchung weitere Attribute<br />
der Aktivitäten untersucht. In der zweiten<br />
Untersuchung lag der Schwerpunkt auf dem<br />
positiven Erleben von Aktivitäten (Sonnentag<br />
& Zijlstra, 2002). Die zentrale Frage<br />
war: Bringt es einen zusätzlichen positiven<br />
Effekt auf das Befinden, wenn die Aktivitäten,<br />
die ausgeübt werden, als angenehm erlebt<br />
werden? An dieser Untersuchung nah-<br />
men gut 90 Personen aus dem Gesundheitsbereich<br />
– vor allem Krankenschwestern<br />
und -pfleger sowie Ärzte und Ärztinnen<br />
– teil. Auch diese Personen füllten das<br />
Tagebuch über fünf Tage aus und machten<br />
unter anderem Angaben zu ihrem Befinden<br />
unmittelbar nach der Arbeit beim Nach-<br />
Hause-Kommen, zu ihren Aktivitäten nach<br />
der Arbeit sowie zu ihrem Befinden beim<br />
Zubettgehen. Zurzeit des Zubettgehens interessierten<br />
vor allem der Grad der Anspannung<br />
und das momentan wahrgenommene<br />
Erholungsbedürfnis. Zusätzlich wurde erhoben,<br />
wie angenehm die einzelnen Aktivitäten<br />
erlebt wurden. Die Analysen zeigten,<br />
dass das Ausmaß des angenehmen Erlebens<br />
einen starken negativen Effekt auf<br />
die Anspannung und das Erholungsbedürfnis<br />
zur Schlafenszeit hat. Das heißt: Je angenehmer<br />
die Befragten die Aktivitäten erlebten,<br />
desto geringer war ihre Anspannung<br />
und ihr Erholungsbedürfnis unmittelbar vor<br />
dem Zubettgehen – auch wenn die Zeit, die<br />
für die einzelnen Aktivitäten aufgewendet<br />
wurde, in den Analysen mitberücksichtigt<br />
wurde. Selbstverständlich wurden auch in<br />
dieser Untersuchung das Befinden beim<br />
Nach-Hause-Kommen sowie demographische<br />
Merkmale und die Arbeitsplatzsituation<br />
statistisch konstant gehalten.<br />
In einer dritten Untersuchung ging es um<br />
ein weiteres Merkmal von Freizeitaktivitäten,<br />
das eine große Rolle für die Erholung<br />
spielen könnte: das »Abschalten« von der<br />
Arbeit. Abschalten von der Arbeit heißt,<br />
nicht mehr an die Arbeit zu denken und<br />
sich stattdessen auf anderes zu konzentrieren<br />
(Sonnentag & Bayer, 2002). Die zentrale<br />
Frage der Untersuchung war, ob es sich<br />
zusätzlich positiv auf das Befinden auswirkt,<br />
wenn man abends völlig von der Arbeit<br />
abschaltet. An dieser Untersuchung<br />
nahmen 90 Personen aus unterschiedlichen<br />
Berufsgruppen teil. Diesmal wurde das Tagebuch<br />
an drei Tagen ausgefüllt. Als Indikatoren<br />
für das Befinden (beim Nach-Hause-<br />
Kommen und beim Zubettgehen) wurden<br />
positive Stimmung und Ermüdung erfasst.<br />
Wie erwartet, zeigte sich, dass an Tagen,<br />
an denen die Befragten besser von der Arbeit<br />
abschalten konnten, die Stimmung zur<br />
Schlafenszeit besser und die Ermüdung geringer<br />
war als an Tagen, an denen das Abschalten<br />
weniger gut gelang. Auch in diesen<br />
Analysen wurde das Befinden beim<br />
Nach-Hause-Kommen statistisch kontrolliert:<br />
Es war keineswegs so, dass man sich<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
spät abends nur deshalb besser fühlte, weil<br />
das Befinden an diesem Tag sowieso schon<br />
relativ gut war und man deshalb auch gut<br />
abschalten konnte. Das Abschalten spielt<br />
über das Ausgangsbefinden hinaus eine<br />
große Rolle für das Befinden beim Schlafengehen.<br />
Insgesamt verdeutlichen diese drei Untersuchungen,<br />
dass die Art und das Erleben<br />
von Aktivitäten, denen nach der Arbeit<br />
nachgegangen wird, in deutlichem Zusammenhang<br />
mit dem Befinden zur Schlafenszeit<br />
stehen. Fasst man das Befinden als<br />
einen Indikator für das Auftreten von Erholung<br />
auf, ergibt sich Folgendes: Bestimmte<br />
Aktivitäten fördern die Erholung mehr als<br />
andere, dabei sind wenig anstrengende, soziale<br />
und körperliche Aktivitäten besonders<br />
hilfreich, während arbeitsbezogene eher<br />
einen negativen Einfluss haben. Zusätzlich<br />
spielt es eine große Rolle, wie diese Aktivitäten<br />
erlebt werden: Ein angenehmes Erleben<br />
und die Fähigkeit, beim Ausüben der<br />
Aktivitäten von der Arbeit abzuschalten,<br />
sind wichtig.<br />
VORAUSSETZUNG<br />
FÜR ERHOLUNG:<br />
DAS ABSCHALTEN<br />
Eine weitere interessante Frage ist, ob Arbeit<br />
und Erholung zwei völlig voneinander<br />
losgelöste Bereiche sind, die nichts miteinander<br />
zu tun haben – oder ob es möglicherweise<br />
Wirkungen des einen auf den anderen<br />
Bereich gibt. Konkret beinhaltet dies<br />
zunächst die Frage: Hat die Arbeitssituation<br />
einen Effekt auf die Erholung? Wird der<br />
Erholungsprozess als ein dem Beanspruchungsprozess<br />
entgegengesetzter Vorgang<br />
aufgefasst, ergibt sich daraus, dass Erholung<br />
umso notwendiger ist, je beanspruchender<br />
die Arbeit ist. Dies ist relativ trivial. Interessanter<br />
ist es jedoch, ob Aspekte der Arbeit<br />
einen Einfluss auf den Erholungsprozess<br />
selbst haben. Anders gefragt: Wann fällt<br />
Erholung besonders leicht und gelingt besonders<br />
gut – wenn die Arbeit stark oder<br />
wenn sie wenig belastend ist?<br />
Um zu einer ersten Antwort auf diese<br />
Frage zu kommen, wurde der Zusammenhang<br />
zwischen Merkmalen der Arbeitssituation<br />
und des Erholungserlebens analysiert.<br />
Dazu wurden nochmals die Daten,<br />
die im Rahmen der oben genannten dritten<br />
Untersuchung erhoben wurden, herangezo-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
gen. Als Merkmale der Arbeitsbelastung<br />
wurden die Dauer der täglichen Arbeitszeit<br />
sowie der erlebte Zeitdruck erhoben. Im<br />
Hinblick auf das Erholungserleben stand<br />
der Aspekt des Abschaltens von der Arbeit<br />
im Vordergrund. Die Analysen zeigten, dass<br />
chronischer Zeitdruck und lange tägliche<br />
Arbeitstage einen negativen Effekt auf das<br />
Abschalten haben, das heißt, je mehr Zeitdruck<br />
erlebt und je länger gearbeitet wird,<br />
desto schlechter gelingt es, in der Freizeit<br />
von der Arbeit abzuschalten. Dieses Ergebnis<br />
erscheint zunächst banal, denn je länger<br />
man arbeitet, desto weniger Zeit hat man<br />
für andere Aktivitäten und desto schwieriger<br />
wird es, in dieser kurzen Zeit tatsächlich<br />
abzuschalten. Zusätzliche Analysen<br />
deuten jedoch darauf hin, dass die Prozesse<br />
nicht ganz so trivial zu sein scheinen. Denn<br />
die wirkliche Zeit, die auf Freizeitaktivitäten<br />
verwendet wird, hat keinen Effekt auf<br />
das Abschalten. Das heißt, dass es nicht<br />
primär eine Rolle spielt, wie viel Zeit man<br />
zur Verfügung hat, um abschalten zu können.<br />
Vielmehr scheint es so zu sein, dass belastende<br />
Arbeitsbedingungen (Zeitdruck<br />
und lange Arbeitstage) die Arbeitenden<br />
über die eigentliche Arbeit hinaus beschäftigen<br />
und somit das Abschalten deutlich<br />
erschweren. Dieses Ergebnis impliziert,<br />
dass eine wesentliche Voraussetzung für die<br />
Erholung, das Abschalten, unter belastenden<br />
Arbeitsbedingungen besonders gefährdet<br />
ist – das sind jedoch genau die Situationen,<br />
in denen Erholung besonders notwendig<br />
ist.<br />
ERHOLUNG FÖRDERT<br />
ARBEITSENGAGEMENT<br />
Bei der Beschäftigung mit dem Zusammenhang<br />
zwischen Arbeit und Erholung stellt<br />
sich nicht nur die Frage, ob Arbeit auf Erholungsprozesse<br />
einwirkt. Genauso spannend<br />
– und für viele von besonderem Interesse –<br />
ist die umgekehrte Wirkrichtung: Wirkt<br />
Erholung auf die Arbeit zurück? In einer<br />
vierten Untersuchung wurde dieser Frage<br />
nachgegangen (Sonnentag, in press). Untersuchungsteilnehmer<br />
waren gut 140 Personen,<br />
die in unterschiedlichen Einrichtungen<br />
des öffentlichen Dienstes arbeiteten.<br />
Auch hier war ein Tagebuch das wesentliche<br />
Untersuchungsinstrument. Es sollte<br />
diesmal morgens vor dem Beginn der Arbeit<br />
sowie am Ende des Arbeitstages ausgefüllt<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
werden. Morgens wurde erfragt, wie gut<br />
man sich am vorherigen Abend von der<br />
Arbeit erholt hatte. Am Abend des Arbeitstages<br />
wurden Arbeitsengagement und proaktives<br />
Verhalten erfasst. Unter Arbeitsengagement<br />
verstehen wir in diesem Kontext,<br />
sich bei der Arbeit besonders tatkräftig zu<br />
fühlen und sich in besonderem Maße der<br />
Arbeit zu widmen, quasi darin »aufzugehen«<br />
und alles um sich herum zu vergessen.<br />
Proaktives Verhalten umfasst Verhalten<br />
wie das Zeigen von Eigeninitiative oder<br />
das Ergreifen von Lernchancen im Arbeitsalltag.<br />
Die Analysen zeigten, dass die Befragten<br />
an den Tagen, an denen sie sich besonders<br />
gut erholt fühlten, ein größeres Arbeitsengagement<br />
erlebten als an Tagen, an denen<br />
sie sich weniger gut erholt fühlten. Gleichzeitig<br />
ergriffen sie an den Tagen mit ausreichender<br />
Erholung mehr Eigeninitiative und<br />
verfolgten vermehrt Lernaktivitäten. Dies<br />
bedeutet, dass Erholung einem positiven Erleben<br />
der Arbeit und einem aktiven Arbeitsverhalten<br />
durchaus dienlich ist.<br />
LANGFRISTIGE EFFEKTE<br />
VON ERHOLUNG<br />
UNTERSUCHEN<br />
Insgesamt zeigen diese Untersuchungen,<br />
dass das Ausführen und Erleben von bestimmten<br />
Aktivitäten außerhalb der eigentlichen<br />
Arbeitszeit mit Befindensverbesserungen<br />
und Erholungsprozessen in Zusammenhang<br />
stehen. Ebenso wurde deutlich,<br />
dass komplexe Wechselwirkungen zwischen<br />
Arbeit und Erholung existieren. Einerseits<br />
ist ein wesentlicher Aspekt der Erholung<br />
– das Abschalten von der Arbeit –<br />
unter belastenden Arbeitsbedingungen erschwert;<br />
andererseits fördert Erholung Arbeitsengagement<br />
und proaktives Verhalten<br />
bei der Arbeit. Das heißt, die Arbeit profitiert<br />
von einer guten Erholung.<br />
Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen<br />
lassen sich praktische Konsequenzen<br />
ableiten. Auch wenn es wie bei den meisten<br />
psychologischen Prozessen interindividuelle<br />
Unterschiede gibt, so haben wenig<br />
anstrengende, soziale und körperliche Aktivitäten<br />
im Allgemeinen positive Effekte auf<br />
das Befinden; dabei kommt den körperlichen<br />
Aktivitäten, das heißt dem Sport, eine<br />
besonders große Bedeutung zu. Gleichzeitig<br />
wurde deutlich, dass arbeitsbezogene<br />
27
28 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Aktivitäten in der eigentlich arbeitsfreien<br />
Zeit einer guten Stimmung eher abträglich<br />
sind. Wichtig über die Art der verfolgten<br />
Aktivitäten hinaus sind das positive Erleben<br />
der Aktivitäten und das Abschalten. Somit<br />
macht es durchaus Sinn, wenn Arbeitende<br />
sich fragen, welche Aktivitäten sie persönlich<br />
als besonders angenehm empfinden. Im<br />
Hinblick auf überlange Arbeitszeiten und<br />
Überstunden ist deutliche Vorsicht geboten:<br />
Sie scheinen nicht nur im Moment als unangenehm<br />
erlebt zu werden. Fehlende Erholung<br />
hat auch negative Effekte auf das<br />
Arbeitserleben und Arbeitsverhalten am<br />
darauf folgenden Arbeitstag.<br />
Für die weitere Forschung ergeben sich<br />
eine Fülle weiterführender Fragen. Zwei besonders<br />
wichtige seien kurz genannt: Zum<br />
einen sollten die mittel- und langfristigen<br />
Effekte von Erholung in zukünftigen Studien<br />
untersucht werden. Die in diesem Beitrag<br />
vorgestellten Befunde beziehen sich<br />
alle auf Erholungseffekte, die sich kurzfristig,<br />
das heißt im Laufe eines Tages, einstellen.<br />
Die Untersuchung von Wirkmechanismen<br />
über längere Zeiträume ist jedoch dringend<br />
notwendig, um verlässliche Aussagen<br />
darüber treffen zu können, welche Wirkungen<br />
– fehlende – Erholung auf Dauer hat.<br />
Zum anderen wurde deutlich, dass unter<br />
belastenden Bedingungen erfolgreiche Erholung<br />
besonders gefährdet ist. Hier gilt es<br />
zu erforschen, wie auch unter Belastung<br />
Erholungsprozesse initiiert und aufrechterhalten<br />
werden können, sodass das Befinden,<br />
die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit<br />
der Arbeitenden erhalten bleiben. ■<br />
LITERATUR<br />
1 Bryk, A. S., & Raudenbush, S. W.<br />
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Application and data analysis methods.<br />
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3 Graf, O. (1925). Über die Wirkung<br />
mehrfacher Arbeitspausen bei geistiger<br />
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5 Meijman, T. F., & Mulder, G. (1998).<br />
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Press.<br />
6 Sonnentag, S. (in press). Recovery,<br />
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A new look at the interface<br />
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8 Sonnentag, S., & Frese, M. (in press).<br />
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9 Sonnentag, S., & Zijlstra, F. R. H.<br />
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and well-being. Technical Report. Technical<br />
University of <strong>Braunschweig</strong> and<br />
University of Surrey.
30 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
BAUWERKSÜBERWACHUNG:<br />
NOTWENDIGKEIT, PROBLEME<br />
UND MÖGLICHKEITEN<br />
Mit dem Wachstumsmarkt der Baubranche – der Erneuerung<br />
und Erhaltung von Bauwerken, für die in Deutschland schon<br />
jetzt pro Jahr rund 250 Millionen Euro aufgebracht werden<br />
müssten, beschäftigt sich der an der TU angesiedelte<br />
Sonderforschungsbereich (SFB) »Bauwerksüberwachung«.<br />
Ziel des SFB ist es, zuverlässige Methoden und Strategien zu<br />
entwickeln, die die Sicherheit und Nutzung von Bauwerken<br />
langfristig garantieren. Mitentscheidend dafür ist es, die<br />
Messtechnik für mechanische, physikalische und chemische<br />
Anwendungen zu verfeinern, um zu möglichst präzisen<br />
Aussagen über Lebensdauer und mögliche Schwachstellen der<br />
Bauwerke zu gelangen.<br />
VON UDO PEIL<br />
Institut für Stahlbau<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
Das Bauwesen befindet sich derzeit<br />
in einem erheblichen Umstrukturierungsprozess.<br />
Mit<br />
überdurchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten<br />
entwickelt sich die Bauwerkserneuerung<br />
zum Motor der Bauwirtschaft.<br />
Auslöser dieses Prozesses sind Alterung bestehender<br />
Bauwerke, Nutzungsänderung<br />
und die sich wandelnden Ansprüche an den<br />
Standard. Abbildung 1 zeigt die Tendenz<br />
der Umlagerung der Investitionen von Neubau-<br />
auf Erneuerungs- und Erhaltungsinvestitionen.<br />
Es ist zu erkennen, dass derzeit etwa ein<br />
Gleichstand der Investitionskosten für Neubau<br />
und für Instandhaltung besteht. In der<br />
Zukunft werden die Erneuerungskosten in<br />
beachtlichem Maße dominieren.<br />
BAUWERKSERNEUERUNG:<br />
MOTOR DER<br />
BAUWIRTSCHAFT<br />
Überschlagsberechnungen weisen einen<br />
Gesamtwert der Bauwerkssubstanz in der<br />
Bundesrepublik Deutschland von circa<br />
25 Billionen Euro aus. Bei einer optimistisch<br />
angenommenen mittleren Lebensdauer<br />
von 100 Jahren ergäben sich dabei<br />
jährliche Re-Investitionskosten von rund<br />
250 Milliarden Euro, eine Summe von erheblicher<br />
volkswirtschaftlicher Bedeutung.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
ABBILDUNG 1<br />
Entwicklung der Bauinvestitionen.<br />
Die öffentliche Hand kann bereits heute die<br />
Instandhaltungskosten für ihre Bauwerke<br />
nicht mehr aufbringen, wie die rückläufigen<br />
Ausgaben für Erhaltungsmaßnahmen an<br />
den Bundesfernstraßen beispielhaft ausweisen<br />
(s. Abb. 2). Dies führt naturgemäß zu<br />
erheblich vergrößerten Belastungen in der<br />
Zukunft. Eine möglichst präzise Vorhersage<br />
der Lebensdauer mit Angabe der potenziellen<br />
Schwachstellen ist deshalb dringend<br />
notwendig, um die vorhandene Bauwerkssubstanz<br />
so lange wie möglich nutzen zu<br />
können und damit die Kosten zu senken.<br />
Die Notwendigkeit, Haushaltsmittel für<br />
den Bereich des Bauwesens langfristig planbar<br />
zu machen, erfordert ebenfalls eine genauere<br />
Beschäftigung mit Fragen der Lebensdauer<br />
von Bauwerken. So ist die »Entwicklung<br />
und Verbesserung von Methoden<br />
zur Voraussage des künftig zu erwartenden<br />
Haushaltsmittelbedarfs für die Erhaltung<br />
des vorhandenen Baubestandes eine äußerst<br />
wichtige Maßnahme«, wie dem »Zwei-<br />
ABBILDUNG 2<br />
Instandhaltungskosten bei Bundesfernstraßen [1].<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ten Bericht über Schäden an Bauwerken<br />
der Bundesverkehrswege« [2] zu entnehmen<br />
ist. Dazu zählt zum Beispiel die Entwicklung<br />
von Methoden zur hinreichend<br />
genauen Vorhersage der Restnutzungsdauer<br />
von Bauwerken. Der Bericht verdeutlicht<br />
»die große Bedeutung der Erhaltung der<br />
Bundesverkehrswege zur Verminderung<br />
von Schäden für die Wirtschaft und die Bürger<br />
des Landes. Die Vernachlässigung dieser<br />
wichtigen Aufgabe kann zu schweren Störungen<br />
im Verkehrsablauf, Beeinträchtigung<br />
der Wirtschaft, zu Nachteilen für den<br />
Wirtschaftsstandort Deutschland und zu erheblichen<br />
finanziellen Belastungen des<br />
Bundes führen. Diese Aufgabe wird durch<br />
die Entwicklung des Verkehrs, des Alters<br />
des Anlagenbestandes und der Umweltbelastung<br />
künftig immer mehr an Bedeutung<br />
gewinnen«. Ähnliche Aussagen gelten nicht<br />
nur für die zitierten Bundesverkehrswege,<br />
sondern für alle anderen baulichen Anlagen<br />
gleichermaßen.<br />
Eine Verlängerung der möglichen Bauwerksnutzungsdauer<br />
führt in den meisten<br />
Fällen zu einer erheblichen Reduzierung<br />
der Re-Investitionskosten. Die derzeitigen<br />
Verfahren und Vorgehensweisen bei der Ermittlung<br />
der Nutzungs- oder Lebensdauer<br />
von Bauwerken aller Art sind aber nicht<br />
sehr zuverlässig: Abweichungen zwischen<br />
Prognose und Wirklichkeit mit dem Faktor<br />
10 (sic!) treten in Grenzfällen auf. Mithilfe<br />
von begleitendem Bauwerksmonitoring<br />
können erheblich präziserer Aussagen getroffen<br />
werden, sodass auch Re-Investitionen<br />
besser zu planen sind.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
31<br />
UDO PEIL<br />
(Prof. Dr.-Ing.); Jg. 1944; 1965-1971<br />
Studium des Bauingenieurwesens an<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong>; 1971-1988<br />
wissenschaftlicher Assistent,Akademischer<br />
Rat und Oberrat am TU-<br />
Institut für Stahlbau; 1976 Promotion;<br />
1987 Ruf an die <strong>Universität</strong><br />
Karlsruhe als Professor für Stahlund<br />
Leichtmetallbau; seit 1992<br />
Professor und Leiter der Abteilung<br />
Stahlbau am Institut für Stahlbau der<br />
TU <strong>Braunschweig</strong> als Nachfolger von<br />
Professor Dr.-Ing. J. Scheer; Mitglied<br />
mehrerer nationaler und internationaler<br />
Arbeits- und Normenausschüsse;<br />
Sprecher des SFB 477<br />
»Bauwerksüberwachung« und<br />
Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs<br />
»Risikomanagement<br />
bei Natur- und Zivilisationskatastrophen«;<br />
Prüfingenieur für Baustatik.
32 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
a) Keine planmäßige Wartung.<br />
b) Planmäßige Wartung.<br />
c) Planmäßige Wartung und Überwachung.<br />
ABBILDUNG 3<br />
Die Entwicklung der Betriebskosten eines<br />
Bauwerkes hängt wesentlich von der Art<br />
der Überwachung und der daraus abgeleiteten<br />
Maßnahmen ab. Drei – stark vereinfachte<br />
– Szenarien sollen dies verdeutlichen<br />
(Abb. 3):<br />
a) Das Bauwerk wird nicht unterhalten,<br />
verursacht deshalb zunächst auch keine<br />
Kosten (Abb. 3a). Der Widerstand des<br />
Bauwerks nimmt langsam ab und wird<br />
plötzlich durch den Eintritt eines Schadens,<br />
das heißt eines Ereignisses, das<br />
die Nutzung drastisch einschränkt oder<br />
verbietet, auf einen deutlich kleineren<br />
Wert oder sogar auf null abfallen. Die<br />
Wiederherstellung ist teuer.<br />
b) Das Bauwerk wird unterhalten, verursacht<br />
also etwa konstante Kosten je<br />
Zeiteinheit, das heißt, die Gesamtkosten<br />
nehmen etwa linear zu (Abb. 3b). Auch<br />
hier kann der Widerstand – wenn die<br />
Schwachstelle nicht erkannt wurde –<br />
plötzlich auf einen deutlich kleineren<br />
Wert oder auf null abfallen. Die Wiederherstellung<br />
ist teuer.<br />
c) Man überwacht die relevanten Schwachstellen<br />
und wartet das Bauwerk, hat<br />
höhere Kosten, da die Überwachung<br />
zusätzliche Mittel erfordert, hat aber<br />
lediglich kleine Reduktionen des Widerstandes<br />
hinzunehmen (Abb. 3c).<br />
Bei neuen Bauwerken sollte die Bauwerksüberwachung<br />
(BÜ) – im Sinne eines ganzheitlichen<br />
Qualitätssicherungskonzeptes –<br />
bereits durchgreifend bei der Planung berücksichtigt<br />
werden. So werden heute bei<br />
einigen Großbrücken kontinuierliche Überwachungsmaßnahmen<br />
von Beginn an vorgesehen.<br />
Bei den neu erbauten Werratalbrücken<br />
für die Autobahn A7 wird beispielsweise<br />
die Luftfeuchtigkeit im Inneren<br />
der Hohlkästen ständig überwacht. Bei steigender<br />
Luftfeuchtigkeit wird eine Trocknungsanlage<br />
aktiviert. Diese Lösung ist<br />
wesentlich preiswerter und wirksamer als<br />
ein aufwendiger innerer Korrosionsschutz<br />
der Hohlkästen. Derartige Überwachungsmaßnahmen<br />
führen auch dazu, dass Instandsetzungs-<br />
und Re-Investitionskosten<br />
wesentlich besser zu planen sind als ohne<br />
Bauwerksüberwachung.<br />
SCHADENSURSACHEN<br />
Daneben dient die BÜ der Reduzierung von<br />
Schadenspotenzialen. Ansteigende Schadensraten<br />
bei Bauwerken erfordern aus<br />
Gründen der öffentlichen Sicherheit eine<br />
gezielte Bauwerksüberwachung beziehungsweise<br />
eine Intensivierung gegebenenfalls<br />
bereits vorgenommener Überwachung.<br />
Abbildung 4 zeigt symptomatisch die Entwicklung<br />
der Qualität von Bauwerken über<br />
die letzten 100 Jahre an einem Beispiel aus<br />
Japan [1], das aber sicher auch die Tendenz<br />
in anderen Ländern widerspiegelt. In der<br />
Abbildung wird ein Vergleich zwischen<br />
Baujahr und Schadensjahr von Brücken vorgenommen.<br />
Links im Bild sind die Verhältnisse<br />
bei Straßenbrücken, rechts bei Eisen-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
ahnbrücken dargestellt. Die Strahlen beginnen<br />
links mit dem Baujahr und enden<br />
rechts mit dem Schadensjahr. Es ist zu erkennen,<br />
dass alte Brücken offenbar wesentlich<br />
robuster gebaut wurden als Brücken<br />
aus neuerer Zeit, bei denen bereits wenige<br />
Jahre nach der Fertigstellung die ersten<br />
Schäden auftraten. Mögliche Ursachen der<br />
Schäden sind:<br />
■ Anwachsen oder Veränderung der<br />
Einwirkungen,<br />
■ höhere Ausnutzung des Widerstandes,<br />
■ mangelnde Sorgfalt bei der Herstellung,<br />
■ mangelnde Sorgfalt bei der Bauwerksüberwachung,<br />
■ Erprobung nicht genügend erforschter<br />
Bauweisen.<br />
Eine BÜ ist daher aus Gründen der Sicherheit,<br />
aber auch der Qualitätssicherung dringend<br />
erforderlich. Neben der oben bereits<br />
dargestellten wirtschaftlichen Begründung<br />
für eine Bauwerksüberwachung, das heißt<br />
der Kostenersparnisse, bietet der Einsatz<br />
einer BÜ, wie sie der Sonderforschungsbereich<br />
(SFB) 477 »Bauwerksüberwachung«<br />
anstrebt, eine Reihe weiterer Vorteile:<br />
■ Einfache Bestimmung der Bauwerkssicherheit<br />
bei Nutzungsänderungen oder<br />
Anpassung an geänderte Verhältnisse<br />
beziehungsweise Randbedingungen.<br />
■ Die bisher übliche visuelle Inspektion<br />
führt dazu, dass häufig Schwachstellen<br />
nicht entdeckt werden. Eine BÜ im vorgeschlagenen<br />
Rahmen führt zu einer<br />
Objektivierung der ansonsten subjektiven<br />
visuellen Inspektion.<br />
■ Der Einsatz innovativer Bauweisen und<br />
Baustoffe – bisher nur mit großem Aufwand<br />
durchzusetzen – wird mithilfe<br />
einer geeigneten Bauwerksüberwachung<br />
erleichtert.<br />
■ Als Nebeneffekt wird die Qualität der<br />
üblichen Modellbildung verbessert, da<br />
durch das Monitoring genaue Daten<br />
über das Bauwerksverhalten über der<br />
Zeit vorliegen.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
STRATEGIEN ZUR<br />
SICHERUNG DER<br />
NUTZUNG<br />
Ziel der Forschungsaktivitäten des <strong>Braunschweig</strong>er<br />
SFB 477 ist es, Methoden und<br />
Strategien zur Sicherstellung der Gebrauchstauglichkeit<br />
und der Tragsicherheit von<br />
Bauwerken – im Folgenden zusammengefasst<br />
als Nutzungsfähigkeit bezeichnet -–<br />
mithilfe einer integrierten Bauwerksüberwachung<br />
zu entwickeln. Die dabei angestrebten<br />
Zwischenziele – die nicht alle in<br />
der nächsten Förderperiode angegangen<br />
werden können – lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />
■ Sicherstellung der Nutzungsfähigkeit<br />
von Bauwerken durch das Erkennen<br />
plötzlicher Widerstandsverluste mithilfe<br />
der Bauwerksüberwachung (Messung,<br />
Auswertung, Beurteilung) und durch<br />
daraufhin eingeleitete Sanierungen,<br />
■ realistische Prognose des künftigen<br />
Bauwerksverhaltens durch adaptive<br />
Modelle, das heißt durch Modelle, die<br />
mithilfe der Messgrößen an den jeweiligen<br />
Bauwerkszustand angepasst<br />
werden,<br />
ABBILDUNG 4<br />
Schadensentwicklung bei Brückenbauten.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ Planung, Optimierung und Bewertung<br />
von Überwachungsmaßnahmen im Hinblick<br />
auf maximale Effizienz und<br />
Aussagesicherheit,<br />
■ Konzeptionierung von Bauwerksüberwachung<br />
als Instrument zur Planung<br />
und Optimierung von Überwachungs-,<br />
Beobachtungs- und Instandhaltungsmaßnahmen,<br />
■ Konzeptionierung der BÜ als Baustein<br />
eines ganzheitlichen Qualitätssicherungssystems<br />
für Bauwerke,<br />
■ Entwicklung, Adaptierung von Sensoren<br />
für spezielle Zwecke der Bauwerksüberwachung,<br />
■ Entwicklung effizienter Methoden zur<br />
Minimierung der Gesamtkosten des<br />
Bauwerkes (volks- und betriebswirtschaftlich)<br />
durch integrierte BÜ.<br />
33
34 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 5<br />
Prinzipielle Vorgehensweise bei der Bauwerksüberwachung.<br />
Um die Methoden und Strategien, die im<br />
SFB 477 entwickelt werden, bei möglichst<br />
unterschiedlichen Bauwerken einsetzen zu<br />
können, werden neben Bauwerken des<br />
klassischen Konstruktiven Ingenieurbaus –<br />
zum Beispiel Hochbauten, Brücken, Tunnel,<br />
Krane, Türme, Maste – auch Deponien<br />
untersucht. Die Verfahren und Methoden<br />
sind in beiden Bereichen weitgehend gleich,<br />
sodass durch Beschränkung auf diese beiden<br />
Bauwerkstypen die Basis der eingesetzten<br />
Methoden und Verfahren verbreitert<br />
wird. Die Fragen, die die Geotechnik beim<br />
Bau von Deponien zu lösen hat, ähneln<br />
denen im Konstruktiven Ingenieurbau, da<br />
die auf die Gründung einwirkenden Lasten<br />
von Deponien denen von Hochhäusern entsprechen,<br />
sodass die Probleme, die von der<br />
Geotechnik zu lösen sind, in beiden Bereichen<br />
recht ähnlich sind.<br />
SCHWACHSTELLEN<br />
IDENTIFIZIEREN<br />
Die grundsätzliche Vorgehensweise bei der<br />
Bauwerksüberwachung lässt sich schematisieren.<br />
Abbildung 5 zeigt eine Übersicht der<br />
wesentlichen Punkte, die im Folgenden<br />
kurz kommentiert werden.<br />
Zunächst müssen die zu erwartende Schädigung<br />
und deren Symptome unter Berücksichtigung<br />
der Anforderungen an das Bauwerk<br />
(Nutzung, Gefahrenpotenzial, das<br />
heißt der zu erwartende Folgeschaden etc.)<br />
definiert werden. Schadenssymptome sind<br />
beispielsweise Anrissgrößen, Verformungen,<br />
anwachsende Dehnungen, chemische<br />
Grenzwerte, Durchfeuchtung oder andere<br />
Grenzzustände. Die jeweiligen Grenzzustände<br />
sind zu definieren.<br />
So unterschiedlich die Überwachungsaufgaben<br />
bei verschiedenen Bauwerken und<br />
Bauweisen auch sein mögen – eine ist allen<br />
gemeinsam: Es müssen die Schwachstellen<br />
des Bauwerkes identifiziert werden. Dies<br />
sind die Orte innerhalb eines Bauwerkes,<br />
die für Schäden besonders anfällig sind<br />
und/oder bei denen Schäden nicht zu tolerierende<br />
Folgen nach sich ziehen. Bei der<br />
Schwachstellenidentifizierung wird zweigleisig<br />
vorgegangen. Auf der einen Seite<br />
werden die deterministischen Verfahren zugeschärft;<br />
dies sind insbesondere Verbesserungen<br />
der (klassischen) Modelle zur Beschreibung<br />
und Prognose des jeweiligen<br />
Schadens. Derartige deterministische Vorgehensweisen<br />
sind dann problemlos anzuwenden,<br />
wenn – bauwerksbedingt – die<br />
Schwachstellen hinreichend einfach festzulegen<br />
sind. Dies ist häufig bei älteren<br />
Bauwerken der Fall, bei denen das Sicherheitsniveau<br />
innerhalb des Bauwerkes stark<br />
schwankt. Bei neu errichteten Bauwerken<br />
ist das Sicherheitsniveau dagegen, bedingt<br />
durch die traglastorientierte Bemessung<br />
aller Bauelemente, in der Regel vereinheitlicht.<br />
Eine eindeutige Schwachstelle existiert<br />
dann häufig nicht mehr, der Ort einer<br />
Schwachstelle kann sich, etwa durch Streuungen<br />
im Werkstoff, weit von der rechnerisch<br />
ermittelten Schwachstelle entfernt<br />
haben. Es liegt auf der Hand, dass eine derartige<br />
Situation nur mithilfe zuverlässigkeitsorientierter<br />
Vorgehensweisen behandelt<br />
werden kann. Dabei sind beispielsweise unterschiedliche<br />
Versagenspfade, die zu unterschiedlichen<br />
Grenzzuständen führen, unter<br />
Berücksichtigung der statistischen Streuungen<br />
und Korrelationen der jeweiligen Einflussgrößen<br />
zu untersuchen. Die Schwachstelle<br />
wird dann anhand der dominierenden<br />
Beiträge zur Versagenswahrscheinlichkeit<br />
des Bauwerkes identifiziert.<br />
Ein weiteres Problem im Zusammenhang<br />
mit der Schwachstellenidentifikation ergibt<br />
sich durch die dafür notwendigen Modellbildungen.<br />
Die Zugrundelegung falscher<br />
oder ungenauer Modelle kann Schwachstellen<br />
verdecken oder vortäuschen. Typische<br />
Beispiele sind die in den vergangenen Jahren<br />
bekannt gewordenen Schäden im Stahlbrückenbau<br />
durch nicht berücksichtigte<br />
räumliche Tragwirkung. Zur Vermeidung<br />
derartiger Fehler ist bei der Schwachstellenidentifikation<br />
eine möglichst genaue Modellierung<br />
des Bauwerkes vorzunehmen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Die Frage, welche Überwachungsstrategie<br />
anzuwenden ist, hängt vom jeweiligen Problem<br />
ab. Die Strategie kann<br />
■ prognostisch sein; dabei werden adaptive<br />
Modelle benötigt, die sich an den<br />
jeweiligen Bauwerkszustand anpassen<br />
oder die angepasst werden (der linke<br />
Ast des Flussdiagramms (Abb. 5) stellt<br />
die Vorgehensweise dar), oder<br />
ABBILDUNG 6<br />
Prinzipielle Vorgehensweise bei monitoring-basierter Methodik.<br />
ABBILDUNG 7<br />
Vergleich der Lastwechselzahlen: Prognose und Wirklichkeit.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ schwellwertüberwachend sein; dabei<br />
werden durch kontinuierliches Monitoring<br />
Schwellwerte (z. B. Grenzdehnung,<br />
Riss am Zuggurt) überwacht, ohne dass<br />
ein Modell benötigt wird. Diese Vorgehensweise<br />
könnte zum Beispiel bei<br />
älteren Bauwerken gewählt werden, bei<br />
denen die Vergangenheit weitgehend im<br />
Dunkeln liegt, sodass Modelle wegen<br />
der unbekannten Anfangsbedingungen<br />
zu unsicher wären.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ZUVERLÄSSIGERE<br />
MODELLE UND MESS-<br />
METHODEN ENTWICKELN<br />
Wie bereits angemerkt, passen sich die<br />
adaptiven Modelle mithilfe der durch die<br />
BÜ gemessenen Parameter stetig oder diskret<br />
an die jeweils neue Bauwerkssituation<br />
an. Die adaptiven Modelle sind deshalb<br />
grundsätzlich anders aufgebaut als die üblichen<br />
Prognosemodelle, die stets von einem<br />
Anfangszeitpunkt über einen relativ langen<br />
Zeitraum eine Aussage liefern sollen und<br />
aus diesem Grund vergleichsweise komplex<br />
sein müssen (vgl. z. B. Werkstoffmodelle für<br />
zyklische Beanspruchung mit einer großen<br />
Zahl innerer Variablen). Adaptive Modelle<br />
sind daher wesentlich zuverlässiger als die<br />
herkömmlichen Prognosemodelle. Wesentliche<br />
Voraussetzung für die adaptiven Modelle<br />
ist jedoch, dass ihre Eingangsparameter<br />
reale, möglichst einfach zu messende<br />
physikalische, chemische und biochemische<br />
Größen sind.<br />
Ein Beispiel für ein adaptives Modell, das<br />
theoretisch experimentell arbeitet, ist das<br />
Teilprojekt B3 des SFB 477. Um die Lebensdauer<br />
eines Bauwerkes oder Bauteiles vorhersagen<br />
zu können, werden in der Regel<br />
drei Modelle benötigt: ein Einwirkungsmodell,<br />
ein Systemmodell und ein Schädigungsmodell,<br />
die alle mit (Abb. 7) zufälligen<br />
und systematischen Fehlern behaftet<br />
sind.<br />
Bei der üblichen Methode zur Lebensdauervorhersage,<br />
dem Nennspannungskonzept,<br />
ist etwa die Einstufung eines Kerbdetails<br />
in eine Kerbfallklasse oft nicht eindeutig<br />
möglich. Reihenfolgeeffekte, die eine<br />
große Auswirkung haben, werden dabei<br />
nicht erfasst. Verfahren, die auf Grundlage<br />
örtlicher Beanspruchungen basieren, zeigen<br />
Probleme hinsichtlich der Einschätzung der<br />
Eingangsparameter und gegebenfalls auftretender<br />
plastischer Verformungsanteile.<br />
Es treten systematische und zufällige Einflüsse<br />
auf, die nur schwer bestimmt werden<br />
können.<br />
Werden die Dehnungen direkt am Bauwerk<br />
an den kritischen Stellen kontinuierlich<br />
gemessen (Monitoring), entfallen die<br />
Unsicherheiten der Einwirkungs- und Systemmodelle<br />
(Abb. 6). Mit den gemessenen<br />
Beanspruchungen und den daraus mithilfe<br />
von Zählverfahren wie der Rainflow-Methode<br />
ermittelten Beanspruchungskollektiven<br />
könnte zunächst eine Schädigungsberech-<br />
35
36 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 8<br />
Prinzip des Dehnungsaufnehmers – Empfindlichkeit als Funktion des Adapters.<br />
nung nach den bekannten linearen oder<br />
nichtlinearen Schadensakkumulationsverfahren<br />
durchgeführt werden. Eine solche<br />
Ermittlung der Lebensdauer umgeht<br />
die ersten beiden Modelle, ist aber nach<br />
wie vor mit erheblichen Unsicherheiten<br />
behaftet. Es ist daher konsequent, auch<br />
die Nutzung des unsicheren Schädigungs-<br />
ABBILDUNG 9<br />
Aufbau des Feuchte-Sensors.<br />
modells zu umgehen. Dessen Ungenauigkeit<br />
wird durch eine experimentelle<br />
Lebensdauerbestimmung minimiert. Dazu<br />
wird im Labor eine Probe mit einem dem<br />
Original nachgebildeten Detail in einer<br />
digital geregelten Prüfmaschine mit einem<br />
passenden Ersatzbeanspruchungsschrieb<br />
bis zum Bruch belastet (Abb. 6).<br />
Ein wesentliches Problem besteht in der<br />
Festlegung des Ersatzzeitschriebes. Da die<br />
Belastung bei Bauwerken im Allgemeinen<br />
randomartig ist (Verkehr, Wind, Wellen,<br />
etc.), muss ein Zufallszeitschrieb erzeugt<br />
werden, der die statischen Parameter der<br />
tatsächlichen Beanspruchung, beispielsweise<br />
des Verkehrs, korrekt wiedergibt. Zusätzlich<br />
muss der Zeitschrieb die zeitabhängigen<br />
Phänomene richtig angeben, da diese<br />
auf das Ergebnis einen erheblichen Einfluss<br />
haben. Dazu gehören unter anderem die<br />
Erfassung der genauen statistischen Fahrzeugklassenabfolge,<br />
der zeitliche Abstand<br />
der Fahrzeugklassen, Clusterbildung von<br />
LKW und so weiter.<br />
Wenn diese Effekte präzise erfasst werden,<br />
ist die Prognosegenauigkeit relativ hoch,<br />
das heißt eine Größenordnung besser als<br />
bei den üblichen Verfahren. Abbildung 7<br />
zeigt einen Vergleich der so ermittelten<br />
Prognosewerte der Anrisslast auf der<br />
Ordinate und der am Bauwerk aufgetretenen<br />
Anrisslasten. Jeder Versuch wurde<br />
mehrfach durchgeführt, die Ergebnisse<br />
statistisch bewertet. Die Mittelwerte sind<br />
durch ausgefüllte Punkte dargestellt, die<br />
Striche geben die 95-Prozent-Konfidenz-<br />
Intervalle in der jeweiligen Richtung an.<br />
Wenn ein Punkt auf der 45-Grad-Geraden<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
liegt, entspricht die Prognose der Bauwerkswirklichkeit.<br />
Es ist zu erkennen, dass<br />
die mithilfe des adaptiven Modells durchgeführte<br />
Prognose recht genau ist.<br />
Die Adaptierung und Anpassung unterschiedlichster<br />
Messtechniken sind ein<br />
weiteres wichtiges Teilgebiet im SFB, weil<br />
ohne hinreichend sichere Messwerte eine<br />
Bauwerksüberwachung nicht möglich ist.<br />
In Abhängigkeit von den zu lösenden<br />
Aufgaben wird Messtechnik für physikalische,<br />
mechanische und chemische Anwendungen<br />
genutzt. Die für eine BÜ einzusetzende<br />
Messtechnik muss den Bedingungen<br />
des langzeitlichen, sicheren Einsatzes an<br />
Bauwerken genügen (In-situ-Messungen).<br />
Da ein großer Teil der üblichen Labormesstechnik<br />
diese Bedingungen nicht erfüllt,<br />
muss sie an die speziellen Bedingungen<br />
angepasst werden. Ferner ist die Entwicklung<br />
neuer Messtechnik erforderlich.<br />
Darüber hinaus muss die gesamte Messtechnik<br />
robust sein, und sie muss redundant<br />
angelegt werden, da in vielen Fällen<br />
ein Ersatz bei Ausfall nicht zu realisieren<br />
wäre. Bei der Datenübertragung wird,<br />
falls erforderlich, Funkfernübertragung<br />
(digitales Funktelefonnetz) eingesetzt.<br />
Zwei Entwicklungen werden im Folgenden<br />
kurz vorgestellt.<br />
Zur Messung des mechanischen zweidimensionalen<br />
Dehnungszustandes wird<br />
vom Projekt C3 ein neuartiger Sensor entwickelt,<br />
der in eine kleine Bohrung gepresst<br />
wird (s. Abb. 8). Im einzupressenden Adapter<br />
sind Dehnungsmessstreifen integriert,<br />
die die Verformung des Adapters messen<br />
und damit die Dehnungszustände anzeigen.<br />
Man sieht, dass der Adapter Nr. 4 hervorragende<br />
Übertragungseigenschaften aufweist.<br />
Für die Messung der Feuchte und des<br />
Chloridgehaltes von Beton wurde und wird<br />
vom Teilprojekt C1 ein Sensor entwickelt,<br />
der die Feuchte oder den Chloridgehalt<br />
über die Modifikation von Reichhardt’schen<br />
Farbstoffen misst. Der Farbstoff wird in eine<br />
geeignete Polymermatrix eingebettet, die<br />
Farbänderungen werden über Glasfaser<br />
übertragen. Abbildung 9 zeigt den prinzipiellen<br />
Aufbau, Abbildung 10 den Einbau<br />
in ein Betontestbauwerk (Hohes C).<br />
In der Folge der Überwachungsmaßnahmen<br />
wird nun eine Entscheidung über das<br />
weitere Vorgehen notwendig. Dieses kann<br />
sein:<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ Wartungen, Instandsetzungen,<br />
■ Nutzungseinschränkungen oder<br />
-ausweitungen,<br />
■ Verkürzung der Inspektionsintervalle,<br />
das heißt Intensivierung der Bauwerksüberwachung,<br />
beziehungsweise<br />
■ Außerbetriebnahme des Bauwerkes.<br />
Alle diese Aspekte werden in starkem Maße<br />
von Wirtschaftlichkeits-, aber auch von<br />
rechtlichen Gesichtspunkten gesteuert.<br />
VERFAHREN AN REALEN<br />
UND LABOR-BAUWERKEN<br />
VERIFIZIEREN<br />
Da die prognostizierte Lebensdauer realer<br />
Bauwerke relativ groß ist, ergeben sich Probleme<br />
bei der Validierung der entwickelten<br />
Verfahren, das heißt, die Schadensprognose<br />
lässt sich am realen Bauwerk nicht unmittelbar<br />
bestätigen. Unabhängig davon ist<br />
man bei der Messung an einem realen Bauwerk<br />
auf die dort vorliegende zufällige Situation<br />
beschränkt. Aus diesem Grunde<br />
sind neben Messungen an realen Bauwerken<br />
zunächst vor allem Untersuchungen an<br />
Bauwerken im Labor – so genannte Ersatz-<br />
Bauwerke – vorgesehen, an denen ohne<br />
große Mühe alle wesentlichen Parameter<br />
eingestellt und variiert werden können. Dadurch<br />
wird die Validierung der Verfahren<br />
auch bei großer Parametervielfalt sichergestellt.<br />
Gleichzeitig werden an ausgewählten<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 10<br />
Sensortest im Ersatzbauwerk »Hohes C«.<br />
realen Bauwerken Überwachungseinrichtungen<br />
installiert, um unter Nicht-Laborbedingungen<br />
Messtechnik, Auswertung und<br />
Bewertung zu überprüfen.<br />
Abbildung 11 zeigt die derzeit eingesetzten<br />
Ersatzbauwerke. Für den Bereich<br />
stählerner Konstruktionen ist dies der so<br />
genannte Tremolant (wegen der aufgebrachten<br />
Schwingbeanspruchung), in dem<br />
vorwiegend Ermüdungsprozesse mit unterschiedlichen<br />
Methoden studiert werden.<br />
Im Bereich der Betonkonstruktionen wurde<br />
das »Hohe C« (wegen seiner Form) als<br />
Ersatzbauwerk entwickelt, in dem die<br />
genannten Feuchte- und Cloridsensoren getestet<br />
werden. In der »Harmonia« (wegen<br />
der dort im Gleichgewicht befindlichen biologischen<br />
und chemischen Prozesse) werden<br />
für Deponiebauwerke Prozesse studiert,<br />
die innerhalb einer Deponie stattfinden.<br />
Die Ersatzbauwerke sind die Fokuspunkte<br />
für alle Teilprojekte, das heißt, alle Projekte<br />
37
38 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Hohes C Tremolant Harmonia<br />
ABBILDUNG 11<br />
Ersatzbauwerke.<br />
nutzen die Ergebnisse, die an den Ersatzbauwerken<br />
gemessen werden. Abbildung<br />
12 zeigt beispielhaft die Risserkennung in<br />
der Ecke eines Stegfensters. Diese wurde<br />
mithilfe der Verfahren des Teilprojektes B3,<br />
des Teilprojektes B4 und des Teilprojektes<br />
C3 durchgeführt. Man sieht, dass alle Verfahren<br />
und Sensoren den Anriss, der kleiner<br />
als ein Millimeter war, recht gut anzeigen.<br />
Die bereits vor dem Anriss abfallenden Kurven<br />
der Sensoren der Teilprojekte B4 und<br />
C3 sind durch die lineare Verbindung der<br />
Messpunkte vor und nach dem Anriss entstanden.<br />
Bei engeren zeitlichen Messabständen<br />
wären auch hier die Kurven zum<br />
Risszeitpunkt abgeknickt.* ■<br />
LITERATUR<br />
1 Mikami, J. Sakano, M., Shibata, H.:<br />
Database of damaged steel bridges.<br />
Technology Reports of Kansai-Univ.<br />
No.35 (1993) 185-196.<br />
2 Zweiter Bericht über Schäden an Bauwerken<br />
der Bundesverkehrswege.<br />
Bundesministerium für Verkehr 1995.<br />
Literatur zu den Teilprojekten siehe:<br />
http://www.sfb477.tu-bs.de/<br />
* Die Arbeiten im SFB 477 »Bauwerksüberwachung«<br />
werden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />
(DFG) unterstützt. Dafür sei auch<br />
an dieser Stelle herzlich gedankt.<br />
Nähere Angaben zu den Teilprojekten finden<br />
Interessierte unter http://www.sfb477.tu-bs.de/<br />
ABBILDUNG 12<br />
Vergleich der Risserkennungsverfahren.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
40 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
INDUSTRIELLE MESSTECHNIK –<br />
KEIN SELBSTZWECK<br />
Der Blick auf die Uhr,<br />
die morgendliche Gewichtskontrolle<br />
auf der Badezimmerwaage oder die<br />
Prüfung des Reifenluftdrucks an der<br />
Tankstelle – im Alltag führen wir<br />
Messungen der unterschiedlichsten<br />
Art durch, meist ohne uns dessen<br />
bewusst zu sein. Messen ist ein<br />
alltäglicher Vorgang, den<br />
offensichtlich jeder beherrscht.<br />
Warum sich Menschen dennoch<br />
beruflich – insbesondere im Bereich<br />
der Forschung – mit Messtechnik<br />
auseinandersetzen, erklärt<br />
Professor Dr. Rainer Tutsch<br />
im folgenden Artikel.<br />
In der Praxis werden bei der Anwendung<br />
der Messtechnik immer wieder<br />
Fehler gemacht, die zum Teil fatale<br />
Folgen haben. Extreme Beispiele sind in<br />
der Weltraumtechnik zu finden:<br />
■ Das Versagen des Hubble-Space-Telescopes<br />
im Jahr 1990, das eine spektakuläre<br />
Reparatur im All mit Kosten in<br />
Höhe von circa zwei Milliarden Dollar<br />
erforderte, war auf ein fehlerhaftes<br />
Messsystem zurückzuführen.<br />
1999 stürzten zwei Satelliten auf dem Mars<br />
ab und gingen verloren:<br />
VON RAINER TUTSCH<br />
Institut für Produktionsmesstechnik (IPROM)<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
Von der Messtechnik noch nicht erreicht:<br />
das akustische Ortungsvermögen von Fledermäusen.<br />
■ Beim Mars Polar Lander registrierte ein<br />
falsch kalibrierter Sensor an Bord den<br />
Ruck beim Ausfahren des Landefahrwerks<br />
als Aufsetzen auf der Marsoberfläche.<br />
Daraufhin schaltete der Steuerrechner<br />
die Triebwerke in großer Höhe<br />
ab.<br />
■ In einem Software-Modul des Mars<br />
Climate Orbiter wurden versehentlich<br />
Längenmaße in Inch statt in Meter verwendet;<br />
das führte zu fehlerhafter<br />
Bahnberechnung und zum Absturz.<br />
Fehlerhafter Umgang mit Maßeinheiten<br />
ist ein typischer Messfehler.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
HERAUSFORDERUNGEN<br />
FÜR DIE MESSTECHNIK<br />
Im industriellen Alltag sind die Pannen<br />
glücklicherweise weniger spektakulär und<br />
werden in der Regel nicht publik gemacht.<br />
Dennoch sei die Aussage erlaubt: Die Messtechnik<br />
ist im industriellen Produktionsprozess<br />
zwar nicht direkt wertschöpfend, fehlende<br />
oder falsch angewandte Messtechnik<br />
kann jedoch in hohem Maße wertvernichtend<br />
sein.<br />
Die Messtechnik wird durch die Fortschritte<br />
in der Fertigungstechnik vor immer<br />
neue Herausforderungen gestellt. So sind<br />
die typischen Toleranzen in der spanenden<br />
Bearbeitung seit 1900 um mehr als eine<br />
Größenordnung kleiner geworden. Heutige<br />
Massenprodukte wie Videorecorder oder<br />
Computerfestplattenlaufwerke enthalten<br />
Bauteile als preiswerte Großserienteile, die<br />
vor 50 Jahren nur im wissenschaftlichen<br />
Gerätebau in Einzelstücken und vor 100<br />
Jahren überhaupt nicht hätten gefertigt<br />
werden können. Aber auch andere Charakteristika<br />
der modernen Produktion wirken<br />
sich auf die industrielle Messtechnik aus:<br />
■ Die Produkte werden immer individueller<br />
auf Kundenwünsche zugeschnitten.<br />
Aus einer steigenden Variantenvielfalt<br />
bei immer kleineren Losgrößen folgt<br />
eine wachsende Anforderung an die<br />
Flexibilität der Messmittel.<br />
■ Mit der Erhöhung der Produktionstakte<br />
muss die Geschwindigkeit von Messsystemen<br />
steigen.<br />
■ Dem wachsenden Kostendruck im Fertigungsprozess<br />
muss die Messtechnik<br />
durch kostengünstige Messsysteme<br />
gerecht werden.<br />
■ Die Fertigungstiefe vieler Unternehmen<br />
wurde in den 90er-Jahren wesentlich<br />
reduziert. Lieferantennetzwerke über<br />
Landesgrenzen hinweg sind keine Seltenheit.<br />
Daraus resultiert die Forderung,<br />
dass die Rückführbarkeit der in<br />
verschiedenen Unternehmen – auch in<br />
verschiedenen Ländern – verwendeten<br />
Messmittel auf gemeinsame Normale<br />
gesichert sein muss. Standards für die<br />
Protokollierung und Übermittlung von<br />
Messergebnissen müssen ebenfalls vorhanden<br />
sein.<br />
Somit besteht Handlungsbedarf, die Messtechnik<br />
für industrielle Produktionsprozesse<br />
weiterzuentwickeln. Das TU-Institut für<br />
Produktionsmesstechnik (IPROM) nimmt<br />
diese Herausforderung an. Im Folgenden<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
werden aktuelle und für die nahe Zukunft<br />
geplante Arbeiten des Instituts vorgestellt.<br />
Diese lassen sich den Themenfeldern<br />
■ optische 3-D-Messtechnik, das heißt Messung<br />
der dreidimensionalen Gestalt von<br />
Werkstücken mit optischen Verfahren,<br />
■ Mikro- und Oberflächenmesstechnik,<br />
■ akustische Messtechnik und<br />
■ Qualitätsmanagement<br />
zuordnen.<br />
3-D-MESSVERFAHREN –<br />
EIN WACHSTUMSMARKT<br />
Im Vergleich mit »klassischen« Koordinatenmessgeräten<br />
mit berührend arbeitenden<br />
Tastern haben optische 3-D-Messverfahren<br />
den Vorteil der berührungslosen, rückwirkungsfreien<br />
Messtechnik und der hohen<br />
Datenrate. Es existiert eine Fülle unterschiedlicher<br />
optoelektronischer Systeme<br />
zur Messung der dreidimensionalen Geometrie<br />
von Werkstücken. Die meisten<br />
lassen sich auf zwei grundlegende Messverfahren<br />
zurückführen, zu deren Entwicklung<br />
das TU-Institut unter Professor<br />
Dr. Reinhold Ritter in den vergangenen<br />
zehn Jahren Beiträge geleistet hat: die<br />
Photogrammetrie und die Anwendung<br />
strukturierter Beleuchtung.<br />
ABBILDUNG 1<br />
Prinzip der Photogrammetrie<br />
(links) und ein Beispiel<br />
eines photogrammetrischen<br />
Messsystems (rechts).<br />
ABBILDUNG 2<br />
a) Prinzip der strukturierten<br />
Beleuchtung;<br />
b) Werkstück mit projiziertem<br />
Linienmuster;<br />
c) Punktwolke als Ergebnis<br />
einer Messung;<br />
d) realitätsnahe Darstellung<br />
des Messdatensatzes.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Die Photogrammetrie basiert auf der Aufnahme<br />
mehrerer zweidimensionaler Bilder<br />
des Objekts aus verschiedenen Richtungen<br />
(Abb. 1). Im einfachsten Fall sind dies zwei<br />
Richtungen. Das entspricht dem stereoskopischen<br />
Sehen mit zwei Augen. In technischen<br />
Messsystemen wird häufig mit einer<br />
größeren Zahl von Einzelbildern gearbeitet,<br />
die entweder gleichzeitig von einer entsprechend<br />
großen Zahl von Kameras aufgenommen<br />
werden oder nacheinander von einer<br />
Kamera, die um das Objekt herum bewegt<br />
wird. Zur Auswertung der Bilder müssen<br />
Punkte der Objektoberfläche in mehreren<br />
Einzelbildern identifiziert und einander zugeordnet<br />
werden. Da die verfügbaren Bildverarbeitungsalgorithmen<br />
bei weitem nicht<br />
die Leistungsfähigkeit des menschlichen<br />
Mustererkennungsvermögens haben, werden<br />
die Objektoberflächen häufig mit Mustern<br />
versehen, die eine automatisierte Erkennung<br />
vereinfachen. Das können Punkte,<br />
Gitter oder unregelmäßige, stochastische<br />
Strukturen sein.<br />
Bei der Anwendung strukturierter Beleuchtung<br />
(Abb. 2) wird der Effekt genutzt,<br />
dass bei der Projektion eines Musters auf<br />
eine Objektoberfläche und bei Betrachtung<br />
des Objekts aus einer anderen Richtung als<br />
der Projektionsrichtung das Muster entsprechend<br />
der dreidimensionalen Oberflächenform<br />
verzerrt wahrgenommen wird<br />
(Abb. 2b). In der praktischen Anwendung<br />
41
42 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
werden meist nacheinander mehrere unterschiedliche<br />
Liniengitter projiziert.<br />
Weite Verbreitung haben Auswertealgorithmen<br />
nach dem Phasenschiebeverfahren<br />
oder dem von Professor Dr. Friedrich Wahl,<br />
TU-Institut für Robotik und Prozessinformatik,<br />
erfundenen binären Graycode-Algorithmus<br />
beziehungsweise einer Kombination<br />
beider Ansätze gefunden. Ergebnis ist eine<br />
aus mehreren 1.000 Messpunkten bestehende<br />
Punktwolke (Abb. 2c), die durch so<br />
genannte Flächenrückführungs- und Renderingsoftware<br />
in eine realitätsnahe graphische<br />
Darstellung des Objektes überführt<br />
werden kann (Abb. 2d).<br />
Optische 3-D-Messtechnik ist ein derzeit<br />
stark wachsender Markt mit zuletzt circa<br />
30 Prozent Umsatzplus. Nach einer Schätzung<br />
des Verbandes der Investitionsgüterindustrie<br />
(VDMA) sind erst 15 bis 20 Prozent<br />
des Marktes erschlossen.<br />
Weiterer Forschungsbedarf<br />
vorhanden<br />
Es gibt bereits zahlreiche marktreife kommerzielle<br />
Lösungen, nicht zuletzt von mehreren<br />
<strong>Braunschweig</strong>er Unternehmen. Dennoch<br />
besteht für viele mögliche Anwendungsfälle<br />
noch Forschungsbedarf. Drei<br />
Beispiele aus aktuellen Projekten des<br />
IPROM sollen dies belegen:<br />
ABBILDUNG 5<br />
Komponente eines Mikromotors und Kopf eines<br />
Hundeflohs als Beispiele für Rasterelektronenmikroskop-Aufnahmen.<br />
■ Für Werkstücke mit spiegelnder Oberfläche<br />
sind die vorab beschriebenen Verfahren<br />
nicht anzuwenden, da weder<br />
Strukturen auf der Oberfläche sichtbar<br />
sind noch Muster auf die Oberfläche<br />
projiziert werden können. Bei einem am<br />
IPROM entwickelten Messsystem wird<br />
die Verzerrung eines Musters bei Spiegelung<br />
an der gekrümmten Oberfläche<br />
ausgewertet. Das Ergebnis der Messung<br />
an einem Kaffeelöffel ist in Abbildung 3<br />
dargestellt.<br />
■ Um die Positioniergenauigkeit von<br />
Industrierobotern zu erhöhen und um<br />
Toleranzen bei der Darbietung von<br />
Werkstücken zuzulassen, werden mittlerweile<br />
in vielen Fällen elektronische<br />
Sichtsysteme eingesetzt. Werden zwei<br />
Kameras genutzt, so kann der Roboter<br />
im dreidimensionalen Raum geführt<br />
werden. Das Auflösungsvermögen eines<br />
optischen 3-D-Messsystems ist umso<br />
besser, je kleiner das Messvolumen ist.<br />
Daher ist es vorteilhaft, mit den beiden<br />
Kameras nicht den gesamten Arbeitsbereich<br />
des Roboters auszuwerten, sondern<br />
sie an der Roboterhand zu befestigen<br />
und mitzuführen.<br />
Im Rahmen des Sonderforschungsbereiches<br />
»Aktive Mikrosysteme« soll eine<br />
derartige optische 3-D-Regelung für<br />
einen Mikromontageroboter entwickelt<br />
werden. Eine konventionelle Lösung mit<br />
zwei Kameras ist für diesen Anwendungsfall<br />
zu groß und zu schwer. Daher<br />
wird ein miniaturisierter photogrammetrischer<br />
3-D-Sensor entwickelt, der die<br />
ABBILDUNG 3<br />
Beispiel für die optische Messung der<br />
Gestalt eines spiegelnden Objekts.<br />
ABBILDUNG 4<br />
Miniaturisierter 3-D-Bildsensor.<br />
Integration in den kleinen Einbauraum<br />
ermöglicht (Abb. 4). Durch eine spezielle<br />
Strahlteileroptik gelingt die gleichzeitige<br />
Abbildung zweier Ansichten des Objekts<br />
auf den Bildsensor einer Miniaturkamera.<br />
Ein Funktionsmuster dieses<br />
Sensors wurde erfolgreich getestet, nun<br />
folgt der Bau eines Prototypen.<br />
■ Das Rasterelektronenmikroskop (REM)<br />
wurde 1939 von Manfred von Ardenne<br />
erfunden und ist heute ein äußerst leistungsfähiges<br />
Instrument zur Untersuchung<br />
mikroskopischer und nanoskopischer<br />
Strukturen. Typische REM-Bilder<br />
(Abb. 5) erwecken einen plastischen<br />
Eindruck, der allerdings durch die im<br />
Vergleich mit optischen Mikroskopen<br />
große Schärfentiefe lediglich vorgetäuscht<br />
ist. Auch REM-Bilder sind zweidimensional.<br />
Allerdings lässt sich das<br />
Prinzip der photogrammetrischen Auswertung<br />
auf das Rasterelektronenmikroskop<br />
übertragen. Natürlich ist es nicht<br />
sinnvoll, das Mikroskop um das Objekt<br />
herum zu bewegen, stattdessen wird die<br />
Probe auf einem Kipp-/Schwenktisch in<br />
unterschiedliche Orientierungen relativ<br />
zum abtastenden Elektronenstrahl<br />
gebracht. Der photogrammetrische Ansatz<br />
konnte am IPROM anhand mehrerer<br />
Messreihen verifiziert werden. Zurzeit<br />
wird die erreichbare Genauigkeit<br />
analysiert, und es werden spezifische<br />
Kalibrieralgorithmen erarbeitet. Ziel ist<br />
die hochaufgelöste 3-D-Messung an<br />
Mikrobauteilen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
MIKROBAUTEILE UND<br />
OBERFLÄCHENPROFILE<br />
EXAKT VERMESSEN<br />
Dies führt uns zum Arbeitsgebiet der<br />
Mikro- und Oberflächenmesstechnik, das<br />
gegenwärtig aufgebaut wird. Im ersten<br />
Schritt wird eine messtechnische Ausstattung<br />
beschafft, mit der sowohl die Geometrie<br />
von Mikrobauteilen als auch das Oberflächenprofil<br />
technischer Werkstücke gemessen<br />
werden kann.<br />
Typische Mikrobauteile weisen Abmessungen<br />
von wenigen Millimetern und<br />
kleinste Strukturen von der Größenordnung<br />
Mikrometer auf. Die geometrische<br />
Gestalt kann relativ komplex sein. Die Mikrostruktur<br />
technischer Oberflächen ist –<br />
abhängig vom Material und von der Bearbeitung<br />
– sehr unterschiedlich.<br />
Kein derzeit verfügbares Messsystem<br />
kann alle Anforderungen, die durch die<br />
beiden genannten Aufgabenfelder gestellt<br />
werden, gleichzeitig erfüllen. Deshalb werden<br />
mehrere unterschiedliche Messsysteme<br />
beschafft, die sich gegenseitig ergänzen und<br />
zusammen einen sehr flexiblen Messplatz<br />
zur Mikro- und Oberflächenmesstechnik<br />
ergeben werden.<br />
Die zentrale Komponente des Messplatzes<br />
wird ein Multisensorkoordinatenmessgerät<br />
sein, das je nach Aufgabenstellung mit unterschiedlichen<br />
Sensoren die Oberfläche<br />
eines Werkstücks antasten kann. Neben<br />
optischen Verfahren auf der Basis eines Videomessmikroskops<br />
oder eines Autofokussensors<br />
können auch zwei unterschiedliche<br />
mechanische Taster eingesetzt werden. Insbesondere<br />
für Mikrobauteile ist der an der<br />
Physikalisch-<strong>Technische</strong>n Bundesanstalt<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
(PTB) in <strong>Braunschweig</strong> entwickelte Fasertaster<br />
mit einem Tastkugelradius von einem<br />
Bruchteil eines Millimeters interessant<br />
(Abb. 6).<br />
Besonders wichtig für die Zukunftsplanung<br />
des Instituts ist die Erweiterungsmöglichkeit.<br />
Sensoren, die künftig am IPROM<br />
entwickelt werden sollen, können zusätzlich<br />
in das Multisensorkoordinatensystem<br />
integriert werden, sodass mit der Zeit ein<br />
universeller Baukasten entstehen wird.<br />
Dabei sollen über die Geometrie hinaus<br />
auch weitere physikalische Eigenschaften<br />
der Oberfläche gemessen werden, zum<br />
Beispiel Ladungs- oder Temperaturverteilung<br />
und das magnetische Feld.<br />
Das Multisensorkoordinatenmessgerät<br />
wird durch ein Weißlichtinterferenzmikroskop<br />
und ein Tastschnittgerät ergänzt. Bei<br />
aktiven Mikrosystemen mit beweglichen<br />
Elementen ist die Messung von Relativbewegungen<br />
und Schwingungen im mikroskopischen<br />
Maßstab eine schwierige Aufgabe.<br />
Zu diesem Zweck wird ein faseroptisches<br />
Laservibrometer mit Einkoppelmöglichkeit<br />
in ein Mikroskop beschafft.<br />
SICH WIE FLEDERMÄUSE<br />
ORIENTIEREN – AKUSTI-<br />
SCHE MESSTECHNIK<br />
In der akustischen Messtechnik wird im<br />
Rahmen des Projekts »akustische Holographie«<br />
Neuland betreten. Ziel ist es, die<br />
Fähigkeit von Fledermäusen, sich auf der<br />
Basis von Ultraschall zu orientieren, technisch<br />
nachzubilden. Fledermäuse können<br />
bei Dunkelheit gespannten Drähten ausweichen<br />
und fliegende Insekten fangen.<br />
ABBILDUNG 6<br />
a) Multisensorkoordinatenmessgerät;<br />
b) Messkamera (MK) und Messtaster (MT);<br />
c) Fasertaster im Einsatz;<br />
d) Tastkugel des Fasertasters an Mikrozahnrad;<br />
e) Messprinzip des Fasertasters.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
43<br />
RAINER TUTSCH<br />
(Prof. Dr.-Ing.); Jg. 1959; Studium der<br />
Physik an der <strong>Universität</strong> Düsseldorf;<br />
dort arbeitete er von 1984 bis 1985<br />
als wissenschaftlicher Angestellter<br />
auf dem Gebiet der optischen Spektroskopie;<br />
1985 Wechsel zum Fraunhofer-Institut<br />
für Produktionstechnologie<br />
(IPT),Aachen, ab 1989 Leiter<br />
der Gruppe »optische Messtechnik«<br />
und ab 1991 Leiter der Abteilung<br />
»Mess- und Qualitätstechnik«; 1994<br />
Promotion an der RWTH Aachen;<br />
1995 bis 2000 Entwicklungsleiter<br />
und Mitglied der Geschäftsleitung in<br />
einem Unternehmen des MAN-Konzerns<br />
in München, dort Arbeiten zur<br />
Mess- und Regelungstechnik für den<br />
Offsetdruck-Prozess; seit Dezember<br />
2000 ist Dr.Tutsch Professor für<br />
Produktionsmesstechnik an der TU<br />
<strong>Braunschweig</strong>.
44 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Heutige technische Systeme sind von dieser<br />
Leistungsfähigkeit noch weit entfernt. Sonargeräte<br />
und medizinische Ultraschalldiagnostik<br />
arbeiten mit Ankopplung über Flüssigkeiten.<br />
Dort ist die Dämpfung des Schalls<br />
wesentlich geringer, und höhere Frequenzen<br />
sind möglich. In Luft wird Ultraschall<br />
zurzeit lediglich zur Abstandsmessung verwendet,<br />
etwa bei Einparkhilfen für PKWs.<br />
Unser Ziel ist die hochauflösende 3-D-<br />
Messung mit Schallwellen. Dabei wird das<br />
Prinzip der optischen Holographie auf die<br />
Akustik übertragen. Die optische Holographie<br />
basiert darauf, dass die Information<br />
über die dreidimensionale Gestalt eines Gegenstandes<br />
dadurch gespeichert werden<br />
kann, dass die Amplituden- und Phasenverteilung<br />
einer am Objekt reflektierten Welle<br />
aufgezeichnet wird (Abb. 7). In gleicher<br />
Weise soll im Rahmen dieses Projekts die<br />
Amplituden- und Phasenverteilung von an<br />
einem Objekt reflektierten akustischen<br />
Wellen ausgewertet und daraus die dreidimensionale<br />
Gestalt des Objekts bestimmt<br />
werden.<br />
MESSTECHNIK IN DAS<br />
QUALITÄTSMANAGEMENT<br />
INTEGRIEREN<br />
Ziel der Weiterentwicklung der industriellen<br />
Messtechnik ist die Integration in das<br />
unternehmensweite Qualitätsmanagement.<br />
Die systematische Umsetzung der Prinzipien<br />
des Qualitätsmanagements hat im vergangenen<br />
Jahrzehnt zu einer Wandlung der<br />
Rolle der Fertigungsmesstechnik geführt.<br />
Stand die Prüfung ursprünglich am Ende<br />
eines Produktionsprozesses und hatte<br />
primär Sortier- und Kontrollaufgaben, so<br />
ABBILDUNG 8<br />
Aufbau eines Qualitätsregelkreises durch Rückführung von<br />
Prüfinformationen in den Fertigungsprozess.<br />
ABBILDUNG 7<br />
a) Aufnahme eines optischen Hologramms;<br />
b) Rekonstruktion eines dreidimensionalen Bildes aus einem Hologramm;<br />
c) Messung der Amplituden- und Phasenverteilung eines am Objekt reflektierten<br />
Schallfeldes in der akustischen Holographie.<br />
steht nun die Rückführung der Prüfinformation<br />
in den Prozess im Vordergrund (Abb.<br />
8). Fehlerhafte Produkte sind Indizien für<br />
Fehler im Fertigungsprozess. Das Aussortieren<br />
dieser Fehlteile ist lediglich ein Kurieren<br />
an den Symptomen. Erst die Behebung<br />
der Prozessfehler führt zur Beseitigung der<br />
Ursachen. Vor einem Eingriff in den Prozess<br />
muss allerdings mit statistischen Verfahren<br />
sichergestellt werden, dass kein »Ausreißer«<br />
vorliegt. Derartig qualitätsgeregelte<br />
Produktionsprozesse erweisen sich als stabil<br />
gegen äußere Störeinflüsse.<br />
In der Praxis werden Produktionsprozesse<br />
sinnvoll in Teilprozesse gegliedert, die jeweils<br />
für sich einen Qualitätsregelkreis erhalten.<br />
Die Fülle der anfallenden Prüfinformationen<br />
wird aufbereitet, konzentriert<br />
und in einer unternehmensweiten Qualitätsdatenbasis<br />
allen Bereichen des Unternehmens<br />
zur Verfügung gestellt (Abb. 9).<br />
Mit diesen Daten können zum Beispiel<br />
Lieferanten beurteilt, die Fähigkeit von<br />
Maschinen und Prozessen ermittelt oder<br />
Schwachstellen in Konstruktionen erkannt<br />
werden.<br />
Die Herausforderung bei der Umsetzung<br />
dieses Ansatzes ist die Extraktion der wichtigen<br />
und verwertbaren Informationen aus<br />
der immensen Datenmenge, die während<br />
des Produktionsprozesses anfällt. Für die<br />
Entwicklung effizienter Qualitätsdatenbanken<br />
und so genannter Data-Mining-Strategien<br />
besteht noch großer Handlungsbedarf.<br />
Industrielle Messtechnik ist kein Selbstzweck,<br />
sondern soll die Fertigung oder die<br />
Entwicklung von Produkten unterstützen.<br />
Das Team des Instituts für Produktionsmesstechnik<br />
arbeitet daher in den meisten<br />
Projekten in enger Kooperation mit anderen<br />
Instituten oder mit Partnern aus der Industrie.<br />
Wir sind gerne bereit, auch mit<br />
Ihnen über Ihre aktuellen Messprobleme<br />
zu sprechen.* ■<br />
* Kontakt:<br />
TU <strong>Braunschweig</strong><br />
Institut für Produktionsmesstechnik<br />
Prof. Dr. Rainer Tutsch<br />
Tel.: 0531/391-7020<br />
Fax: 0531/391-5837<br />
E-Mail: r.tutsch@tu-braunschweig.de<br />
ABBILDUNG 9<br />
Zerlegung eines Fertigungsprozesses in qualitätsgeregelte Teilprozesse<br />
und Speicherung von Qualitätsinformationen in einer<br />
unternehmensweiten Qualitätsdatenbank.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
46 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
TU-COMPUTER FÜR DEN<br />
WELTRAUMEINSATZ<br />
Computer, die an Bord von<br />
Satelliten oder Raumsonden zum<br />
Einsatz kommen, steuern<br />
wissenschaftliche Instrumente, etwa<br />
Kameras zur Planetenerkundung. Der<br />
Einsatz im Weltraum stellt hohe<br />
Anforderungen an diese Rechner. Sie<br />
müssen klein und leicht sein, dürfen<br />
nur wenig Energie verbrauchen, und<br />
sie müssen den im Weltraum<br />
herrschenden Bedingungen<br />
standhalten, etwa gefährlichen<br />
Strahlungen oder extremen<br />
Temperaturschwankungen. Zudem ist<br />
Zuverlässigkeit oberstes Gebot.<br />
Notwendig ist auch die Entwicklung<br />
kleinerer Rechner mit größerer<br />
Datenspeicherkapazität, an der<br />
Professor Dr. Harald Michalik und<br />
seine Mitarbeiter zurzeit unter<br />
anderem arbeiten.<br />
Die Arbeitsgruppe »Kompaktrechner<br />
für die Raumfahrt« am Institut<br />
für Datentechnik und Kommunikationsnetze<br />
(IDA) der TU erforscht und<br />
entwickelt spezialisierte Computersysteme<br />
und Halbleitermassenspeicher. Diese kompakten<br />
Rechnersysteme werden zur Steuerung<br />
wissenschaftlicher Instrumente auf<br />
Raumsonden eingesetzt. Die Speicher die-<br />
VON HARALD MICHALIK<br />
Institut für Datentechnik und Kommunikationsnetze (IDA)<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
ABBILDUNG 1<br />
Integration der Rosetta-Sonde.<br />
nen als »Festplatte« zur Datenspeicherung<br />
an Bord von Satelliten und Raumsonden.<br />
Warum sind eigentlich für diese Aufgaben<br />
Rechner an Bord eines Raumfahrzeuges<br />
notwendig, und warum müssen dazu spezielle<br />
Systeme eingesetzt werden?<br />
Der Hauptgrund liegt in der Funkverbindung<br />
zwischen Bodenstation und Raumfahrzeug.<br />
Diese kann in der Regel nicht<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
ständig betrieben werden. Ein Satellit in<br />
erdnaher Umlaufbahn hat am Tag nur einige<br />
Funkkontakte von jeweils wenigen Minuten<br />
Dauer zu einer Bodenstation. Zudem<br />
ist die übertragbare Datenrate durch die<br />
Sendeleistung begrenzt. An Bord einer<br />
Raumsonde ist insbesondere elektrische<br />
Leistung eine knappe Ressource.<br />
Es lohnt sich also, automatische Steuerungen<br />
durch Rechner an Bord einer Raumsonde<br />
zu installieren. Auch Datenspeicherung<br />
an Bord ist notwendig, damit die Messungen<br />
von Instrumenten nicht durch die Bodenkontaktzeiten<br />
begrenzt werden.<br />
Von der Rechenleistung und Speicherkapazität<br />
her gesehen, würde ein heute üblicher<br />
PC oder ein Notebook durchaus ausreichen,<br />
um zum Beispiel einen Satelliten<br />
zu steuern oder die an Bord anfallenden<br />
Daten bis zum nächsten Bodenkontakt zwischenzuspeichern.<br />
Jedoch sind im Handel<br />
zu erwerbende Rechner aufgrund der Umweltbedingungen<br />
nicht tauglich für den<br />
Weltraumeinsatz. Neben mechanischer Beanspruchung<br />
beim Raketenstart, Vakuum<br />
und großen Temperaturschwankungen<br />
macht der modernen Elektronik im Weltraum<br />
vor allem die Strahlungsumgebung zu<br />
schaffen. In Erdnähe ist dies der so genannte<br />
Van-Allen-Gürtel, in dem hochenergetische<br />
Teilchen durch das Erdmagnetfeld gefangen<br />
sind. Bei interplanetaren Missionen<br />
sind die Raumsonden dem Sonnenwind<br />
ausgesetzt oder durchqueren Strahlungsgürtel<br />
von Planeten.<br />
ABBILDUNG 2<br />
Flugbahn der Rosetta-Sonde.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
COMPUTER WELTRAUM-<br />
BEDINGUNGEN ANPASSEN<br />
Die Computersysteme müssen daher diesen<br />
Umgebungsbedingungen angepasst werden<br />
und sollen auch, anders als ein Notebook,<br />
oft nach zehn Jahren oder mehr noch zuverlässig<br />
funktionieren. Ein gutes Beispiel<br />
dafür ist die wissenschaftliche Mission Rosetta,<br />
die von der europäischen Weltraumagentur<br />
ESA durchgeführt wird.<br />
Rosetta ist eine Sonde, die Anfang 2003<br />
gestartet wird und zum Kometen Wirtanen<br />
fliegen soll, um in der Nähe des Kometen<br />
über längere Zeit Messungen vorzunehmen<br />
und eine Tochtersonde auf dem Kometen<br />
abzusetzen. Auf dem langen Wege dorthin<br />
sind unter anderem Vorbeiflüge an Asteroiden<br />
geplant. Die eigentlichen Messungen<br />
am Kometen finden ab 2011 statt. Beendet<br />
wird die Mission voraussichtlich im Jahre<br />
2013. Die Arbeitsgruppe am IDA hat für<br />
diese aktuelle Mission Beiträge zu zwei wissenschaftlichen<br />
Instrumenten geliefert.<br />
Für das Massenspektrometer ROSINA –<br />
Rosetta Orbiter Spectrometer for Ion and<br />
Neutral Analysis –, das mit mehreren Sensoren<br />
die Teilchenzusammensetzung um<br />
den Kometen analysieren soll, hat das IDA<br />
den Instrumentenrechner, eine so genannte<br />
DPU (Digital Processing Unit), gebaut und<br />
programmiert. Der Rechner beinhaltet in<br />
einem etwa würfelförmigen Gehäuse von<br />
circa zwölf Zentimetern Kantenlänge alle<br />
Funktionen, um die Sensoren zu steuern,<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
47<br />
HARALD MICHALIK<br />
(Prof. Dr.-Ing.); Jg. 1957; Studium<br />
der Elektrotechnik an der TU <strong>Braunschweig</strong>;<br />
ab 1982 wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am TU-Institut für Datenverarbeitungsanlagen,Abteilung<br />
Instrumentenrechner für Weltraumexperimente;<br />
1991 Promotion mit<br />
einer Dissertation zum Thema »Bewegungskorrekturlangzeitbelichteter<br />
Bilder bei satellitengestützten<br />
Kameras«; 1991-1993 Projektingenieur<br />
im Bereich Raumfahrttechnologie<br />
mit den Schwerpunkten<br />
System- und Software-Engineering<br />
bei der OHB-System GmbH, dort<br />
ab 1993 Leiter der Abteilung<br />
Extraterrestrik;1993-2001 Professor<br />
für Informationstechnik an der Hochschule<br />
Bremen, Mit-Initiator der<br />
Gründung des fächerübergreifenden<br />
Instituts für Aerospace-Technologie<br />
und dessen stellvertretender Leiter;<br />
seit 2001 Professor an der TU <strong>Braunschweig</strong>.
48 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Messdaten aufzunehmen und Daten für die<br />
Telemetrie zur Erde aufzubereiten. Unter<br />
anderem werden die Daten der aufgenommenen<br />
Spektren komprimiert, um die knappe<br />
Übertragungsrate besser auszunutzen.<br />
Die geforderte Zuverlässigkeit des Rechners<br />
wird durch spezielle Bauteileauswahl, Fehlerkorrekturmaßnahmen<br />
und redundante<br />
Auslegung von Funktionsgruppen erreicht.<br />
Darüber hinaus ist der Rechner zusammen<br />
mit den übrigen Teilen des Instruments in<br />
enger Kooperation mit den Hauptverantwortlichen<br />
für das Instrument am Physikalischen<br />
Institut der <strong>Universität</strong> Bern intensiven<br />
Tests unterzogen worden.<br />
Für ein weiteres Instrument auf der Rosetta-Sonde,<br />
die Multifunktionskamera OSIRIS<br />
(Optical, Spectroscopic and Infrared Imaging<br />
System), hat das IDA ebenfalls Beiträge<br />
zur DPU geliefert. Hier ist neben dem Bilddatenmassenspeicher<br />
vor allem ein am IDA<br />
entwickeltes Softwaresystem zu nennen,<br />
das es den Wissenschaftlern am Max-Planck-<br />
ABBILDUNG 3<br />
Der ROSINA-Instrumentenrechner.<br />
Institut für Aeronomie in Lindau am Harz<br />
während der Kometenmission ermöglicht,<br />
die Kamera wie ein Observatorium zu betreiben:<br />
Trotz der großen Entfernung zum<br />
Messinstrument kann die komplexe Kamera<br />
von der Erde aus flexibel gesteuert werden.<br />
So sind im Prinzip auch bildinhaltsgesteuerte<br />
Messabläufe möglich. Diese Flexibilität<br />
ist gerade bei solchen Missionen wie<br />
Rosetta notwendig, weil es schwierig ist,<br />
Messabläufe schon Jahre vorher zu programmieren<br />
und weil darüber hinaus die<br />
große Entfernung von der Erde Direkteingriffe<br />
unmöglich macht.<br />
Die Rechner haben in beiden Fällen im<br />
Vergleich zu heutigen Pentium-PCs eine<br />
deutlich geringere Rechenleistung. Bei komplexeren<br />
Messaufgaben wie in der Erdbeobachtung<br />
mit zukünftigen Multispektralkameras<br />
oder Radarmessinstrumenten werden<br />
jedoch zum Teil auch in Raumfahrtanwendungen<br />
wesentlich höhere Rechenleistungen<br />
an Bord von Satelliten notwendig.<br />
ABBILDUNG 4<br />
ENVISAT-Speicher.<br />
ZUKUNFTSAUFGABE<br />
MINIATURISIERUNG<br />
In diesem Bereich erforscht die Arbeitsgruppe<br />
am IDA derzeit intensiv, wie mit den zur<br />
Verfügung stehenden Bauelementen zuverlässige<br />
und den Umweltbedingungen gerecht<br />
werdende Rechner für künftige Anwendungen<br />
gebaut werden können. Dabei<br />
spielt die Miniaturisierung eine große Rolle.<br />
Dies vorrangig jedoch nicht, um Volumen<br />
oder Masse zu sparen, sondern um bei kleinem<br />
Volumen des Rechners die Möglichkeit<br />
zu haben, ihn in einem dicken Aluminiumgehäuse<br />
zu verpacken. Durch diese<br />
Schirmung kann zumindest ein Teil der<br />
schädlichen Strahlungseffekte reduziert<br />
werden. Damit ist es möglich, den Rechner<br />
mit modernen kommerziellen Elektronikbauteilen<br />
aufzubauen – statt mit zwar<br />
strahlungsunempfindlichen, aber teuren<br />
und technologisch veralteten Bauelementen.<br />
Die Schirmung alleine reicht jedoch<br />
nicht, die Auslegung des Rechners muss<br />
fehlertolerant in Elektronik und Programmierung<br />
sein.<br />
Um die geforderte Rechenleistung in komplexen<br />
Instrumenten zu realisieren, werden<br />
zudem immer mehr Funktionen in kundenspezifische<br />
Chips verlagert. Hier arbeitet<br />
das Institut an so genannten Systems-on-<br />
Chip-Lösungen, die künftig die wesent-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
lichen Funktionen eines Instrumentenrechners<br />
auf einem Chip vereinen und damit<br />
die Miniaturisierung weiter vorantreiben<br />
werden. Erste Einsätze solcher »Mikro-<br />
DPUs« werden derzeit vorbereitet. Geplant<br />
ist, einen solchen Rechner integriert in<br />
einer wissenschaftlichen Mikrokamera auf<br />
einer Mission zur Venus im Jahre 2005 zu<br />
erproben.<br />
SPEICHERKAPAZITÄT<br />
ERHÖHEN<br />
Zunehmende Anforderungen werden auch<br />
an die Datenspeicher an Bord von Raumfahrzeugen<br />
gestellt. Für den gerade in Betrieb<br />
genommenen Umweltforschungssatelliten<br />
ENVISAT wurde ein Halbleiterdatenspeicher<br />
mit einer Kapazität von circa<br />
neun Gigabyte für Datenraten bis zu 110<br />
Megabit pro Sekunde unter Beteiligung des<br />
IDA in enger Kooperation mit der Firma<br />
Astrium in Friedrichshafen entwickelt. Auf<br />
jedem der sieben Speichermodule mit einer<br />
Fläche vom 22 mal 25 Zentimetern konnte<br />
jeweils etwas mehr als ein Gigabyte untergebracht<br />
werden.<br />
Für künftige Satelliten sind am IDA derzeit<br />
Module mit 16 Gigabyte Kapazität auf<br />
etwa der gleichen Größe und mit höheren<br />
Datenraten von bis zu zwei Gigabit pro Sekunde<br />
in der Entwicklung. Mit einigen wenigen<br />
Modulen lassen sich somit schnelle<br />
Systemspeicher von circa 100 Gigabyte<br />
Kapazität problemlos realisieren. Diese<br />
Speichermodule sind mit kommerziellen<br />
Speicherchips aufgebaut und ebenfalls<br />
durch Entwurfsmaßnahmen wie redundante<br />
Auslegung und autonome Fehlerkorrektur<br />
äußerst zuverlässig.<br />
NEUE TESTSYSTEME<br />
NOTWENDIG<br />
Die spezialisierten Rechner und Speicher<br />
werden schon während ihrer Entwicklung<br />
und vor ihrer Montage auf das Raumfahrzeug<br />
intensiven Funktions- und Umwelttests<br />
unterzogen. Dafür werden ebenso spezialisierte<br />
Testsysteme benötigt, die leicht<br />
konfigurierbar sein müssen und die genauso<br />
wie die Testobjekte mit hohen Datenraten<br />
betrieben werden können.<br />
Da kommerziell verfügbare Tester mindestens<br />
eine der Anforderungen nicht erfül-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 5<br />
16-Gigabyte-Speichermodul.<br />
len, beschäftigt sich die Arbeitsgruppe am<br />
IDA auch mit der Entwicklung von Testsystemen.<br />
Sie basieren auf handelsüblichen<br />
PCs und werden am IDA mit zusätzlicher<br />
Elektronik versehen sowie mit dem speziell<br />
entwickelten Softwaresystem GSEOS betrieben.<br />
Diese Software unterstützt sowohl<br />
die leichte Konfigurierbarkeit als auch den<br />
hohen Datendurchsatz. Zudem können mit<br />
diesem Softwaresystem die Testsysteme für<br />
einen Einsatz als Datenanalysegerät während<br />
der späteren Raumfahrtmission konfiguriert<br />
werden. Diese Testsysteme sind<br />
inzwischen so erfolgreich, dass sie auch<br />
von anderen Anwendern – zum Beispiel in<br />
der Medizintechnik – eingesetzt werden.<br />
Weitere Betätigungsfelder der Arbeitsgruppe<br />
sind die Durchführung von Strahlungstests<br />
mit elektronischen Bauteilen<br />
sowie Zuverlässigkeits- und Strahlungseffektanalysen<br />
von Baugruppen. Beides ist<br />
notwendig, um eine verlässliche Basis für<br />
die Entwicklung der Rechner und Speichersysteme<br />
für zukünftige wissenschaftliche<br />
Missionen und für Anwendungen in der<br />
Erdbeobachtung zu erhalten.<br />
Mit ihren Aktivitäten hat sich die Arbeitsgruppe<br />
in mehr als 30 Jahren eine hervorragende<br />
Position bei internationalen Raumfahrtprojekten<br />
erworben. Es bestehen Ko-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
operationen mit vielen wissenschaftlichen<br />
Institutionen in Europa und den USA sowie<br />
zu Raumfahrtfirmen.<br />
Natürlich werden die Erkenntnisse auch<br />
an die Studierenden weitergegeben. Der<br />
Autor, der die 15-köpfige Gruppe seit Mitte<br />
des letzten Jahres leitet, sowie Professor<br />
Dr. Fritz Gliem, der für die Gruppe vorher<br />
mehr als 30 Jahre verantwortlich war, bieten<br />
einschlägige Vorlesungen zur Elektronik<br />
in der Raumfahrt an – dies auch in Kooperation<br />
mit weiteren TU-Wissenschaftlern,<br />
die raumfahrtbezogene Fragestellungen<br />
bearbeiten, beispielsweise aus dem Institut<br />
für Luft- und Raumfahrtsysteme. Darüber<br />
hinaus sind Studierende über Diplom- und<br />
Studienarbeiten an den interessanten Projekten<br />
der Arbeitsgruppe beteiligt. ■<br />
49
52 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
KLIMAEINFLUSS DURCH CO 2 IN<br />
DER ATMOSPHÄRE – DIE ROLLE<br />
DES »TREIBHAUS-EFFEKTES«<br />
Der Autor weist darauf hin,<br />
dass der »Treibhaus-Effekt« in<br />
einem Gewächshaus nicht genau<br />
dem Effekt der Klimaerwärmung<br />
durch die Existenz von CO 2 in<br />
der Erdatmosphäre entspricht.<br />
Während bei Sonneneinstrahlung<br />
in einem<br />
Gewächshaus vor allem eine<br />
Wärmeabfuhr durch Luftkonvektion<br />
nicht möglich ist, ist<br />
die Erwärmung der Erde eine<br />
Folge der zum Teil verhinderten<br />
Strahlungskühlung. Eine<br />
einfache Modellberechnung des<br />
Verfassers zeigt für einen<br />
konkreten Fall erhöhter<br />
CO 2-Belastung mit realistischen<br />
Annahmen, dass sich die mittlere<br />
effektive Erdoberflächentemperatur<br />
um drei<br />
Grad Celsius erhöht.<br />
Geowissenschaftler und Ökologen<br />
diskutieren den schädlichen Einfluss<br />
einer erhöhten Konzentration<br />
an Kohlensäure-Gas (molekularer Bestandteil:<br />
CO 2 ) auf das Klima der Erde. Es<br />
wird eine weltweite Anhebung der Durchschnittstemperatur<br />
an der Erdoberfläche befürchtet.<br />
Wenn diese Erhöhung auch nur<br />
VON FRANZ RUDOLF KESSLER *<br />
Institut für Halbleiterphysik und Optik<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
Hat der »Treibhaus-Effekt« Einfluss auf das Leben auf der Erde?<br />
wenige Grad beträgt, ergeben sich bereits<br />
zum Teil verheerende Folgen für die Besiedlung<br />
der Erde. Ein Beispiel ist das erwartete<br />
Abschmelzen des Eises an den Polkappen<br />
der Erde mit der Konsequenz des Anstiegs<br />
des Wasserstandes der Ozeane – derart,<br />
dass heutige Uferbereiche und Inseln in<br />
größerem Umfang überschwemmt und<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
damit nicht mehr wie bisher bewohnbar<br />
sein werden.<br />
Als Grund für die globale Erwärmung<br />
wird der »Treibhaus-Effekt« zitiert, über<br />
dessen Art, Zustandekommen und Ausmaß<br />
jedoch häufig falsche beziehungsweise kontroverse<br />
Vorstellungen zirkulieren [1].<br />
Kurz gesagt: Es handelt sich bei dem<br />
»Treibhaus-Effekt« um die Erwärmung<br />
eines Raumes unter Einwirkung einfallender<br />
Sonnenstrahlung; dabei wird gleichzeitig<br />
die Abkühlung des Raumes durch Konvektion<br />
der Luft weitgehend verhindert.<br />
Auf diese Weise kommen relativ beträchtliche<br />
Temperaturerhöhungen über die Umgebungstemperatur<br />
zustande. Bei genauerer<br />
quantitativer Analyse der Temperaturerhöhung<br />
müssen zwar noch die zusätzlichen<br />
Abkühlungsphänomene des Raumes durch<br />
Wärmeleitung und Wärmestrahlung berücksichtigt<br />
werden. Diese Einflüsse sind jedoch<br />
im Allgemeinen relativ klein, und sie<br />
hängen überdies von zahlreichen, im Einzelfall<br />
unterschiedlichen Materialien und<br />
Konstruktionsdetails ab, sodass bei einer<br />
einführenden Erläuterung zum Thema<br />
»Treibhaus-Effekt« von ihnen absehen werden<br />
kann.<br />
DIE ERDE – KEIN<br />
»GÄRTNER-TREIBHAUS«<br />
Beim Treibhaus der Gärtner wird die Luftkonvektion<br />
im Innern und der Luftaustausch<br />
mit der Außenwelt durch die Verglasung<br />
weitgehend verhindert, während die –<br />
direkte und/oder diffus gestreute – Sonnenstrahlung<br />
praktisch ungehindert in den<br />
Raum gelangt und dort fast zu 100 Prozent<br />
absorbiert, das heißt in Wärme umgesetzt<br />
wird. Diese »Heizleistung« der Sonne, und<br />
das ist ein wesentlicher Aspekt des »Treibhaus-Effektes«,<br />
wird überwiegend durch<br />
Photonen des sichtbaren Spektralbereichs,<br />
das heißt mit Quanten-Energien zwischen<br />
1,59 [eV] und 3,26 [eV], transportiert, für<br />
die das Glas durchlässig und das menschliche<br />
Auge als Sinnesorgan empfindlich ist.<br />
Diese Heizleistung kann in voller Sonne in<br />
unseren Breitengraden – in einer Ebene<br />
senkrecht zum Sonnenstrahl gemessen –<br />
etwa 600 bis 900 Watt pro Quadratmeter<br />
betragen.<br />
Im Rahmen der Diskussion des mittleren<br />
Klimas beziehungsweise der mittleren Temperatur<br />
der Erde ist diese als Ganzes als rie-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
siger Raum zu verstehen, auf den die Sonne<br />
scheint. Was nun den Einfluss von Kohlensäuregas<br />
in der hohen Atmosphäre auf das<br />
Klima beziehungsweise die Temperatur betrifft,<br />
so reduziert sich die Diskussion auf<br />
die Frage, ob eine dortige CO 2 -Gasschicht<br />
wie eine Art »Verglasung« wirkt, die eine<br />
Temperaturerhöhung zur Folge hat. Diese<br />
Frage zu beantworten, heißt jedoch gerade,<br />
vornehmlich die Abkühlungsverhältnisse<br />
der Erde durch ihre Abstrahlung in das<br />
Weltall zu betrachten.<br />
Es ist nämlich bei der geringen Dichte der<br />
hohen Erdatmosphäre und dem weitgehend<br />
fehlenden Gasaustausch mit dem Vakuum<br />
des Weltalls gerade der Konvektionsanteil<br />
als Kühlungsmechanismus der vernachlässigbare!<br />
Insofern findet im Vergleich<br />
mit dem Gärtner-Treibhaus ein »Pferdewechsel«<br />
statt, der den unmittelbaren Vergleich<br />
mit dem dortigen, das heißt dem eigentlichen<br />
»Treibhaus-Effekt« etwas »hinken«<br />
lässt und dem Laien im Allgemeinen<br />
Verständnisschwierigkeiten beschert.<br />
Im Folgenden soll deshalb der Versuch<br />
unternommen werden, den »Treibhaus-Effekt«<br />
in der Erdatmosphäre physikalisch<br />
auf der Basis des Strahlungsaustausches<br />
zunächst ohne und dann mit CO 2 -Beimischung<br />
in der hohen Atmosphäre in vereinfachter<br />
Form zu erläutern, jedoch mit dem<br />
Ziel, die Kenntnis der ungefähren Größe<br />
der bei CO 2 -Existenz zu erwartenden<br />
Klima-Temparaturerhöhung, die, wie sich<br />
zeigen wird, etwa zwei bis fünf Grad Celsius<br />
(C) betragen könnte, quantitativ zu<br />
gewinnen.<br />
STATIONÄRE TEMPERATUR<br />
IM STRAHLUNGS-<br />
GLEICHGEWICHT<br />
Die Oberflächentemperatur der Erde ist die<br />
notwendige Folge einer Wärmezufuhr und<br />
einer Wärmeabfuhr. Im Gleichgewichtsfall,<br />
das heißt, wenn sich beide Wärmeströme<br />
gegenseitig aufheben, ist die Temperatur<br />
zeitlich konstant. Nach langjährigen Messungen<br />
ist eine derartige Konstanz derzeit<br />
gegeben.<br />
Der Wärmezustrom in die Oberfläche –<br />
einschließlich der darüber befindlichen Atmosphäre<br />
– besteht aus der in der Oberfläche<br />
absorbierten Sonnenstrahlung und<br />
aus dem, überwiegend durch Wärmeleitung,<br />
aus dem heißen Erdinnern zugeführ-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
53<br />
FRANZ RUDOLF<br />
KESSLER<br />
(Prof. Dr. phil.); Jg. 1927; 1948-1954<br />
Studium der Physik, Mathematik und<br />
Physikalischen Chemie an den <strong>Universität</strong>en<br />
Köln und Freiburg i. Br.,<br />
1954 Promotion mit einer physikalischen<br />
Arbeit zum Dr. phil. an der <strong>Universität</strong><br />
Köln; 1955-58 Wissenschaftlicher<br />
Assistent/Oberassistent an der<br />
<strong>Universität</strong> Köln und der <strong>Universität</strong><br />
des Saarlandes, Saarbrücken; 1959<br />
Habilitation für Physik; 1961 Diätendozent;<br />
1964 ordentlicher Professor<br />
für Physik und Direktor des neu gegründeten<br />
»Instituts B für Physik«<br />
[des heutigen »Instituts für Halbleiterphysik<br />
und Optik«] an der TH<br />
<strong>Braunschweig</strong>; 1992 Emeritierung;<br />
Akadem. Ämter an der <strong>Carolo</strong><br />
<strong>Wilhelmina</strong>: Leiter der Naturwiss.<br />
Abteilung (1967-69), Dekan der<br />
Naturwiss. Fakultät (1971-73),<br />
Dekan des Fachbereichs für Physik<br />
und Geowissenschaften (1987-89);<br />
Mitgliedschaften: 1969-92 Mitglied,<br />
ab 1992 korrespondierendes Mitglied<br />
der <strong>Braunschweig</strong>ischen Wissenschaftlichen<br />
Gesellschaft, 1978-<br />
93 Kurator der PTB, Mitglied zahlreicher<br />
Gremien, Kommissionen und<br />
Ausschüsse, unter anderem der DFG<br />
und des Landes Niedersachsen.
54 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 1<br />
Spektrale Abstrahlungsleistung der Erde bei 4,9° Celsius; die unteren Kurvenstücke gelten für<br />
CO 2 -Existenz.<br />
ten Wärmestrom (Stichwort »Geowärme«).<br />
Letzterer ist jedoch neben der solaren Erwärmung<br />
vernachlässigbar klein. Insgesamt<br />
wird im zeitlichen und räumlichen Mittelwert<br />
der Erdoberfläche ziemlich genau<br />
1*10 14 kWatt 1 an Wärmeleistung zugeführt.<br />
Da sich die Erde als Ganzes, ihre Atmosphäre<br />
eingeschlossen, nicht anders kühlen<br />
kann als durch die Wärmeabfuhr in der<br />
Form der Wärmestrahlung in das Weltall,<br />
ist der abgeführte Wärmestrom mithilfe der<br />
Strahlungsgesetze der Temperaturstrahlung<br />
zu berechnen. Diese Strahlungsgesetze in<br />
ihrer korrekten Kombination und Integration<br />
sind die Gesetze nach Planck, Kirchhoff<br />
und Lambert-Beer. Man kann in erster<br />
Näherung davon ausgehen, dass nur das<br />
Planck’sche Strahlungsgesetz die Frequenzabhängigkeit<br />
der Strahlungsanteile innerhalb<br />
der emittierten Gesamtstrahlung bestimmt.<br />
Das heißt, die Spektralfunktion des<br />
Emissionsgrades für die Temperaturstrahlung<br />
der Erde wird in vereinfachender Annahme<br />
als im relevanten infraroten Spektralbereich<br />
konstant vorausgesetzt. Auch<br />
wird in diesem Spektralbereich der Emissionsgrad<br />
im relativ kleinen Temperaturintervall<br />
von 4,9° bis 9,9° C als temperaturkonstant<br />
angenommen. Die damit allein aus<br />
dem Planck’schen Strahlungsgesetz folgende<br />
Kenntnis der Spektralfunktion und der<br />
Temperaturabhängigkeit der emittierten<br />
Temperaturstrahlung der Erde erlaubt es,<br />
das zur Diskussion stehende Thema des<br />
»Treibhaus-Effektes« beim Erdklima unter<br />
CO 2 -Einfluss quantitativ zu erörtern. Eine<br />
entsprechende spektrale Integration liefert<br />
dabei den Wert der abgegebenen Gesamtstrahlungsleistung<br />
und deren Temperaturabhängigkeit<br />
in dem genannten Temperaturintervall.<br />
Die Abbildung 1 zeigt in dem »oberen«<br />
glatten Kurvenverlauf die entsprechende<br />
Spektralverteilung der abgehenden Wärmestrahlung<br />
ohne CO 2 -Einfluss. Aufgetragen<br />
ist die »spektrale Abstrahlungsleistung«, das<br />
heißt die abgehende Strahlungsleistung pro<br />
Intervall dE der Photonenenergie als Funk-<br />
tion der Photonenenergie E bei der (mittleren!)<br />
effektiven Erdoberflächentemperatur<br />
von 4,9° C. Die spektrale Abstrahlungsleistung<br />
ist dabei »in willkürlicher Einheit«<br />
([a. u.]) aufgetragen.<br />
Es ist eine Art »Glockenkurve« mit einem<br />
ausgeprägten Maximum und beidseitigem,<br />
allerdings unsymmetrischen Abfall auf null<br />
zu erkennen. Die Fläche unter der Kurve<br />
ist die insgesamt abgestrahlte Leistung der<br />
zur Diskussion stehenden Wärmestrahlung<br />
der Erde und damit dem obigen Wert<br />
1*10 14 kWatt im Sinne des gegebenen<br />
Gleichgewichtes von Wärmezufuhr und<br />
Wärmeabfuhr gleichzusetzen. Damit besteht<br />
eine eindeutige Zuordnung der Gesamtstrahlungsleistung<br />
zu der absoluten<br />
Temperatur in der Einheit »Kelvin« [K], die<br />
als Parameter im Planck’schen Strahlungsgesetz<br />
enthalten ist. Für die Erde ergibt sich<br />
damit für die bei der stationären Temperatur<br />
insgesamt abgestrahlte Leistung eine absolute<br />
(mittlere!) Temperatur von (273,15<br />
+ 4,9) [K] beziehungsweise eine mittlere effektive<br />
Oberflächentemperatur der Erde<br />
von 4,9° C (s. Abb. 1).<br />
Die mittlere Temperatur der Erdoberfläche<br />
beträgt zwar 14,3° C, aber die darüber<br />
gelagerte Atmosphäre, deren Emissionsanteil<br />
etwa die Hälfte ausmacht, ist kälter. So<br />
tritt hier mit 4,9° C als niedrigere »effektive<br />
Erdoberflächentemperatur« ein entsprechender<br />
Mittelwert in Erscheinung.<br />
ABBILDUNG 2<br />
Spektrale Abstrahlungsleistung der Erde bei 9,9° Celsius; die unteren<br />
Kurvenstücke gelten für CO 2 -Existenz.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
56 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
CO 2-EINFLUSS AUF DAS<br />
STRAHLUNGSGLEICH-<br />
GEWICHT<br />
Ist in der hohen Erdatmosphäre eine CO 2 -<br />
Konzentration hinreichender Größe vorhanden,<br />
so muss deren Einfluss auf den<br />
Wärmehaushalt, das heißt den Strahlungsaustausch<br />
der Erde, betrachtet werden.<br />
CO 2 -Gas besitzt ein Absorptionsspektrum,<br />
das sich bei Photonenenergien E unterhalb(!)<br />
von E = 0,86 [eV] bis herab zu E =<br />
0,08 [eV] in einem mehr oder weniger starken<br />
»Bandenspektrum« bemerkbar macht<br />
[3], [4]. Zunächst ist also festzustellen, dass<br />
für das Sonnenspektrum, das sich schwerpunktmäßig<br />
oberhalb (!) von E = 0,9 [eV]<br />
erstreckt, keine Absorption existiert. Deshalb<br />
bleibt die Wärmezufuhr auf die Erde<br />
durch die Sonneneinstrahlung praktisch ungeändert<br />
erhalten. Es verhält sich also eine<br />
CO 2 -Gasschicht in der hohen Atmosphäre<br />
gegenüber dem Sonnenlicht wie das Glas<br />
eines Treibhauses: Sie ist voll durchlässig.<br />
Anders sind die Verhältnisse bezüglich<br />
der von der Erde abgegebenen Wärmestrahlung:<br />
Speziell die beiden relativ starken<br />
Absorptionsbanden des CO 2 -Gases bei<br />
»A«: 14,8 [µm] und »B«: 4,3 [µm] Vakuumwellenlänge,<br />
denen Photonenenergien zwischen<br />
EA1 = 0,075 [eV] und EA2 = 0,99<br />
[eV] beziehungsweise zwischen EB1 = 0,26<br />
[eV] und EB2 = 0,31 [eV] zuzuordnen sind,<br />
führen dazu, dass ein nennenswerter Teil<br />
dieser Wärmestrahlung die Erde nicht mehr<br />
verlässt, weil er absorbiert wird. Damit ist<br />
dieser Anteil als »Kühlungsanteil« zunächst<br />
ausgeschieden. Als Folge wird sich die<br />
Erde – einschließlich ihrer Atmosphäre –<br />
erwärmen, bis bei einer etwas höheren<br />
Temperatur durch die dann verstärkte Abstrahlung<br />
von Temperaturstrahlung, vornehmlich<br />
auch in den absorbtionsfreien<br />
Spektralbereichen, ein neuer Gleichgewichtszustand<br />
– das heißt ein neues kompensatorisches<br />
Gleichgewicht von Wärmezufuhr<br />
und Wärmeabfuhr und damit Temperaturstabilität<br />
– erreicht wird.<br />
Die damit ausgelöste Temperaturerhöhung<br />
um den Wert ∆T gegenüber der stationären<br />
Temperatur von 4,9° C ohne CO 2 -<br />
Gas in der hohen Atmosphäre lässt sich mithilfe<br />
einer Modellrechnung unter einigen<br />
ergänzenden Annahmen ableiten: Bei der<br />
Absorption der Strahlung durch die CO 2 -<br />
Gasmoleküle werden diese zu inneren<br />
Schwingungen und Rotationsbewegungen<br />
angeregt. Ist die atmosphärische Gaskonzentration<br />
hinreichend gering, so kann die<br />
von den Molekülen aufgenommene Energie<br />
wiederum nur durch Abstrahlung abgegeben<br />
werden. Man spricht dann von »Resonanzfluoreszenz«<br />
, das heißt, es tritt eine<br />
Wiederabstrahlung (»Re-Emission«) auf.<br />
Diese Abstrahlung erfolgt jedoch aufgrund<br />
der gegebenen molekularen Bewegung statistisch<br />
in jede Richtung, also isotrop, in den<br />
gesamten Raum. Auf die Erde fällt infolge<br />
dieser 50%igen Rückstrahlung praktisch<br />
wieder die Hälfte der absorbierten Leistung<br />
zurück, während die andere Hälfte in das<br />
Weltall geht.<br />
Als Modellfall nehme man an, dass 40<br />
Prozent der Temperaturstrahlung der Erde<br />
zunächst absorbiert werden, soweit sie in<br />
eines der beiden oben genannten spektralen<br />
Absorptionsintervalle des CO 2 -Gases<br />
fallen. Die Rückstrahlung reduziert also in<br />
diesen Spektralbereichen die Kühlungsleistung<br />
auf 80 Prozent des Wertes ohne CO 2 -<br />
Gas. Innerhalb der beiden Absorptionsbereiche<br />
»A« und »B« sollen die Rückstrahlungsprozentsätze<br />
spektral gleich groß und<br />
konstant sein.<br />
Abbildung 1 zeigt neben dem Spektralverlauf<br />
der Temperaturstrahlung »ohne CO 2 -<br />
Einfluss« auch den gültigen Spektralverlauf<br />
der effektiv zur Kühlung abgestrahlten<br />
ABBILDUNG 3<br />
Gesamtemission der Erde in den Weltraum.<br />
Temperaturstrahlung der Erde »mit CO 2 -<br />
Einfluss« für die effektive Erdoberflächentemperatur<br />
von 4,9° C : Innerhalb der beiden<br />
Absorptionsbereiche »A« und »B« sind<br />
jetzt jeweils die unteren Funktionsstücke<br />
zu betrachten. In den beiden Spektralbereichen<br />
der Strahlungsabsorption durch das<br />
CO 2 -Gas ist die in den Weltraum abgegebene<br />
Strahlungsleistung entsprechend reduziert.<br />
Die abgegebene Gesamtstrahlungsleistung<br />
hat sich durch diesen CO 2 -Einfluss<br />
um etwa vier Prozent reduziert gegenüber<br />
dem Fall ohne Existenz einer CO 2 -Gasschicht.<br />
Abbildung 2 enthält die analoge Darstellung<br />
für eine angenommene effektive Erdoberflächentemperatur<br />
von 9,9° C . Auch<br />
hier beträgt die Reduktion der Gesamtstrahlungsleistung<br />
durch den CO 2 -Einfluss etwa<br />
vier Prozent.<br />
Abbildung 3 zeigt vergleichend die resultierende<br />
abgestrahlte Gesamtleistung zur<br />
Kühlung der Erde als Funktion der mittleren<br />
effektiven Erdoberflächentemperatur<br />
einmal ohne und einmal mit CO 2 -Gas. Es<br />
ist zu erkennen, dass die Funktionsgerade<br />
»mit CO 2 -Schicht« den 4,9°-C-Wert »ohne<br />
CO 2 -Schicht« und damit den derzeitigen<br />
Gleichgewichtswert zur Kompensation der<br />
solaren Wärmezufuhr wieder erreicht (s.<br />
den Schnittpunkt mit der horizontalen<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Geraden, die der Gesamtleistung der Wärmezufuhr<br />
durch Sonneneinstrahlung entspricht),<br />
wenn die mittlere effektive Erdoberflächentemperatur<br />
um den Wert ∆T =<br />
2,99° C gestiegen ist. 2<br />
Damit hat das Modell bei entsprechend<br />
erhöhter CO 2 -Gas-Konzentration in der<br />
hohen Erdatmosphäre einen Klima-Temperaturanstieg<br />
von fast genau 3° C ergeben –<br />
einen Richtwert, der mit den Ergebnissen<br />
sehr viel detaillierterer und spezifizierterer<br />
Rechnungen der Klimaforschung [1] in befriedigender<br />
Weise übereinstimmt. ■<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
LITERATUR<br />
1 Die große Zahl der Publikationen zu<br />
dem Themenkreis »Klima/Treibhauseffekt/Atmosphäre«<br />
kann und braucht an<br />
dieser Stelle nicht aufgelistet zu werden.<br />
Sie erschließt sich relativ leicht<br />
über das Internet mithilfe einer »Suchmaschine«,<br />
zum Beispiel www.google.de,<br />
bei Eingabe der drei oben genannten<br />
Suchbegriffe. Die Lektüre der in der<br />
Suchantwort unter anderem erscheinenden<br />
Ausführungen (http://www.<br />
giub.uni-bonn.de/fs/klima/1grundla.<br />
htm) der <strong>Universität</strong> Bonn mit dem<br />
Titel »1. Klima & Treibhauseffekt –<br />
Naturwissenschaftliche Grundlagen« sei<br />
als erstes empfohlen.<br />
2 F. R. Keßler, Woran wird der Fortschritt<br />
der Physik gemessen?, Heft 60 der<br />
»Schriftenreihe der Nordwestdeutschen<br />
<strong>Universität</strong>sgesellschaft«, Wilhelmshaven,<br />
Vortrag vom 9. Januar 1975.<br />
3 Cl. Schaefer und F. Matossi, Das Ultrarote<br />
Spektrum, Springer-Verlag, Berlin,<br />
1930.<br />
4 W. Brügel, Einführung in die Ultrarotspektroskopie,<br />
Verlag D. Steinkopf,<br />
Darmstadt, 2. Auflage 1957.<br />
FUSSNOTEN<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
* Privatanschrift: Professor em. Dr. Franz Rudolf<br />
Keßler,Am Krausberg 12, 52351 Düren.<br />
Homepage: http://franzrudolf.kessler.bei.<br />
t-online.de<br />
1 1*1014 ist die Zahl 1 mit 14 Nullen angehängt.<br />
Die Einheit 1 kWatt entspricht 1000 Watt.<br />
Dieser Zahlenwert entspricht den in der Literatur<br />
angegeben Werten. Es kommt hier jedoch nicht<br />
auf den genauen Zahlenwert an, vielmehr soll nur<br />
die Größenordnung vermittelt werden.<br />
Entsprechende Berechnungen zu diesem Zahlenwert<br />
finden sich in den wissenschaftlichen Standardwerken<br />
der Geophysik bzw. Klimatologie.<br />
Diesbezüglich sei auch auf das Literaturzitat [2]<br />
verwiesen.<br />
2 Für den relativ kleinen Temperaturbereich von<br />
4,9° C bis 9,9° C liegt, wie Zwischenrechnungen<br />
ergeben haben, in beiden Fällen eine quasi-lineare<br />
Abhängigkeit der abgestrahlten Gesamtleistung<br />
von der Temperatur vor.<br />
57
58 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
WISSEN AUS »GROSSMUTTERS<br />
HANDKÖRBCHEN« – HEILENDE<br />
FRAUEN IM 18. JAHRHUNDERT<br />
Bis zum Beginn des<br />
18. Jahrhunderts war es nicht<br />
ungewöhnlich, dass Frauen<br />
ohne akademische Ausbildung<br />
medizinische Behandlungen<br />
durchführten. Es gab<br />
zahlreiche kompetente Frauen,<br />
die ein handwerklich<br />
orientiertes, empirisches<br />
Wissen besaßen, das sie<br />
zumeist durch mündliche<br />
Überlieferung erworben<br />
hatten. Seit Mitte des<br />
Jahrhunderts wurde unter<br />
anderem durch die<br />
Interessenpolitik der studierten<br />
Ärzte, die ihre Einnahmen<br />
durch die ungeliebte<br />
Konkurrenz gefährdet sahen,<br />
die Heiltätigkeit von Frauen<br />
stärker eingeschränkt.<br />
ABBILDUNG 1<br />
Das Mutterkorn – spätestens ab dem 18. Jahrhundert<br />
zur Beschleunigung der Wehentätigkeit<br />
eingesetzt.<br />
Am 19. September 1750 stellte die<br />
Redaktion der <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />
Anzeigen ihrer Leserschaft folgende<br />
»Aufgabe« (75. St., S. 1512): »Hat die,<br />
in der Medicin sehr erfahrne, Margaretha<br />
von Polen, vom Könige Ladislao wirklich<br />
die Freyheit erhalten, andere zu curiren;<br />
und sind mehrere Exempel vorhanden, dass<br />
man solches den Frauenspersonen erlaubt<br />
hat?«<br />
FAST EINE<br />
BRAUNSCHWEIGER<br />
QUERELLE DES FEMMES<br />
Dass im Mittelalter ein König einer Frau<br />
ganz offiziell das Kurieren erlaubt haben<br />
sollte, erschien den Verfassern der »Aufgabe«<br />
offensichtlich höchst ungewöhnlich.<br />
Die Redaktion hoffte vermutlich auf Zuschriften<br />
im Sinne eines Wettstreits und<br />
wohl auch auf Diskussionsbeiträge zum<br />
Thema »Frauen als Ärztinnen«. Das Thema<br />
war zu diesem Zeitpunkt gerade äußerst aktuell.<br />
1741 hatte die preußische Regierung<br />
der Arzttochter Dorothea Leporin, später<br />
Erxleben, gemeinsam mit ihrem Bruder die<br />
Genehmigung zum Studium der Medizin<br />
erteilt. Dieser Vorgang, zusammen mit<br />
VON BETTINA WAHRIG<br />
Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften<br />
mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
einer Streitschrift der Kandidatin »Gründliche<br />
Untersuchung der Ursachen, die das<br />
Weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten«<br />
(1742), hatte eine zum Teil polemisch<br />
geführte Debatte darüber ausgelöst, ob es<br />
Frauen erlaubt sein sollte, in die höheren<br />
Schulen und <strong>Universität</strong>en und in der Folge<br />
auch in die bisher männlich beherrschten<br />
Berufsfelder vorzudringen. Dorothea Erxleben<br />
erwarb schließlich trotz aller Widerstände<br />
im Jahre 1754 den Doktorgrad; es<br />
blieb jedoch für über hundert Jahre bei dieser<br />
einen medizinischen Promotion für<br />
Frauen. 1<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Doch zurück zu unserer »Aufgabe«. Einem<br />
Leser des <strong>Braunschweig</strong>er Intelligenzblattes,<br />
Friedrich Börner (1723-1761), Doktor<br />
der Medizin und Mitglied der renommierten<br />
Akademia Leopoldina, kam<br />
die Frage der Redaktion gerade recht. Sein<br />
Schwager Urban Benedict Friedrich Brückmann<br />
(1728-1812) hatte auf der <strong>Universität</strong><br />
Helmstädt zum Dr. med. promoviert,<br />
und so war es Börners Aufgabe, im Rahmen<br />
der Promotionsfeier eine Laudatio auf den<br />
jüngeren Kollegen zu halten. In der kleinen<br />
Festschrift 2 erörterte Börner die Frage, »ob<br />
es dem Frauenzimmer erlaubt sey, die Arzeneykunst<br />
auszuüben«. So konnte er sich<br />
aus dem Lorbeerkranz für den Laureatus<br />
ein paar Zweiglein für die eigene gelehrte<br />
Unsterblichkeit herauszupfen und nebenher<br />
ein paar Dinge sagen, die ihm auf der<br />
Seele lagen. Zum Schluss blieb dann auch<br />
noch etwas Raum für die eigentliche Laudatio.<br />
Börners Ausführungen zum Thema »Frau<br />
und Medizin« sind polemisch und für heutige<br />
Leserinnen nicht leicht nachzuvollziehen.<br />
Zwar fand er in der Literatur zahlreiche<br />
Hinweise auf gelehrte und in der Heilkunst<br />
erfolgreiche Frauen, er besaß sogar<br />
selbst eine Schrift der Hildegard von Bingen<br />
und beurteilte die heilkundige Äbtissin als<br />
eine »Zierde der Arzeneykunst«. Dennoch<br />
kam er zu dem Schluss: »Kurz, das weibliche<br />
Geschlecht ist völlig von der ausüben-<br />
ABBILDUNG 2<br />
Die Streitschrift von Dorothea Erxleben, der<br />
ersten Doktorin der Medizin (1754), löste<br />
eine kontroverse Debatte über das Frauenstudium<br />
aus.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
den Arzeneykunst auszuschließen, und<br />
durch obrigkeitliche Befehle davon abzuhalten.«<br />
Seine Hauptargumente sind erstens die<br />
göttlich gewollte Arbeitsteilung zwischen<br />
Mann und Frau, nach der letztere für die<br />
Erhaltung der Gattung und für den Haushalt<br />
zuständig sei, zweitens die Schwatzhaftigkeit<br />
der Frauen, die ihnen »verunmögliche«,<br />
der ärztlichen Schweigepflicht<br />
nachzukommen, und drittens der Umstand,<br />
dass sie keinen Zugang zum akademischen,<br />
schriftlichen, gelehrten Wissen hätten:<br />
»Endlich so gehöret auch etwas mehrere<br />
Wissenschaft dazu als die, welche die Weiberchen<br />
aus der Frau Großmutter ihren<br />
Handkörbchen haben. Ein rechtschaffner<br />
Arzt muß ein Mann von gutem Verstande,<br />
reifem Nachsinnen und trifftiger Ueberlegung<br />
seyn. Er muß den menschlichen Körper<br />
genau kennen: er muß wissen, wie derselbe<br />
in gesunden und kranken Tagen beschaffen<br />
sey; er muß eine jede Krankheit<br />
von der andern wohl zu unterscheiden wissen;<br />
er muß die Arzeneymittel, die zu Herstellung<br />
der verlohrnen Gesundheit gehören,<br />
genau kennen und gehörig zu verordnen<br />
wissen; er muß etwas mehres seinem<br />
Kranken geben können, als etwan<br />
Mixtur Simplex, Schwefelblumen, Chinarinde,<br />
Theerwasser und Sauerbrunnen; ...«<br />
Börners Schriftchen blieb die einzige Reaktion<br />
auf die »Aufgabe« der Braunschwei-<br />
ABBILDUNG 3<br />
Hildegard von Bingen – auch im 18. Jahrhundert<br />
noch als »Zierde der Arzeneykunst« betrachtet.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
59<br />
BETTINA<br />
WAHRIG<br />
Studium der Medizin und Philosophie<br />
in Mainz und Marburg; nach<br />
Studienaufenthalt in Florenz 1983-<br />
85 Arbeit am Institut für Medizinund<br />
Wissenschaftsgeschichte in Lübeck<br />
bis 1997; seit 1997 Professorin<br />
für Geschichte der Naturwissenschaften<br />
und der Pharmazie an der<br />
TU <strong>Braunschweig</strong>; Forschungsschwerpunkte:<br />
Geschichte des<br />
Gesundheitswesens, Staats-Organismusmetaphorik<br />
vom 17. bis zum 19.<br />
Jahrhundert, Experimentalisierung in<br />
den Biowissenschaften,<br />
Geschlechterverhältnisse in den Biowissenschaften.
60 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
gischen Anzeigen. Anscheinend hatte sich<br />
die Redaktion mehr Debatte und weniger<br />
Polemik versprochen, denn der Rezensent<br />
des Intelligenzblatts tadelt: »Sein [Börners]<br />
Eifer verleitet ihn so weit, daß er sich dem<br />
schönen Geschlechte, das uns doch überhaupt<br />
jederzeit ehrwürdig bleiben muß, unsers<br />
wenigen Ermessens, beynahe etwas zu<br />
nachtheilig ausdrückt.« 3<br />
Verfolgt man Börners Argumente im Einzelnen,<br />
so gewinnt man den Eindruck, als<br />
seien für Börner medizinisch praktizierende<br />
Frauen nur der am meisten ins Auge fallende<br />
Ausdruck einer allgemeinen Unordnung<br />
in medizinischen Dingen. Wortreich beklagt<br />
er auch, dass es so viele unwissende<br />
Pfuscher gebe, die den studierten Ärzten<br />
die Kunden wegschnappten. Dass sogar<br />
Frauen sich ungestraft mit Heilkunst beschäftigen,<br />
ist für ihn ein Beleg dafür, wie<br />
schlecht es um die Profession der Medici<br />
allgemein steht. Börners Schrift ist also<br />
auch ein Stück Berufspolitik.<br />
Das ‚weibliche Wissen‘ hat in der Darstellung<br />
Börners mehrere Nachteile, die es<br />
deutlich von der akademischen Medizin abheben:<br />
■ Es ist so begrenzt, dass mit circa fünf<br />
Medikamenten alle Krankheiten bekämpft<br />
werden.<br />
■ Es ist mündlich – von der Großmutter<br />
ihrem Handkörbchen – überliefert,<br />
und<br />
■ es drückt sich auch nicht schriftlich<br />
aus, da Frauen nicht gelernt haben,<br />
Rezepte zu schreiben.<br />
Hier werden wir Augenzeuginnen und Augenzeugen<br />
der Konstruktion eines Stereotyps:<br />
Das Wissen aus der »Großmutter ihrem<br />
Handkörbchen« ist mündlich überliefert,<br />
es gilt als zeitlich und inhaltlich begrenzt,<br />
unzuverlässig, abergläubisch, unautorisiert<br />
und damit letztlich unmoralisch,<br />
während das akademische Wissen über<br />
einen langen Zeitraum und in großem Umfang<br />
schriftlich überliefert, mit Religion und<br />
Vernunft vereinbar, autorisiert, legitimiert<br />
und damit letztlich moralisch ist. Der<br />
»Großmutter« steht der Arzt als »Mann von<br />
gutem Verstande« gegenüber. Das mündliche<br />
Wissen ist weiblich konnotiert und<br />
wird abgewertet, das schriftliche ist männlich<br />
konnotiert und wird aufgewertet. Die<br />
Geschlechterordnung ist der Kettfaden, in<br />
den die Ordnung des medizinischen Diskurses<br />
im 18. Jahrhundert eingewoben<br />
wird.<br />
ABBILDUNG 4<br />
Der Theriak-Verkäufer – Porzellanfigur eines<br />
fliegenden Arzneimittelhändlers im 18. Jahrhundert.<br />
»DAS WISSEN IM KOPF<br />
EINES ALTEN WEIBES«<br />
Die von Börner artikulierten Stereotype finden<br />
sich nicht nur in der Medizinalgesetzgebung<br />
des 18. Jahrhunderts wieder, sie<br />
wurden nach 1750 allmählich praktisch<br />
wirksam, auch wenn es die gelehrten Ärzte<br />
viel Tinte und persönliche Überzeugungsarbeit<br />
kostete, bis die in den Gesetzen formulierten<br />
Ordnungskriterien auch zu Handlungsmaximen<br />
wurden. Ein besonders eindrucksvolles<br />
Beispiel findet sich im Archiv<br />
der Hansestadt Lübeck.<br />
1714 verabschiedete der Lübecker Rat<br />
eine »Revidirte Medicinal-Ordnung«, die<br />
dann bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
hinaus in Kraft blieb. Diese verordnete<br />
unter anderem, dass »Theriac-Krähmer, Alchymisten,<br />
Quack-Salber, Zahn-Brecher,<br />
Winckel-Aerzte, so wohl Mann-, als Weibspersonen«<br />
gar nicht in die Stadt gelassen<br />
werden und erst recht keine Waren verkaufen<br />
dürften. Zusätzlich wurde der Verkauf<br />
einiger stark wirksamer pflanzlicher Drogen,<br />
unter ihnen auch gängiger Abtreibungsmittel,<br />
verboten.<br />
Dieser Verordnung scheinen lange keine<br />
Taten gefolgt zu sein. Dem Lübecker Intelligenzblatt<br />
ist sogar zu entnehmen, dass die<br />
Vertreiber von Geheimmitteln in krassem<br />
Gegensatz zur Medizinalordnung unbehelligt<br />
Annoncen schalten und ihre Ware verkaufen<br />
konnten.<br />
Erst im Jahre 1793 erreichten die Ärzte in<br />
einer gemeinsamen Anstrengung, dass sich<br />
die zuständige Behörde, die Lübeckische<br />
Wette, intensiv der Verfolgung von Übertretungen<br />
der Medizinalordnung widmete.<br />
Physicus (Stadtarzt) und Ratschirurg hatten<br />
in Zusammenarbeit mit ihren Kollegen eine<br />
Liste von neunzehn Personen zusammengestellt,<br />
die gegen die Medizinalordnung<br />
verstießen. Diese Personen wurden nun<br />
vor die Wette zitiert.<br />
Unter ihnen befanden sich auch vier Frauen,<br />
von denen zwei zusammen mit dem<br />
Ehemann beziehungsweise dem Bruder kurierten.<br />
Zwölf der neunzehn Beschuldigten<br />
hatten keine oder nur eine sehr fragwürdige<br />
Legitimation für einen Heilerinnen- oder<br />
Heilerberuf. Die Befragten versuchten, vor<br />
der Wette die Vorwürfe zu entkräften:<br />
Mehrere betonten, dass sie keine Medikamente<br />
benutzten, beziehungsweise dass die<br />
Medikamente einfache, im Alltag erhältliche<br />
Stoffe seien, wie zum Beispiel Butter<br />
oder Branntwein. Sie beschränkten sich<br />
nach eigenen Angaben zudem auf äußerliche<br />
Behandlung, etwa Pflaster oder Einreibungen,<br />
einige von ihnen behaupteten, sie<br />
hätten für ihre Hilfeleistung kein Geld angenommen.<br />
Die Rechtfertigungsmuster sprechen<br />
dafür, dass die Beschuldigten sich weniger<br />
wegen Durchführung medizinischer<br />
Behandlungen angeklagt sahen, für die sie<br />
nicht die nötige Ausbildung besaßen – vielmehr<br />
hatten sie die vom ständischen Gewerbeverständnis<br />
auferlegten Grenzen<br />
übertreten und beispielsweise den Chirurgen,<br />
den Apothekern oder den Ärzten das<br />
Brot weggenommen.<br />
In zwei Fällen wurden Frauen zusammen<br />
mit Bruder oder Ehemann befragt: Darin<br />
kann man einen Hinweis auf die Pflege heilerischen<br />
Wissens in der Familientradition<br />
sehen, bei dem es sich wohl hauptsächlich<br />
um mündlich überliefertes Wissen gehandelt<br />
hat. Gleichzeitig legen die Akten die<br />
Vermutung nahe, dass die Frauen in diesen<br />
Familien selbstverständlich an den heilerischen<br />
Tätigkeiten ihrer männlichen Verwandten<br />
teilhatten. Die beiden Frauen, die<br />
ohne männliche Begleitung vor der Wette<br />
erschienen, waren alt und allein stehend.<br />
Über eine von ihnen äußert sich das Wetteprotokoll<br />
ausführlich: »Margaretha Eliesabeth<br />
Barthelfelder, eine sehr bejahrte Wittwe,<br />
zeigt an, daß ihr Papa Scharfrichter und<br />
Doctor, und ihr Mann Regimentsfeldscheerer<br />
gewesen, sie habe schon 18 Jahre hier<br />
gewohnet, rühmte sich überaus großer Wis-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
senschaften, besonders vieler merckwürdigen<br />
Curen von Arm und Beinbrüchen, die<br />
sie, wie sie sich ausdrückte, von ihrem Papa<br />
erlernt, indem sie Schäden, die andere<br />
nicht heilen könnten, curirete. Was sie innerlich<br />
gebrauche, lasse sie von der Apothecke<br />
holen, und alle Recepte habe sie in<br />
ihrem Kopf. Es wurden ihr aber dem allen<br />
ungeachtet alle innerlichen so wohl, als<br />
äußerliche Curen, und alle Quacksalbereien<br />
untersagt, ob sie gleich hinzufügte, daß sie<br />
sich sonst nicht ernähren könnte« (Archiv<br />
der Hansestadt Lübeck, Polizeiamt 2535).<br />
Zwischen den Zeilen lesen wir eine deutliche<br />
Abwertung der Margaretha Eliesabeth<br />
Barthelfelder. Wie viel richtiges Wissen<br />
kann schon im Kopf einer alten Frau sein,<br />
die ihr Handwerk zudem von einem Scharfrichter<br />
gelernt hat? Sie selbst hingegen sieht<br />
das anders: Dass alle ihre Rezepte in ihrem<br />
Kopf sind, zeigt, wie sinnvoll ihr Wissen geordnet<br />
ist, wie gut ihr Gedächtnis arbeitet,<br />
dass sie nicht zu viel und nicht zu wenig<br />
weiß, um das Richtige zu tun, wenn sie gerufen<br />
wird. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit<br />
ist äußerliche Behandlung, eine traditionelle<br />
Domäne der Scharfrichter. 4 Dort<br />
liegt in ihren eigenen Augen auch die Legitimation<br />
ihres Wissens. Der Vater als Scharfrichter<br />
und der Mann als Feldscherer hatten<br />
nicht nur das Können, sondern auch die<br />
gesetzliche Erlaubnis, innerhalb bestimmter<br />
Grenzen heilerisch tätig zu sein. Ihr Hinweis,<br />
dass sie die Medikamente aus der<br />
Apotheke holen lasse, zeigt, dass auch sie<br />
sich eher gegen den Vorwurf des gewerblichen<br />
Übergriffs als gegen den medizinischer<br />
Inkompetenz wehrt. Ihr Wissen ist,<br />
so steht es im Protokoll, mündlich überliefert,<br />
zusätzlich ist es durch Vater und Ehemann,<br />
die beide ein staatliches Patent hatten,<br />
legitimiert. Ebenso wie die anderen Befragten<br />
nennt sie keine Einzelheiten über<br />
die von ihr angewandten Rezepte. »In ihrem<br />
Kopf« sind diese eben auch sicher davor,<br />
in die Hände Unberufener und gewerblicher<br />
Konkurrenten zu gelangen.<br />
Am Fall Barthelfelder wird deutlich, wie<br />
schwierig es ist, im Rückblick Kategorien zu<br />
bilden, welche nicht die Vor-Urteile der untersuchten<br />
Quellen übernehmen: Aus dem<br />
Protokoll des Wettebeamten geht eine Geringschätzung<br />
hervor, die genau jenem Stereotyp<br />
entspricht, das sich ab der Mitte des<br />
18. Jahrhunderts um den Vorstellungskomplex<br />
»Frauen/Wissen« herum bildet (modellhaft<br />
dafür die Schrift Börners). Das be-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
deutet umgekehrt aber nicht, dass zum Beispiel<br />
das Wissen von Margaretha Eliesabeth<br />
Barthelfelder über Generationen hinweg<br />
ausschließlich mündlich überliefert gewesen<br />
sein muss. Ihr Vater kann es aus einem<br />
Buch übernommen, ein gelehrter Mediziner<br />
kann das Wissen ihres Vaters und seiner<br />
männlichen und weiblichen Kollegen längst<br />
aufgeschrieben haben.<br />
Immerhin zeigt der Vergleich von Börners<br />
Laudatio mit den impliziten Normen im<br />
Wetteprotokoll einige Tendenzen: Es hat in<br />
der Geschichte der Heilkunde eine Zeit gegeben,<br />
in der Heilkompetenz nicht notwendig<br />
mit der Verfügung über schriftlich überliefertes<br />
akademisch und staatlich legitimiertes<br />
Wissen verbunden wurde; Inhaberinnen<br />
und Inhaber eines solchen Wissens<br />
müssen auch gefragt gewesen sein; 5 die<br />
Überzeugung, dass nur ein Doktortitel zur<br />
medizinischen Behandlung befähigt, hat<br />
sich in den Behörden und bei den Kranken<br />
erst langsam und nie vollständig durchgesetzt.<br />
In den »Nischen« dieses nichtakademischen<br />
Wissens hat sich unter anderem<br />
die Heiltätigkeit von Frauen fortgesetzt, die<br />
durch obrigkeitliche Gesetze, ganz so wie<br />
Börner es gefordert hatte, im Laufe des 18.<br />
und 19. Jahrhunderts immer weiter kontrolliert<br />
und eingeschränkt wurde, bis zunächst<br />
in Nordamerika und England, dann<br />
auch auf dem europäischen Kontinent, die<br />
ersten Frauen zum Medizin- und zum Pharmaziestudium<br />
6 zugelassen wurden.<br />
VORGEHEN GEGEN<br />
»PFUSCHEREI«?<br />
Gehörte die von der Wette vernommene<br />
Margaretha Eliesabeth Barthelfelder zu<br />
einer verschwindenden Kategorie von Heilenden?<br />
Ist es im späten 18. Jahrhundert generell<br />
schwieriger geworden für Frauen,<br />
eine Heiltätigkeit auszuüben, da der Verfolgungswille<br />
der Regierungen gegenüber<br />
»Pfuschern« zunahm, wie man damals alle<br />
diejenigen nannte, die gegen die Medizinalordnung<br />
verstießen? Auch in den Akten aus<br />
dem Herzogtum <strong>Braunschweig</strong> finden sich<br />
zahlreiche Spuren von heilenden Männern<br />
und Frauen, die mit der Medizinalordnung<br />
in Konflikt gekommen waren. Zwei sehr<br />
gründliche Studien haben diese Akten bereits<br />
ausgewertet, jedoch nicht speziell im<br />
Hinblick auf das Geschlechterverhältnis. 7<br />
Für die Herzogtümer Jülich und Berg hat<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Susanne Landgraf 8 jüngst in einer Dissertation<br />
über Handlungsmuster von »Pfuscherinnen«<br />
und »Pfuschern« berichtet und interessante<br />
Details über deren Akzeptanz in<br />
der Bevölkerung herausgefunden. Wenn sie<br />
Erfolg beziehungsweise nicht mehr Misserfolge<br />
als ihre männlichen und gesetzlich legitimierten<br />
Kollegen hatten, wurden sie<br />
selbstverständlich konsultiert. Frauen sind<br />
in den überlieferten Akten unterrepräsentiert;<br />
die Autorin erklärt diesen Umstand<br />
damit, dass Frauen mit ihrer Heiltätigkeit<br />
seltener größere Einkünfte erzielten und<br />
somit auch seltener den Tatbestand eines<br />
verbotenen Gewerbes erfüllten.<br />
Eine weitere Quelle für die Suche nach<br />
heilenden Frauen und ihrer konkreten<br />
Tätigkeit sind medizinische Zeitschriften,<br />
die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />
oft Fragen des Medizinalwesens<br />
widmeten. Dort treffen wir etwa auf ein<br />
Mutterkornpräparat, das von einem »durchreisenden<br />
Empiriker« in der Stadtapotheke<br />
eingeführt und seitdem häufig von Gebärenden<br />
und Hebammen zur Beschleunigung<br />
der Wehentätigkeit benutzt wird. Ein<br />
klarer Verstoß gegen die Medizinalordnung,<br />
die innere Behandlung akademischen Ärzten<br />
vorbehält; dennoch wird über die Praxis<br />
berichtet, da sie neuen Aufschluss über<br />
die noch wenig erforschte Wirkung des<br />
ABBILDUNG 5<br />
Juniperus sabina, der Sadebaum: in der frühen<br />
Neuzeit als Abtreibungsmittel verbreitet.<br />
61
62 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Mutterkorns verspricht. Eine Frau aus dem<br />
Bürgertum hat sogar das Augenpulver des<br />
berühmten Arztes Ernst Georg Baldinger<br />
verbessert und mit Erfolg gegen Flügelfelle<br />
– eine häufige Augenkomplikation bei Pockenerkrankung<br />
– eingesetzt.<br />
Eine von Obrigkeiten besonders ungern<br />
gesehene Hilfe von Frauen für Frauen war<br />
die Beschaffung von Abtreibungsmitteln.<br />
Empört berichtet Baldinger über den Krankenbesuch<br />
bei einer Frau, der eine »alte<br />
Hexe« einen Trank von Sadebaum (Juniperus<br />
sabina, ein berüchtigtes Abtreibungsmittel)<br />
verabreicht hatte. Die Frau hatte<br />
abortiert, allerdings um den Preis einer Vergiftung.<br />
Als Baldinger ihr vorhielt, sie sei<br />
»eine wahre Mörderin«, ließ sie sich noch<br />
nicht einmal beeindrucken, denn sie war<br />
wie wohl die meisten ihrer Zeitgenossinnen<br />
und Zeitgenossen der Meinung, dass das<br />
ungeborene Kind in der Frühschwangerschaft<br />
noch unbelebt sei.<br />
HEILENDEN FRAUEN<br />
AUF DER SPUR<br />
Ein weiterer Ansatz, mehr über Frauen als<br />
Heilende zu erfahren, besteht darin, medizinische<br />
Quellen, vor allem solche, die sich<br />
auch an Laien richten, auf frauenspezifische<br />
Indikationen zu durchforsten. Ein vor kurzem<br />
abgeschlossenes Projekt an der TU-<br />
Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften<br />
9 hat diesen Ansatz verfolgt. Als besonders<br />
ergiebig hat sich hier die Gattung<br />
der Hausarzneibücher erwiesen. Für eine<br />
vorher ausgewählte Gruppe von gynäkologisch<br />
und geburtshilflich wirksamen pflanzlichen<br />
Drogen wurden die Nennungen über<br />
drei Jahrhunderte hinweg erfasst und analysiert.<br />
Bereits bei den Vorarbeiten zum<br />
Projekt haben wir festgestellt, dass zur Geschichte<br />
pflanzlicher Drogen im Bereich<br />
Gynäkologie und Geburtshilfe bislang noch<br />
wenig gearbeitet worden ist.<br />
In einem interdisziplinären Workshop im<br />
Dezember 2001 haben die Autorin und Dr.<br />
Christine Loytved, <strong>Universität</strong> Osnabrück,<br />
daher versucht, den Austausch zwischen<br />
aktuell bestehenden Forschungsprojekten<br />
in diesem Bereich zu intensivieren. 10 Die<br />
Ergebnisse werden voraussichtlich Mitte<br />
2003 in Buchform erscheinen; ein Folgetreffen<br />
des in Wolfenbüttel entstandenen<br />
Arbeitskreises Geschichte der Frauenheilkunde<br />
fand im November 2002 statt.<br />
Ziele des Arbeitskreises sind der Austausch<br />
von Arbeitsergebnissen in der Geschichte<br />
der Geburtshilfe, der Medizin und der Pharmazie<br />
im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe.<br />
Dabei ist uns besonders daran gelegen,<br />
heilenden und helfenden Frauen,<br />
aber auch Forscherinnen auf die Spur zu<br />
kommen. Abgesehen von der immer noch<br />
nötigen Bestandsaufnahme geht es ebenfalls<br />
darum, die zentrale Rolle der Geschlechterordnung<br />
in der Ordnung des Wissens sichtbar<br />
zu machen und zu analysieren.<br />
In meinem Beitrag habe ich einige Schlaglichter<br />
auf das 18. Jahrhundert geworfen,<br />
denn in dieser Zeit finden wesentliche<br />
Verschiebungen in der Ordnung der Geschlechter<br />
und in der Ordnung des Wissens<br />
sowie in ihrem wechselseitigen Verhältnis<br />
statt. Ich habe mehr Fragen aufgeworfen,<br />
als ich beantworten konnte.<br />
Dennoch hoffe ich gezeigt zu haben, dass<br />
sich hinter der »Großmutter ihrem Handkörbchen«<br />
ein breites Spektrum unterschiedlich<br />
kompetenter Frauen verbirgt, die<br />
ein handwerklich orientiertes, empirisches<br />
Wissen hatten, das sie über persönliche<br />
Weitergabe oder vielleicht auch aus dem<br />
einen oder anderen landessprachlichen<br />
Buch erworben hatten. Daneben gab es einzelne<br />
Frauen, die mit den akademischen<br />
Medizinern auf gleicher Augenhöhe standen<br />
– so lange sie es nicht wagten, akademische<br />
Würden zu fordern und ein vergleichbares<br />
Einkommen aus ihrer Heiltätigkeit<br />
anzustreben. ■<br />
FUSSNOTEN<br />
1 Vgl. Schiebinger, Londa: Schöne Geister. Frauen in<br />
den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart<br />
1993.<br />
2 Börner, Friedrich:Als der Hochedelgebohrne und<br />
Hocherfahrne Herr Urb. Friedr. Benedict Brückmann<br />
... die längstverdiente höchste Würde in der<br />
Arzeneykunst auf der berühmten Julius-Carls-<strong>Universität</strong><br />
zu Helmstädt empfing, wollte in gegenwärtigem<br />
Sendschreiben kürzlich untersuchen: ob<br />
dem Frauenzimmer erlaubt sey, die Arzeneykunst<br />
auszuüben? und zugleich seinen aufrichtigen<br />
Glückwunsch abstatten ... Leipzig [1750].<br />
3 <strong>Braunschweig</strong>ische Anzeigen Jg. 7, 1751, 41. St.,<br />
22.5. Rubrik: Recensiones einiger <strong>Braunschweig</strong>er<br />
und Wolfenbüttelischen Schriften, Rez. v. der<br />
Schrift Börners: Sp. 819.<br />
4 Vgl. Nowosadtko, Jutta: Scharfrichter und Abdecker.<br />
Der Alltag zweier »unehrlicher Berufe« in<br />
der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994; mit der<br />
Genese des Medizinalwesens und der Rolle der<br />
verschiedenen legitimierten Heilpersonen beschäftigte<br />
sich ein von der Autorin und Dr.Werner<br />
Sohn organisiertes Arbeitsgespräch an der Herzog<br />
August Bibliothek Wolfenbüttel im März 2000.<br />
Die Ergebnisse werden in Buchform veröffentlicht.<br />
5 Dies ist durch eine große Zahl historischer Studien<br />
bereits belegt.Vgl. z. B. Loetz, Francisca:Vom<br />
Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und<br />
medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens<br />
1750-1850, Stuttgart 1993, Lindemann,<br />
Mary: Health and Healing in Eighteenth-Century<br />
Germany, Baltimore u. a. 1996; . Beisswanger,<br />
Gabriele:Arzneimittelversorgung im 18. Jahrhundert:<br />
Die Stadt <strong>Braunschweig</strong> und die ländlichen<br />
Distrikte im Herzogtum <strong>Braunschweig</strong>-Wolfenbüttel,<br />
Stuttgart 1996.<br />
6 Vgl. Beisswanger Gabriele, Gudrun Hahn, Evelyn<br />
Seibert, Ildkó Szász, Christl Trischler: Frauen in der<br />
Pharmazie: die Geschichte eines Frauenberufes,<br />
Stuttgart 2001.<br />
7 Vgl. Lindemann 1996, Beisswanger, 1996 (wie<br />
Anm. 5).<br />
8 Landgraf, Susanne: Heilen außerhalb der Medizinal-Ordnung.Autorität,<br />
Konkurrenz und Geschlecht<br />
in den Herzogtümern Jülich-Berg 1799-<br />
1875, Diss. <strong>Braunschweig</strong> 2002.<br />
9 Projekt »Pflanzliche Arzneimittel für Frauen:<br />
Historische Aspekte und aktuelle Perspektiven für<br />
Gynäkologie und Geburtshilfe an konkreten Beispielen«,<br />
gefördert vom »Niedersächsischen Förderverbund<br />
Frauen in Naturwissenschaft und<br />
Technik« (NFFG) am Niedersächsischen Ministerium<br />
für Wissenschaft und Kultur) vom 1.6.1999<br />
bis zum 31.12.2001, in Zusammenarbeit mit dem<br />
Institut für Pharmazeutische Biologie,TU <strong>Braunschweig</strong>;<br />
Bearbeiterinnen: Iris Hübsch für die Geschichte<br />
der Naturwissenschaften und Eva Goclik<br />
für die Pharmazeutische Biologie.<br />
10 Tradieren – Aufschreiben – Verschweigen. Zur Geschichte<br />
pflanzlicher Drogen in Gynäkologie und<br />
Geburtshilfe,Tagung in der Herzog August Bibliothek<br />
Wolfenbüttel vom 12.-14.12.2001, gefördert<br />
vom NFFG.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
64 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ZWANGSARBEIT IN DER<br />
KRIEGSWIRTSCHAFT IM LAND<br />
BRAUNSCHWEIG 1939 BIS 1945<br />
Auch im Land <strong>Braunschweig</strong> ließ sich die Kriegswirtschaft<br />
nur durch die brutale Ausbeutung von Zwangsarbeitern,<br />
Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen aufrechterhalten. Ihre<br />
Zahl stieg während des Krieges von Monat zu Monat. In<br />
vielen Rüstungsbetrieben lag der Anteil der Zwangsarbeiter<br />
bei fast 50 Prozent. Aber nicht nur mit diesen Aspekten<br />
beschäftigen sich die Autoren und weitere Historiker in einem<br />
breit angelegten Forschungsprojekt: Sie untersuchen ebenfalls<br />
die Integration der <strong>Braunschweig</strong>er Industrie in die NS-<br />
Rüstungswirtschaft, Herkunft und Alter der Zwangsarbeiter<br />
oder das gegen sie angewandte Strafsystem – bis hin zu<br />
Todesurteilen durch das <strong>Braunschweig</strong>er Sondergericht.<br />
VON HANS-ULRICH LUDEWIG 1 UND GUDRUN FIEDLER 2<br />
1) Historisches Seminar der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
2) Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel<br />
ABBILDUNG 1<br />
Der <strong>Braunschweig</strong>er Arbeitsamtsneubau<br />
Cyriaksring: ein Musterarbeitsamtsgebäude<br />
im Nationalsozialismus.<br />
Kurz vor dem Abschluss steht<br />
ein Forschungsvorhaben, das<br />
gemeinsam vom Historischen<br />
Seminar der TU <strong>Braunschweig</strong> und dem<br />
<strong>Braunschweig</strong>ischen Geschichtsverein<br />
durchgeführt wird. Es hat sich die Aufgabe<br />
gestellt, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit<br />
im Land <strong>Braunschweig</strong> darzustellen.<br />
Als das Projekt vor über vier Jahren konzipiert<br />
wurde, gab es zwar einige wichtige<br />
lokale Einzelstudien über den Einsatz von<br />
Zwangsarbeitern im Land <strong>Braunschweig</strong>, es<br />
fehlte aber eine umfassende Untersuchung,<br />
die Kriegswirtschaft, Rüstungsproduktion,<br />
Arbeitsverwaltung und Zwangsarbeit während<br />
des Zweiten Weltkrieges systematisch<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
erforscht und aufeinander bezogen hätte.<br />
Deshalb entschlossen sich der <strong>Braunschweig</strong>ische<br />
Geschichtsverein unter seinem<br />
Vorsitzenden Dr. Horst-Rüdiger Jarck<br />
und das Historische Seminar mit Dr. Hans-<br />
Ulrich Ludewig, eine solche regionale Fallstudie<br />
zu betreuen. Das Projekt wird gefördert<br />
von der Stiftung NORD LB/ÖFFENT-<br />
LICHE. Mitarbeiter konnten aus Stiftungsund<br />
weiteren Drittmitteln angeworben<br />
werden. 1<br />
Erste Projektergebnisse wurden diskutiert<br />
anlässlich einer Tagung zum Thema »Zwangsarbeit<br />
und Kriegswirtschaft im Land <strong>Braunschweig</strong>«,<br />
die Geschichtsverein und Historisches<br />
Seminar in Zusammenarbeit mit<br />
dem Arbeitskreis »Gegen Vergessen – Für<br />
Demokratie e. V.«, Regionalgruppe <strong>Braunschweig</strong>,<br />
im Dezember 2000 abhielten. Die<br />
abschließenden Forschungsergebnisse werden<br />
in einem Aufsatzband veröffentlicht,<br />
der im Frühjahr 2003 erscheinen wird.<br />
ABBILDUNG 2<br />
Selbst Frauen, die auf die 80 Jahre zugingen,<br />
wurden im Land <strong>Braunschweig</strong> als Zwangsarbeiterinnen<br />
eingesetzt (Quelle: NStA WF, 55 Neu<br />
Wieda, Zg. 37/2002 Nr. 2).<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Das Historische Seminar geht mit diesem<br />
Projekt einen Weg weiter, den es seit vielen<br />
Jahren verfolgt: sich bewusst der Regionalgeschichte<br />
zu öffnen und mit außeruniversitären<br />
Forschungseinrichtungen der<br />
Region eng zusammenzuarbeiten.<br />
ZWANGSARBEIT UND<br />
WIRTSCHAFTSSTRUKTUR<br />
IN BRAUNSCHWEIG<br />
Die Erforschung der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus<br />
gehört zu den zentralen<br />
Aufgaben der Zeitgeschichtsforschung und<br />
stößt nach wie vor auf großes Interesse in<br />
der Öffentlichkeit. Ziel des Projektes ist es,<br />
den Einsatz von Zwangsarbeitern in der<br />
Rüstungsindustrie, in anderen Betrieben<br />
mit kriegswichtiger Produktion (Konservenfabriken<br />
etc.) und in der Landwirtschaft vor<br />
dem Hintergrund der <strong>Braunschweig</strong>er Wirt-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
65<br />
HANS-ULRICH<br />
LUDEWIG<br />
(Dr. phil.), Jg. 1943; Studium der<br />
Geschichte, Germanistik und<br />
Politischen Wissenschaften an<br />
der <strong>Universität</strong> München; 1975<br />
Promotion; seit 1972 an der<br />
TU <strong>Braunschweig</strong>; Forschungsschwerpunkte:<br />
Geschichte der<br />
Arbeiterbewegung, Justiz im Nationalsozialismus,<br />
Regionalgeschichte<br />
des 19. und 20. Jahrhunderts.
66 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
schaftsstruktur im Zweiten Weltkrieg und<br />
der Rolle der Arbeitsverwaltung als Anwerbungs-<br />
und Lenkungsbehörde zu untersuchen.<br />
Das Projekt will damit einen Beitrag<br />
leisten zur Erforschung der politischen Geschichte<br />
des <strong>Braunschweig</strong>er Landes, zur<br />
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber<br />
auch zur Alltagsgeschichte. Aktenmaterial<br />
ist in den regionalen Archiven – unter anderem<br />
im Niedersächsischen Staatsarchiv<br />
Wolfenbüttel (NStA WF) und im Stadtarchiv<br />
<strong>Braunschweig</strong> –, im Militärarchiv in<br />
Freiburg und im Bundesarchiv in Berlin<br />
reichlich vorhanden. Vor allem aber gilt es,<br />
Leben und Arbeit zehntausender von<br />
Zwangsarbeitern in den Rahmen der regionalen<br />
Geschichte einzuordnen und an ihr<br />
Schicksal angemessen zu erinnern.<br />
Deshalb werden zwei methodische Ansätze<br />
verfolgt, nämlich die Auswertung des<br />
vorhandenen schriftlichen Quellenmaterials<br />
und die Befragung von Zeitzeugen. Die<br />
Auswertung von Fragebögen, die an ehemalige<br />
zivile Zwangsarbeiter aus Polen, aus<br />
der Ukraine und Weißrussland versandt<br />
wurden, ermöglicht die Erstellung einer<br />
Kollektivbiografie von Zwangsarbeitern aus<br />
Osteuropa. Interviews mit Überlebenden<br />
des KZ-Außenlagers Schillstraße, die Dr.<br />
Karl Liedke, einer der Mitarbeiter im Projekt,<br />
in Israel geführt hat, brachten nicht<br />
nur eine Fülle neuer Erkenntnisse über die<br />
damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen,<br />
sondern liefern eindrucksvolle Informationen<br />
über das Weiterleben nach 1945,<br />
erzählen von häufig recht erfolgreichen Lebensläufen,<br />
die freilich auch immer wieder<br />
durch psychische Krisen gefährdet waren.<br />
Wir werden einige dieser bewegenden<br />
Lebensgeschichten abdrucken.<br />
Als sehr ergiebig erwiesen sich die Gespräche<br />
mit deutschen Zeitzeugen, denen<br />
in der bisherigen Forschung ein eher untergeordneter<br />
Stellenwert zukommt. Damalige<br />
Wahrnehmungsperspektiven und heutige<br />
Verarbeitungsmechanismen stehen dabei<br />
im Mittelpunkt des Interesses.<br />
KRIEGSWIRTSCHAFT,<br />
ARBEITSVERWALTUNG<br />
UND ZWANGSARBEIT<br />
Das Buch wird in einem ersten Teil auf die<br />
Struktur von Kriegswirtschaft, Arbeitsverwaltung<br />
und Zwangsarbeit im regionalen<br />
Kontext eingehen. Zwar waren bereits vor<br />
Kriegsbeginn so genannte wehrwirtschaftli-<br />
che Maßnahmen ergriffen worden, der eigentliche<br />
Übergang zur Kriegswirtschaft<br />
setzte jedoch erst mit dem Ende der »Blitzkriege«<br />
1941 ein. Dies bedeutete die Erweiterung<br />
der staatlichen Zwangsmittel, um<br />
die Volkswirtschaft auf die vorrangige Produktion<br />
von Rüstungsgütern umzustellen.<br />
Das hatte Änderungen unter anderem in<br />
der Produktionsstruktur, beim Einsatz von<br />
Investitionen und bei der Anwerbung von<br />
Arbeitskräften zur Folge. Großbetriebe können<br />
in einer gelenkten Wirtschaft eher ihre<br />
Interessen durchsetzen als kleine Betriebe.<br />
War der freie Arbeitsmarkt bereits vor dem<br />
Krieg durch den durch die Reichsarbeitsverwaltung<br />
gelenkten »Arbeitseinsatz« weitgehend<br />
ersetzt worden, so wurde dieser Dirigismus<br />
nunmehr erweitert und in immer<br />
radikaleren Formen auf das Arbeitskräftepotenzial<br />
in den von der deutschen Wehrmacht<br />
besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas<br />
ausgedehnt. Auch in <strong>Braunschweig</strong><br />
ließ sich Kriegswirtschaft nur durch die<br />
Ausbeutung von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen<br />
und KZ-Häftlingen aufrechterhalten.<br />
Die Nationalsozialisten konnten<br />
dadurch auf die totale Erfassung der deutschen<br />
Arbeitskräfte verzichten – auch auf<br />
die Arbeitspflicht für Frauen. Der Arbeitseinsatz<br />
deutscher Frauen in der Rüstungsproduktion<br />
passte nicht in das Frauenbild<br />
des Nationalsozialismus.<br />
Die Zahl der ausländischen Arbeiter stieg<br />
im Kriegsverlauf von Monat zu Monat. Der<br />
Höchststand war im Herbst 1944 mit etwa<br />
43.000 zivilen Zwangsarbeitern allein im<br />
Arbeitsamtsbezirk <strong>Braunschweig</strong> erreicht;<br />
circa 15.000 von ihnen waren Frauen, hinzu<br />
kamen rund 8.800 Kriegsgefangene. In<br />
den Büssing-Automobilwerken arbeiteten<br />
in den letzten Kriegsmonaten etwa 1.300<br />
KZ-Häftlinge, darunter circa 1.200 jüdische<br />
Häftlinge. In vielen Rüstungsbetrieben lag<br />
der Anteil der Zwangsarbeiter bei annähernd<br />
50 Prozent. Erstmals wird eine Liste<br />
sämtlicher Rüstungsbetriebe im Land <strong>Braunschweig</strong><br />
mit der Zahl der beschäftigten<br />
Zwangsarbeiter abgedruckt.<br />
Auftragsbetreuung und Personalbewirtschaftung<br />
oblagen dem Rüstungskommando<br />
<strong>Braunschweig</strong> und dem Hauptarbeitsamt<br />
<strong>Braunschweig</strong>. Recherchen ergaben,<br />
dass sich am Beispiel des <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Arbeitsamtes der Funktionszuwachs der Arbeitsverwaltung<br />
deutlich nachweisen lässt.<br />
1941 war bereits abzusehen, dass der im<br />
November 1940 eingeweihte Neubau des<br />
Arbeitsamtes am Cyriaksring bald nicht<br />
mehr ausreichen werde. Wesentlichen Anteil<br />
daran hatte die Abteilung »Arbeitseinsatz«,<br />
die als größte Abteilung die unter<br />
Zwang zur Arbeit verpflichteten ausländischen<br />
Arbeiter an die braunschweigischen<br />
Betriebe vermittelte. Zum Vergleich: Nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg bot dieses Gebäude,<br />
von einem kleinen Anbau abgesehen,<br />
immerhin bis Mitte der 1980er-Jahre genügend<br />
Raum für die Arbeit der Behörde!<br />
MODERNISIERUNGSSCHUB<br />
DURCH RÜSTUNGS-<br />
WIRTSCHAFT<br />
Die für das Projekt zum ersten Mal ausgewerteten<br />
Kriegstagebücher des <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Rüstungskommandos geben Auskunft<br />
über die Organisation der staatlich gelenkten<br />
Rüstungsproduktion. In <strong>Braunschweig</strong><br />
selbst wurden für alle drei Wehrmachtsteile<br />
– Heer, Luftwaffe und Marine –<br />
Kriegsgerät gefertigt, unter anderem von<br />
Büssing, NAG, NIEMO, MIAG, Luther &<br />
Jordan und den Wilke-Werken. Es ergibt<br />
sich das Bild einer Mangelwirtschaft, in der<br />
trotz zentraler Lenkung durch Berlin regionale<br />
Netzwerke für die Aufrechterhaltung<br />
der Betriebe wichtig waren. Die konkrete<br />
Analyse des Beziehungsgeflechts von Rüstungskommando,Bezirkswirtschaftsämtern,<br />
Arbeitsämtern, Industrie- und Handelskammer<br />
und Unternehmen einschließlich<br />
der Wehrwirtschaftsführer (Rudolf<br />
Egger-Büssing, Stephan Luther, Adolf<br />
Oehme, Paul Werners, Walter Jordan, Dr.<br />
Ernst Blaicher) lässt neue Erkenntnisse<br />
über Strukturen und Funktionsmechanismen<br />
der Kriegswirtschaft erwarten.<br />
Zu fragen ist, wie groß der Handlungsspielraum<br />
von Inhabern großer und kleiner<br />
Firmen im Krieg war und ob unternehmerisches<br />
Handeln sich immer mit den Erfordernissen<br />
der Kriegswirtschaft und auch<br />
den ideologischen Vorstellungen deckte<br />
und damit konsequentes unternehmerisches<br />
Handeln das NS-System im Krieg<br />
stabilisierte. Einseitige Ausrichtung auf die<br />
Produktion von Rüstungsgütern hätte für<br />
den Bestand des Unternehmens gefährlich<br />
werden können, barg sie doch die Gefahr,<br />
nach dem Kriegsende den Anschluss an<br />
eine Friedensproduktion zu verpassen.<br />
Wie überall im Reich zeichnen sich gegen<br />
Kriegsende auch im <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />
unterschiedliche Interessen zwischen überzeugten<br />
Parteigängern und Vertretern der<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Wirtschaft ab. Vonseiten der Partei wurde<br />
die Auslagerung von Maschinen aus den<br />
durch Bomben bedrohten Produktionsstätten<br />
begrüßt, um die Kriegsproduktion zu<br />
gewährleisten. Die Firmenleitungen stimmten<br />
zu, sorgten aber dafür, dass die Maschinen<br />
in Reichweite verblieben, um sie für<br />
eine mögliche Friedensproduktion zu sichern.<br />
Die Integration der hiesigen Industrie in<br />
die nationalsozialistische Rüstungswirtschaft<br />
brachte den betroffenen Branchen<br />
einen enormen Modernisierungsschub, der<br />
für die Zeit nach 1945 eine günstige Ausgangsposition<br />
schuf. Dass dazu tausende<br />
von Zwangsarbeitern beitrugen, hat die<br />
bundesrepublikanische Gesellschaft lange<br />
Zeit vergessen. Der erst nach erheblichem<br />
politischen, gesellschaftlichen und moralischen<br />
Druck im Jahr 2001 zu Stande gekommene<br />
Entschädigungsfonds hat zumindest<br />
ansatzweise einen späten finanziellen<br />
Ausgleich für die geleistete Zwangsarbeit<br />
gebracht.<br />
GNADENLOSE<br />
AUSBEUTUNG DER<br />
ZWANGSARBEITER<br />
Die Beschreibung der Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
der zivilen Zwangsarbeiter,<br />
der Kriegsgefangenen und der Konzentrationslagerhäftlinge<br />
bildet einen weiteren<br />
Schwerpunkt der Publikation. Es ist bekannt,<br />
dass die Behandlung von Zwangsarbeitern<br />
in den Betrieben sehr unterschiedlich<br />
war. Auf dem Lande ist das Leben durchweg<br />
leichter gewesen. In der Industrie verrichteten<br />
ausländische Arbeitskräfte oft<br />
ohne ausreichende Ernährung schwere und<br />
niedere Arbeiten. Für die Aufrechterhaltung<br />
der Produktion wurde durchaus die<br />
gnadenlose Ausbeutung von Zwangsarbeitern<br />
in Kauf genommen – bis hin zur »Vernichtung<br />
durch Arbeit«, vor allem bei jüdischen<br />
KZ-Häftlingen oder kriegsgefangenen<br />
russischen Soldaten. Dies gilt besonders für<br />
die letzte Kriegsphase ab 1944, in der vermehrt<br />
jüdische KZ-Häftlinge auch in <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Firmen eingesetzt wurden. Einzeldarstellungen<br />
– unter anderem über die<br />
Zwangsarbeit bei der Firma Büssing als<br />
größtem Arbeitgeber und bei der Firma<br />
Steinöl GmbH in Schandelah als Beispiel für<br />
den Einsatz von KZ-Häftlingen in der letzten<br />
Kriegsphase bei der Entwicklung neuer<br />
Technologien (Ölschieferabbau) – werden<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
diesen Einsatz von Zwangsarbeitern veranschaulichen.<br />
Die Veröffentlichung wird einen umfassenden<br />
Überblick über die Lager im <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Land geben. Dabei haben wir<br />
neben den bekannten Lagerverzeichnissen<br />
auch die erst kürzlich in einem Brüsseler<br />
Archiv aufgefundenen Listen des Suchdienstes<br />
des belgischen Roten Kreuzes, die<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg für die gesamte<br />
britische Zone aufgestellt wurden, ausgewertet.<br />
Sie werden durch Angaben aus zeitgenössischen<br />
Quellen aus den Archiven der<br />
Region ergänzt.<br />
Erstmals konnten die Meldekarten ausländischer<br />
Arbeiter bei der für die Stadt und<br />
den Landkreis <strong>Braunschweig</strong> zuständigen<br />
Allgemeinen Ortskrankenkasse 2 herangezogen<br />
werden. Die Auswertung einer Fünf-<br />
Prozent-Stichprobe der circa 50.000 Meldungen<br />
wird unter anderem Aufschlüsse<br />
geben über die unterschiedliche Behandlung<br />
von ost- und westeuropäischen<br />
Zwangsarbeitern im Krankheitsfalle, über<br />
ihre Herkunft, über Familienzusammenhänge,<br />
über das Alter, über die Art der<br />
Tätigkeit in den Betrieben, über die Dauer<br />
des Aufenthaltes in <strong>Braunschweig</strong> und bei<br />
einer bestimmten Firma sowie über die Art<br />
der auftretenden Krankheiten. Dass Kinder<br />
und Ehefrauen auf den Meldebogen vermerkt<br />
und damit ebenfalls krankenversichert<br />
waren, scheint keine Seltenheit gewesen<br />
zu sein.<br />
Als erste Tendenz lässt sich ablesen, dass<br />
der durch den Krieg bedingte große Einsatz<br />
von Zwangsarbeitern sich in Stadt und<br />
Landkreis <strong>Braunschweig</strong> erst ab 1940<br />
bemerkbar machte. Für 1942 und 1944<br />
liegen die meisten Meldungen für einen<br />
Arbeitsbeginn in einem Betrieb vor. Dabei<br />
muss es sich nicht zwangsläufig um die<br />
erste Stelle von neu im Deutschen Reich<br />
angekommenen Zwangsarbeitern handeln.<br />
Für die Zahl des Jahres 1944 wie auch für<br />
die erstaunlich hohe Zahl der Meldungen<br />
in den ersten drei Monaten des Jahres 1945<br />
waren wohl vor allem Umsetzungen aus<br />
Betrieben außerhalb von Stadt und Landkreis<br />
<strong>Braunschweig</strong> verantwortlich. 1945<br />
werden dabei in erster Linie Zwangsarbeiter<br />
aus den von den Alliierten besetzten<br />
Gebieten nach <strong>Braunschweig</strong> gekommen<br />
sein. Insgesamt handelte es sich bei der<br />
Gruppe der Zwangsarbeiter um mehr Männer<br />
als Frauen.<br />
80 Prozent der Zwangsarbeiter waren bei<br />
ihrer Meldung jünger als 34 Jahre. Die<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
67<br />
GUDRUN FIEDLER<br />
(Dr. phil.); Jg. 1956; 1976-1982<br />
Studium an der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
(Geschichte, Germanistik und Philosophie);<br />
1982-1985 Stipendiatin<br />
der Studienstiftung des deutschen<br />
Volkes; 1985 Promotion an der TU<br />
mit einer Arbeit über »Jugend im<br />
Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung,<br />
Erster Weltkrieg und sozialer Wandel«<br />
(Prof. Dr. Klaus-Erich Pollmann);<br />
1985-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
am Historischen Seminar<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong>/<strong>Universität</strong>sarchiv;<br />
1989-1991 Referendariat<br />
für den höheren Archivdienst;<br />
1991-1999 archivarische Tätigkeit<br />
im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv<br />
Hannover und in der niedersächsischen<br />
Archivverwaltung; seit<br />
Januar 2000 Archivoberrätin am niedersächsischen<br />
Staatsarchiv in Wolfenbüttel.
68 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Gruppe der älteren, also über 34-jährigen<br />
Zwangsarbeiter umfasst rund 20 Prozent<br />
der 50.000 Meldungen. Sie setzte sich fast<br />
ausschließlich aus Arbeitern zusammen, die<br />
aus den Gebieten der damaligen Sowjetunion<br />
(Russland, Weißrussland, Ukraine),<br />
aus Polen, aus dem »Protektorat Böhmen<br />
und Mähren« und aus Serbien stammten.<br />
Es zeichnet sich ab, dass die Jüngeren zwar<br />
weniger krank waren, dafür jedoch eher an<br />
Tuberkulose starben.<br />
ZWANGSARBEITER UND<br />
DAS SONDERGERICHT<br />
Ausführlich behandelt wird das System von<br />
Überwachen und Strafen der Zwangsarbeiter<br />
– von Disziplinarmaßnahmen in den<br />
Betrieben über die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager<br />
bis hin zur Einlieferung<br />
in Konzentrationslager und zu Hinrichtungen<br />
durch die Gestapo. Zwangsarbeiter<br />
wurden auch vor Gerichte gestellt,<br />
bei leichteren Delikten vor die Amtsgerichte,<br />
bei Verstößen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung,<br />
bei sexuellen Beziehungen<br />
zu Deutschen, bei »Plünderungen« und<br />
bei Verstößen gegen die »Volksschädlingsverordnungen«<br />
vor das Sondergericht<br />
<strong>Braunschweig</strong>. Von den 92 vom <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Sondergericht zum Tode Verurteilten<br />
waren 46 Zwangsarbeiter und<br />
Kriegsgefangene (= 50 %), unter ihnen<br />
zwölf Franzosen, elf Polen, neun Russen,<br />
vier Holländer und sechs Protektoratsangehörige.<br />
Das Sondergericht wurde zur gefürchteten<br />
Institution für Zwangsarbeiter<br />
und Kriegsgefangene.<br />
Da die Kriegswirtschaft im <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Land reichsweite Bedeutung hatte,<br />
könnten die Ergebnisse der Projektarbeit<br />
auch zur allgemeinen Forschung über<br />
Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft beitragen,<br />
die seit der Studie von Ulrich Herbert<br />
1985 mit erfreulicher Dynamik in Gang gekommen<br />
ist. Es ist das Ziel des Projektes,<br />
unabhängig von dem selbstverständlich beachteten<br />
und auch dokumentierten emotionalen<br />
Bereich künftig der Forschung eine<br />
verlässliche und korrekt aus Quellen erarbeitete<br />
Dokumentation und Analyse der<br />
Kriegswirtschaft und der als integraler Teil<br />
in ihr verankerten Zwangsarbeit zu erarbeiten<br />
und zur Verfügung zu stellen. ■<br />
FUSSNOTEN<br />
1 Dazu zählen Dr. Karl Liedke (ausgeschieden),<br />
Dr. Jerzy Drewnowski (ausgeschieden),<br />
Dr. Norman-Mathias Pingel, Manfred Stulgies-<br />
Wirt, M.A., Joachim Schmid, M.A., und Anke<br />
Menzel-Rathert, M.A.<br />
Die Projektleitung liegt bei Dr. Gudrun Fiedler<br />
als Vorstandsmitglied des <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />
Geschichtsvereins und Dr. Hans-Ulrich Ludewig<br />
für das Historische Seminar.<br />
2 Die Meldekartenkartei für Ausländer wurde in<br />
der Zwischenzeit von der AOK <strong>Braunschweig</strong> dem<br />
Stadtarchiv <strong>Braunschweig</strong> übergeben.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
70 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
»UNTERNEHMERTUM IN<br />
UNTERNEHMEN«<br />
ALS INSTRUMENT DER FÜHRUNG<br />
ABBILDUNG 1<br />
Im »Unternehmertum im Unternehmen« sind vor allem die mittleren Führungskräfte die<br />
Promotoren des Innovationsmanagements und »Change Agents« des Wandels.<br />
»Unternehmertum in Unternehmen«, auch Corporate<br />
Entrepreneurship genannt, ist aus der Sicht großer Firmen ein<br />
Ansatz zur Veränderung »träger« Organisationsstrukturen und<br />
Einstellungen von Mitarbeitern, um die Innovationskraft zu<br />
steigern. Zielgruppe des neuen »Unternehmertums« sind vor<br />
allem die mittleren Führungskräfte. Das Konzept des<br />
Corporate Entrepreneurship hat aber immer noch zahlreiche<br />
Schwächen: So benötigt die Weiterbildung vom »Sachwalter«<br />
zum »Unternehmer im Unternehmen« relativ viel Zeit. Daher<br />
ist es notwendig, schon den Studierenden unternehmerisches<br />
Denken nahezubringen.<br />
VON JOACHIM HENTZE<br />
Institut für Wirtschaftswissenschaften<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
Der in der angloamerikanischen<br />
Literatur verwendete Terminus<br />
»Entrepreneurship« entstammt<br />
dem französischen Verb »entreprendre«<br />
und heißt übersetzt »(etwas) unternehmen«.<br />
Aufgrund der vielfältigen Innovations-<br />
und strategischen Wandlungsnotwendigkeiten<br />
von Organisationen wird<br />
auch für Großunternehmen zunehmend<br />
mehr »Unternehmergeist« und unternehmerisches<br />
Handeln gefordert.<br />
ORGANISATIONS-<br />
STRUKTUREN<br />
VERÄNDERN<br />
»Corporate Entrepreneurship« (»Intrapreneurship«)<br />
kann aus Sicht der in der Literatur<br />
propagierten strategischen Führung als<br />
wichtige Ergänzung von betriebswirtschaftlich-rationalen,<br />
analytisch-methodischen<br />
Ansätzen interpretiert werden. Durch Kreativität,<br />
Intuition, Erfahrung, unternehmerische<br />
Initiative, Risikobereitschaft und Motivierungsfähigkeit<br />
können Schwachpunkte<br />
wissenschaftlich aufbereiteter strategischer<br />
Konzepte bei der Implementierung – zum<br />
Beispiel zu hohe Komplexität des Gegenstandsbereiches,<br />
Informationsdefizite der<br />
Führungskräfte – kompensiert werden. Aus<br />
Sicht der Praxis in Großunternehmen lässt<br />
sich das »Unternehmertum in Unternehmen«<br />
als »dynamisierender« Basisansatz<br />
zur Veränderung »träger« Organisationsstrukturen<br />
und Verhalten sowie Einstellungen<br />
von Organisationsmitgliedern auffassen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Grundlegendes Ziel ist die Steigerung der<br />
Innovationskraft (Fähigkeit und Motivation<br />
zu Innovation) von Unternehmungen, die<br />
in der Vergangenheit allzu sehr von innovationshemmendenbürokratisch-hierarchischen,<br />
stark formalisierten Strukturen bestimmt<br />
war. Die ursprüngliche Grundidee<br />
besteht in der Verknüpfung von Innovationspotenzialen<br />
von Großunternehmen<br />
und unternehmerischen Fähigkeiten kleiner<br />
(Venture-)Einheiten (vgl. Walz/Barth<br />
1990: 358).<br />
VERÄNDERUNGEN IN<br />
UNTERNEHMEN – EIN<br />
PERMANENTER PROZESS<br />
Das starke Interesse am Gegenstandsbereich<br />
»Corporate Entrepreneurship« hat<br />
indes keine Einheitlichkeit in der Begriffsexplikation<br />
zutage gefördert. In der Literatur<br />
zum strategischen Management wird<br />
ein erweiterter Begriff favorisiert. Danach<br />
umfasst »Corporate Entrepreneurship«<br />
nicht nur Prozesse der Schaffung und Entwicklung<br />
neuer Geschäftsfelder in Unternehmen,<br />
Produkt- und/oder Verfahrensinnovationen<br />
im Rahmen bestehender Organisationsformen,<br />
sondern zusätzlich die laufende<br />
strategische Gesamterneuerung der<br />
Organisation.<br />
Zentrale Aufgabe unternehmerischen<br />
Handelns ist nach Schumpeter (1946:<br />
214f.), der in seinen nationalökonomischen<br />
Arbeiten den »dynamischen Unternehmer«<br />
als »Triebfeder« wirtschaftlicher Entwicklung<br />
beschrieb, Inventionen und »neue<br />
Kombinationen« (= Innovationen) voranzutreiben<br />
und »die Dinge in Gang« zu setzen.<br />
Inzwischen werden in der sich in vielen<br />
Fällen auf Schumpeter berufenden Literatur<br />
präzisere Merkmale zur Beschreibung des<br />
»Entrepreneurship« herausgearbeitet, die<br />
gleichzeitig Hinweise für die entsprechende<br />
Gestaltung von Organisationen (»strukturelle<br />
Führung«) und Leitkriterien für die<br />
Mitarbeiterführung vorgeben.<br />
Stopford/Baden-Fuller (1994: 523 f.) unterscheiden<br />
fünf zentrale Kategorien, die<br />
auf sämtliche Konzepte des Entrepreneurship<br />
zutreffen (sollen):<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
1 Proaktivität<br />
Proaktivität lässt sich als ein Verhalten<br />
kennzeichnen, das sich durch eine frühzeitige<br />
und handlungsbezogene<br />
Vorbereitung auf die Zukunft auszeichnet<br />
(Scholz 1987: 33). Vorausgesetzt<br />
werden muss dabei individuelle Innovationsfähigkeit<br />
(Eignungspotenzial zur<br />
Lösung einer innovativen Aufgabe) und<br />
organisationale Innovationsfähigkeit.<br />
Beim Innovieren geht es aber nicht um<br />
jeden Preis darum, hohe Risiken einzugehen,<br />
damit dem Kriterium der<br />
Proaktivität Genüge getan wird. Die<br />
Umsetzung von Innovationen muss sich<br />
an den Marktgegebenheiten orientieren.<br />
2 Ehrgeizige Bestrebungen, die über die<br />
bisherigen Möglichkeiten und Fähigkeiten<br />
hinausgehen<br />
Diese Kategorie beschreibt den uneingeschränkten<br />
Willen zu laufender<br />
Weiterentwicklung beziehungsweise<br />
kontinuierlicher Verbesserung (Innovationsbereitschaft).<br />
Entrepreneure<br />
respektive innovative Organisationen<br />
begnügen sich nicht mit dem Status<br />
quo, das heißt, sie beschränken ihre<br />
strategischen Erwartungen und<br />
Chancenausbeutung keineswegs auf die<br />
vorgegebenen limitierten Ressourcen als<br />
unveränderbare Größen.<br />
3 Teamorientierung<br />
Bei der Durchsetzung von Entscheidungen,<br />
bei der Unterstützung innovativer<br />
Ideen und bei der Förderung kreativer<br />
Persönlichkeiten spielen Koalitionen und<br />
Teams von Topmanagern und mittleren<br />
Führungskräften eine wichtige Rolle.<br />
Teamorientierung auf unteren hierarchischen<br />
Ebenen fördert das für flexibles<br />
Handeln notwendige Schnittstellenmanagement.<br />
Unternehmerisches Handeln<br />
lässt sich als eine kontinuierliche<br />
Gemeinschaftsleistung kennzeichnen.<br />
Im Sinne eines »kollektiven<br />
Unternehmertums« fordert Reich (1988)<br />
ein enges Netzwerk von Managern mit<br />
kollektiver Verantwortung. Gesucht sind<br />
nicht »einsame« charismatische<br />
Führungspersönlichkeiten in Anlehnung<br />
an die »Great Man Theory«, sondern es<br />
wird auf eine synergetische Nutzung der<br />
für eine erfolgreiche Unternehmensführung<br />
unverzichtbaren Qualitäten<br />
eines vertrauensvoll und professionell<br />
zusammenarbeitenden Managements<br />
abgestellt (vgl. Staehle 1991: 119).<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
71<br />
JOACHIM HENTZE<br />
(Prof. Dr. rer. pol. habil. Dr. h. c.);<br />
Jg. 1940; Studium der Betriebswirtschaftslehre<br />
an den <strong>Universität</strong>en<br />
Hannover, Innsbruck, Göttingen;<br />
Promotion 1969 an der <strong>Universität</strong><br />
Hannover, Habilitation im Fach Betriebswirtschaftslehre;<br />
seit 1974<br />
Professor an der TU <strong>Braunschweig</strong>.<br />
Arbeitsschwerpunkte: humanressourcenorientierteUnternehmensführung,<br />
Unternehmensplanung,<br />
Organisation.
72 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 2<br />
Die <strong>Universität</strong>en sollten den Studierenden frühzeitig<br />
unternehmerisches Denken nahebringen.<br />
4 Kreative Fähigkeiten<br />
Die Erneuerung von Organisationen<br />
bringt zum Teil völlig unerwartete, bislang<br />
unbekannte Herausforderungen mit<br />
sich, die nur mittels kreativer Prozesse<br />
gelöst werden können. In der Kreativitätsforschung<br />
besteht schon lange darüber<br />
Einigkeit, dass Kreativität erforderlich<br />
wird, sobald eine Problemstellung<br />
so neu ist, dass keine routinemäßig<br />
passende Vorgehensweise zu<br />
einer Lösung führt.<br />
5 Lernfähigkeit<br />
Organisationales Lernen und speziell Lernen<br />
im Team werden als essenziell für<br />
die strategische Erneuerung beziehungsweise<br />
den »bahnbrechenden« Wandel<br />
angesehen und von »Corporate Entrepreneurship«<br />
forcierenden Organisationen<br />
entsprechend umfassend gefördert. Die<br />
Schaffung von Voraussetzungen für erfolgreiches<br />
Lernen beinhaltet zum Beispiel<br />
Maßnahmen der Personalentwicklung<br />
(»Entrepreneural Learning«), die<br />
Verbesserung der Kommunikationsstrukturen<br />
und des Lernklimas (in<br />
»lernenden« Organisationen) und zielt<br />
auf diese Weise auf eine Verbesserung<br />
der Bedingungen erfolgreichen Wissenstransfers.<br />
MITTLERES MANAGEMENT<br />
ALS PROMOTOR<br />
Im Gegensatz zur strategischen Führung<br />
liegt »Corporate Entrepreneurship« nicht<br />
vornehmlich in den Händen des Topmanagements;<br />
insbesondere die mittleren Führungskräfte<br />
dienen als Promotoren des Innovationsmanagements<br />
und »Change<br />
Agents« des Wandels (vgl. Fulop 1991).<br />
Zunächst kommt es allerdings durch »radikale«<br />
Dezentralisierungen »aufgeblähter«<br />
bürokratischer Strukturen in vielen Unternehmungen<br />
über eine Abflachung von Hierarchien<br />
zu einer merklichen »Ausdünnung«<br />
des mittleren Managements. Denjenigen<br />
Führungskräften, die nicht »Opfer«<br />
der Restrukturierung werden, stellen sich<br />
völlig veränderte Aufgaben im Sinne einer<br />
Synthese respektive einer »Balance« zwischen<br />
unternehmerischem und administrativem<br />
Denken und Handeln (vgl. Kanter<br />
1985). Im Unterschied zum unabhängigen<br />
Unternehmer bleiben die »Unternehmer im<br />
Unternehmen« mit ihren Vorhaben an den<br />
organisationalen Kontext (Gesamtstrategie,<br />
Organisationsstruktur, Budgets) gebunden.<br />
Sie haften zwar nicht mit ihrem Kapital,<br />
gefährden dagegen bei Misserfolgen ihre<br />
Karrieren; bei Erfolg fallen indes auch die<br />
monetären Vorteile vergleichsweise geringer<br />
aus.<br />
Die notwendigen Eigenschaften des »Corporate<br />
Entrepreneurs« lassen sich nach Aufgabenfeldern<br />
differenzieren (vgl. Moore<br />
1986). Im Rahmen von Ideengenerierung<br />
bis zur Ideenakzeptierung zählen dazu<br />
unter anderem Kreativität, »Mut zur Phantasie«,<br />
Initiative, Engagement« für eine<br />
Sache« und Lernfähigkeit. Außerdem sind<br />
Erfahrung und traditionelle »sachlich-technische«<br />
Managementkompetenz zur Etablierung<br />
neuer Geschäftsfelder und organisatorischer<br />
Strukturen erforderlich. Geht<br />
man vom »kollektiven internen Unternehmertum«<br />
bei vertrauensvoller Teamarbeit<br />
aus, so kommen (Selektions-)Kriterien wie<br />
soziale Kompetenz (Interaktionsfähigkeiten)<br />
und kontextspezifische Gruppenkompatibilität<br />
hinzu.<br />
FREIHEITSRÄUME<br />
GEWÄHREN<br />
Im Hinblick auf die Personalführung lässt<br />
sich zwischen strukturellen und personalen<br />
Führungsansätzen unterscheiden. Die institutionell-organisatorische<br />
Forcierung des<br />
»Corporate Entrepreneurship« beinhaltet<br />
allgemein die Gewährung von Freiheitsräumen.<br />
In der Organisationsliteratur finden<br />
sich keine einheitlichen Empfehlungen beziehungsweise<br />
Schlüsselfaktoren zur konkreten<br />
Ausgestaltung. Beispielsweise hebt<br />
Galbraith (1984) die Verteilung von Rollen<br />
(»Ideengeneratoren«, Sponsoren, Koordinatoren),<br />
(Innovations-)Prozessmanagement<br />
im weitesten Sinne, Anreizsysteme und<br />
Personalmanagement einschließlich Personalführung<br />
als zentrale Gestaltungsparameter<br />
hervor. Hinzufügen lassen sich die Gestaltungsbereiche<br />
Unternehmungskultur<br />
und Kommunikationsnetzwerke. In der<br />
Praxis wird versucht, durch die Implementierung<br />
von Profit-Centern (»Quasi-Unternehmungen«<br />
in der Unternehmung – vgl.<br />
Schweitzer 1992) entlang der Wertschöpfungskette<br />
und durch umfassende Kompetenzen<br />
des Leiters gekennzeichnetes, funktionsübergreifendes<br />
(»schwergewichtiges«)<br />
Projektmanagement in der Produktentwicklung<br />
(vgl. Clark/Wheelwright 1992)<br />
dem internen Unternehmertum näher zu<br />
kommen.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Die Führung von »Intrapreneuren« ist primär<br />
durch »Hilfe zur Selbsthilfe« zu charakterisieren.<br />
Pinchot (1988: 179 ff.) schlägt<br />
einen »Sponsorship«-Ansatz vor, der die<br />
Bereitstellung von Ressourcen, die Beseitigung<br />
organisatorischer »Hürden«, die Beratung<br />
und die »Protektion« des Innovators in<br />
der Unternehmung umfasst. Die vom Topmanagement<br />
zu initiierende beziehungsweise<br />
selbst wahrzunehmende Führungsaufgabe<br />
sollte ergänzt werden durch die<br />
Schaffung und Etablierung einer »Intrapreneurship-Kultur«<br />
(vgl. hierzu Frey/<br />
Kleinmann/Barth 1995: 1276).<br />
Dass Führung »ein ganz wichtiger Bestandteil<br />
der Arbeit des Intrapreneurs« ist,<br />
wird niemand bestreiten, doch findet diese<br />
Tatsache bislang keinen entsprechenden<br />
Niederschlag in der Personalführungsliteratur;<br />
allenfalls vage Gestaltungshinweise auf<br />
wenig ausgereifter Forschungsbasis finden<br />
sich dort. Darüber hinaus sind weitere<br />
grundlegende Schwächen im Konzept<br />
des »Corporate Entrepreneurship« nicht<br />
zu übersehen:<br />
1 Eine verbindliche Definition des Begriffes<br />
»Unternehmertum« und seiner<br />
»Abart«, des internen Unternehmers,<br />
existiert nicht; das erschwert die Charakterisierung<br />
und das Auffinden des<br />
nach Leistung, Einfluss und Unabhängigkeit<br />
strebenden »Corporate<br />
Entrepreneurs«. Deshalb lassen sich<br />
auch sehr unterschiedliche Eigenschaftsprofile<br />
– mit mehr oder oft<br />
minderer empirischer Fundierung – in<br />
der Literatur ausmachen (vgl. Grüner<br />
1993: 486 f.).<br />
2 Es stellt sich grundsätzlich die Frage,<br />
ob ein Intrapreneur überhaupt noch<br />
im eigentlichen Sinne unternehmerisch<br />
tätig sein kann (und will), wenn wichtige<br />
Elemente des Unternehmertums<br />
wegfallen, nämlich persönliches finanzielles<br />
Risiko, erwartete hohe monetäre<br />
Vorteile, Unabhängigkeit hinsichtlich<br />
Ressourcenbeschaffung und Unabhängigkeit<br />
von organisationalen Einflüssen<br />
(Organisationsstruktur, Unternehmenspolitik<br />
etc.). Diese Frage ist eng<br />
verbunden mit der<br />
3 Anreizproblematik. Einkommen kann<br />
nicht der entscheidende Motivator sein:<br />
»Das Gehalt eines Intrapreneurs steht<br />
oft in keinem Verhältnis zu seiner<br />
Arbeit« (Frey/Kleinmann/Barth 1995:<br />
1281). Ob es allerdings durch so genannte<br />
Intrakapitalsysteme (frei<br />
verfügbare, eigenerwirtschaftete finanzielle<br />
Ressourcen) tatsächlich gelingt,<br />
Voraussetzungen für eine »hervorragende«<br />
Arbeitsmotivation zu schaffen,<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Intrapreneure zu akquirieren und an<br />
die Unternehmung zu binden, ist nicht<br />
belegt.<br />
4 Kritisch ist ferner – auch unter zeitlichen<br />
Gesichtspunkten – die<br />
Erneuerungsfähigkeit bestehender<br />
Großunternehmen zu sehen. Gegenkräfte<br />
des Wandels sind neben »Trägheit«<br />
(Stopford/Baden-Fuller 1994: 525)<br />
großer Unternehmungen auch Widerstände<br />
gegen den Wandel.<br />
5 Auch im Hinblick auf ein »Entrepreneural<br />
Learning« (Grüner 1993) bleibt es<br />
zweifelhaft, dass in kürzeren Zeiträumen<br />
aus in traditionellen Strukturen<br />
von Großunternehmen sozialisierten<br />
»Sachwaltern« sozial kompetente Intrapreneure<br />
entwickelt werden können.<br />
Geht man davon aus (was keineswegs<br />
so eindeutig ist), dass eine Ausbildung<br />
zum Unternehmertum möglich ist, so<br />
fehlt – von Ausnahmen abgesehen – die<br />
erforderliche breit gefächerte, interdisziplinäre<br />
und anwendungsorientierte<br />
Grundausbildung im deutschen, österreichischen<br />
und schweizerischen (Hoch-)<br />
Schulwesen. Anders als in den USA, in<br />
denen nach Lück/Böhmer (1994) die<br />
Etablierung einer Entrepreneurship-<br />
Lehre an den <strong>Universität</strong>en bereits<br />
weit fortgeschritten ist, besteht in der<br />
deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre<br />
in Lehre und Forschung ein<br />
erheblicher Nachholbedarf.<br />
AN DEN UNIVERSITÄTEN<br />
BEGINNEN<br />
Vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />
und sich verschärfender Wettbewerbsbedingungen<br />
wird im Konzept des »Corporate<br />
Entrepreneurship« ein Instrument der Unternehmensführung<br />
gesehen, sich einen<br />
Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Durch<br />
die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft<br />
ist es notwendig, wachstumsorientierte<br />
unternehmerische Konzepte zu<br />
entwickeln, die sich an internationalen<br />
Maßstäben orientieren. Es sollen Wege aufgezeigt<br />
werden, den individuellen Wohlstand<br />
im Einklang mit gesellschaftlichen<br />
Normen und marktwirtschaftlichen Prozessen<br />
zu vergrößern. Die <strong>Universität</strong> kann im<br />
Rahmen ihrer Ausbildung unternehmerisches<br />
Denken fördern, indem die Studierenden<br />
angeregt werden, sich in die Lage<br />
des »Corporate Entrepreneurs« zu versetzen<br />
und so die Entscheidungen im unternehmerischen<br />
Prozess als verständlich und<br />
nachvollziehbar zu empfinden. Zu fördern<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
sind im Wesentlichen unternehmerische<br />
Schlüsselqualifikationen und -motivationen.<br />
Zu diesen Kernkompetenzen zählen:<br />
■ Gestaltungskompetenz (unter anderem<br />
strategieorientierte Innovationen),<br />
■ Sozialkompetenz (unter anderem kooperative<br />
Selbstorganisation, Integrationsfähigkeit)<br />
sowie<br />
■ Handlungskompetenz (unter anderem<br />
effiziente, kreative Ideenumsetzung).<br />
Anknüpfungspunkte für konkrete Maßnahmen<br />
sind die Dimensionen (indirekte)<br />
strukturelle Führung einerseits und direkte<br />
Beeinflussung (Personalführung) andererseits.<br />
Die strukturelle Führung fördert über<br />
unternehmerische Optimierung der Strategie,<br />
Organisation und Kultur der eigenen<br />
Organisationseinheit die Bedingungen für<br />
unternehmerisches Verhalten der Unternehmungsmitglieder.<br />
Die Institutionalisierung<br />
eines »Corporate Entrepreneurship«<br />
wird in der Literatur primär unter dem Gesichtspunkt<br />
der Gewährung von möglichst<br />
weitreichenden Handlungsspielräumen diskutiert.<br />
Direkte Beeinflussung wirkt unter anderem<br />
über persönlich oder teamorientiert<br />
adressierte Kommunikation, zum Beispiel<br />
über die Formulierung einer gemeinsam<br />
getragenen Mission, durch Zielvereinbarungen,<br />
durch darauf ausgerichtete Anreize,<br />
Fördermaßnahmen (Coaching, Mentoring),<br />
Selektionsprozesse und auch über Kontrollen.<br />
Das Konzept der unternehmerischen<br />
Führung enthält umfassende konzeptionelle<br />
Überlegungen und Postulierungen. Bei<br />
der Umsetzung kann es zu Schwierigkeiten<br />
kommen, wenn Führungskräfte in bislang<br />
hierarchischen Unternehmen mit unteren<br />
Ebenen ihre bisherigen Machtstellungen<br />
teilen müssen, um Mitarbeitern unternehmerische<br />
Freiräume zu gewähren. ■<br />
73
74 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
LITERATUR<br />
1 Clark, K. B./Wheelwright, S. C.: Organizing<br />
and Leading »Heavy-weight«<br />
Development Teams, in: California<br />
Management Review, Vol. 34 (1992),<br />
No. 3, S. 9-28.<br />
2 Frey, D./Kleinmann, M./Barth, S.:<br />
Intrapreneuring und Führung, in: Kieser,<br />
A./Reber, G./Wunderer, R. (Hrsg.):<br />
Handwörterbuch der Führung, 2. Aufl.,<br />
Stuttgart 1995, Sp. 1272-1284.<br />
3 Fulop, L.: Middle Managers: Victims or<br />
Vanguards of the Entrepreneural Movement?,<br />
in: The Journal of Management<br />
Studies, Vol. 28 (1991), S. 25-44.<br />
4 Galbraith, J. R.: Designing the Innovating<br />
Organization, in: Competitive<br />
Strategic Management (1984), S. 297-<br />
318.<br />
5 Grüner, H.: Entrepreneural Learning –<br />
Ist eine Ausbildung zum Unternehmertum<br />
möglich?, in: Zeitschrift für Berufsund<br />
Wirtschaftspädagogik, 89. Jg.<br />
(1993), S. 485-509.<br />
6 Kanter, R. M.: Supporting Innovation<br />
and Venture Management in Established<br />
Companies, in: Journal of Business<br />
Venturing, Vol. 1 (1985), S. 47-60.<br />
7 Lück, W./Böhmer, A.: Entrepreneurship<br />
als wissenschaftliche Disziplin in den<br />
USA, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche<br />
Forschung, 46. Jg. (1994),<br />
S. 403-421.<br />
8 Moore, C. F.: Understanding Entrepreneural<br />
Behavior: A Definition and<br />
Model, in: Academy of Management<br />
Best Paper Proceedings, Vol. 46 (1986),<br />
S. 66-70.<br />
9 Pinchot, G.: Intrapreneuring – Mitarbeiter<br />
als Unternehmer, Wiesbaden 1988.<br />
10 Reich, R. B.: Die Mär vom Entrepreneur,<br />
in: Harvard Manager, Vol. 10 (1988),<br />
Nr. 1, S. 11-16.<br />
11 Scholz, Ch.: Strategisches Management.<br />
Ein integrativer Ansatz, Berlin/New<br />
York 1987.<br />
12 Schumpeter, J. A.: Kapitalismus, Sozialismus<br />
und Demokratie, Bern 1946<br />
(deutsche Übersetzung von »Capitalism,<br />
Sozialism and Democracy«, New York<br />
1942).<br />
13 Schweitzer, M.: Profit-Center, in: Frese,<br />
E. (Hrsg.): Handwörterbuch der Organisation,<br />
3. Aufl., Stuttgart 1992, Sp.<br />
2078-2089.<br />
14 Staehle, W. H.: Unternehmer und Manager,<br />
in: Müller-Jentsch, W. (Hrsg.):<br />
Konfliktpartnerschaft: Akteure und<br />
Institutionen der industriellen Beziehungen,<br />
München/Mering 1991, S.<br />
105-121.<br />
15 Stopford, J. M./Baden-Fuller, C. W. F.:<br />
Creating Corporate Entrepreneurship,<br />
in: Strategic Management Journal, Vol.<br />
15 (1994), S. 521-536.<br />
16 Walz, H./Barth, Ch.: Intrapreneuring,<br />
in: Personal, 42. Jg. (1990), S. 358-<br />
363.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
76 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
AUSLÄNDISCHE STUDIERENDE<br />
AN DER TU BRAUNSCHWEIG<br />
Die Zahl ausländischer<br />
Studierender an der TU steigt<br />
seit Jahren. Während früher vor<br />
allem Studierende aus westlichen<br />
Staaten für ein oder zwei<br />
Semester kamen, wächst zurzeit<br />
die Zahl derjenigen, die ihre<br />
Ausbildung an der TU beenden<br />
wollen. Sie kommen immer<br />
häufiger aus »Entwicklungsländern«<br />
und Osteuropa und<br />
besitzen oft nur geringe<br />
Kenntnisse der deutschen<br />
Sprache. Diese Entwicklungen<br />
haben dazu geführt, dass<br />
Kapazitätsgrenzen erreicht sind:<br />
Das betrifft sowohl die<br />
Arbeitsbelastung des<br />
Akademischen Auslandsamts und<br />
des Sprachenzentrums als auch<br />
die Unterbringung der<br />
Studierenden. Der Autor plädiert<br />
daher für eine Steuerung der<br />
Zulassung – im Idealfall bereits<br />
durch eine Auswahl unserer<br />
Partnerhochschulen im<br />
Heimatland.<br />
ABBILDUNG 1<br />
Junge Menschen aus 137 Ländern studieren an der TU.<br />
VON ULRICH MENZEL<br />
Institut für Sozialwissenschaften<br />
der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Die deutschen <strong>Universität</strong>en stehen<br />
vor einem Strukturwandel, der<br />
tief greifender ist als derjenige, der<br />
durch die Hochschulreform der 1970er-<br />
Jahre ausgelöst wurde. Dabei reagieren die<br />
Hochschulen auf sich verändernde gesellschaftliche<br />
Rahmenbedingungen. Genannt<br />
seien nur der Übergang von der Industriezur<br />
Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft,<br />
die daraus resultierenden neuen Anforderungen<br />
an die Beschäftigten und die<br />
Internationalisierung der Wirtschaft vor<br />
dem Hintergrund des Mitte der 1980er-<br />
Jahre einsetzenden Globalisierungsdrucks.<br />
Die <strong>Universität</strong>en reagieren darauf unter<br />
anderem mit dem Umbau ihres Lehrangebots<br />
durch die Einführung von Kombinations-,<br />
Aufbau- und Weiterbildungsstudiengängen<br />
sowie durch die konsekutiv angelegten<br />
internationalen Studiengänge.<br />
An der TU <strong>Braunschweig</strong> äußern sich die<br />
genannten gesellschaftlichen Trends in einem<br />
seit Mitte der 1990er-Jahre einsetzenden<br />
Rückgang der Erstsemesterzahlen in<br />
den klassischen ingenieurwissenschaftlichen<br />
(Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauingenieurwesen)<br />
und naturwissenschaftlichen<br />
(Mathematik, Physik, Chemie) Studiengängen,<br />
der nicht nur auf konjunkturelle<br />
Ursachen zurückgeführt werden kann. Dieser<br />
Rückgang konnte nur zum Teil durch<br />
den vermehrten Zulauf in vergleichsweise<br />
junge Fächer wie die Informatik oder die<br />
neuen Kombinationsstudiengänge kompensiert<br />
werden. Fast parallel zum Nachfragerückgang<br />
in den klassischen Kernfächern ist<br />
der verstärkte Zulauf ausländischer Studierender<br />
zu registrieren, die in besonderem<br />
Maße solche Studiengänge nachfragen, die<br />
im weiteren Sinne der IT-Branche, aber<br />
auch den neuen Dienstleistungsberufen zuzurechnen<br />
sind. Auf diese Weise tragen sie<br />
dazu bei, den Strukturwandel des Lehrangebots<br />
zu forcieren.<br />
Der nahe liegende Gedanke, nach dem<br />
Muster amerikanischer <strong>Universität</strong>en mit<br />
einer offensiven Marketingstrategie qualifizierte<br />
Bewerber aus der ganzen Welt nach<br />
<strong>Braunschweig</strong> zu holen, Anstrengungen zu<br />
unternehmen, um auch in den klassischen<br />
Fächern die freien Kapazitäten durch ausländische<br />
Studierende aufzufüllen und den<br />
Nachwuchsmangel zu beheben, trifft auf erhebliche<br />
strukturelle Probleme, nicht zuletzt<br />
deshalb, weil die TU <strong>Braunschweig</strong><br />
von einer wirklichen Internationalisierung<br />
ihres Lehrangebots, die einem strategischen<br />
Konzept folgt, trotz erster zögerlicher<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Schritte in diese Richtung noch weit entfernt<br />
ist. 1 Andere deutsche <strong>Universität</strong>en<br />
sind in dieser Hinsicht schon ein ganzes<br />
Stück weiter.<br />
SPRACHPROBLEME<br />
LÖSEN<br />
Das Profil der ausländischen Studierenden<br />
an der TU <strong>Braunschweig</strong> ist seit fünf Jahren<br />
einer starken Veränderung unterworfen. 2<br />
Hervorzuheben ist der außerordentliche<br />
Anstieg der Bewerberzahlen. Während in<br />
früheren Jahren im Schnitt zu jedem Wintersemester<br />
(WS) etwa 500 Anträge eingegangen<br />
sind, ist seit dem WS 1998/99 ein<br />
exponentielles Wachstum auf 1.410 im<br />
WS 2000/01, 2.360 im WS 2001/02 und<br />
4.000 im WS 2002/03 zu verzeichnen.<br />
Von diesen Bewerbern erfüllen etwa zwei<br />
Drittel die deutsche Hochschulzugangsvoraussetzung,<br />
sodass sie die Zulassung erhalten.<br />
Das waren im WS 2001/02 etwa<br />
1.250 Personen, von denen sich schließlich<br />
436 tatsächlich in <strong>Braunschweig</strong> immatrikulierten.<br />
Zum Vergleich: Im WS 1997/98<br />
waren es lediglich 79 Immatrikulationen.<br />
Gemessen an der Gesamtzahl aller Immatrikulationen<br />
betrug die Ausländerquote in<br />
den letzten drei Jahren etwa 18 Prozent.<br />
Auch wenn berücksichtigt wird, dass viele<br />
ausländische Studierende nur für ein bis<br />
zwei Semester nach <strong>Braunschweig</strong> kommen,<br />
so hat sich doch die Zahl der Ausländer<br />
in den letzten fünf Jahren etwa verdoppelt.<br />
Die Ausländerquote hat sich, bezogen<br />
auf alle Studierende, von knapp fünf (WS<br />
1995/96) auf knapp elf Prozent (WS 2001/<br />
02) erhöht. Dies liegt auch daran, dass die<br />
Zahl der deutschen Studierenden im gleichen<br />
Zeitraum aufgrund der rückläufigen<br />
Erstsemesterzahlen in ingenieur- und naturwissenschaftlichen<br />
Studiengängen abgenommen<br />
hat. Ohne den vermehrten Zustrom<br />
von Ausländern wäre der Rückgang<br />
der Gesamtzahl aller Studierenden (WS<br />
1991/92 = 17.454, WS 2001/02 =<br />
14.400) noch stärker ausgefallen.<br />
Dahinter verbirgt sich allerdings ein Problem.<br />
Voraussetzung zur Aufnahme eines<br />
Fachstudiums ist der Nachweis entsprechender<br />
Sprachkenntnisse, die durch die<br />
Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang<br />
(DSH) beziehungsweise neuerdings<br />
durch den TestDaF zu erbringen sind.<br />
Leider ist es aber so, dass ein wachsender<br />
Anteil derjenigen, die zum Studium zuge-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
77<br />
ULRICH MENZEL<br />
(Prof. Dr. ); Jg. 1947; 1969-1974<br />
Studium der Politikwissenschaft,<br />
Geschichte, Philosophie und Germanistik<br />
an den <strong>Universität</strong>en Düsseldorf,<br />
Köln und Frankfurt,Abschluss<br />
1. Staatsexamen; 1978 Promotion<br />
an der <strong>Universität</strong> Frankfurt, dort<br />
1982 auch Habilitation im Fach Politikwissenschaft;<br />
1975-1993 lehrte<br />
und forschte Professor Menzel an<br />
den <strong>Universität</strong>en Bremen,Tokyo,<br />
Frankfurt und Duisburg; 1993 erhielt<br />
er einen Ruf auf den Lehrstuhl für<br />
Internationale und Vergleichende<br />
Politik am Institut für Sozialwissenschaften<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong>;<br />
Erfahrungen in der akademischen<br />
Selbstverwaltung: 1995-1997<br />
Dekan, 1997-1999 Mitglied des<br />
Senats, 1999-2001 Mitglied der<br />
Planungskommission, seit Oktober<br />
2001 Vizepräsident für den Bereich<br />
»Lehre, Studium und Weiterbildung«<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong>.
78 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
lassen werden könnten, nicht über adäquate<br />
Sprachkenntnisse verfügen. Dieses ist in<br />
den letzten Jahren dadurch aufgefangen<br />
worden, dass das Sprachenzentrum verstärkt<br />
Kurse im Bereich Deutsch als Fremdsprache<br />
(DaF) angeboten hat, um auf die<br />
DSH vorzubereiten. Es wächst aber die<br />
Zahl derjenigen, deren Deutschkenntnisse<br />
so gering sind, dass selbst für die Kurse des<br />
Sprachenzentrums die Voraussetzung fehlt.<br />
Ohne ausreichende Deutschkenntnisse<br />
macht aber, solange kaum englischsprachige<br />
Lehrveranstaltungen angeboten werden,<br />
ein Fachstudium keinen Sinn.<br />
STUDIERENDE AUS<br />
ALLER WELT<br />
Aus welchen Ländern rekrutieren sich die<br />
rund 1.500 Ausländer, die im WS 2001/02<br />
in <strong>Braunschweig</strong> studiert haben? Eine Aufschlüsselung<br />
nach Herkunftsländern zeigt,<br />
dass nahezu die gesamte Welt vertreten ist,<br />
sodass insofern tatsächlich von einer Internationalisierung<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong> gesprochen<br />
werden kann. Mit Abstand wichtigstes<br />
Herkunftsland ist derzeit China mit<br />
259 Studierenden beziehungsweise 16,8<br />
Prozent aller Ausländer, gefolgt von Tunesien,<br />
der Türkei und Kamerun. Diese vier<br />
stellen zusammen fast 48 Prozent aller<br />
Ausländer. Auf den nächsten Plätzen folgen<br />
mit deutlichem Abstand Spanien, Polen,<br />
Rumänien, Italien, Russland, Griechenland<br />
und der Iran. Die USA landen mit 27 Studierenden<br />
beziehungsweise 1,8 Prozent lediglich<br />
auf Platz 13. Die neun wichtigsten<br />
Herkunftsländer erreichen zusammen 63<br />
Prozent.<br />
Fasst man die einzelnen Herkunftsländer<br />
über die letzten drei Jahre nach Weltregionen<br />
zusammen, werden gewaltige Verschiebungen<br />
deutlich. Westeuropa, Nordamerika<br />
und Lateinamerika stagnieren, Afrika<br />
südlich der Sahara hat einen geringen<br />
Zuwachs zu verzeichnen, während Osteuropa,<br />
der Nahe und Mittlere Osten sowie<br />
Ostasien hohe Zuwächse verzeichnen. Auffällig<br />
ist auch, dass englischsprachige Herkunftsländer<br />
wie zum Beispiel Indien, Pakistan<br />
oder andere ehemalige britische Kolonien<br />
kaum vertreten sind. Studierende<br />
aus solchen Ländern gehen direkt in die<br />
USA, nach Australien, Kanada oder Großbritannien<br />
und nicht nach Deutschland,<br />
wo sie erst Deutschkenntnisse erwerben<br />
müssten.<br />
ABBILDUNG 2<br />
Das Lernen der deutschen Sprache – oft mit großen Schwierigkeiten verbunden.<br />
Ein besonderer Faktor sind die so genannten<br />
Bildungsinländer, also Studierende mit<br />
deutschem Hochschulzugang (Abitur, Fachhochschulabschluss),<br />
aber ohne deutsche<br />
Staatsbürgerschaft. Sie spielen bei klassischen<br />
Gastarbeiterländern wie der Türkei<br />
oder Ex-Jugoslawien eine erhebliche Rolle,<br />
aber auch bei Herkunftsländern wie dem<br />
Iran, aus dem zu früheren Zeiten zahlreiche<br />
politische Asylsuchende nach Deutschland<br />
gekommen sind. Die Bildungsinländer umfassen<br />
derzeit immerhin 20 Prozent der<br />
ausländischen Studierenden und stellen bei<br />
etlichen Herkunftsländern sogar die Mehrheit.<br />
Diese Unterscheidung ist insofern<br />
wichtig, da bei dieser Gruppe keine Sprachprobleme<br />
bestehen und sie sich in ihrem<br />
Studienverhalten (Fächerwahl, Studiendauer,<br />
Erfolgsquote) wie Deutsche verhalten.<br />
BERUFSORIENTIERTE<br />
FÄCHERWAHL<br />
Welche Fächer werden von den Ausländern<br />
belegt? Zwar sind fast alle Studiengänge<br />
vertreten, doch ist eine Konzentration auf<br />
bestimmte Fächer sowie ein Verlagerungsprozess<br />
zu konstatieren. An der Spitze der<br />
Beliebtheit stehen Informatik, Maschinenbau,<br />
Elektrotechnik und Wirtschaftsinformatik,<br />
gefolgt mit deutlichem Abstand von<br />
Germanistik, Architektur, Bauingenieurwesen,<br />
Pharmazie, Chemie, Computational<br />
Sciences in Engineering (CSE), Wirtschaftsingenieurwesen/Elektrotechnik<br />
und Biologie.<br />
Die übrigen Fächer weisen nur geringe<br />
Fallzahlen auf.<br />
Trotz des noch immer hohen Niveaus<br />
sind in dieser Rangliste absteigende Fächer<br />
Maschinenbau und Germanistik, während<br />
vor allem Informatik, Elektrotechnik, Wirtschaftsinformatik,<br />
CSE und Wirtschaftsingenieurwesen/Elektrotechnik<br />
starken Zulauf<br />
erfahren haben. Damit konkurrieren die<br />
Ausländer um Plätze in solchen Studiengängen,<br />
die auch von Deutschen stark nachgefragt<br />
werden. Ausnahme ist die Elektrotechnik:<br />
Ihre Attraktivität hat für Deutsche<br />
stark nachgelassen, sodass hier eine willkommene<br />
Auslastung brachliegender Kapazitäten<br />
stattfindet.<br />
Der Hinweis, dass die Herkunft der Ausländer<br />
sich tendenziell von den westlichen<br />
Ländern in Richtung auf die so genannte<br />
Dritte Welt und Osteuropa verlagert, weist<br />
darauf hin, dass die durchschnittliche Verweildauer<br />
der Ausländer zunimmt. Während<br />
früher bis zu 80 Prozent der Ausländer<br />
so genannte Programmstudierende<br />
waren, die nur für ein oder zwei Semester<br />
nach <strong>Braunschweig</strong> kamen, wächst der Anteil<br />
derjenigen mit einer längeren Aufenthaltsdauer<br />
– bis hin zu der Absicht, ein<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
komplettes Studium zu absolvieren und<br />
in <strong>Braunschweig</strong> das Examen abzulegen.<br />
Ebenso nimmt der Anteil derjenigen zu, die<br />
»auf eigene Faust« – ohne Unterstützung<br />
durch ein Programm – für ein bis zwei Semester<br />
kommen. Auch wenn die Zahl der<br />
ausländischen Absolventen immer noch gering<br />
ist, dürfte diese doch in wenigen Jahren<br />
signifikant steigen; dies ist auf die veränderte<br />
Motivation für den Deutschlandaufenthalt<br />
zurückzuführen.<br />
Kombiniert man schließlich die diversen<br />
Merkmale, lassen sich bestimmte Cluster<br />
identifizieren. Elektrotechnik und Informatik<br />
ziehen in besonderem Maße Tunesier,<br />
Maschinenbau Spanier, Wirtschaftsinformatik<br />
Chinesen, Chemie Rumänen und Germanistik<br />
Russen und Polen an. Dieses Phänomen<br />
lässt sich durch besondere Faktoren<br />
wie etwa Partnerschaften zu ausländischen<br />
Hochschulen oder das Engagement einzelner<br />
Hochschullehrer in <strong>Braunschweig</strong> wie<br />
bei den Herkunftsuniversitäten erklären.<br />
Möglicherweise gibt es auch »Trampelpfadeffekte«<br />
bei einzelnen Staaten, wie zum<br />
Beispiel bei Kamerun.<br />
Zusammenfassend lässt sich vereinfacht<br />
als Gesamttrend formulieren: Das starke<br />
Anwachsen ausländischer Studierender<br />
wird begleitet beziehungsweise sogar verursacht<br />
durch die Verlagerung von Studierenden<br />
aus westlichen Ländern mit kurzer Verweildauer<br />
in den klassischen Studiengängen<br />
zu solchen aus Entwicklungsländern<br />
beziehungsweise Osteuropa hin zu den<br />
neuen Studiengängen, die ein komplettes<br />
Studium absolvieren wollen. Dabei verliert<br />
die Förderung durch Austauschprogramme<br />
zugunsten eines selbst finanzierten und<br />
selbst organisierten Studiums an Bedeutung.<br />
VIER<br />
KAPAZITÄTSENGPÄSSE<br />
Dieser im Lichte der eingangs skizzierten<br />
Überlegungen erfreuliche Prozess wirft allerdings<br />
eine Reihe Probleme auf, die ohne<br />
drastische Maßnahmen kaum mehr zu<br />
handhaben sind. An erster Stelle sind die<br />
aus dem Andrang resultierenden Kapazitätsengpässe<br />
zu nennen. Das betrifft zuerst<br />
das Akademische Auslandsamt (AKA): Wenn<br />
man berücksichtigt, dass ein Zulassungsantrag<br />
im Schnitt eine Bearbeitungszeit von<br />
etwa 30 Minuten erfordert und dass jeder<br />
in <strong>Braunschweig</strong> immatrikulierte Ausländer<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
für längere Zeit betreut werden sollte, dann<br />
sind bereits 3.000 Bewerbungen, 2.000 Zulassungen<br />
und 1.000 Immatrikulationen<br />
unter den gegebenen Bedingungen nicht<br />
mehr zu verkraften.<br />
Der zweite Engpass offenbart sich beim<br />
Sprachenzentrum im Bereich DaF. Bislang<br />
wurden alle Anstrengungen unternommen,<br />
jedem den Weg zur DSH zu ermöglichen.<br />
Zu diesem Zweck wurde durch die Beschäftigung<br />
immer weiterer Lehrkräfte das Kursangebot<br />
im Bereich DaF kontinuierlich von<br />
28 Semesterwochenstunden (SWS) auf 150<br />
SWS gesteigert, sodass die Zahl der Teilnehmer<br />
an den Sprachkursen seit 1990 von 80<br />
auf fast 500 gesteigert werden konnte. Da<br />
die mitgebrachten Sprachkenntnisse der<br />
Teilnehmer immer geringer werden, gleichzeitig<br />
die Teilnehmerzahl pro Kurs erhöht<br />
wurde, ist die Durchfallquote bei den DSH-<br />
Prüfungen deutlich gestiegen, sodass auch<br />
noch die Zahl derjenigen zunimmt, die den<br />
Sprachkurs wiederholen müssen. Berücksichtigt<br />
man ferner den zusätzlichen Betreuungsaufwand<br />
und die wachsende Zahl von<br />
Sprachprüfungen, wird einsichtig, dass die<br />
Kapazitätsgrenze des Sprachenzentrums erreicht,<br />
wenn nicht bereits überschritten ist.<br />
Hinzu kommt ein qualitativer Faktor. Der<br />
hohe Zuwachs von Studierenden aus China<br />
hat zu einer besonderen Belastung geführt,<br />
da bei den Chinesen die Deutschkenntnisse<br />
in der Regel ausgesprochen gering sind.<br />
Mehr als die Hälfte der derzeit in <strong>Braunschweig</strong><br />
studierenden Chinesen haben deshalb<br />
noch kein Fachstudium aufgenommen,<br />
sondern sind lediglich im Fach DaF<br />
eingeschrieben. Diese Möglichkeit ist eine<br />
<strong>Braunschweig</strong>er Besonderheit. Von den neu<br />
immatrikulierten Chinesen dürfte kaum jemand<br />
sofort zum Fachstudium zugelassen<br />
werden. Das wiederum hat dazu geführt,<br />
dass nahezu zwei Drittel der Teilnehmer<br />
der DaF-Kurse aus China stammen. Da aber<br />
die Spracherwerbsprobleme entsprechend<br />
der Nähe oder Ferne der Muttersprache<br />
zum Deutschen durchaus unterschiedlich<br />
sind, dominieren die Chinesen mit ihren<br />
Problemen die Sprachkurse – eine Tatsache,<br />
die von den Teilnehmern anderer<br />
Nationalitäten durchaus reserviert betrachtet<br />
wird.<br />
Ein dritter Engpass offenbart sich bei der<br />
Unterbringung der Ausländer. Deutschen<br />
Studierenden steht eine breite Palette von<br />
Möglichkeiten offen. Im Bundesdurchschnitt<br />
wohnen sie nach einer Erhebung<br />
des Deutschen Studentenwerks weiterhin<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
zu Hause (21 %), sie mieten eine Wohnung<br />
allein (21 %) oder mit einem Partner (19 %),<br />
sie gründen mit anderen eine Wohngemeinschaft<br />
(22 %), sie wohnen (immer seltener)<br />
zur Untermiete (2 %) oder sie finden einen<br />
Platz in einem Studentenwohnheim (14 %).<br />
Ausländern stehen diese Alternativen aus<br />
nahe liegenden Gründen – zumal wenn<br />
sie nur für ein bis zwei Semester in <strong>Braunschweig</strong><br />
studieren – nur sehr eingeschränkt<br />
zur Verfügung. Sie sind deshalb auf das Angebot<br />
der Studentenwohnheime angewiesen.<br />
Deren Angebot ist in <strong>Braunschweig</strong><br />
mit insgesamt 2.175 Plätzen (Studentenwerk,<br />
Hochschulgemeinden, studentische<br />
Verbindungen) durchaus beachtlich: Es entspricht<br />
etwa 15 Prozent der derzeit an der<br />
TU Studierenden, liegt deutlich höher als<br />
etwa in Hannover (7 %), aber auch deutlich<br />
niedriger als in Göttingen (23 %).<br />
Dennoch ist das Angebot nicht mehr ausreichend.<br />
Die 2.175 Plätze werden in<br />
1.280 Fällen von Deutschen und in 895<br />
Fällen von Ausländern belegt (Stand Oktober/November<br />
2001). Das bedeutet, dass<br />
knapp zehn Prozent der Deutschen, aber<br />
fast 60 Prozent der Ausländer im Studentenwohnheim<br />
wohnen und die Belegungsquote<br />
durch die Ausländer in den Wohnheimen<br />
41 Prozent beträgt. Von Wohnheim<br />
zu Wohnheim ist sie allerdings sehr unterschiedlich.<br />
Als Faustregel gilt: Je größer das<br />
Wohnheim beziehungsweise je niedriger<br />
die Miete, desto höher der Ausländeranteil.<br />
»An der Schunter« und »APM/Rebenring«<br />
(»Affenfelsen«) weisen deshalb eine Quote<br />
von 51 beziehungsweise 52 Prozent Ausländer<br />
auf, der »Michaelishof« nur eine<br />
Quote von 16 Prozent.<br />
Deutliche Hinweise, dass das Angebot<br />
nicht mehr ausreicht, sind die lange Warteliste,<br />
die vom Studentenwerk geführt wird,<br />
und der Umstand, dass es offenbar eine<br />
Dunkelziffer von »Gästen« gibt, die für<br />
kurze oder längere Zeiträume das Zimmer<br />
mit einem Kommilitonen teilen, bis sie<br />
einen eigenen Wohnheimplatz bekommen.<br />
Faktisch reduziert wird das Angebot auch<br />
durch die Zunahme der Verweildauer bei<br />
den Ausländern. Konnte ein Zimmer früher<br />
vielleicht jedes Jahr neu vermietet werden,<br />
so bleibt es jetzt vier, fünf oder sechs Jahre<br />
belegt, bis ein Wechsel stattfindet. Da die<br />
Belegungsquote der Ausländer nicht noch<br />
weiter gesteigert werden kann, wenn der<br />
Gedanke der sozialen Integration nicht völlig<br />
preisgegeben werden soll, ist auch hier<br />
eine Grenze erreicht.<br />
79
80 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
ABBILDUNG 3<br />
Das Akademische Auslandsamt ist erste<br />
Anlaufstelle für ausländische Studieninteressenten<br />
und hält umfangreiches Informationsmaterial<br />
bereit.<br />
Der vierte Engpass resultiert aus dem Numerus<br />
clausus. Der NC bedeutet, dass in<br />
dem betreffenden Studiengang die Ausländerquote<br />
lediglich acht Prozent (früher 5 %)<br />
betragen darf. Da aber die ausländischen<br />
Studierenden keineswegs bevorzugt solche<br />
Studiengänge nachfragen, in denen es<br />
brachliegende Kapazitäten gibt, sondern<br />
eher solche, die auch von Deutschen bevorzugt<br />
werden, stoßen sie auf eine dreifache<br />
Hürde: NC, Ausländerquote und besonders<br />
hoher NC im Ausländerkontingent, wenn<br />
die Relation von Bewerbungen zu Studienplätzen<br />
besonders ungünstig ist. Mit dieser<br />
Situation konfrontiert werden sie in vielen<br />
Fällen aber erst, wenn sie bereits ein oder<br />
zwei Jahre lang Deutschkurse besucht und<br />
die DSH bestanden haben. Nur wenn sich<br />
nicht genug Deutsche für ein NC-Fach beworben<br />
haben, können ausländische Studieninteressenten<br />
die freien Kapazitäten einnehmen.<br />
STEUERUNG NOTWENDIG<br />
Die beschriebenen Trends und Engpässe<br />
geben die Situation im WS 2001/02 wieder.<br />
Im Verlaufe des Jahres 2002 hat sich<br />
die Situation weiter zugespitzt, weil die Zunahme<br />
der Bewerbungen ungebrochen ist.<br />
Zum Sommersemester (SS) sind fast 2.000<br />
Bewerbungen eingegangen, zum WS<br />
2002/03 hat sich die Zahl auf 4.000 Bewerbungen<br />
verdoppelt. Hinzu kommt aufseiten<br />
des Sprachenzentrums ein gewachsener<br />
Berg von »Wiederholern«, die<br />
die DSH nicht bestanden haben und<br />
die Sprachkurse wiederholen müssen.<br />
Damit ist klar, dass die bislang verfolgte<br />
Politik, die steigenden Bewerbungen mit<br />
großer Kraftanstrengung irgendwie zu bewältigen<br />
und jeden, der die formalen Voraussetzungen<br />
erfüllt, zum Studium zuzulassen,<br />
nicht fortgesetzt werden kann. Selbst<br />
wenn im AKA und im Sprachenzentrum die<br />
Engpässe durch Verlagerung von Personal<br />
und Ressourcen aufgebohrt würden – was<br />
zum Teil auch schon geschehen ist –, ist das<br />
keine Lösung. Erstens kann dieses nicht in<br />
beliebigem Umfang immer weiter geschehen,<br />
und zweitens sind damit die Engpässe<br />
bei den Wohnheimen, deren Angebot nur<br />
langfristig durch den Bau weiterer Heime<br />
zu erweitern ist, und bei den NC-Fächern<br />
nicht behoben.<br />
Maßnahmen zur quantitativen und qualitativen<br />
Steuerung des Andrangs sind deshalb<br />
unvermeidlich. Das Problem ist nur,<br />
dass fast jede Regulierungsmaßnahme,<br />
wenn sie nicht schlicht darauf hinausläuft,<br />
einen bestimmten Prozentsatz der Anträge<br />
einfach nicht zu bearbeiten, mit zusätzlichem<br />
Arbeitsaufwand verbunden ist, den<br />
das AKA zu leisten hat.<br />
Wenn wir von den Engpässen ausgehen,<br />
ist das entscheidende Nadelöhr das Sprachenzentrum.<br />
Im SS 2002 konnte wegen<br />
der »Wiederholer« fast niemand neu aufgenommen<br />
werden. Also lautet der erste<br />
Filter: Sortierung der Anträge nach dem<br />
leicht zu erfassenden Kriterium, ob DSH beziehungsweise<br />
TestDaF vorliegt oder nicht.<br />
Durch diesen Filter wird die Zahl der Anträ-<br />
ge halbiert. Erst wenn das Sprachkriterium<br />
erfüllt ist, wird die mehr Aufwand erfordernde<br />
Hochschulzugangsberechtigung<br />
geprüft. Ist das Ergebnis positiv, kann der<br />
Studieninteressent sich für sein Studienfach<br />
immatrikulieren. Schreiben sich diese<br />
Zugelassenen tatsächlich ein, ist davon das<br />
Sprachenzentrum nicht betroffen.<br />
Doch was geschieht mit den übrigen 2.000<br />
Bewerbungen des Wintersemesters? Eine<br />
pragmatische Lösung besteht darin, die freien<br />
Kapazitäten des Sprachenzentrums zum<br />
Wintersemester als Richtschnur zu nehmen.<br />
Es dürfte sich um etwa 80 bis 100<br />
Plätze handeln. Wenn die bisherige Relation<br />
von Anträgen, Zulassungen und Immatrikulationen<br />
fortgeschrieben wird, kommt<br />
man auf etwa 350 zu prüfende Anträge, um<br />
am Ende 80 Studieninteressenten zu immatrikulieren<br />
– zunächst alle im Fach DaF.<br />
Wie filtere ich aber aus der Zahl von 2.000<br />
übrig gebliebenen Bewerbungen die 350<br />
besten heraus? Selbst wenn man sich über<br />
entsprechende Auswahlkriterien verständigt,<br />
würde diese Auswahl einen erheblichen<br />
Aufwand der Vorbearbeitung vonseiten<br />
des AKA und der anschließenden<br />
Auswahl durch die entsprechenden Fachvertreter<br />
erfordern. Diese wäre nur zu leisten,<br />
wenn das AKA zusätzliches Personal<br />
bekommt und die einzelnen Fächer kooperieren.<br />
Die Alternative ist ein schlichtes<br />
Losverfahren. Um zu verhindern, dass auf<br />
diese Weise nur Bewerber aus einem Land<br />
zum Zug kommen, die eventuell die große<br />
Mehrheit derjenigen stellen, die das DSH-<br />
Kriterium nicht erfüllen, und Studieninteressenten<br />
aus Herkunftsländer, die unterrepräsentiert<br />
sind, kaum eine Chance haben,<br />
bietet sich an, die 350 nach Ländern zu<br />
quotieren und erst anschließend zu losen.<br />
Das Ergebnis dieses Verfahrens, das so für<br />
das Wintersemester 2002/03 vorgesehen<br />
ist, ist ambivalent. Aufgrund der insgesamt<br />
hohen Bewerberzahlen wird die Zahl der<br />
am Ende immatrikulierten Ausländer nicht<br />
geringer sein als in früheren Jahren. Da das<br />
Sprachkriterium im Vordergrund steht, ist<br />
es der eigentliche qualitative Filter. Es ist zu<br />
hoffen, dass bei den Zertifikaten nicht zu<br />
viele Fälschungen vorliegen, da sich im<br />
Fachstudium rasch herausstellt, ob die<br />
Sprachkenntnisse wirklich ausreichen.<br />
Dass es hier eine Dunkelziffer in unbekannter<br />
Höhe gibt, ist seit langem bekannt.<br />
Würde die DSH in <strong>Braunschweig</strong> abgelegt,<br />
wäre die Garantie sicherlich höher. Erreicht<br />
würde auch eine Entlastung von AKA und<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Sprachenzentrum; dabei würde eine Umverteilung<br />
von Ressourcen weitgehend vermieden.<br />
Ärgerlich ist allerdings, dass ein Potenzial<br />
von etwa 2.000 (in Zukunft womöglich<br />
noch mehr) Studieninteressierten nicht ausgeschöpft<br />
wird, weil man so nicht in der<br />
Lage ist, aus denjenigen, bei denen die<br />
Sprachvoraussetzungen nicht vorliegen, die<br />
fachlich besten auszusuchen. Dies ist vor<br />
allem deshalb ärgerlich, weil etliche Studiengänge<br />
ja erhebliche freie Kapazitäten<br />
haben und mit Nachwuchsproblemen konfrontiert<br />
sind. Zudem ist auf der deklamatorischen<br />
Ebene schon lange die Rede davon,<br />
dass die <strong>Universität</strong>en sich ihre Studierenden<br />
selbst aussuchen sollten. Dies erfordert<br />
in der Praxis angesichts der Dimensionen<br />
des Problems allerdings einen zusätzlichen<br />
Aufwand, den offenbar niemand so ohne<br />
weiteres zu betreiben bereit ist. Ärgerlich<br />
ist auch der Umstand, dass sich die internationale<br />
Strategie der TU <strong>Braunschweig</strong> der-<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
zeit im Wesentlichen auf die Regulierung<br />
des Zugangs für Ausländer beschränkt beziehungsweise<br />
dieses Problem alle anderen<br />
positiven Ansätze auf diesem Feld überschattet.<br />
Die bessere Strategie im Umgang mit der<br />
Ausländerfrage, quantitative Begrenzung<br />
bei gleichzeitiger qualitativer Auswahl aus<br />
allen Anträgen, ist derzeit nicht zu realisieren.<br />
Noch weniger zu realisieren erscheint<br />
die optimale Strategie, nämlich bereits in<br />
den Herkunftsländern durch gezielte Werbung<br />
und Auswahl die Qualität der Zulassungsanträge<br />
zu beeinflussen. Dazu wären<br />
die Intensivierung der Hochschulpartnerschaften<br />
und des Sprachangebots im Herkunftsland<br />
sowie eine Auswahlprüfung vor<br />
Ort notwendig. Sollen die eingangs geschilderten<br />
grundsätzlichen Überlegungen nicht<br />
nur deklamatorischen Charakter haben, ist<br />
es Zeit zu handeln, muss die internationale<br />
Strategie der TU <strong>Braunschweig</strong> endlich in<br />
Angriff genommen werden. ■<br />
FUSSNOTEN<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
1 Vgl. dazu die Überlegungen bei Franz-Joseph<br />
Barthold, Internationalisierung: Notwendiges<br />
Übel oder akademisches Selbstverständnis? In:<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 36.2001,2. S. 72-76.<br />
2 Vgl. dazu ausführlich Ulrich Menzel unter Mitarbeit<br />
von Stefan Jahns,Ausländische Studierende<br />
an der TU <strong>Braunschweig</strong>. Bestandsaufnahme<br />
und hochschulpolitische Empfehlungen. Forschungsberichte<br />
aus dem Institut für Sozialwissenschaften<br />
Nr. 47, März 2002. 154 S. Der Forschungsbericht<br />
kann im Internet unter<br />
http://www.tu-bs.de/~umenzel/ abgerufen<br />
werden.<br />
81
82 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ NACHRICHTEN<br />
AUS DER<br />
FORSCHUNG<br />
Helipod – fliegendes<br />
Messgerät auf<br />
Forschungskampagne<br />
Wie entwickelt sich unser Klima<br />
in der Zukunft? Welchen Einfluss<br />
hat der Mensch darauf?<br />
Und mit welchen Folgen des<br />
Treibhauseffektes ist zu rechnen?<br />
Im Auftrag der Klimaund<br />
Atmosphärenforschung<br />
wird das neuartige Turbulenzmessgerät<br />
Helipod der TU<br />
diesen Fragen nachgehen.<br />
Der Helipod ist ein weltweit<br />
einmaliges meteorologisches<br />
Forschungsgerät.An einem<br />
15 Meter langen Seil wird es<br />
von einem Hubschrauber geschleppt<br />
und sammelt dabei<br />
Daten aus der Atmosphäre.<br />
Das fünf Meter lange und<br />
250 Kilogramm schwere<br />
Messsystem wurde in gemeinsamer<br />
Arbeit von dem<br />
Institut für Meteorologie und<br />
Klimatologie der <strong>Universität</strong><br />
Hannover, von der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
und von der Firma<br />
Aerodata, <strong>Braunschweig</strong>, entwickelt<br />
und gebaut. Seit 2001<br />
wird der Helipod am TU-Institut<br />
für Luft- und Raumfahrtsysteme<br />
(ILR) unter Leitung<br />
von Professor Dr. Peter<br />
Vörsmann betreut.<br />
Im Rahmen zweier Forschungsprogramme<br />
der Bundesregierung<br />
findet bis 2003<br />
eine groß angelegte Messkampagne<br />
in einer für Mitteleuropa<br />
typischen Region –<br />
50 Kilometer südöstlich von<br />
Berlin – statt. Dort unterhält<br />
der Deutsche Wetterdienst<br />
das Meteorologische Observatorium<br />
Lindenberg inmitten<br />
einer Landschaft aus Seen,<br />
Wald,Wiesen und unterschiedlicher<br />
Landnutzung.<br />
Sowohl das Deutsche Klimaforschungsprogramm<br />
als<br />
auch das Programm Atmosphärenforschung<br />
2000<br />
zielen unter anderem auf<br />
ein besseres Wissen über die<br />
Funktion und Belastungsgrenze<br />
natürlicher Systeme<br />
und auf wirksamere Methoden,<br />
Schadstoffe zurückzuhalten.<br />
An dem Vorhaben sind zahlreiche<br />
meteorologische Forschungsinstitute<br />
aus ganz<br />
Deutschland beteiligt. Der<br />
Helipod stellt in den Feldexperimenten,<br />
die im vergangenen<br />
und im nächsten Sommer<br />
in Lindenberg durchgeführt<br />
wurden beziehungsweise<br />
werden, ein wichtiges Bindeglied<br />
zwischen den Bodenstationen,<br />
den Fernerkundungen<br />
mit Satelliten, Radar und<br />
anderen Methoden sowie<br />
den numerischen Simulationen<br />
der Atmosphäre dar. Er<br />
ist besonders geeignet, den<br />
kleinskaligen turbulenten<br />
Energieaustausch zwischen<br />
der Erdoberfläche und der<br />
Atmosphäre zu messen.<br />
Im nächsten Frühjahr geht<br />
der Helipod mit dem Forschungsschiff<br />
Polarstern auf<br />
große Fahrt in die Arktis.<br />
AKTUELLES<br />
NOTIZEN AUS DEM LEBEN<br />
DER CAROLO-WILHELMINA<br />
Drei Millionen Euro für<br />
Adaptronik-Forschung<br />
Aus dem Schwerpunktprogramm<br />
Adaptronik für Werkzeugmaschinen<br />
der DeutschenForschungsgemeinschaft<br />
(DFG) erhalten fünf<br />
Institute des Maschinenbaus<br />
in den nächsten zwei Jahren<br />
drei Millionen Euro.<br />
Gegenwärtig stagniert der<br />
deutsche Werkzeugmaschinenbau<br />
auf hohem Niveau.<br />
Neue Leistungssprünge sind<br />
nur durch grundlegend innovative<br />
Ansätze zu erwarten,<br />
wie sie die Adaptronik bietet.<br />
Bislang wurden adaptronische<br />
Lösungen für Anwendungen<br />
in der Luft- und<br />
Raumfahrttechnik entwickelt.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
AUS DER UNIVERSITÄT<br />
Durch den Einsatz adaptronischer<br />
Lösungen kann auch die<br />
Leistungsfähigkeit von Werkzeugmaschinen<br />
erhöht werden.<br />
Beim Einsatz in Werkzeugmaschinen<br />
können adaptronische<br />
Bauelemente in<br />
Zukunft Schwingungen beseitigen,<br />
die durch höhere<br />
Arbeitsgeschwindigkeiten<br />
zwangsläufig entstehen und<br />
so den Bearbeitungsprozess<br />
ungünstig beeinflussen. Die<br />
Wissenschaftler wollen statische<br />
Verformungen durch<br />
Temperaturschwankungen<br />
ausgleichen und adaptronische<br />
Werkzeuge und Werkzeughalter<br />
entwickeln, die den<br />
stabilen Bearbeitungsbereich<br />
deutlich erweitern sollen.<br />
Sprecherinstitut ist das TU-Institut<br />
für Werkzeugmaschinen<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
und Fertigungstechnik (IWF),<br />
das seit 1999 auch Partner im<br />
»Leitprojekt Adaptronik:<br />
Adaptive Verbundstrukturen<br />
für den Leichtbau – strukturkonform<br />
integrierte piezoelektrische<br />
Fasern und Folien«<br />
des Bundesministeriums für<br />
Bildung und Forschung ist und<br />
eng mit dem Institut für Strukturmechanik<br />
des DLR in <strong>Braunschweig</strong><br />
zusammenarbeitet.<br />
Die Erfahrungen aus diesem<br />
Verbundprojekt haben sowohl<br />
zur Gründung des DFG-<br />
Sonderforschungsbereichs<br />
»Robotersysteme für Handhabung<br />
und Montage – hochdynamische<br />
Parallelstrukturen<br />
mit adaptronischen Komponenten«<br />
im Jahr 2000 geführt<br />
als auch zu dem neuen<br />
Schwerpunktprogramm.<br />
Präzision und Schnelligkeit: Professor Dr. Friedrich Wahl (rechts), Institut<br />
für Robotik und Prozessinformatik, und Professor Dr. Dr. h.c. Jürgen<br />
Hesselbach, Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik,<br />
demonstrieren als Beispiel für die Faszination und die Herausforderungen<br />
der Adaptronik den Parallelroboter »Paraplacer«, der als Prototyp<br />
für die Handyfertigung entwickelt wurde.<br />
TU-Forschungskatalog<br />
erschienen<br />
Der neue Forschungskatalog<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong> liegt in<br />
gedruckter Form vor.Auf 180<br />
Seiten fasst das Kompendium<br />
alle relevanten Daten über<br />
die 111 Institute sowie über<br />
die Sonderforschungsbereiche<br />
und interdisziplinären<br />
Zentren zusammen. Übersichtlich<br />
und kompakt strukturiert<br />
ermöglicht es der<br />
service-orientierte Katalog,<br />
schnell Forschungsschwerpunkte<br />
und die dazugehörigen<br />
Ansprechpartner zu<br />
finden. Er enthält neben den<br />
Forschungsgebieten konkrete<br />
Leistungsangebote sowie Informationen<br />
zur jeweiligen<br />
Ausstattung – vom Bioreaktor<br />
über das Mikromontagelabor<br />
bis zum Ultrakurzzeitlaser.<br />
Er weist natürlich auch<br />
die Institutsdurchwahlen und<br />
Adressen der direkten Ansprechpartner<br />
aus. Selbstverständlich<br />
sind ebenfalls die<br />
Internetadressen der einzelnen<br />
Institute im Katalog aufgeführt.<br />
Mit dem Forschungskatalog<br />
will die <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
den Technologietransfer gerade<br />
mit mittelständischen Unternehmen<br />
fördern und diese<br />
zur Kontaktaufnahme einladen.<br />
Der Katalog ist zu beziehen<br />
über die<br />
TU-Pressestelle,<br />
Tel.: 0531/391-4124,<br />
E-Mail:<br />
presse@tu-braunschweig.de.<br />
83
84 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ GAUSS-<br />
MEDAILLE 2002<br />
VERLIEHEN<br />
Professor Dr.Wolfgang Krätschmer,<br />
der Pionier der Fulleren-<br />
Chemie, ist am 21. Juni die<br />
Gauß-Medaille 2002 der<br />
<strong>Braunschweig</strong>ischen Wissenschaftlichen<br />
Gesellschaft<br />
(BWG) verliehen worden.<br />
Fullerene sind seit 1984 bekannt<br />
und stellen neben den<br />
lange bekannten Modifikationen<br />
des Kohlenstoffs – dem<br />
Graphit und dem Diamant –<br />
eine dritte Form dieses ubiquitären<br />
Elementes dar. Professor<br />
Krätschmer hat sich in<br />
zweifacher Weise um die Fulleren-Chemie<br />
verdient gemacht:<br />
Er hat erstens die<br />
Existenz der bis dahin unbekannten<br />
Verbindung C 60 im<br />
interstellaren Raum durch<br />
Spektralanalyse nachgewiesen<br />
und zweitens durch ein<br />
denkbar einfaches, bis heute<br />
unübertroffenes Verfahren<br />
das Fulleren C 60 in präparativ-technischen<br />
Mengen verfügbar<br />
gemacht. Erst dadurch<br />
wurde es Wissenschaftlern in<br />
aller Welt möglich, die faszinierenden<br />
Möglichkeiten der<br />
Fullerene zu erkunden und<br />
für Wissenschaft und Anwendung<br />
bahnbrechende Ergebnisse<br />
zu erzielen.<br />
Vorrangige Entwicklungsgebiete<br />
unter Einsatz der Fullerene<br />
sind zurzeit die Materialund<br />
Biowissenschaften.<br />
■ HEINRICH-<br />
BÜSSING-PREIS<br />
Drei Nachwuchswissenschaftler<br />
der TU wurden für ihr hervorragendeswissenschaftliches<br />
Arbeiten zusätzlich<br />
belohnt. Der Mathematiker<br />
Dr. Harald Löwe, der<br />
Wirtschaftsinformatiker<br />
Dr. Andreas Fink und der<br />
Elektroingenieur Dr. Ulrich<br />
Bock erhielten am 30. Mai<br />
den Heinrich-Büssing-Preis<br />
2002 der »Stiftung zur Förderung<br />
der Wissenschaften an<br />
der <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong>« des<br />
<strong>Braunschweig</strong>ischen Hochschulbundes<br />
(BHB). Der Wissenschaftspreis,<br />
der mit<br />
einem Preisgeld von je 3.000<br />
Euro der höchstdotierte in<br />
der Hochschullandschaft der<br />
Region ist, wird für herausragende<br />
Promotionen und<br />
Habilitationen vergeben, die<br />
praxisbezogene Forschungsergebnisse<br />
enthalten. Zudem<br />
will der BHB mit seiner Stiftung<br />
dazu beitragen, dass die<br />
Bedeutung <strong>Braunschweig</strong>s<br />
als Wissenschafts- und Wirtschaftsregion<br />
noch bekannter<br />
wird.<br />
Die Arbeiten der Preisträger:<br />
Dr. Harald Löwe,TU-Institut<br />
für Analysis, hat in seiner Habilitationsschrift<br />
»The classification<br />
of connected symmetric<br />
planes« untersucht, inwieweit<br />
sich in Geometrien,<br />
in denen die Winkelsumme im<br />
Dreieck nicht 180 Grad beträgt,<br />
Ersatz für »Geodäten«<br />
finden lässt, indem man statt<br />
mit Kurven zum Beispiel mit<br />
Flächen arbeitet. Seine Leistung<br />
besteht darin, dass er<br />
vollständig aufgeklärt hat, in<br />
welchen symmetrischen Räumen<br />
und auf welche Weise<br />
dies möglich ist.<br />
Der Wirtschaftsinformatiker<br />
Dr. Andreas Fink untersuchte<br />
in seiner Doktorarbeit die<br />
Möglichkeiten der Software-<br />
Wiederverwendung bei der<br />
Lösung betrieblicher Planungs-<br />
und Steuerungsprozesse<br />
mittels Meta-Heuristiken.<br />
Meta-Heuristiken sind<br />
moderne Lösungskonzepte<br />
für komplexe Optimierungsprobleme.<br />
Die von ihm konzipierten<br />
Verfahren und die<br />
entsprechende Software sind<br />
so allgemein und anpassbar<br />
gehalten, dass sie für verschiedenstePlanungsprobleme<br />
in einem Unternehmen<br />
verwendet werden können.<br />
Dr. Ulrich Bock entwickelte<br />
in seiner Dissertation »Betriebs-<br />
und Kommunikationskonzept<br />
für dynamische Rendezvous-Manöver<br />
von<br />
Zügen«, die er am TU-Institut<br />
für Elektrische Messtechnik<br />
anfertigte, ein Konzept für<br />
einen »intelligenten« Güterzugverkehr<br />
mit kleinen Einheiten,<br />
die mithilfe von Funkkommunikation<br />
selbstständig<br />
das Schienennetz befahren.<br />
■ PUBLIKATIONEN<br />
Rot-grüne Politik –<br />
das Land verändert?<br />
Professor Dr. Ulrich Heyder, Professor<br />
Dr. Ulrich Menzel und<br />
Professor Dr. Bernd Rebe, alle<br />
vom TU-Institut für Sozialwissenschaften,<br />
sind Herausgeber<br />
des Buches »Das Land<br />
verändert? Rot-grüne Politik<br />
zwischen Interessenbalancen<br />
und Modernisierungsdynamik«,<br />
das im Sommer dieses<br />
Jahres im VSA-Verlag erschienen<br />
und für 16 Euro über den<br />
Buchhandel zu beziehen ist.<br />
13 Autorinnen und Autoren<br />
aus Wissenschaft und Politik<br />
ziehen in dieser Publikation<br />
eine kritische Bilanz der ersten<br />
rot-grünen Bundesregierung,<br />
die 1998 mit dem Anspruch<br />
angetreten war, den<br />
»Reformstau« aufzulösen,<br />
das Land zu »modernisieren«<br />
und die Basis für soziale Gerechtigkeit<br />
zu verbreitern.<br />
Der Inhalt in Stichworten: Orientierung<br />
und Stil der Regierungsarbeit,programmatische<br />
Grundlagen der Reformpolitik,<br />
die wirtschafts- und<br />
beschäftigungspolitischen<br />
Modernisierungskonzepte,<br />
die Modernisierung des Sozialstaates,<br />
des Gesundheitswesens<br />
und die ökologische<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
Modernisierung, die Kulturund<br />
Bildungspolitik, die neue<br />
Agrar- und Verbraucherpolitik,<br />
die Zuwanderungspolitik<br />
sowie das Bemühen um die<br />
Vollendung der deutschen<br />
Einheit. Die außenpolitische<br />
Bilanz wird sichtbar in Beiträgen<br />
zu Deutschlands Rolle in<br />
der neuen Weltordnung, zur<br />
internationalen Sicherheitspolitik<br />
und den deutsch-amerikanischen<br />
Beziehungen.<br />
Das Stammbuch des<br />
Benedict Christian<br />
Avenarius<br />
Das in einer Faksimile-Ausgabe<br />
publizierte Stammbuch des<br />
Benedict Christian Avenarius<br />
mit Eintragungen aus <strong>Braunschweig</strong>,<br />
Celle und Leipzig<br />
lässt ein Stück Literatur- und<br />
Kulturleben aus den 60er-<br />
Jahren des 18. Jahrhunderts<br />
wieder erstehen. Die Bearbeiterin<br />
Dr. Rosemarie<br />
Schillemeit ergänzte den<br />
Band um Erläuterungen und<br />
eine Lebensbeschreibung<br />
sowie durch Briefe an Avenarius.Aus<br />
dem Kreis des<br />
<strong>Braunschweig</strong>er Collegium<br />
Carolinum begegnen dem<br />
Leser neben dem Gründer<br />
Abt Jerusalem die als Bremer<br />
Beiträger bekannten Literaten<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Carl Christian Gärtner,<br />
Johann Arnold Ebert, Friedrich<br />
Wilhelm Zachariä und Conrad<br />
Arnold Schmid.<br />
Die Publikation wurde als<br />
Band 4 der <strong>Braunschweig</strong>er<br />
Beiträge zur deutschen Sprache<br />
und Literatur von den TU-<br />
Germanisten Professor Dr.<br />
Hans-Joachim Behr, Dr. Herbert<br />
Blume und Dr. Eberhard<br />
Rohse herausgegeben. Das<br />
Buch, das im Verlag für Regionalgeschichte<br />
erschienen<br />
ist, ist für 29 Euro über den<br />
Buchhandel zu beziehen.<br />
Hochschuldidaktik<br />
an der TU<br />
Die Publikation »Gute Lehre in<br />
der Vielfalt der Disziplinen.<br />
Hochschuldidaktik an der<br />
<strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong><br />
<strong>Braunschweig</strong>« thematisiert<br />
»gute Lehre« und ihre Förderungsmöglichkeiten<br />
aus der<br />
Sicht der Ingenieur-, Naturund<br />
Geisteswissenschaften<br />
exemplarisch am Beispiel der<br />
TU. Lehrende und Experten<br />
der Hochschulentwicklung<br />
erörtern nicht nur grundlegende<br />
Aspekte der Hochschullehre,<br />
sondern auch ihre<br />
Chancen und Probleme angesichts<br />
der Herausforderungen<br />
zur Innovation, Evaluation<br />
und Akkreditierung des Studienangebotes<br />
und zum Einsatz<br />
neuer Medien. Konzepte,<br />
Organisationsformen und<br />
Wirkungsanalysen hochschuldidaktischerWeiterbildungsprogramme<br />
und Innovationsprojekte<br />
werden ausführlich<br />
vorgestellt.<br />
Herausgeber des Buches sind<br />
der TU-Pädagoge Professor<br />
Dr. Karl Neumann und Dr.<br />
Jürgen Osterloh, der bis 2001<br />
Geschäftsführer der TU-Arbeitsstelle<br />
für Hochschuldidaktik<br />
war. Es ist im Beltz-<br />
Verlag erschienen und für<br />
29 Euro über den Buchhandel<br />
zu beziehen.<br />
■ JUBILÄEN<br />
100 Jahre TU-Institut<br />
fürVerbrennungskraftmaschinen<br />
Das TU-Institut für Verbrennungskraftmaschinen<br />
feierte<br />
in diesem Jahr sein 100-jähriges<br />
Bestehen. Hervorgegangen<br />
ist das Institut aus dem<br />
ersten Maschinenbaulaboratorium<br />
der TH <strong>Braunschweig</strong>,<br />
dessen Errichtung1902<br />
in die Wege geleitet<br />
wurde. Zwar wurden im<br />
Laufe der Jahrzehnte Fachgebiete<br />
ausgegliedert und neue<br />
hinzugenommen – etwa Kältemaschinen<br />
oder Flugtriebwerke<br />
–, aber die Kolben-Verbrennungskraftmaschinebildet<br />
bis heute die Basis von<br />
Forschung und Lehre.<br />
Zehn Jahre Kooperation<br />
mit der TU Cluj-Napoca<br />
Aus Anlass der zehnjährigen<br />
Kooperation zwischen dem<br />
TU-Institut für Werkzeugmaschinen<br />
und Fertigungstechnik<br />
(IWF) und der TU Cluj-Napoca,<br />
Rumänien, fand am 18.<br />
September ein Festakt in Cluj-<br />
Napoca statt, zu dem eine<br />
<strong>Braunschweig</strong>er TU-Delegation<br />
reiste.<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Anlässlich des Festaktes<br />
wurde ein Parallelroboterlabor<br />
eingeweiht, das mit Unterstützung<br />
der TU-Wissenschaftler<br />
ausgestattet worden<br />
war. Die rumänischen Wissenschaftler<br />
erhielten aus <strong>Braunschweig</strong><br />
als Jubiläumsgabe<br />
einen am IWF entwickelten<br />
und in Leichtbauweise gefertigten<br />
Roboter mit sechs<br />
parallel zueinander beweglichen<br />
Gelenkarmen.<br />
In der zehnjährigen Zusammenarbeit<br />
mit dem von Professor<br />
Dr.-Ing. Dr. h. c. Jürgen<br />
Hesselbach geleiteten IWF<br />
und der TU Cluj-Napoca wurden<br />
zahlreiche gemeinsame<br />
DFG- und EU-Forschungsprojekte<br />
auf dem Gebiet der Industrierobotertechnikdurchgeführt.<br />
Drei gemeinsame Patente<br />
sind daraus entstanden.<br />
Ein weiterer Erfolg der Kooperation<br />
war im letzten Jahr<br />
die Verleihung des Technologietransferpreises<br />
der Industrie-<br />
und Handelskammer<br />
<strong>Braunschweig</strong> an eine Forschergruppe<br />
beider <strong>Universität</strong>en<br />
für die gemeinsame<br />
Entwicklung eines neuartigen<br />
Produktionssystems zum<br />
Schneiden sphärischer Spiegel<br />
für die Fahrzeugindustrie.<br />
Versuchsmotorrad von 1952, mit dem im Institut für Verbrennungskraftmaschinen<br />
damals Messdaten erfasst wurden.<br />
85
86 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ PERSONALIA<br />
Die <strong>Universität</strong> Marburg zeichnete<br />
am 14. November<br />
Meinhard von Gerkan,<br />
emeritierter Professor für<br />
Gebäudelehre und Entwerfen<br />
von Hochbauten der TU, mit<br />
der Würde eines Ehrendoktors<br />
der Theologie aus. Die<br />
Ehrendoktorwürde wurde<br />
ihm für seine Gestaltung des<br />
Christus-Pavillons auf der<br />
EXPO 2000 verliehen, der<br />
den Beitrag der Kirchen auf<br />
einer säkularen Weltausstellung<br />
beispielhaft verwirkliche.<br />
Am 30. Oktober verlieh der<br />
Fachbereich für Wirtschaftsund<br />
Sozialwissenschaften<br />
der TU dem schwedischen<br />
Dokumentarfilmer und Wissenschaftler<br />
Dr. med. h.c.<br />
Lennart Nilsson Grad und<br />
Würde eines Doktors Ehren<br />
halber (Dr. phil. h.c.). Damit<br />
würdigte der Fachbereich<br />
Nilssons visionären Beitrag<br />
zur Kommunikation zwischen<br />
Wissenschaft und Öffentlichkeit.Vor<br />
allem durch seine<br />
atemberaubenden Filmproduktionen<br />
und Bildbände<br />
über die Entstehung des Lebens<br />
ist er in aller Welt bekannt.<br />
Betont wird in der Begründung<br />
aber auch seine<br />
Pionierarbeit bei der Weiterentwicklung<br />
bestehender<br />
Techniken, die viele der spektakulären<br />
Aufnahmen erst ermöglichte.<br />
1964 nahm Lennart Nilsson<br />
erstmals Fotografien eines lebenden<br />
Fötus im Mutterleib<br />
auf. Die Technik, mithilfe<br />
eines Endoskops per Kamera<br />
den menschlichen Körper zu<br />
bereisen, hat er seither kontinuierlich<br />
weiterentwickelt.<br />
Auf diese Weise entstand<br />
unter anderem der Bildband<br />
»A child is born«, weltweit<br />
ein Bestseller.Ab 1982 realisierte<br />
Nilsson international<br />
preisgekrönte Fernsehdokumentationen.<br />
Dabei kam<br />
Lennart Nilsson, Jahrgang<br />
1922, als Autodidakt zur<br />
Fotografie und zum Film. Er<br />
begann seine Karriere als<br />
Fotograf mit Arbeiten für<br />
schwedische Zeitungen. Schon<br />
früh machte er sich mit Portraitfotografien,<br />
später mit Sozialreportagen<br />
einen Namen,<br />
bevor er sich ganz der Vermittlung<br />
wissenschaftlicher<br />
Zusammenhänge widmete.<br />
Die gemeinsame Fakultät für<br />
Maschinenbau und Elektrotechnik<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
verlieh am 27. September<br />
Dipl.-Ing. (FH) Peter Drexel<br />
Grad und Würde eines Doktoringenieurs<br />
Ehren halber<br />
(Dr.-Ing. E. h.). Peter Drexel,<br />
Vorstandsmitglied für den<br />
Bereich Technik der Siemens<br />
Dematic AG, erhielt die Auszeichnung<br />
aufgrund »seiner<br />
außerordentlichen Verdienste<br />
um die systematische, wissenschaftlich<br />
fundierte Entwicklung<br />
der automatisierten<br />
Montage- und Bestücktechnik<br />
und seiner schöpferischen<br />
Leistung als gestaltender<br />
Ingenieur und Unternehmer«,<br />
so der Text der Urkunde.<br />
Peter Drexel, Jahrgang 1944,<br />
hat die technische Entwicklung<br />
auf dem Gebiet der<br />
Montage- und Bestücktechnik<br />
richtungweisend beeinflusst.Als<br />
technischer<br />
Leiter des Anlagenbaus der<br />
Robert Bosch GmbH gelang<br />
es ihm, konsequente Standardisierungsstrategien<br />
bei<br />
den verschiedenen Komponenten<br />
umzusetzen. Unter<br />
seiner Leitung wurde der<br />
Produktbereich »Baueinheiten<br />
der Montagetechnik« geschaffen,<br />
der sich mit der Entwicklung,<br />
der Herstellung und<br />
dem Vertrieb standardisierter<br />
Komponenten für den Aufbau<br />
manueller und automatisierter<br />
Montagesysteme beschäftigte.<br />
Bei der Bosch GmbH war er in<br />
Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen<br />
Einrichtungen für<br />
Neuentwicklungen verantwortlich,<br />
die durch erste<br />
mechatronische Ansätze geprägt<br />
waren. Durch diese technischen<br />
Neuentwicklungen<br />
wurde sein Geschäftsbereich<br />
innerhalb von drei Jahren<br />
Marktführer auf dem Gebiet<br />
der Montagetechnik. 1993<br />
wechselte er zur Siemens AG,<br />
München. Dort übernahm er<br />
die Geschäftsleitung »Bestück-<br />
und Produktionssysteme<br />
Elektronik«. Durch die<br />
Entwicklung innovativer Produkte,<br />
etwa einiger Hochleistungsbestückmaschinen,gelang<br />
es ihm 1999, mit seinem<br />
Geschäftsbereich erneut zum<br />
Weltmarktführer aufzusteigen.<br />
Im folgenden Jahr wurde sein<br />
Geschäftsbereich der ertragreichste<br />
des Unternehmens.<br />
Seit 2001 gehört Peter Drexel,<br />
der die Entwicklung von Industrierobotern<br />
und Montagesystemen<br />
in Deutschland<br />
wesentlich geprägt und befruchtet<br />
hat, dem Vorstand<br />
der neu formierten Siemens<br />
Dematic AG, München, an.<br />
Der Fachbereich für Wirtschafts-<br />
und Sozialwissenschaften<br />
der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
verlieh am 17. Juni Klaus<br />
Volkert Grad und Würde<br />
eines Doktors der Staatswissenschaften<br />
Ehren halber<br />
(Dr. rer. pol. h.c.).Volkert –<br />
Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzender<br />
der Volkswagen<br />
AG, Präsident des<br />
Europäischen Volkswagen-<br />
Konzernbetriebsrates und<br />
Präsident des Volkswagen-<br />
Welt-Konzernbetriebsrates –<br />
erhielt die Auszeichnung »in<br />
Anerkennung seiner herausragenden<br />
innovativen Leistung<br />
bei der Weiterentwicklung der<br />
industriellen Beziehungen<br />
sowie bei der Gestaltung<br />
moderner Betriebs-,ArbeitsundUnternehmensstrukturen«,<br />
so der Text der Urkunde.<br />
»Die herausragenden Verdienste<br />
von Klaus Volkert sehen wir<br />
insbesondere in der Weiterentwicklung<br />
von Partizipation<br />
und Mitbestimmung. Im Volkswagen-Konzern<br />
hat der Betriebsrat<br />
unter seiner Führung<br />
ein spezifisches Modell kooperativer<br />
Modernisierungs- und<br />
Konfliktbewältigung entwickelt,<br />
das weit über den gesetzlich<br />
vorgeschriebenen<br />
Rahmen hinausgeht und entscheidend<br />
zur Innovation von<br />
Organisations- und Produktionsstrukturen<br />
sowie von Arbeits-<br />
und Beschäftigungsverhältnissenbeigetragen<br />
hat«, erläuterte Professor<br />
Dr. Herbert Oberbeck, Dekan<br />
des Fachbereichs für Wirtschafts-<br />
und Sozialwissenschaften.<br />
»Unter der<br />
Ägide von Klaus Volkert ist es<br />
der Arbeitnehmervertretung<br />
im VW-Konzern gelungen, in<br />
kreativer Aufnahme und Weiterentwicklung<br />
von Impulsen<br />
aus den Sozial- und WirtschaftswissenschaftenMeilensteine<br />
für eine zukunftsfähige<br />
Arbeits- und Unternehmensgestaltung<br />
zu setzen. Die Ent-<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002
wicklung einer aktiven unternehmensbezogenenArbeitsmarktpolitik<br />
zur Senkung der<br />
Arbeitslosigkeit in der Region<br />
durch Cluster-Bildung und<br />
neue Modelle der Public-<br />
Private-Partnership geht<br />
ebenfalls auf Anstöße von<br />
Klaus Volkert und seinem<br />
Team zurück.«<br />
Die Fakultät für Chemie und<br />
Chemieingenieurwesen der<br />
Babes-Bolyai-<strong>Universität</strong> in<br />
Cluj-Napoca, Rumänien, verlieh<br />
im Juni Professor Dr. Henning<br />
Hopf, Leiter des TU-<br />
Instituts für Organische<br />
Chemie, die Ehrendoktorwürde.<br />
Professor Hopf wurde<br />
für seine Beiträge zur Entwicklung<br />
der modernen Organischen<br />
Chemie und zur<br />
Zusammenarbeit zwischen<br />
den beiden Hochschulen ausgezeichnet.<br />
Mit der Ehrung<br />
wurden auch sein Engagement<br />
beim Studierendenaustausch<br />
und seine Initiative bei<br />
der Verlagerung einer umfangreichen<br />
Chemiebibliothek<br />
eines Chemieunternehmens<br />
nach Cluj-Napoca gewürdigt.<br />
Am 25. September wurde Professor<br />
Dr. Ulrich Reimers,<br />
Leiter des TU-Institutes für<br />
Nachrichtentechnik, anlässlich<br />
des »2002 IEEE International<br />
Symposium on Consumer<br />
Electronics« in Erfurt mit dem<br />
»IEEE Consumer Electronics<br />
Engineering Excellence Award<br />
2002« ausgezeichnet. Mit<br />
dem Preis wurden vor allem<br />
die jüngsten Arbeiten von<br />
Professor Reimers zur »Multimedia<br />
Home Platform« gewürdigt.<br />
Diese geben sowohl<br />
der nationalen als auch der<br />
internationalen Industrie<br />
einen klaren Rahmen für<br />
Entwicklungen im multimedialen<br />
Heimbereich vor<br />
und erschließen dem Nutzer<br />
modernste Geräte und Anwendungen.<br />
2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Das Konzil der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
wählte in seiner Sitzung am<br />
28. Juni Professor Berthold<br />
Burkhardt, Institut für Tragwerksplanung,<br />
zu seinem<br />
neuen Vizepräsidenten für den<br />
Aufgabenbereich »Infrastrukturplanung«.<br />
Professor Burkhardt,<br />
der sich als einziger<br />
Kandidat zur Wahl gestellt<br />
hatte, wurde im ersten Wahlgang<br />
gewählt. Seine zweijährige<br />
Amtszeit begann am<br />
1. Oktober 2002.<br />
Seit 1984 ist Burkhardt Professor<br />
an der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
und Leiter des Instituts für<br />
Tragwerksplanung im Fachbereich<br />
Architektur. Er hat zahlreiche<br />
Erfahrungen in der akademischen<br />
Selbstverwaltung<br />
der TU gesammelt. So war er<br />
von 1986 bis 1988 und von<br />
1999 bis 2001 Dekan des<br />
Fachbereichs für Architektur<br />
und mehrfach Mitglied des<br />
Senats und der Haushalts- und<br />
Planungskommission. Darüber<br />
hinaus war er von 1993 bis<br />
2001 vorsitzender Gutachter<br />
der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />
für das Fachgebiet<br />
Architektur.<br />
Professor Dr. Dr. h.c. Rolf<br />
Kayser, von 1970 bis 1993<br />
Professor für Siedlungswasserwirtschaft<br />
an der TU, wurde<br />
am 13. Mai die mit 5.000 Euro<br />
dotierte William-Dunbar-<br />
Medaille verliehen. Professor<br />
Kayser wurde mit diesem Preis<br />
für seine herausragenden Leistungen<br />
auf dem Gebiet des<br />
Belebungsverfahrens geehrt,<br />
das das Rückgrat der modernen<br />
Abwasserreinigung ist.<br />
Dr. Nina Heinrichs,Wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin am<br />
TU-Institut für Psychologie,<br />
wurde im Mai anlässlich des<br />
diesjährigen Symposiums<br />
der Fachgruppe »Klinische<br />
Psychologie und Psychotherapie«<br />
der Deutschen<br />
Gesellschaft für Psychologie<br />
der Nachwuchswissenschaftler-Preis<br />
für hervorragende<br />
wissenschaftliche Leistungen<br />
im Bereich der klinischpsychologischen<br />
Forschung<br />
verliehen. Der Preis wurde<br />
dieses Jahr das erste Mal<br />
vergeben und ist mit 500 Euro<br />
dotiert.<br />
■ NACHRUFE<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
Am 30.August verstarb im Alter<br />
von 83 Jahren Professor em.<br />
Dr. Dr. h.c. Karlheinz Roth.<br />
Er war ein international geschätzter<br />
Wissenschaftler auf<br />
dem Gebiet der Konstruktionsmethodik.<br />
1965 folgte der aus Siebenbürgen<br />
stammende Professor<br />
Roth dem Ruf an die damalige<br />
TH <strong>Braunschweig</strong> und gründete<br />
das Institut für Konstruktionslehre,<br />
Maschinen- und<br />
Feinwerkelemente. Dieses leitete<br />
er bis zu seiner Emeritierung<br />
1988. Er blieb bis zu seinem<br />
Tod wissenschaftlich<br />
tätig.<br />
Für seine wissenschaftlichen<br />
wie auch kulturellen Leistungen<br />
erhielt Professor Roth<br />
die Diesel-Medaille in Gold<br />
und die Fritz-Kesselring-<br />
Ehrenmedaille vom Verein<br />
Deutscher Ingenieure<br />
sowie den Siebenbürgisch-<br />
Sächsischen Kulturpreis.<br />
Am 28. Juni 2002 verstarb im<br />
Alter von 97 Jahren Professor<br />
em. Dr. Karl Gerke. Karl<br />
Gerke hat an der <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
studiert, promoviert<br />
und kam 1962 als Direktor<br />
des damaligen Instituts für<br />
Vermessungskunde zurück an<br />
seine Heimathochschule.Von<br />
1966 bis 1968 war er Rektor<br />
der TU, der er auch nach seiner<br />
Emeritierung im Jahre 1972<br />
eng verbunden blieb.<br />
Der Wissenschaftler Karl Gerke<br />
hat die Geodäsie stets als<br />
Ingenieur- und Naturwissenschaft<br />
verstanden. So hat er<br />
die deutschen Arbeiten zur<br />
Erforschung der Plattenkinematik<br />
in Island initiiert und<br />
geleitet.<br />
87
88 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />
■ IMPRESSUM<br />
Herausgeber<br />
Der Präsident der TU <strong>Braunschweig</strong><br />
Redaktion<br />
Dr. Hergen Manns<br />
Regina Eckhoff, M.A.<br />
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
TU <strong>Braunschweig</strong><br />
Pockelsstr. 14<br />
38106 <strong>Braunschweig</strong><br />
Tel.: 0531/391-4123<br />
Fax: 0531/391-4120<br />
Gestaltung<br />
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Robin Bretschneider<br />
Kaffeetwete 3<br />
38100 <strong>Braunschweig</strong><br />
Tel.: 0531/890639<br />
Fax: 0531/890601<br />
Bildnachweis<br />
Wenn nicht anders angeben, stammen die<br />
Abbildungen der Artikel<br />
aus den entsprechenden Instituten der TU<br />
<strong>Braunschweig</strong>.<br />
TU-Sportzentrum, S. 24, Abb. 1<br />
Rolf Toch, S. 26, Abb. 2<br />
aginmar.de, S. 78, Abb. 2<br />
Deutsche Bauzeitung, 1941, H. 49/50, S. K<br />
305, S. 64, Abb 1<br />
Werth Messtechnik, S. 43, Abb. 6<br />
ESA, S. 47, Abb. 2<br />
Astrium S. 48, Abb. 4<br />
Ehrenpromotion Volkert, S. 86,<br />
Volkswagen AG<br />
Anzeigenverwaltung und Herstellung<br />
Anzeigenagentur ALPHA<br />
Informations GmbH<br />
Finkenstr.10<br />
68623 Lampertheim<br />
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Fax: 06206/939-232<br />
Geschäftsführung:<br />
Klaus Wagner<br />
Verkaufsleitung:<br />
Peter Asel<br />
Tel.: 06206/939-220<br />
ISSN 1434-4645<br />
<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 3/2000