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Carolo-Wilhelmina - Technische Universität Braunschweig

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CAROLO-WILHELMINA FORSCHUNGSMAGAZIN<br />

DER TECHNISCHEN<br />

UNIVERSITAT<br />

BRAUNSCHWEIG<br />

JAHRGANG XXXVII, HEFT 2/2002<br />

:<br />

Kompakte Rechner für die<br />

Raumfahrt:<br />

Mit der Entwicklung<br />

leistungsfähiger Computersysteme<br />

speziell für<br />

Raumfahrtmissionen<br />

befasst sich eine<br />

Arbeitsgruppe des Instituts<br />

für Datentechnik und<br />

Kommunikationsnetze.<br />

Der Einsatz im Weltraum<br />

stellt besonders hohe<br />

Anforderungen an<br />

solche Rechner.<br />

PRODUKTION NEUER<br />

ANTIBAKTERIELLER<br />

WIRKSTOFFE<br />

HEILENDE FRAUEN IM<br />

18. JAHRHUNDERT<br />

BAUWERKS-<br />

ÜBERWACHUNG<br />

STARKE UND SCHWACHE<br />

BINDUNGEN IN DER<br />

ORGANISCHEN CHEMIE


VON JOCHEN LITTERST<br />

PRÄSIDENT DER TECHNISCHEN<br />

UNIVERSITÄT BRAUNSCHWEIG<br />

Die Datenmanipulationen des Physikers<br />

Jan-Hendrik Schön, ein Träger des<br />

»<strong>Braunschweig</strong> Preises 2001«, veranlassen den<br />

TU-Präsidenten, wissenschaftliches<br />

Fehlverhalten zu thematisieren. Wenn<br />

Fälschungen in der Forschung auch<br />

grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden<br />

könnten, so zeige gerade das »Beispiel Schön«,<br />

dass die wissenschaftliche Selbstkontrolle<br />

funktioniere. Dennoch sollten die leitenden<br />

Wissenschaftler die Diskussion ethischer<br />

Grundsätze intensivieren, um Wiederholungen<br />

verhindern zu helfen.<br />

Wissenschaftliche Unredlichkeit war glücklicherweise<br />

bislang an unserer <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> kein Thema,<br />

das problematisiert werden musste. Wir haben uns vor<br />

einiger Zeit Leitlinien gegeben, wie wir mit Fällen wissenschaftlichen<br />

Fehlverhaltens umgehen wollen – natürlich in der Hoffnung, sie nie<br />

anwenden zu müssen. Nun rückt ein auf den ersten Blick eher externer<br />

Skandal die Frage der Verantwortung und Kontrolle näher in<br />

unser Blickfeld (ohne dass unsere Ethik-Kommission in Aktion treten<br />

müsste): Einem der drei Träger des »<strong>Braunschweig</strong> Preises 2001«<br />

wird vorgeworfen, Daten manipuliert, eventuell sogar erfunden<br />

zu haben.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

DER »FALL SCHÖN«<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

MANIPULATIONEN –<br />

EINE GLAUBWÜRDIG-<br />

KEITSKRISE DER<br />

WISSENSCHAFT<br />

Die drei Wissenschaftler Bertram Batlogg, Jan-Hendrik Schön und<br />

Christian Kloc, bis vor kurzem alle bei den renommierten Bell Labs<br />

beschäftigt, berichteten im Verlauf der letzten Jahre über bahnbrechende<br />

Entdeckungen mit ungeahnten Entwicklungsperspektiven.<br />

Neue Anwendungen mit Milliardenmärkten standen in Aussicht.<br />

Die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft war begeistert<br />

und feierte die Urheber. Bereits 2001 wurde die Gruppe –<br />

und insbesondere Jan-Hendrik Schön – als möglicher Nobelpreis-<br />

Kandidat gehandelt, wissenschaftliche Preise wurden weltweit zuerkannt,<br />

der Direktorenposten an einem Max-Planck-Institut<br />

wurde ihm angetragen.<br />

Bertram Batlogg, der frühere Leiter der Arbeitsgruppe bei Bell<br />

Labs, hatte zwischenzeitlich einen Lehrstuhl an der ETH Zürich erhalten,<br />

Schön arbeitete zeitweise bei Bell Labs, aber auch als Gast<br />

an der <strong>Universität</strong> Konstanz. Die Publikationstätigkeit insbesondere<br />

von Schön stieg in den folgenden Monaten unglaublich an, alle<br />

Veröffentlichungen wurden von höchstrangigen internationalen<br />

wissenschaftlichen Zeitschriften angenommen.<br />

Allerdings regte sich ab etwa Herbst 2001 erste öffentliche Kritik<br />

an einigen Arbeiten. Sicher entstand ein Teil der Kritik durch einen<br />

Keim des bei Erfolg nie ausbleibenden Neides von Kollegen, doch<br />

mehrten sich auch Stimmen, die monierten, dass wichtige Resultate<br />

von anderen Gruppen nicht reproduziert werden konnten, und<br />

selbst Batlogg musste einräumen, dies an seiner neuen Wirkungsstätte<br />

noch nicht erreicht zu haben. Einiges ließ sich mit den an den<br />

Bell Labs gebotenen optimalen experimentellen Bedingungen<br />

begründen, sodass dieser Sachverhalt eher Ungeduld, aber noch<br />

keinen zwingenden Verdacht hervorrief.<br />

Dringender Verdacht unwissenschaftlichen Umgangs mit Messdaten<br />

wurde schließlich geäußert, als in einigen Publikationen augenscheinlich<br />

identische Daten – allerdings mit unterschiedlicher<br />

Skalierung – als Ergebnisse für unterschiedliche Substanzen<br />

beziehungsweise elektronische Bauteile entdeckt wurden.<br />

Auf Drängen der »Scientific Community« wurde nach den sich<br />

häufenden Vorwürfen der Datenmanipulation insbesondere in den<br />

Publikationen Ende 2001 und Anfang 2002 eine Untersuchungs-<br />

1


2 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

kommission eingesetzt, die nun Ende September 2002 einen<br />

Bericht vorgelegt hat, in dem erdrückende Hinweise auf Datenmanipulation<br />

durch Jan-Hendrik Schön gegeben werden. Allen<br />

Koautoren wird bestätigt, nicht beteiligt gewesen zu sein, jedoch<br />

wird die Frage nach einer gestuften Mitverantwortung insbesondere<br />

des »Senior-Wissenschaftlers« aufgeworfen, deren Bewertung<br />

jedoch außerhalb der Aufgabe und Kompetenz der Kommission<br />

gesehen wurde.<br />

Verständlicherweise blieb auch die Beantwortung der Frage nach<br />

der Richtigkeit einzelner Forschungsergebnisse aus, dies könne erst<br />

nach Verifikation durch Reproduktion beziehungsweise eindeutige<br />

Falsifikation der Messreihen geschehen.<br />

Jan-Hendrik Schön hat den Vorwurf der Datenmanipulation in<br />

einigen Fällen zugegeben. Mittlerweile haben alle drei Wissenschaftler<br />

den »<strong>Braunschweig</strong> Preis« zurückgegeben. Jan-Hendrik<br />

Schön ist aber nach wie vor von der Richtigkeit seiner Beobachtungen<br />

überzeugt. Auch Bertram Batlogg glaubt, dass sich durch<br />

intensive Arbeit die wesentlichen beobachteten Phänomene reproduzieren<br />

lassen. Auszuschließen ist dies nicht.<br />

WISSENSCHAFTLICHE<br />

SELBSTKONTROLLE GREIFT<br />

Wissenschaftliches Fehlverhalten gab es schon immer und wird es<br />

immer wieder geben – auch Wissenschaftler sind nicht ohne<br />

menschliche Unzulänglichkeiten. Spektakuläre Fälle sind in den<br />

letzten Jahren vor allem aus der Medizin publik geworden, der Bereich<br />

der Physik wurde bislang als wenig anfällig für derartige Versuchungen<br />

gesehen – vielleicht weil dort seltener direkte wirtschaftliche<br />

Vorteile mit dem wissenschaftlichen Erfolg des einzelnen<br />

Forschers verbunden sind.<br />

Beruhigend ist, dass im »Fall Schön« die Aufklärung im Rahmen<br />

der wissenschaftlichen Selbstkontrolle ausgelöst und mit großer<br />

Offenheit betrieben wurde. Leider wird dies von den Medien und<br />

damit auch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.<br />

Ohne über die persönlichen Beweggründe Jan-Hendrik Schöns zu<br />

spekulieren, sollten wir uns allerdings als »Scientific Community«<br />

mit einer Reihe von Fragen beschäftigen.<br />

Lassen sich derartige Fälle bereits im Vorfeld erkennen und vermeiden?<br />

Wohl nur in beschränktem Maße, absichtliche Täuschung<br />

auf der Basis wissenschaftlichen Expertenwissens ist selbst für<br />

Spezialisten schwer zu erkennen. Ein so genanntes Vieraugenprinzip<br />

lässt sich nicht immer konsequent realisieren, und<br />

erfahrungsgemäß sind derartige Vorgänge nicht immer auf Einzelpersonen<br />

beschränkt.<br />

Wie weit geht die Mitverantwortung der Vorgesetzten, der Mitarbeiter,<br />

der Koautoren der Veröffentlichungen? Wissenschaftliche –<br />

wie jede andere menschliche – Zusammenarbeit bedarf eines hohen<br />

Maßes an gegenseitigem Vertrauen als Grundvoraussetzung. Dies<br />

gilt insbesondere, wenn die kooperierenden Partner in verschiedenen<br />

Orten, heutzutage oft weltweit, angesiedelt sind und damit<br />

nicht in ständigem persönlichen Kontakt stehen und zudem in<br />

verschiedenen Bereichen spezialisiert sind. Andererseits ergeben<br />

gerade diese Konstellationen meist eine intensivere Auseinandersetzung<br />

mit dem Forschungsgegenstand als die Bearbeitung in<br />

einer Gruppe mit eingefahrener, vorgefasster Meinung.<br />

Eine besondere Verantwortung kommt in jedem Fall den leitenden<br />

Wissenschaftlern zu, deren Erfahrung Fehlinterpretationen und<br />

offensichtliche Widersprüche gegen bekanntes Wissen vermeiden<br />

kann. Sie sind auch diejenigen, die Studierende und Nachwuchswissenschaftler<br />

in die Arbeits- und Denkweisen solider Forschung<br />

einführen: Dazu gehört zum Beispiel das genaue Protokollieren des<br />

Vorgehens und die vollständige Darstellung der Ergebnisse, das<br />

Zitieren von Resultaten anderer Wissenschaftler, die Bezug zu den<br />

präsentierten eigenen Arbeiten haben, und so weiter. (Dass derartige<br />

Selbstverständlichkeiten in einem der renommiertesten<br />

Labors der Welt nicht beachtet wurden, ist kaum nachzuvollziehen.<br />

Oder werden vielleicht doch Protokolle der wissenschaftlichen<br />

Öffentlichkeit vorenthalten? Welcher Wirtschaftsbetrieb<br />

lässt sich schon gerne in die Karten schauen?).<br />

WISSENSCHAFT UND ETHIK<br />

Ohne den moralischen Zeigefinger erheben zu wollen, sollten wir<br />

uns fragen, ob wir mit Studierenden und auch im Kollegenkreis die<br />

Diskussion ethischer Grundsätze vernachlässigen, weil wir sie für<br />

selbstverständlich erachten. Diese ethischen Grundsätze müssen<br />

über dem persönlichen Erfolg, über den Erwartungen des Vorgesetzten,<br />

der Firma rangieren. Diesem Anspruch ist vielleicht nicht<br />

jeder gewachsen, wir sollten daher alle Unterstützung gewähren,<br />

damit der Wissenschaftler sich das zutraut. Dies geschieht nicht<br />

durch neue Forderungen und Androhen von Folgen, sondern wir<br />

müssen verdeutlichen, dass es zu guter Wissenschaft gehört, auch<br />

Misserfolge zu akzeptieren, dass negative Resultate zwar weniger<br />

erfreulich, aber dennoch wertvoll sind.<br />

Ich wünsche mir eine rege Diskussion zu diesen Themen.<br />

Es werden sich gerade im laufenden Wintersemester an der TU<br />

Gelegenheiten dazu ergeben, etwa im Rahmen des Naturwissenschaftlich-Philosophischen<br />

Kolloquiums »Irrtum und Fälschung in<br />

der Wissenschaft«. ■<br />

JOCHEN LITTERST<br />

(Prof. Dr. rer. nat.); Jg. 1945; 1965-1971 Physikstudium an der TH München;<br />

1974 Promotion an der TU München; dort 1974 bis 1982 wissenschaftlicher<br />

Assistent, unterbrochen von Gastforscher-Aufenthalten in Moskau,<br />

UdSSR, und Straßburg, Frankreich; 1983 Habilitation (Experimentalphysik);<br />

anschließend Heisenberg-Stipendiat der DFG; Gastprofessuren<br />

in Rio de Janeiro, Brasilien, und Gastwissenschaftler am Argonne National<br />

Laboratory, USA; seit 1989 Professor am Institut für Metallphysik und<br />

Nukleare Festkörperphysik der TU <strong>Braunschweig</strong>; 1994-1999 geschäftsführender<br />

Leiter des Instituts; 1995-1997 Mitglied des Senats, 1997-1999<br />

Vizepräsident, seit 1.10.1999 Präsident der TU <strong>Braunschweig</strong>.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


4 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

14 Henning Hopf | Da sind die Chemiker viel galanter –<br />

über starke und schwache Bindungen<br />

Von Goethes »chemischer Gleichnisrede« in den »Wahlverwandtschaften« ausgehend, führt der<br />

Autor in grundlegende Fragen der Chemie ein, in starke und in schwache Bindungen. Kovalente<br />

Bindungen zählen zu den starken Bindungen und sind die typischen Bindungen der molekularen<br />

Chemie. Die schwachen Bindungen, auch nichtkovalente Bindungen genannt, werden in letzter<br />

Zeit intensiv von der supramolekularen Chemie erforscht. Die Aufgabe der modernen Organischen<br />

Chemie ist es, die starken und die schwachen Bindungen zur Erzeugung bestimmter Funktionen<br />

genau aufeinander abzustimmen, wie es in der Natur seit langem vorbildlich geschieht.<br />

▲ Dreidimensionale Struktur des Enzyms<br />

Glutamyl-tRNA-Reduktase.<br />

NEUES AUS DER<br />

UNTER ANDEREM<br />

MIT BERICHTEN ÜBER:<br />

30 Udo Peil | Bauwerksüberwachung:<br />

Notwendigkeit, Probleme und Möglichkeiten<br />

Der an der TU angesiedelte Sonderforschungsforschungsbereich<br />

(SFB) »Bauwerksüberwachung« beschäftigt sich mit dem Wachstumsmarkt<br />

der Baubranche – der Erneuerung und Erhaltung von<br />

Bauwerken, für die in Deutschland schon jetzt pro Jahr rund 250<br />

Milliarden Euro aufgebracht werden müssten. Ziel des SFB ist es,<br />

zuverlässige Methoden und Strategien zu entwickeln, die die<br />

Sicherheit und Nutzung von Bauwerken langfristig garantieren.<br />

Mitentscheidend dafür ist es, die Messtechnik für mechanische,<br />

physikalische und chemische Anwendungen zu verfeinern, um zu<br />

möglichst präzisen Aussagen über Lebensdauer und mögliche<br />

Schwachstellen der Bauwerke zu gelangen.<br />

06 Dieter Jahn, Jürgen Moser,Wolf-Dieter Schubert, Dirk W. Heinz | Strategien zur<br />

Entwicklung und Produktion neuer antibakterieller Wirkstoffe<br />

▲ Herausragende Eigenschaften<br />

durch ihre Bindungsverhältnisse:<br />

Synthetische Diamanten und aus ihnen<br />

für Anwendungen in der Elektronikindustrie<br />

herausgeschnittene Blöcke.<br />

Neue Strategien gegen Infektionskrankheiten, preisgünstige Vitamine und Enzyme für die Lebens-<br />

mitteltechnologie oder neue Wirkstoffe für Medizin und Landwirtschaft sind nur einige der Herausforderungen<br />

an die moderne Mikrobiologie.An der Schnittstelle von Biochemie, Biotechnologie,<br />

Genetik und Bioinformatik versuchen Mikrobiologen der TU gemeinsam mit Strukturbiologen der<br />

GBF interdisziplinäre Lösungsansätze zu entwickeln. Dabei dient die Biosynthese von Naturfarbstoffen,<br />

etwa Chlorophyll und Häm, als ein Modellsystem.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


58 Bettina Wahrig |<br />

Wissen aus »Großmutters Handkörbchen« –<br />

heilende Frauen im 18. Jahrhundert<br />

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war es nicht unge-<br />

wöhnlich, dass Frauen ohne akademische Ausbildung<br />

medizinische Behandlungen durchführten. Es gab zahlreiche<br />

kompetente Frauen, die ein handwerklich orientiertes,<br />

empirisches Wissen besaßen, das sie zumeist<br />

durch mündliche Überlieferung erworben hatten. Seit<br />

Mitte des Jahrhunderts wurde unter anderem durch die<br />

Interessenpolitik der studierten Ärzte, die ihre Einnahmen<br />

durch die ungeliebte Konkurrenz gefährdet sahen,<br />

die Heiltätigkeit von Frauen stärker eingeschränkt.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

WELT DER WISSENSCHAFT<br />

▲ Das Mutterkorn – spätestens<br />

ab dem 18. Jahrhundert zur<br />

Beschleunigung der Wehentätigkeit<br />

eingesetzt.<br />

INHALT<br />

Dieter Jahn, Jürgen Moser,Wolf-Dieter Schubert,<br />

Dirk W. Heinz<br />

Strategien zur Entwicklung und Produktion<br />

neuer antibakterieller Wirkstoffe........................06<br />

Henning Hopf<br />

Da sind die Chemiker viel galanter –<br />

über starke und schwache Bindungen ..........................14<br />

Sabine Sonnentag<br />

Arbeit und Erholung – Ein neues Thema für<br />

die Arbeitspsychologie ................................................24<br />

Udo Peil<br />

Bauwerksüberwachung: Notwendigkeit,<br />

Probleme und Möglichkeiten ......................................30<br />

Rainer Tutsch<br />

Industrielle Messtechnik – kein Selbstzweck ..........40<br />

Harald Michalik<br />

TU-Computer für den Weltraumeinsatz................46<br />

Franz Rudolf Keßler<br />

Klimaeinfluss durch CO 2 in der Atmosphäre –<br />

Die Rolle des Treibhauseffektes ....................................52<br />

Bettina Wahrig<br />

Wissen aus »Großmutters Handkörbchen« –<br />

heilende Frauen im 18. Jahrhundert..............................58<br />

Hans-Ulrich Ludewig, Gudrun Fiedler<br />

Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft<br />

im Land <strong>Braunschweig</strong> 1939 bis 1945 ..................64<br />

Joachim Hentze<br />

»Unternehmertum in Unternehmen«<br />

als Instrument der Führung..........................................70<br />

Ulrich Menzel<br />

Ausländische Studierende an der<br />

TU <strong>Braunschweig</strong> ....................................................76<br />

AKTUELLES AUS DER TU<br />

Nachrichten aus der Forschung ....................................82<br />

Gauß-Medaille 2002 verliehen ....................................84<br />

Heinrich-Büssing-Preis ................................................84<br />

Publikationen ............................................................84<br />

Jubiläen ....................................................................85<br />

Personalia ..................................................................86<br />

Nachrufe ....................................................................87<br />

Impressum ................................................................88<br />

5


6 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

STRATEGIEN ZUR ENTWICKLUNG<br />

UND PRODUKTION NEUER<br />

ANTIBAKTERIELLER WIRKSTOFFE<br />

VON DIETER JAHN 1, JÜRGEN MOSER 1, WOLF-DIETER SCHUBERT 2 UND DIRK W. HEINZ 2<br />

Neue Strategien gegen<br />

Infektionskrankheiten,<br />

preisgünstige Vitamine und<br />

Enzyme für die Lebensmitteltechnologie<br />

oder neue<br />

Wirkstoffe für Medizin und<br />

Landwirtschaft sind nur<br />

einige der Herausforderungen<br />

an die moderne<br />

Mikrobiologie. An der<br />

Schnittstelle von Biochemie,<br />

Biotechnologie, Genetik und<br />

Bioinformatik versuchen<br />

Mikrobiologen der TU<br />

gemeinsam mit<br />

Strukturbiologen der GBF<br />

interdisziplinäre Lösungsansätze<br />

zu entwickeln.<br />

Dabei dient die Biosynthese<br />

von Naturfarbstoffen, etwa<br />

Chlorophyll und Häm, als<br />

ein Modellsystem.<br />

1) Institut für Mikrobiologie<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

2) Abteilung Strukturbiologie<br />

der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF), <strong>Braunschweig</strong><br />

ABBILDUNG 1<br />

Dreidimensionale Struktur des Enzyms Glutamyl-tRNA-Reduktase.<br />

Sie sind überall: die Farbstoffe des<br />

Lebens, wie Chlorophyll, Häme,<br />

Vitamin B 12 , ohne diese in der<br />

Chemie auch Tetrapyrrole genannten<br />

Pigmente gäbe es kein Leben auf der Erde.<br />

ABBILDUNG 2<br />

Strukturformel von Häm.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


DIE FARBSTOFFE<br />

DES LEBENS<br />

Die grünen Chlorophylle fungieren in Pflanzen<br />

und Bakterien als Sonnenkollektoren<br />

und ermöglichen die Umwandlung von<br />

Sonnenenergie in chemische Energie und<br />

damit Wachstum und Vermehrung. Von<br />

der dabei gebildeten Biomasse leben zahlreiche<br />

andere Organismen. Unser Blut<br />

wiederum hat seine rote Farbe durch den<br />

Hämanteil des Sauerstofftransportproteins<br />

Hämoglobin. Häme als Bestandteile der<br />

zellulären Kraftwerke erlauben uns aber<br />

auch eine effiziente Energiegewinnung<br />

über die Sauerstoffatmung. Schließlich<br />

sind Häme an vielfältigen enzymatischen<br />

Entgiftungsvorgängen beteiligt. Das rosa<br />

gefärbte Vitamin B 12 ist ebenfalls ein unersetzlicher<br />

Bestandteil menschlicher Biokatalysatoren.<br />

Man findet es deshalb weit<br />

verbreitet als Zusatz zu Lebensmitteln,<br />

etwa in Cornflakes oder Fruchtsäften.<br />

Die Bildung von Farbstoffen<br />

in Bakterien und Menschen<br />

Das allgemeine Vorläufermolekül zur<br />

Bildung aller Tetrapyrrole wird 5-Aminolävulinsäure<br />

(ALA) genannt. Mittels Baukastenprinzip<br />

wird zuerst aus zwei dieser<br />

Moleküle ein Pyrrolring (Fünfring) gebildet,<br />

bevor aus vier Pyrrolen das erste Tetrapyrrol<br />

zusammengefügt wird. So entstehen alle<br />

Tetrapyrrole. Aus diesem ersten Tetrapyrrol<br />

werden anschließend auf unterschiedlichen<br />

Wegen Häme, Chlorophylle, Vitamin B 12<br />

und viele andere Farbstoffe gebildet.<br />

Für uns waren allerdings die beiden unterschiedlichen<br />

Wege zur Bildung des Vorläufermoleküls<br />

ALA von besonderem Interesse.<br />

Es ist seit den Fünfzigerjahren des letzten<br />

Jahrhunderts bekannt, dass Menschen und<br />

Tiere ALA mit nur einem Enzym aus dem<br />

Stoffwechselzwischenprodukt Succinyl-<br />

Coenzym A und der Aminosäure Glycin<br />

bilden. In den Siebziger- und Achtzigerjahren<br />

wurde klar, dass Pflanzen, fast alle<br />

Bakterien und die Archaebakterien einen<br />

ganz anderen, sehr ungewöhnlichen Weg<br />

nutzen.<br />

Ausgangspunkt ist ein Metabolit, der<br />

eigentlich der zellulären Maschinerie zur<br />

Eiweißbildung zugeordnet wird: eine mit<br />

der Aminosäure Glutamat beladene Trans-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

fer-RNA (Glutamyl-tRNA). Über die Jahre<br />

konnten wir gemeinsam mit anderen<br />

Arbeitsgruppen zeigen, dass an dieser ALA-<br />

Bildung zwei Enzyme beteiligt sind. Wir<br />

konnten die Katalysemechanismen dieser<br />

beiden Enzyme aufklären und interessierten<br />

uns anschließend für die atomare Struktur<br />

des initialen Enzyms, genannt GlutamyltRNA-Reduktase.<br />

Farbstoffe und Wirkstoffe<br />

Zentral für unsere Strategie war der ungewöhnliche<br />

Befund, dass Menschen und<br />

Tiere im Vergleich zu Pflanzen und Bakterien<br />

völlig unterschiedliche Ausgangssubstrate<br />

und Biokatalysatoren für die<br />

Bildung ihrer ALA und damit aller ihrer<br />

lebenswichtigen Tetrapyrrole nutzen.<br />

Dieser Unterschied sollte uns den gezielten<br />

Eingriff in die Tetrapyrrolbiosynthese in<br />

Pflanzen und Bakterien ermöglichen, ohne<br />

Mensch und Tier zu beeinflussen. Um diese<br />

Strategie für die Entwicklung neuer Antibiotika<br />

und Herbizide sowie zur Optimierung<br />

der Vitamin-B 12 -Produktion gezielt<br />

zu nutzen, haben wir die atomare Struktur<br />

des initialen Enzyms des bakteriellen und<br />

pflanzlichen Weges, der Glutamyl-tRNA-<br />

Reduktase, bestimmt. Basierend auf der<br />

dreidimensionalen Struktur sollen nun<br />

zielgerichtet neue Hemmstoffe für dieses<br />

Enzym entwickelt werden, die bakterielle<br />

und pflanzliche Tetrapyrrolbildung verhindern,<br />

ohne gleichzeitig die Tetrapyrrolbiosynthese<br />

beim Menschen und Tier zu beeinflussen.<br />

Atomare Struktur eines<br />

Proteins erkennen<br />

Zur Aufklärung der atomaren Struktur eines<br />

Proteins – oder anderer Biomakromoleküle –<br />

stehen prinzipiell zwei verschiedene Methoden<br />

zur Verfügung: die Röntgenstrukturanalyse<br />

und die Kernresonanzspektroskopie<br />

(NMR). Während mittels NMR Strukturinformationen<br />

über kleinere Proteine in<br />

Lösung erhalten werden können, erfordert<br />

die Röntgenstrukturanalyse, die sich für Moleküle<br />

beliebiger Größe eignet, zunächst die<br />

Kristallisation des Proteins. Leider »widersetzen«<br />

sich Proteine häufig den Kristallisationsbemühungen<br />

des Experimentators, sodass<br />

sich dieser Prozess sehr lange hinziehen kann<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

7<br />

DIETER JAHN*<br />

(Prof. Dr. ); Jg. 1959; 1978-1984<br />

Studium der Biologie an der <strong>Universität</strong><br />

Marburg; 1987 Promotion im<br />

Fach Genetik über die Funktion von<br />

Transkriptionsregulatoren aus Krebszellen;<br />

1988-1992 Postdoc an der<br />

Yale University, New Haven, Connecticut,<br />

USA – Untersuchungen zur<br />

Chlorophyll-Bildung in Pflanzen und<br />

Grünalgen; 1994 Habilitation für<br />

das Fach Mikrobiologie an der <strong>Universität</strong><br />

Marburg – Arbeiten zur Genregulation<br />

in Bakterien; 1996-2000<br />

Professor für Biochemie in der Fakultät<br />

für Chemie und Pharmazie der<br />

<strong>Universität</strong> Freiburg – Enzymologie<br />

und Genregulation der Hämbildung<br />

in Bakterien; seit 2000 Professor<br />

für Mikrobiologie an der TU <strong>Braunschweig</strong>.<br />

http://www.tu-bs.de/institute/<br />

mikrobio/jahn/index.htm<br />

* Kontakt:<br />

TU <strong>Braunschweig</strong><br />

Institut für Mikrobiologie<br />

Prof. Dr. Dieter Jahn<br />

Spielmannstr. 7<br />

38106 <strong>Braunschweig</strong><br />

E-mail: d.jahn@tu-braunschweig.de<br />

Tel.: 0531/391-5801


10 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

JÜRGEN MOSER<br />

(Dr.); Jg. 1971; 1991-1996 Studium<br />

der Chemie an der <strong>Universität</strong> Freiburg,<br />

1996-1997 Diplomarbeit im<br />

Fach Biochemie über die Struktur der<br />

Phospholipase C; 1997-2000 Dissertation<br />

über den Katalysemechanismus<br />

der Glutamyl-tRNA-Reduktase;<br />

seit 2000 Akademischer Rat in der<br />

Arbeitsguppe von Prof. Jahn – Struktur-<br />

und Funktionsuntersuchungen<br />

an Enzymen der Hämbildung in Bakterien.<br />

und viel Kreativität erfordert. Durch Beschuss<br />

der Proteinkristalle mit gebündelten<br />

Röntgenstrahlen werden schließlich Beugungsbilder<br />

erzeugt, aus denen die atomare<br />

Struktur der Proteinmoleküle im Kristall<br />

über Umwege »berechnet« werden kann.<br />

Die Glutamyl-tRNA-Reduktase aus dem<br />

extrem thermophilen Archaeon Methanopyrus<br />

kandleri wurde im Komplex mit<br />

Glutamycin, einem synthetischen Substrat-<br />

Analogon, kristallisiert und die Struktur bei<br />

hoher Auflösung mittels Röntgenstrukturanalyse<br />

aufklärt. Das ungewöhnlich V-förmige<br />

Enzym besteht aus drei Domänen,<br />

die über eine lange α-Helix miteinander<br />

verbunden sind (Abb. 1). Das Enzym<br />

wechselwirkt spezifisch mit dem Hemmstoff<br />

Glutamycin über konservierte Aminosäuren<br />

im aktiven Zentrum der zentralen<br />

katalytischen Domäne (Abb. 3). Die Bindung<br />

von Glutamycin an das Enzym erklärt<br />

damit die chemischen Grundlagen der<br />

Substraterkennung und Katalyse.<br />

ABBILDUNG 3<br />

Die Bindung des Inhibitors Glutamycin<br />

im aktiven Zentrum des Enzyms<br />

Glutamyl-tRNA-Reduktase.<br />

NEUE HERBIZIDE UND<br />

ANTIBIOTIKA, PREIS-<br />

GÜNSTIGE VITAMINE<br />

Die Chlorophyllbiosynthese ist bereits ein<br />

erfolgreich genutzter Ansatz für die Entwicklung<br />

von Herbiziden, die eine Oxidase<br />

inhibieren. Allerdings besitzen Mensch und<br />

Tier ein Enzym gleichen Typs für ihre Hämbiosynthese,<br />

sodass längerfristig durchaus<br />

Probleme auftreten können. Wie schon erwähnt,<br />

besitzen aber Mensch und Tier<br />

keine Glutamyl-tRNA-Reduktase. Ausgehend<br />

von der Kenntnis der Bindung von<br />

Glutamycin im aktiven Zentrum der<br />

Glutamyl-tRNA-Reduktase auf atomarer<br />

Ebene ist daher eine gezielte, systematische<br />

chemische Weiterentwicklung dieses<br />

Moleküls geplant. Es wurde bereits in<br />

klinischen Studien gezeigt, dass die gezielte<br />

Inhibition der Hämbiosynthese einiger<br />

pathogener Bakterien, wie zum Beispiel<br />

Salmonellen, zum Verlust ihres pathogenen<br />

Potenzials führt. Allerdings gelingt es anderen<br />

pathogenen Bakterien, einen induzierten<br />

Hämmangel durch Hämaufnahme vom<br />

Wirt auszugleichen. Prinzipiell ist aber eine<br />

zur Herbizidentwicklung analoge Strategie<br />

zur Antibotikaentwicklung denkbar. Sie<br />

bedarf jedoch einer bakterienspezifischen<br />

Modifikation.<br />

Vitamin B 12 wird heute industriell mittels<br />

Bakterien hergestellt. Der limitierende initale<br />

Schritt der Biosynthese aller Tetrapyrrole,<br />

einschließlich des Vitamin B 12 , ist die<br />

Bildung von ALA. Dabei wird in vielen Bakterien<br />

Glutamyl-tRNA-Reduktase durch<br />

Bindung des Endprodukts Häm einem gezielten<br />

proteolytischen Abbau zugeführt. So<br />

wird bei hohem intrazellulären Hämgehalt<br />

die Konzentration des ersten Enzyms des<br />

gesamten Biosyntheseweges gesenkt und<br />

damit der metabole Fluss in den Weg erniedrigt.<br />

Durch Strukturstudien der Glutamyl-tRNA-Reduktase<br />

mit gebundenem<br />

Häm könnten gezielt hämresistente Enzyme<br />

konstruiert werden, die so zur Erhöhung<br />

der Vitamin-B 12 -Produktion in Bakterien<br />

beitragen. In Zusammenarbeit mit der<br />

BASF AG sollen dann die auf diese Weise<br />

verbesserten bakteriellen Vitamin-B 12 -Produzenten<br />

bis zur Produktreife entwickelt<br />

werden.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


INNOVATIVE IDEEN<br />

ZUR WIRKSTOFF-<br />

ENTWICKLUNG<br />

Natürlich ist die Tetrapyrrolbiosynthese nur<br />

ein möglicher Ansatz zur Entwicklung<br />

neuer Wirkstoffe für die Medizin. Angesichts<br />

der alarmierend steigenden Zahlen<br />

multiresistenter Keime – also pathogener<br />

Bakterien, gegen die das heutige Antibiotikarepertoire<br />

versagt – wird intensiv nach<br />

neuen Ansatzpunkten für Therapien gesucht.<br />

Dabei kann man sich die Kenntnis<br />

des gesamten Erbgutes von pathogenen<br />

Bakterien zu Nutze machen.<br />

Dieses Erbgut in Form eines Chromosoms<br />

unterteilt sich in tausende Informationseinheiten,<br />

die Gene genannt werden. Die<br />

meisten Gene enthalten die Information für<br />

Einweiße, die Funktionen als Biokatalysatoren<br />

(Enzyme), Regulatoren, Sensoren,<br />

Oberflächenkomponenten und so weiter erfüllen.<br />

Sie werden aus ökonomischen Gründen<br />

aber nur gebildet, wenn sie gebraucht<br />

werden. Dazu wird eine Abschrift des Gens<br />

gemacht, Boten-RNA genannt, die wiederum<br />

in das eigentliche Protein umgesetzt<br />

wird. Wenn es uns nun gelingt festzustel-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

len, welche Eiweiße ein pathogenes Bakterium<br />

besonders im Falle einer Infektion<br />

bildet, sind wir seiner Infektionsstrategie<br />

auf der Spur. Man kann dies heute mittels<br />

neuer Hochdurchsatzmethoden für fast alle<br />

Eiweiße eines Bakteriums untersuchen.<br />

Nachweisen lassen sich die Bildung der<br />

Boten-RNAs mit der Technologie des Genomics<br />

und die der Eiweiße mit Proteomics.<br />

Beim Genomics werden Teile jedes Gens<br />

eines Organismus auf einem Microchip immobilisiert.<br />

Eine fluoreszierende Abschrift<br />

der Boten-RNA wird daran angelagert. Je<br />

mehr von dieser Boten-RNA gebildet wurde,<br />

also je mehr das jeweilige Gen abgeschrieben<br />

wurde, desto mehr Fluoreszenz<br />

strahlt der entsprechende Chipbereich ab.<br />

Vergleichen wir nun die gesamte Boten-<br />

RNA eines frei lebenden und eines den<br />

Menschen infizierenden Bakteriums, werden<br />

uns die beobachteten Unterschiede in<br />

der Abschrift einzelner Gene über die bakterielle<br />

Infektionsstrategie informieren.<br />

Analog können direkt die gebildeten Proteine<br />

eines frei lebenden und eines den<br />

Menschen infizierenden Bakteriums verglichen<br />

werden. Dazu werden diese über eine<br />

zweidimensionale Gelelektrophorese einer-<br />

ABBILDUNG 5<br />

Genomics-Analyse durch zweidimensionale<br />

Gelelektrophorese.<br />

Jeder Punkt des Gels entspricht<br />

einem Eiweißmolekül des Bakteriums<br />

Pseudomonas aeruginosa.<br />

ABBILDUNG 4<br />

Elektronenmikroskopische Aufnahme des Krankheitserregers<br />

Pseudomonas aeruginosa.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

11<br />

WOLF-DIETER<br />

SCHUBERT<br />

(Dr.); Jg. 1966; 1986-1991 Studium<br />

der Chemie (M.Sc.) an der University<br />

of Cape Town, Südafrika; 1992-1997<br />

Dissertation in Kristallographie (Freie<br />

<strong>Universität</strong> Berlin) über die Struktur<br />

des cyanobakteriellen Photosystems I;<br />

1998 Postdoc am Institute of Bioscience<br />

and Human Technology<br />

(IBHT),Agency of Industrial Science<br />

and Technology,Tsukuba (MITI),<br />

Japan – Arbeiten an pflanzlichen<br />

Lectinen und Aminotransferasen;<br />

seit 1998 Postdoc an der GBF in<br />

<strong>Braunschweig</strong> – Struktur-/Funktionsuntersuchungen<br />

u. a. an bakteriellen<br />

Virulenzfaktoren.


12 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

DIRK W. HEINZ<br />

(Priv.-Doz. Dr.); Jg. 1960; 1980-1986<br />

Studium der Chemie an der <strong>Universität</strong><br />

Freiburg; 1986-1990 Dissertation<br />

in Biochemie (<strong>Universität</strong> Basel<br />

und CIBA-GEIGY AG) über Struktur<br />

und Funktion von Proteaseinhibitoren;<br />

1990-1993 Postdoc an der University<br />

of Oregon, Eugene, USA – Erforschung<br />

der Toleranz von Proteinstrukturenbzw.Aminosäureinsertionen<br />

und -substitutionen; 1993-1998<br />

Habilitand an der <strong>Universität</strong> Freiburg<br />

– Habilitation im Fach Biochemie<br />

über die Struktur der Phospholipasen<br />

C; 1998-2002 Nachwuchsforschergruppenleiter<br />

an der GBF in<br />

<strong>Braunschweig</strong> – Strukturuntersuchungen<br />

an bakteriellen Virulenzfaktoren;<br />

seit Mai 2002 Leiter der Abteilung<br />

Strukturbiologie an der GBF.<br />

ABBILDUNG 6<br />

Eingabemaske der Bioinformatik-Datenbank<br />

PRODORIC (http://prodoric.tu-bs.de).<br />

seits nach ihrer molekularen Masse und andererseits<br />

nach ihrer Ladung getrennt. Identifiziert<br />

werden die Proteine durch eine<br />

massenspektrometrische Analyse der molekularen<br />

Massen von durch Proteaseverdau<br />

erzeugten Fragmenten. Dieses Fragmentierungsmuster<br />

ist einmalig für jedes Eiweiß in<br />

der Natur. Bei dieser Art von Analytik entsteht<br />

durch die Untersuchung an tausenden<br />

von Genen gleichzeitig eine riesige Datenfülle,<br />

die es durch geeignete Bioinformatik-<br />

Werkzeuge zu analysieren gilt.<br />

Wir untersuchen in enger Zusammenarbeit<br />

mit Dr. Lothar Jänsch (GBF) und Dr. Jan<br />

Buer (GBF) mittels Proteomics und Genomics<br />

die Unterschiede zwischen frei lebendem<br />

und Mensch-assoziiertem Pseudomonas<br />

aeruginosa. Dieses Bakterium ist ein typischer<br />

Krankenhauskeim, der immungeschwächte<br />

Menschen befällt und durch<br />

seine Antibiotikaresistenz ein großes Problem<br />

in Kliniken darstellt. Außerdem ist der<br />

Keim eine der Haupttodesursachen von<br />

Menschen mit Mukoviszidose. Unsere ersten<br />

Ergebnisse deuten auf eine starke Beteiligung<br />

des anaeroben Stoffwechsels des<br />

Bakteriums – der ihm ein Überleben ohne<br />

Sauerstoff ermöglicht – bei der Infektion<br />

hin. Da Menschen diese Art Stoffwechsel<br />

nicht besitzen, könnte auch dies ein Ansatzpunkt<br />

zur Entwicklung neuer Antibiotika<br />

sein.<br />

Zur Auswertung und Dokumentation der<br />

gewonnenen Daten sowie deren Integration<br />

in schon vorhandene Literaturdaten<br />

haben wir im Rahmen des Bioinformatik-<br />

Kompetenzzentrums »Intergenomics« die<br />

Datenbank PRODORIC (http://prodoric.<br />

tu-bs.de) entwickelt. Mit ihr ist es möglich,<br />

die gewonnenen Daten in Modelle zellulärer<br />

Regulations- und Stoffwechselvorgänge<br />

umzusetzen. Diese Vorhersagen sollen uns<br />

helfen, mögliche Angriffspunkte für unsere<br />

experimentellen Ansätze zur Wirkstoffentwicklung<br />

zu erkennen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


VOM GEN ZUM PRODUKT<br />

Schließlich müssen Strategien entwickelt<br />

werden, um neu entdeckte Wirkstoffe ökonomisch<br />

und sicher herzustellen. Dabei<br />

sind Fragestellungen der Wahl und Entwicklung<br />

geeigneter Produktionswirte,<br />

Kultivierungs- und Aufschlussverfahren<br />

sowie Reinigungsprinzipien experimentell<br />

und theoretisch zu bearbeiten. Durch den<br />

Sonderforschungsbereich (SFB) 573 »Vom<br />

Gen zum Produkt« unter Leitung von<br />

Professor Dr. Dietmar Christian Hempel,<br />

Institut für Bioverfahrenstechnik, bietet<br />

die TU für diese Aufgaben ein kompetentes<br />

Forum. Die TU-Mikrobiologie will zum<br />

Erfolg des SFB durch die gentechnische<br />

Entwicklung von Bakterien und Pilzen<br />

einen Beitrag leisten. ■<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

LITERATUR<br />

1 Martens, J.-H., Barg, H., Warren, M. J.<br />

& Jahn, D. (2002) Microbial Production<br />

of Vitamin B 12 . Appl. Microbiol. Biotechnol.<br />

58, 275-285.<br />

2 Jahn, D., Hungerer, C. & Troup, B.<br />

(1996) Ungewöhnliche Schritte und<br />

umweltregulierte Gene der bakteriellen<br />

Hämbiosynthese. Naturwissenschaften<br />

83, 389-400.<br />

3 Jahn, D., Verkamp, E. & Söll, D. (1992)<br />

The role of transfer RNA in tetrapyrrole<br />

synthesis. Trends Biol. Sci. 17, 215-219.<br />

4 Moser, J., Lorenz, S., Hubschwerlen, C.,<br />

Rompf, A. & Jahn, D. (1999) Methanopyrus<br />

kandleri glutamyl-tRNA reductase.<br />

J. Biol. Chem. 274, 30679-30685.<br />

5 Moser, J., Schubert, W.-D., Beier, V.,<br />

Bringemeier, I., Jahn, D. & Heinz, D. W.<br />

(2001) V-shaped structure of glutamyltRNA<br />

reductase, the first enzyme of<br />

tRNA-dependent tetrapyrrole biosynthesis.<br />

EMBO J. 20, 6583-6590.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

6 Frankenberg, N., Erskine, P. R., Cooper,<br />

J., Shoolingin-Jordan, P. M., Jahn, D. &<br />

Heinz, D. W. (1999) High resolution<br />

crystal structure of a magnesiumdependent<br />

5-aminolevulinic acid dehydratase.<br />

J. Mol. Biol. 289, 591-602.<br />

7 Schobert, M. & Jahn, D. (2002) Regulation<br />

of heme biosynthesis in nonphototrophic<br />

bacteria. J. Mol. Microbiol.<br />

Biotechnol. 4, 117-124.<br />

8 Heinz, D. & Jahn, D. (2002) Strukturbiologie<br />

zur gerichteten Wirkstoffentwicklung.<br />

CHEManager 11, 14.<br />

9 Frere, F., Schubert, W.-D., Stauffer, F.,<br />

Frankenberg, N., Neier, R., Jahn, D. &<br />

Heinz, D. W. (2002) Structure of<br />

porphobilinogen synthase from Pseudomonas<br />

aeruginosa in complex with 5fluorolevulinic<br />

acid suggests a double<br />

Schiff base mechanism. J. Mol. Biol.<br />

320, 237-247.<br />

10 Krieger, R., Rompf, A., Schobert, M. &<br />

Jahn, D. (2002) The Pseudomonas<br />

aeruginosa hemA promoter is regulated<br />

by Anr, Dnr, NarL and integration host<br />

factor. Mol. Gen. Genet. 267, 409-417.<br />

13


14 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

»DA SIND DIE CHEMIKER VIEL<br />

GALANTER« – ÜBER STARKE<br />

UND SCHWACHE BINDUNGEN<br />

Von Goethes »chemischer Gleichnisrede« in den<br />

»Wahlverwandtschaften« ausgehend, führt der Autor in<br />

grundlegende Fragen der Chemie ein, in starke und in<br />

schwache Bindungen. Kovalente Bindungen zählen zu den<br />

starken Bindungen und sind die typischen Bindungen der<br />

molekularen Chemie. Die schwachen Bindungen, auch<br />

nichtkovalente Bindungen genannt, werden in letzter Zeit<br />

intensiv von der supramolekularen Chemie erforscht. Die<br />

Aufgabe der modernen Organischen Chemie ist es, die starken<br />

und die schwachen Bindungen zur Erzeugung bestimmter<br />

Funktionen genau aufeinander abzustimmen, wie es in der<br />

Natur seit langem vorbildlich geschieht.<br />

VON HENNING HOPF<br />

Institut für Organische Chemie<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong><br />

<strong>Braunschweig</strong><br />

ABBILDUNG 1<br />

Das periodische System der Elemente.<br />

Über die Chemie wird in diesen<br />

Tagen und Jahren manches gesagt<br />

und geschrieben, dass die sie<br />

praktizierenden Wissenschaftler »galant«<br />

seien, wird man darunter nicht finden. Um<br />

auf eine derartige Charakterisierung zu<br />

kommen, muss man fast 200 Jahre zurückgehen,<br />

bis in das Jahr 1809, als Goethe seinen<br />

Roman »Die Wahlverwandtschaften«<br />

veröffentlichte, aus dem das Titelzitat<br />

stammt.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


GOETHES »WAHLVER-<br />

WANDTSCHAFTEN« =<br />

EIN BINDUNGSROMAN?<br />

Die »Wahlverwandtschaften« waren ursprünglich<br />

als Novelleneinlage für den<br />

»Wilhelm Meister« gedacht, und so wie<br />

dieser der Bildungsroman par excellence<br />

ist, könnte man jenen als prototypischen<br />

Bindungsroman bezeichnen.<br />

Die Behauptung »Wahlverwandtschaften<br />

= Bindungsroman« wird besonders vom<br />

vierten Kapitel des ersten Teils des Romans<br />

gestützt, in dem Goethe in einer »chemischen<br />

Gleichnisrede« das Programm des<br />

Buchs vorstellt: »Wenn Sie glauben, dass es<br />

nicht pedantisch aussieht, so kann ich wohl<br />

in der Zeichensprache mich kürzlich zusammenfassen.<br />

Denken Sie sich ein A, das<br />

mit einem B innig verbunden ist, durch<br />

viele Mittel und durch manche Gewalt<br />

nicht von ihm zu trennen, denken Sie sich<br />

ein C, das sich ebenso zu einem D verhält;<br />

bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung;<br />

A wird sich zu D, C zu B werfen,<br />

ohne dass man sagen kann, wer das andere<br />

zuerst verlassen, wer sich mit dem andern<br />

zuerst wieder verbunden hat.«<br />

Eduard, eine der Hauptfiguren des Werks,<br />

setzt sich mit B gleich, Charlotte, seine<br />

Frau, mit A, C ist der so genannte Hauptmann,<br />

ein Soldat und Chemiker, D Ottilie,<br />

Charlottes Nichte. B glaubt, dass C ihm A<br />

entziehen und diese zur Freundin von D<br />

machen wird. Er ist von dieser Entwicklung<br />

überzeugt, weil der Hauptmann ihm mit<br />

der Reaktion Kalkstein, das ist chemisch<br />

Calciumcarbonat, mit Schwefelsäure zu<br />

Calciumsulfat (Gips), Kohlendioxid und<br />

Wasser ein chemisches Analogon liefert,<br />

dessen Überzeugungskraft er sich nicht entziehen<br />

kann. Dass es dann ganz anders<br />

kommt – davon handeln in einer Sprache,<br />

die alles andere als pedantisch ist, die<br />

»Wahlverwandtschaften«.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

DREI ARTEN<br />

STARKER BINDUNGEN<br />

Chemiker nennen eine Reaktion wie die<br />

obige eine Säure-Base-Reaktion und die Bindungen,<br />

die dabei geknüpft und gelöst werden,<br />

starke Bindungen, in diesem Fall »ionische<br />

Bindungen«. Damit sind wir endgültig<br />

bei der Chemie angelangt – das Wort »Wahlverwandtschaften«<br />

stammt übrigens nicht<br />

von Goethe, sondern von dem schwedischen<br />

Chemiker Torbern Bergman, der es bereits<br />

1775 in einer frühen »Bindungstheorie« verwandte.<br />

Zwischen wem sollen starke Bindungen geknüpft<br />

werden? Gibt es noch andere starke<br />

Bindungen als die erwähnten ionischen? Das<br />

sollen unsere ersten Fragen sein.<br />

Im Prinzip können alle der rund hundert<br />

Elemente, die wir heute kennen und die sich<br />

zu einem so genannten periodischen System<br />

der Elemente ordnen lassen, miteinander<br />

Bindungen eingehen. Abbildung 1 wurde im<br />

Foyer der chemischen Institute der TU<br />

<strong>Braunschweig</strong> am Hagenring aufgenommen,<br />

in dem die meisten Elemente in natura besichtigt<br />

werden können.<br />

Die Elemente lassen sich grob in zwei große<br />

Gruppen einteilen: die Metalle, in der Zahl<br />

weit überwiegend und auf den ersten Blick<br />

meistens an ihrem Glanz zu erkennen, und<br />

die Nichtmetalle – unter ihnen die Edelgase,<br />

die Halogene und so wichtige Elemente wie<br />

Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel, Phosphor,<br />

Wasserstoff und Kohlenstoff, die eigentlichen<br />

Elemente des Lebens.<br />

ABBILDUNG 2<br />

Synthetische Diamanten und aus ihnen für<br />

Anwendungen in der Elektronikindustrie<br />

herausgeschnittene Blöcke.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

15<br />

HENNING HOPF<br />

(Prof. Dr. Dr. h.c.); Jg. 1940;<br />

Geschäftsführender Leiter des<br />

TU-Instituts für Organische Chemie;<br />

Arbeitsgebiete: Organische<br />

Synthese, Stereochemie, Kohlenwasserstoffchemie,Reaktionsmechanistik,<br />

neue Materialien;<br />

für seine Arbeiten erhielt Professor<br />

Hopf zahlreiche Preise, darunter den<br />

Gay-Lussac/ Alexander-von-Humboldt-Preis,<br />

den Max-Planck-Preis,<br />

die Adolf-von-Baeyer-Denkmünze<br />

sowie weitere in- und ausländische<br />

Auszeichnungen.


16 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 3<br />

Computererzeugtes Bindungsmodell<br />

des Diamanten.<br />

Diese Bausteine der materiellen Welt gehen<br />

im Wesentlichen drei Arten von starken<br />

Bindungen ein – die uns bereits aus den<br />

»Wahlverwandtschaften« bekannten ionischen<br />

Bindungen, die kovalenten und die<br />

metallischen Bindungen:<br />

a) ionische Bindungen:<br />

Beispiel: Na + Cl ----> Na + Cl - ;<br />

b) kovalente Bindungen:<br />

Beispiel: 4H + C ----> CH 4 ;<br />

c) metallische Bindungen:<br />

Beispiele: Cu, Fe, Au, Ag.<br />

ABBILDUNG 4<br />

Die Kohlenstoffmodifikation Graphit<br />

in Flockenform.<br />

Ionische Bindungen findet man vorwiegend<br />

zwischen den Elementen links im periodischen<br />

System und solchen, die ganz rechts<br />

stehen. Das liegt daran, dass die links stehenden<br />

Elemente leicht Elektronen abgeben,<br />

die von den rechts angeordneten Elementen<br />

gerne aufgenommen werden. Auf<br />

diese Weise entstehen geladene Teilchen,<br />

Ionen, die sich aufgrund der Coulomb’schen<br />

Wechselwirkung anziehen: Gegensätze<br />

ziehen sich an.<br />

Ganz anders bei den kovalenten Bindungen,<br />

die bevorzugt von »mittelständigen«<br />

Elementen ausgebildet werden. Hier geben<br />

beide Partner ihre Elektronen in eine<br />

gemeinsame chemische Bindung: Gleich<br />

und gleich gesellt sich gern, ist hier das<br />

Motto, wieder ist eine starke chemische<br />

Bindung das Resultat.<br />

Im Falle der metallischen Bindung schließlich<br />

können die Elektronen nicht länger<br />

einzelnen Metallatomzentren zugeordnet<br />

werden, sondern verteilen sich leicht als<br />

bewegliches Elektronengas zwischen den<br />

positiv geladenen Metallrümpfen. Metalle<br />

leiten aus diesem Grund den elektrischen<br />

Strom.<br />

Kohlenstoff –<br />

ein chemischer Alleskönner<br />

Die kovalenten Bindungen sind die typischen<br />

Bindungen der Organischen Chemie,<br />

die ionischen Bindungen halten zahllose anorganische<br />

Verbindungen zusammen. Der<br />

mit Abstand wichtigste Bindungspartner in<br />

kovalenten Bindungen ist der Kohlenstoff.<br />

ABBILDUNG 5<br />

Computererzeugtes Bindungsmodell des Graphits.<br />

Die zentrale Rolle, die dieses Element<br />

spielt – definitionsgemäß ist die Organische<br />

Chemie die Chemie der Kohlenstoffverbindungen<br />

–, ist bereits in der zentralen<br />

Stellung dieses Elements im periodischen<br />

System der Elemente vorgegeben. Diese<br />

Stellung beruht auf der Elektronenkonfiguration<br />

des Kohlenstoffs, die wiederum<br />

Ursache der enormen strukturellen Vielfalt<br />

organischer Verbindungen ist, von denen<br />

heute mehr als 18 Millionen bekannt sind.<br />

Für Kohlenstoff waren bis vor kurzem<br />

zwei Modifikationen bekannt: Diamant und<br />

Graphit. Diamant ist eines der ungewöhnlichsten<br />

Materialien, das wir kennen: Er ist<br />

extrem hart – das griechische Wort diamant<br />

bedeutet unbezwingbar –, hat<br />

optische Eigenschaften, die die aller Gläser<br />

übertreffen, leitet vorzüglich Wärme und<br />

vieles anderes mehr – kein Wunder, dass er<br />

seit jeher hoch geschätzt und begehrt ist.<br />

Im Gegensatz zum gleichfalls schon immer<br />

attraktiven Gold, dem edelsten der Metalle,<br />

ist es allerdings den Chemikern gelungen,<br />

ihn zu synthetisieren (Abb. 2).<br />

Synthesediamanten werden heute für<br />

Anwendungen in der Elektronikindustrie,<br />

dem Maschinenbau, der Werkzeug- und<br />

Bohrtechnik, der Chirurgie und für zahllose<br />

andere Zwecke in großen Mengen hergestellt.<br />

Diese herausragenden Eigenschaften<br />

sind eine Folge der Bindungsverhältnisse im<br />

Diamanten (Abb. 3).<br />

Diamant bildet ein völlig regelmäßiges,<br />

unendliches dreidimensionales Netzwerk,<br />

ein Gitter (»Diamantgitter«) aus lauter<br />

Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen.<br />

Will man einen Diamanten zersplittern<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


oder pulverisieren, so muss dieses Netzwerk<br />

zerstört werden. Da schon die einzelnen<br />

C-C-Bindungen sehr stark sind, gelingt<br />

das nicht.<br />

Graphit unterscheidet sich vom Diamanten<br />

wie die Nacht vom Tage: Er ist schwarz<br />

(Abb. 4), zeigt metallischen Glanz, leitet<br />

den elektrischen Strom, ist weich – bleistiftminenweich,<br />

ist doch das »Blei« in diesem<br />

Schreibgerät tatsächlich Graphit.<br />

Dennoch: Auch hier besteht wieder ein<br />

deutlich ausgeprägter Zusammenhang zwischen<br />

Eigenschaften und Bindungsverhältnissen<br />

(s. Abb. 5).<br />

Graphit besteht aus Schichten, in denen<br />

die Kohlenstoffatome durch starke, kovalente<br />

Bindungen zusammengehalten werden;<br />

dabei treten in diesem Fall neben Einfach-<br />

auch Doppelbindungen auf. Der Zusammenhalt<br />

der Schichten wird durch<br />

schwache, nichtkovalente Bindungen verursacht,<br />

einen Bindungstyp, von dem noch<br />

die Rede sein wird.<br />

ABBILDUNG 7<br />

Der Benzolring –<br />

eine chemische Ikone.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 6<br />

Fulleren C 60 : eine kugelförmige<br />

Kohlenstoffmodifikation.<br />

Dass Kohlenstoff wirklich ein chemischer<br />

Alleskönner ist, der nicht nur glasklar und<br />

tiefschwarz, stark und schwach sein, sondern<br />

auch topologisch noch phantastische<br />

neue Möglichkeiten aufweisen kann, wissen<br />

wir seit 1989, als eine weitere Modifikation<br />

entdeckt wurde, die so genannte<br />

Fullerenform.<br />

Fullerene sind kugelförmige Kohlenstoffvarianten<br />

– zu dem unendlichen Netzwerk des<br />

Diamanten und den Ebenen des Graphits ist<br />

die Kugel als dritte geometrische Form getreten<br />

(Abb. 6). Namenspatron für diese neue<br />

Kohlenstoffvariante war der amerikanische<br />

Architekt und Erfinder Buckminster Fuller,<br />

der sich insbesondere mit der Konstruktion<br />

so genannter geodäsischer Dome beschäftigt<br />

hat. Die Fullerene sind molekulare Ausgaben<br />

der Kugelgebäude Fullers.<br />

Die Fullerenforschung hat in den letzten<br />

20 Jahren einen beispiellosen Aufschwung<br />

erlebt und große Teile der Chemie nachhaltig<br />

beeinflusst. Dabei wurden in den letzten<br />

Jahren auch noch röhrenförmige Kohlenstoffvarianten<br />

entdeckt, die so genannten<br />

Kohlenstoffnanoröhren, die formal durch<br />

Aufwickeln von Graphitschichten gebildet<br />

werden. Manchmal sind diese Röhrchen<br />

durch von den Fullerenen abgeleitete Halbkugeln<br />

an den Enden verschlossen. Der<br />

Hohlraum der Fullerene wird inzwischen<br />

als molekularer Container genutzt, in den<br />

andere Moleküle und Atome eingeschlossen<br />

werden können; Fullerene und Nano-<br />

ABBILDUNG 8<br />

Die 217 möglichen Kombinationen<br />

von sechs Kohlenstoff- und sechs<br />

Wasserstoffatomen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

röhren erfreuen sich aufgrund ihrer ungewöhnlichen<br />

strukturellen und elektronischen<br />

Eigenschaften überdies des großen<br />

Interesses von Physikern und Materialwissenschaflern.<br />

Kugelförmige Gebilde sind<br />

übrigens in der Natur nicht unbekannt, wie<br />

etwa das Kieselskelett der Radiolarien oder<br />

Strahlentierchen zeigt, die unter anderem<br />

Häckel in seinem Werk »Die Welträtsel« gezeichnet<br />

und beschrieben hat.<br />

Nicht nur auf der Erde,<br />

auch im Kosmos<br />

Nachdem wir den Kohlenstoff in seinen<br />

Erscheinungsformen kennen gelernt haben,<br />

wollen wir einen Blick auf die Verbindungen<br />

werfen, die aus ihm aufgebaut werden<br />

können. Dieses Bauen, Synthetisieren, ist<br />

das Projekt der Organischen Chemie, die<br />

mittlerweile – wie bereits erwähnt – bei<br />

über 18 Millionen unterschiedlichen, aber<br />

genauestens bekannten Strukturen angekommen<br />

ist.<br />

Die Vielfalt von C-C-Verknüpfungstypen<br />

auf der Erde und im Kosmos ist überwältigend<br />

und grenzenlos. Alle Stoffe, aus denen<br />

lebende Systeme bestehen – Pflanzen, Tiere,<br />

wir selbst –, bauen das Gerüst der jeweiligen<br />

Substanzen aus Kohlenstoffketten und<br />

-ringen auf.<br />

Das Problem der strukturellen Komplexität<br />

sei an zwei recht einfachen Beispielen<br />

näher erläutert.<br />

Das in der Öffentlichkeit bekannteste graphische<br />

Symbol für die Chemie ist das regelmäßige<br />

Sechseck des Benzols (Abb. 7);<br />

die Summenformel der Substanz lautet<br />

C 6 H 6 , das heißt, es werden zum Aufbau<br />

der Substanz sechs Kohlenstoffatome<br />

17


18 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 9<br />

Zahl der gesättigten Kohlenwasserstoffe, die bis zu<br />

20 Kohlenstoffatome enthalten.<br />

ABBILDUNG 10<br />

Eine kleine Auswahl interstellarer, durch kovalente<br />

Bindungen zusammengehaltener Moleküle.<br />

benötigt, die durch starke kovalente Bindungen<br />

ringförmig miteinander verknüpft<br />

sind, und sechs Wasserstoffatome, die diesen<br />

Ring absättigen.<br />

Fragt man jedoch nach der maximal möglichen<br />

Anzahl der molekularen Bauwerke,<br />

die sich mit diesen beiden Typen von »Ziegeln«<br />

errichten lassen, erkennt man rasch,<br />

dass es noch viele andere Verknüpfungspläne<br />

geben muss. Tatsächlich existieren insgesamt<br />

– wie sich mithilfe der Graphentheorie<br />

zeigen lässt und bei Einhaltung der Spielregel<br />

»Kohlenstoff ist vier-, Wasserstoff ist<br />

einwertig« – 217 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten,<br />

die eine Fülle chemisch<br />

und strukturell interessanter Strukturen<br />

repräsentieren.<br />

Viele der in Abbildung 8 gezeigten Kombinationen<br />

haben wir und andere Gruppen in<br />

den letzten Jahrzehnten herstellen können,<br />

und viele dieser Verbindungen sind wichtige<br />

Referenzsubstanzen für strukturelle,<br />

spektroskopische und chemische Untersuchungen<br />

geworden. Mit dieser Anzahl von<br />

Kohlenstoffatomen wird ein Komplexitätsgrad<br />

erreicht, der es erlaubt, zahlreiche der<br />

grundlegend wichtigen Probleme der Organischen<br />

Chemie anzusprechen, gleichgültig<br />

ob es sich dabei um Phänomene wie Aromatizität<br />

und Antiaromatizität, Kreuz- und<br />

Linearkonjugation, Ringspannung und Reaktivität<br />

oder anderes mehr handelt.<br />

Das zweite Beispiel ist weniger grundlagenforschungsorientiert,<br />

sondern entstammt –<br />

wenigstens partiell – dem Alltag, in dem gesättigte<br />

Kohlenwasserstoffe eine überaus<br />

wichtige Rolle spielen: sei es das Methan<br />

oder Ethan des Erdgases, das Butan des<br />

Gasfeuerzeugs, das Benzin im Auto- beziehungsweise<br />

das Kerosin im Flugzeugtank<br />

oder das Erdöl als Ausgangsmaterial der<br />

chemischen Industrie. Die Summenformel<br />

für diese Substanzen lautet C n H n+2 ; dabei<br />

ist n eine Laufzahl, die mit 1 beginnend im<br />

Prinzip beliebig groß werden kann. Wir<br />

wollen diese Zahl hier bei 20 begrenzen<br />

und uns fragen, wie groß die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten<br />

(= molekulare<br />

Grundrisse) ist: Abbildung 9 gibt die Antwort.<br />

Schon nach kurzer Zeit – beim Überschreiten<br />

von nur rund einem Dutzend<br />

Kohlenstoffatomen – erreicht man eine<br />

atemberaubende Vielfalt, die bei n = 20<br />

bereits die Zahl von drei Millionen Kombinationen<br />

mühelos überschreitet. Die überwiegende<br />

Mehrzahl dieser Substanzen wird<br />

nie hergestellt werden. Genauso sicher ist<br />

aber auch, dass das Methodenarsenal, das<br />

dem Chemiker heute zur Verfügung steht,<br />

ausreicht, jede dieser Kombinationen zu<br />

synthetisieren – sollte aus irgendeinem<br />

Grund Anlass dazu bestehen.<br />

Starke Bindungskräfte sind auch dort vonnöten,<br />

wo extremste äußere Bedingungen<br />

herrschen, etwa im interstellaren Raum, in<br />

dem zwar organische Verbindungen (auch<br />

hoch aktive) kaum die Chance haben, auf<br />

einen anderen Reaktionspartner zu treffen,<br />

in dem sie aber zum Beispiel ungehinderter<br />

Strahlenbelastung ausgesetzt sind. Eine<br />

kleine Auswahl von Substanzen, die in den<br />

letzten Jahren als Bestandteil der interstellaren<br />

Materie durch Radioastronomie nachgewiesen<br />

wurden, fasst Abbildung 10 zusammen.<br />

Neben C-C-Einfach- und Mehrfachbindungen<br />

zwischen Kohlenstoffatomen spielen<br />

hier auch kovalente Bindungen zwischen<br />

Heteroatomen (Sauerstoff, Stickstoff)<br />

und zwischen Kohlenstoffatomen und Heteroatomen<br />

eine Rolle. Hoch ungesättigte<br />

interstellare Verbindungen wie Cyanacetylen,<br />

Dicyanacetylen oder Cyandiacetylen<br />

lassen sich auch, wie wir haben zeigen können,<br />

mit Gewinn in der organischen Synthese<br />

»auf der Erde« nutzen. Auch hier ist<br />

also die Natur wieder die große »Anregerin«,<br />

nur beschränkt sich dieser Begriff<br />

nicht mehr ausschließlich auf unseren Planeten.<br />

Es gibt überdies experimentelle Belege<br />

für eine Verknüpfung interstellarer<br />

organischer Moleküle mit lebenswichtigen<br />

Biomolekülen, wie dem Grundkörper des<br />

Blatt- beziehungsweise des Blutfarbstoffs.<br />

Damit ist nicht gesagt, dass das Leben auf<br />

der Erde aus dem Weltraum importiert worden<br />

ist (so genannter Panspermismus), aber<br />

ausgeschlossen werden kann es auch nicht.<br />

SCHWACHE BINDUNGEN –<br />

LANGE VERNACHLÄSSIGT<br />

Den schwachen Bindungen, obwohl schon<br />

lange bekannt, wandten sich die Chemiker<br />

erst in neuerer Zeit in immer stärkerem<br />

Maße zu. Ursache war der kometenhafte<br />

Aufstieg der »Supramolekularen Chemie«.<br />

Ein Vergleich dieses Gebietes mit der klassischen,<br />

der molekularen Chemie ergibt:<br />

»Kovalente Bindungen sind starke Bindungen.<br />

Die Chemie, die auf ihnen beruht,<br />

heißt MOLEKULARE CHEMIE. Kovalente<br />

Bindungen sind für die Primärstruktur, das<br />

Skelett organischer Verbindungen, verantwortlich.<br />

Schwache Bindungen heißen häufig<br />

auch nichtkovalente Bindungen. Die<br />

Chemie, die auf ihnen beruht, heißt SUPRA-<br />

MOLEKULARE CHEMIE. Nichtkovalente<br />

Bindungen sind für höhere Strukturen organischer<br />

Verbindungen verantwortlich (Sekundär-,<br />

Tertiärstruktur) und haben einen<br />

starken Einfluss auf deren Funktion. Die<br />

wichtigsten nichtkovalenten Bindungen<br />

sind:<br />

a) Coulomb-Wechselwirkungen (Ion-Ion,<br />

Ion-Dipol, Dipol-Dipol u.a.m.),<br />

b) Wasserstoffbrücken,<br />

c) van der Waals-Kräfte.«<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


ABBILDUNG 11<br />

Wasserstoffbrücken im Gitter eines<br />

Eiskristalls.<br />

Zu den grundlegenden Bindungstypen der<br />

Supramolekularen Chemie zählt die Wasserstoffbrückenbindung,<br />

die die chemischen<br />

und physikalischen Eigenschaften<br />

von so einfachen Molekülen wie Wasser<br />

ebenso bestimmt wie die komplexer Biomoleküle<br />

(s. u.). Als sehr kleines, nur dreiatomiges<br />

Molekül müsste H 2 O eigentlich bei<br />

Raumtemperatur ein Gas sein – tatsächlich<br />

ist es eine sehr hoch siedende Flüssigkeit,<br />

von hoher Viskosität, hoher Oberflächenspannung,<br />

ungewöhnlichem Schmelzverhalten<br />

und so weiter. Ursache vieler dieser<br />

Eigenschaften sind zu einem beträchtlichen<br />

Maße die Wasserstoffbrücken, die zu einer<br />

Vernetzung der Wassermoleküle führen (gepunktete<br />

Linien), wie sich besonders deutlich<br />

an Eiskristallen erkennen lässt (Abb. 11).<br />

ABBILDUNG 13<br />

Das sieben α-Helices enthaltende Bacteriorhodopsin.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Es ist durchaus eine Ähnlichkeit mit dem<br />

oben vorgestellten Diamantgitter zu erkennen<br />

– nur sind die Gitterkräfte in diesem<br />

Falle wesentlich schwächer. Das Kristallgitter<br />

bricht schon bei null Grad Celsius,<br />

beim Schmelzen des Eises, zusammen.<br />

Überragende Rolle<br />

der Wasserstoffbrücken<br />

Wasserstoffbrücken spielen in der belebten<br />

Natur eine überragende Rolle: beim Aufbau<br />

vieler natürlicher Verbindungen und Materialien,<br />

ihrer Strukturierung, bei der Aufbewahrung<br />

und Weitergabe von Information,<br />

bei der Erzeugung von Spezifität in chemischen<br />

Reaktionen (z. B. in Enzymreaktionen).<br />

Eine Auswahl wichtiger Wasserstoffbrücken<br />

determinierter Strukturen soll dieses<br />

illustrieren.<br />

Abbildung 12 zeigt eine so genannte<br />

α-Helix, ein schraubenförmiges Strukturelement,<br />

das in der Natur weit verbreitet<br />

ist. Links und in der Mitte erkennen wir das<br />

durch kovalente Bindungen gebildete Skelett<br />

der α-Helix, das wären wieder die starken<br />

Bindungen, rechts auch die Wasser-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

stoffbrücken, die zur Bildung der Schraubenstruktur<br />

und ihrer Stabilität entscheidend<br />

beitragen. α-Helices findet man in<br />

vielen Eiweißen – so im Haar –, aber auch<br />

als Teilstrukturen der Enzyme.<br />

Im stufenweisen Aufbau komplexer Biomoleküle<br />

können mithilfe des Bauelements<br />

α-Helix zunehmend komplizierte Verbindungen<br />

aufgebaut werden. So zeigt Abbildung<br />

13 einen Ausschnitt aus dem so genannten<br />

Bacteriorhodopsin, einem Chromoprotein,<br />

das neben dem Photosynthesesystem<br />

der grünen Pflanzen das zweite in<br />

der Natur bekannte molekulare System ist,<br />

das Sonnenenergie in andere Energieformen<br />

umzuwandeln vermag. In der Abbildung<br />

können wir insgesamt sieben Helices<br />

erkennen, die dazu dienen, ein Molekül<br />

Vitamin A-Aldehyd zu umhüllen. Das Vitamin<br />

fungiert in diesem komplexen System<br />

als molekularer Schalter, es ist Baustein<br />

einer Bionanotechnologie.<br />

Die nächste Abbildung (Abb. 14) zeigt<br />

einen Ausschnitt aus einer biologischen<br />

Bänderstruktur, einem so genannten β-Faltblatt.<br />

Hier werden Eiweißketten durch<br />

Wasserstoffbrücken so zusammengehalten,<br />

dass eine ausgedehnte Blattstruktur<br />

ABBILDUNG 12<br />

Die α-Helix, ein komplexes<br />

Bauelement vieler Naturstoffe.<br />

ABBILDUNG 14<br />

Ein β-Faltblatt, wie es in der Seide vorkommt.<br />

19


20 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

entsteht. β-Faltblätter sind beispielsweise in<br />

der Seide enthalten und bestimmen deren<br />

Eigenschaften mit; sie werden beim Kochen<br />

zerstört – deshalb der Hinweis auf das handwarme<br />

Waschen von Kleidungsstücken aus<br />

diesem Material.<br />

Über die Doppelhelix der Erbsubstanz<br />

DNS ist inzwischen so viel gesagt und geschrieben<br />

worden, dass an dieser Stelle einige<br />

Sätze und zwei Abbildungen über dieses<br />

grundlegende Biopolymer genügen<br />

müssen. Die so genannte Basenpaarung<br />

(Abb. 15), die Voraussetzung für den Leseund<br />

Kopierprozess ist, beruht auf Wasserstoffbrücken,<br />

über deren genaue Natur sich<br />

Watson und Crick zunächst keineswegs im<br />

Klaren waren.<br />

Auch hier erkennt man wieder ein Aufbauprinzip<br />

– aus vergleichsweise einfachen<br />

Strukturen entstehen immer kompliziertere<br />

molekulare Arrangements. Abbildung 16<br />

zeigt einen dreilagigen DNS-Ausschnitt, in<br />

dem wir zwei »schwachen Bindungstypen«<br />

wieder begegnen, die wir bereits kennen:<br />

die Wasserstoffbrücken (gepunktete Linie<br />

im Zentrum des Moleküls) und die Wechselwirkungen<br />

zwischen den übereinander<br />

liegenden Basenpaaren, die an die lagige<br />

Struktur im Graphit erinnern. In der Tat<br />

unterscheidet sich der Schichtabstand in<br />

beiden Strukturen kaum (er beträgt rund<br />

3.4 Å).<br />

Nachdem die Bauprinzipien für Sekundär-,<br />

Tertiär- und andere Überstrukturen in der<br />

Natur einmal erkannt waren, wurden diese<br />

systematisch auf artifizielle Systeme über-<br />

ABBILDUNG 16<br />

Ein größerer Ausschnitt aus dem DNS-Molekül.<br />

ABBILDUNG 15<br />

Wasserstoffbrücken im DNS-Molekül: die Paarung der Basen Thymin und Adenin.<br />

tragen. Diese sind ein Teilgebiet der Supramolekularen<br />

Chemie, das sich derzeit mit<br />

sehr großer Geschwindigkeit entwickelt. Es<br />

gibt mittlerweile zahllose »künstliche« Spriralen,<br />

deren konstituierende Elemente<br />

nicht nur von Wasserstoffbrücken zusammengehalten<br />

werden, sondern zum Beispiel<br />

auch Wechselwirkungen von Metallatomen<br />

mit organischen Verbindungen<br />

(Ionen-Dipol-Wechselwirkungen) nutzen;<br />

Abbildung 17 zeigt eine kleine Auswahl<br />

synthetischer Helixstrukturen.<br />

Auch Röhrenstrukturen (Nanoröhren<br />

s. o.) konnten gezielt aus cyclischen Peptiden<br />

hergestellt werden, wie es besonders<br />

schön Abbildung 18 in Drauf- und Seitenansicht<br />

zeigt. Wie im Falle der Kohlenstoff-<br />

röhren bieten sich auch diese »Bioröhren«<br />

für Transportprozesse an. Selbst so komplexe<br />

Bausteine wie ganze DNS-Moleküle<br />

konnten inzwischen zur gezielten Konstruktion<br />

regulärer Nanostrukturen verwendet<br />

werden; dabei wurde wiederum<br />

das Prinzip der auf dem Wirken schwacher<br />

Bindungskräfte beruhenden Selbstorganisation<br />

genutzt.<br />

ABBILDUNG 17<br />

Supramolekulare Chemie:<br />

synthetische Helixstrukturen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Die »molekulare Maschine«<br />

Die bislang vorgestellten Beispiele mögen<br />

den Eindruck von der Konstruktion relativ<br />

statischer molekularer Objekte vermitteln.<br />

Dem ist jedoch nicht so. Weder sind Moleküle<br />

»von Natur aus« starr (starr sind allenfalls<br />

unsere Vorstellungen über sie, die<br />

ganz wesentlich von starren (mechanischen)<br />

Molekülmodellen geprägt sind),<br />

noch beschränkt sich die Supramolekulare<br />

Chemie lediglich auf die Konstruktion komplizierter<br />

Strukturen. Im Hintergrund steht<br />

immer – wie auch bei den meisten Biomolekülen<br />

– die Frage nach der Funktion. Ein<br />

»funktionierendes« komplexes organisches<br />

Molekül, das seinen Zusammenhalt dem<br />

gemeinsamen Wirken starker und schwacher<br />

Bindungen verdankt, sei abschließend<br />

mit einem Sensor für das wichtige Biomolekül<br />

Adenosintriphosphat (ATP) vorgestellt.<br />

Diese »molekulare Maschine« hat<br />

einer der Begründer der Supramolekularen<br />

Chemie, Jean-Marie Lehn aus Straßburg,<br />

konstruiert.<br />

ABBILDUNG 18<br />

Supramolekulare Chemie:<br />

Nanoröhren aus Cyclopeptiden.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 19<br />

Supramolekulare Chemie: ein ATP-Sensor.<br />

Basis des Moleküls ist ein großes Ringmolekül<br />

(Abb. 19), in dem vier positiv<br />

geladene Stickstoffatome zu erkennen sind.<br />

Auf diese vier Zentren senken sich vier Sauerstoffatome<br />

des Phosphatteils des zu detektierenden<br />

ATP-Moleküls ab, und es<br />

kommt zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken<br />

(gepunktete Linien). Dadurch wird<br />

der gesamte obere Teil des ATPs auf dem<br />

Templat fixiert. Nun trägt der Ring aber<br />

noch über einen Arm A ein Farbstoffmolekül,<br />

das ganz rechts im Bild gezeigte Acridin-System.<br />

Dieses wiederum bildet mit<br />

dem Adenosinteil des ATP durch schwache<br />

Bindungskräfte (breit gestrichelte Linie)<br />

einen Kontakt, durch den sich seine elektronischen<br />

Eigenschaften so ändern, dass es<br />

bei Bestrahlung des gesamten Assoziats zu<br />

einem starken und charakteristischen Lichteffekt<br />

kommt (Fluoreszenz). Mit dem ATP<br />

verwandte, aber eben andere Triphosphate<br />

zeigen diesen photochemischen Effekt<br />

nicht, das heißt, das obige supramolekulare<br />

System ist ein sensitiver und selektiver ATP-<br />

Detektor.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Die Konstruktion funktionaler supramolekularer<br />

Systeme nimmt einen breiten Raum<br />

in der modernen Organischen Chemie ein;<br />

dabei kommt es zur Erzeugung bestimmter<br />

Funktionen darauf an, die starken und die<br />

schwachen Bindungskräfte genau aufeinander<br />

abzustimmen – nicht anders als es die<br />

Natur schon seit langem vorbildlich tut.<br />

GALANTE CHEMIKER<br />

Das Wort »galant« aus dem Titelzitat<br />

kommt von »gala«, das bedeutet im<br />

Arabischen »das Ehrengewand, wie es<br />

morgenländische Herrscher ihren<br />

Günstlingen schenkten«. Aus dem Arabischen<br />

stammt bekanntlich auch das Wort<br />

»Chemie«. Dass sich unter den damaligen<br />

Günstlingen auch Chemiker befanden,<br />

steht außer Frage – und wenigstens diese<br />

waren dann galant. ■<br />

21


24 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ARBEIT UND ERHOLUNG –<br />

EIN NEUES THEMA<br />

FÜR DIE ARBEITSPSYCHOLOGIE<br />

Die Art und das Erleben<br />

von Aktivitäten, denen<br />

Menschen nach der Arbeit<br />

nachgehen, stehen in<br />

deutlichem Zusammenhang<br />

mit dem Befinden<br />

zur Schlafenszeit. Dabei<br />

fördern bestimmte<br />

Aktivitäten die Erholung<br />

mehr als andere. Vor allem<br />

»wenig anstrengende«,<br />

soziale und körperliche<br />

Aktivitäten sind hilfreich,<br />

während sich<br />

arbeitsbezogene eher<br />

negativ auswirken. Das<br />

angenehme Erleben der<br />

Aktivitäten und die<br />

Fähigkeit, von der Arbeit<br />

abzuschalten, sind äußerst<br />

wichtig. Dies wirkt sich<br />

wiederum auch auf die<br />

Arbeit aus: Erholte<br />

Arbeitnehmer sind<br />

engagierter.<br />

Freizeit und Erholung spielen im Alltag<br />

vieler Menschen eine wichtige<br />

Rolle. Man freut sich auf den Feierabend,<br />

plant für das Wochenende und<br />

knüpft große Erwartungen an den nächsten<br />

Urlaub. Man erhofft sich von der Freizeit<br />

angenehme Erlebnisse, Abstand von der<br />

VON SABINE SONNENTAG<br />

Institut für Psychologie,<br />

Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie,<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

ABBILDUNG 1<br />

Vor allem sportliche Aktivitäten fördern die Erholung.<br />

Arbeit und die Möglichkeit, sich den Personen<br />

und Dingen zu widmen, für die sonst<br />

keine Zeit bleibt. Den Fragen, was in diesen<br />

Freizeitperioden in psychologischer Hinsicht<br />

geschieht und wie es Menschen gelingt,<br />

sich in der Freizeit zu erholen, wurde<br />

in der Wissenschaft bislang recht wenig<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Aufmerksamkeit geschenkt. Gewiss, aus<br />

der vor allem soziologisch orientierten Freizeitforschung<br />

ist viel über Art und Umfang<br />

der Freizeitaktivitäten unterschiedlicher<br />

Bevölkerungsgruppen bekannt. Auch verfügen<br />

die meisten Menschen über Erfahrungen,<br />

was ihnen bei der Erholung hilft<br />

und was nicht. Systematische empirische<br />

Untersuchungen in der Arbeitspsychologie<br />

sind jedoch noch selten.<br />

Zentrale Aufgabe der Arbeitspsychologie –<br />

wie in ähnlicher Weise auch der Arbeitswissenschaften<br />

– ist es zu untersuchen, wie die<br />

Arbeit auf den Menschen wirkt, welche Arbeitsbedingungen<br />

und persönlichen Voraussetzungen<br />

einerseits gute Leistungen ermöglichen<br />

und welche Bedingungen andererseits<br />

das Befinden und die Gesundheit<br />

der Arbeitenden beeinträchtigen. Dabei<br />

zeigte sich in empirischen Untersuchungen,<br />

dass Arbeitssituationen, die vor allem durch<br />

ein hohes Maß an Stressoren (Zeitdruck,<br />

große Arbeitsmenge, unklare Aufgaben<br />

etc.) und geringen Handlungsspielraum gekennzeichnet<br />

sind, das Befinden und die<br />

Gesundheit der Arbeitenden beeinträchtigen<br />

(zusammenfassend Kahn & Byosiere,<br />

1992; Sonnentag & Frese, in press).<br />

Folgen ungünstiger Arbeitssituationen<br />

wirken sich sowohl kurzfristig (innerhalb<br />

weniger Stunden) als auch langfristig (über<br />

Monate und Jahre) aus. Die Frage ist, ob beziehungsweise<br />

wie die eher kurzfristigen<br />

Einflüsse ungünstiger Arbeitsbedingungen<br />

und Arbeitserfahrungen aufgehoben, quasi<br />

»rückgängig« gemacht werden können, sodass<br />

sie sich nicht zu längerfristigen Schädigungen<br />

entwickeln. Anzunehmen ist, dass<br />

dabei Erholungsprozesse eine große Rolle<br />

spielen. Kürzere Erholungsphasen, vor<br />

allem Arbeitspausen, wurden bereits in der<br />

ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts intensiv<br />

untersucht (Graf, 1925). Längere Erholungsperioden,<br />

wie sie sich beispielsweise<br />

am Feierabend ergeben, wurden in der<br />

arbeitspsychologischen Forschung bislang<br />

weitgehend vernachlässigt.<br />

ERHOLUNG –<br />

WAS IST DAS?<br />

Allgemein lässt sich Erholung als ein der Beanspruchung<br />

entgegengesetzter Prozess beschreiben,<br />

bei dem die menschlichen Funktionssysteme<br />

in ihren Ausgangszustand<br />

zurückkehren (Meijman & Mulder, 1998).<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Im Idealfall ist Erholung durch eine »low<br />

baseline activity« gekennzeichnet, das<br />

heißt, die Funktionssysteme, die durch die<br />

Arbeit beansprucht werden, werden geschont<br />

(Craig & Cooper, 1992). Das Ergebnis<br />

von Erholung sind die Verbesserung des<br />

Befindens und die Wiederherstellung der<br />

Handlungs- und Leistungsfähigkeit.<br />

In einer Serie empirischer Untersuchungen,<br />

die an den <strong>Universität</strong>en Amsterdam<br />

und Konstanz begonnen und nun an der<br />

TU <strong>Braunschweig</strong> fortgeführt werden, gingen<br />

wir mehreren Fragen nach:<br />

■ Welche Aktivitäten helfen, um sich von<br />

der Arbeit zu erholen?<br />

■ Wie wirkt Arbeit auf Erholung?<br />

■ Wie wirkt Erholung auf Arbeit zurück?<br />

In methodischer Hinsicht wurde ein so genannter<br />

Tagebuch-Ansatz realisiert. Konkret<br />

bedeutet dies, dass die Untersuchungsteilnehmer<br />

über mehrere Tage (in der Regel<br />

fünf Arbeitstage) ein Tagebuch zu ihren Aktivitäten<br />

außerhalb der Arbeitszeit sowie zu<br />

ihrem Befinden ausfüllen sollten. Das Tagebuch<br />

war quantitativ orientiert, das heißt,<br />

die Untersuchungsteilnehmer sollten im<br />

Wesentlichen Antworten auf vorgegebene<br />

Fragen ankreuzen; ausführliche schriftliche<br />

Reflexionen, wie sie oft mit dem Begriff des<br />

Tagebuchs assoziiert werden, wurden nicht<br />

verlangt.<br />

Ein großer Vorteil eines solchen quantitativen<br />

Tagebuchs ist es, dass Aussagen zeitnah<br />

zum eigentlichen Geschehen erhoben<br />

werden und somit auf retrospektive und<br />

verallgemeinernde Aussagen, die unterschiedlichsten<br />

Verzerrungen unterliegen<br />

können, verzichtet wird. Darüber hinaus<br />

bietet sich die Möglichkeit, Variationen im<br />

Erleben und Verhalten einer Person – und<br />

nicht nur zwischen Personen – zu erfassen.<br />

Zusätzlich zu den Tagebüchern wurde als<br />

weiteres Untersuchungsinstrument ein<br />

Fragebogen eingesetzt. Ausgewertet wurden<br />

die Daten vor allem mit hierarchischen<br />

linearen Modellen (Bryk & Raudenbush,<br />

1992).<br />

ERHOLEN – ABER WIE?<br />

In einer ersten Untersuchung ging es in erster<br />

Linie um die Frage, welche Aktivitäten,<br />

denen außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit<br />

nachgegangen wird, zur Erholung bei-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

25<br />

SABINE SONNENTAG<br />

(Prof. Dr. rer. nat.); 1986 Diplom in<br />

Psychologie an der Freien <strong>Universität</strong><br />

Berlin, 1991 Promotion an der TU<br />

<strong>Braunschweig</strong>, 1997 Habilitation an<br />

der <strong>Universität</strong> Gießen; 1987-1991<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am<br />

Institut für Psychologie der TU <strong>Braunschweig</strong>,<br />

1991-1992 und 1994-<br />

1995 Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

und Wissenschaftliche Assistentin<br />

am Fachbereich Psychologie der <strong>Universität</strong><br />

Gießen, 1992-1994 Habilitationsstipendiatin<br />

der Deutschen Forschungsgemeinschaft,<br />

1995-1999<br />

<strong>Universität</strong>sdozentin an der Faculteit<br />

der Psychologie der Universiteit van<br />

Amsterdam, 1999-2001 Professorin<br />

für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie<br />

an der <strong>Universität</strong><br />

Konstanz, seit 2001 Professorin für<br />

Arbeits- und Organisationspsychologie<br />

am Institut für Psychologie der TU<br />

<strong>Braunschweig</strong>.


26 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 2<br />

Die Arbeitsbedingungen haben wesentlichen Einfluss auf die Fähigkeit,<br />

in der Freizeit abschalten und sich erholen zu können.<br />

tragen. 100 Lehrer und Lehrerinnen nahmen<br />

an dieser Untersuchung teil. Über einen<br />

Zeitraum von fünf Tagen gaben sie in<br />

einem Tagebuch jeweils kurz vor dem Zubettgehen<br />

unter anderem an, wie viel Zeit<br />

sie auf einzelne Aktivitäten verwendet hatten<br />

und wie es zurzeit des Schlafengehens<br />

um ihr Befinden bestellt war. Es wurden<br />

fünf Hauptkategorien von Aktivitäten unterschieden:<br />

arbeitsbezogene Aktivitäten<br />

(Arbeitsaufgaben zu Ende bringen, Vorbereitungen<br />

für den nächsten Arbeitstag treffen,<br />

private Administration), Haushaltsaktivitäten<br />

(einschließlich Kinderbetreuung),<br />

»wenig anstrengende« Aktivitäten (fernsehen,<br />

ein Buch zur Entspannung lesen,<br />

faulenzen), soziale Aktivitäten (Freunde<br />

einladen, ausgehen) und körperliche Aktivitäten<br />

(Sport, Rad fahren).<br />

Wesentliche Ergebnisse waren: Das Befinden<br />

zur Schlafenszeit war umso besser, je<br />

weniger Zeit für arbeitsbezogene Aktivitäten<br />

aufgewendet und je mehr Zeit für wenig<br />

anstrengende, soziale und körperliche<br />

Aktivitäten verwendet wurde. Das zeitliche<br />

Ausmaß von Haushaltsaktivitäten hatte keinen<br />

Effekt auf das Befinden zur Schlafenszeit.<br />

Festzuhalten ist, dass bei diesen Be-<br />

rechnungen jeweils das Befinden beim<br />

Nach-Hause-Kommen mitberücksichtigt<br />

wurde: Die – durchaus plausible – Erklärung,<br />

dass man an Tagen, an denen man<br />

mit besserer Stimmung von der Arbeit nach<br />

Hause kommt, anderen Tätigkeiten nachgeht<br />

als an Tagen, an denen die Stimmung<br />

schlechter ist, und dass sich dadurch das<br />

Befinden weiter verbessert, konnte so ausgeschlossen<br />

werden. Auch weitere Merkmale<br />

der teilnehmenden Personen (Alter,<br />

Geschlecht und Anzahl der Kinder) sowie<br />

die wahrgenommene Arbeitssituation<br />

wurden in diesen Analysen statistisch<br />

kontrolliert.<br />

Natürlich sind Befindensverbesserung und<br />

Erholung nicht nur von der Art der Aktivitäten<br />

abhängig, denen man nach der Arbeit<br />

nachgeht. Deshalb wurden in einer zweiten<br />

und dritten Untersuchung weitere Attribute<br />

der Aktivitäten untersucht. In der zweiten<br />

Untersuchung lag der Schwerpunkt auf dem<br />

positiven Erleben von Aktivitäten (Sonnentag<br />

& Zijlstra, 2002). Die zentrale Frage<br />

war: Bringt es einen zusätzlichen positiven<br />

Effekt auf das Befinden, wenn die Aktivitäten,<br />

die ausgeübt werden, als angenehm erlebt<br />

werden? An dieser Untersuchung nah-<br />

men gut 90 Personen aus dem Gesundheitsbereich<br />

– vor allem Krankenschwestern<br />

und -pfleger sowie Ärzte und Ärztinnen<br />

– teil. Auch diese Personen füllten das<br />

Tagebuch über fünf Tage aus und machten<br />

unter anderem Angaben zu ihrem Befinden<br />

unmittelbar nach der Arbeit beim Nach-<br />

Hause-Kommen, zu ihren Aktivitäten nach<br />

der Arbeit sowie zu ihrem Befinden beim<br />

Zubettgehen. Zurzeit des Zubettgehens interessierten<br />

vor allem der Grad der Anspannung<br />

und das momentan wahrgenommene<br />

Erholungsbedürfnis. Zusätzlich wurde erhoben,<br />

wie angenehm die einzelnen Aktivitäten<br />

erlebt wurden. Die Analysen zeigten,<br />

dass das Ausmaß des angenehmen Erlebens<br />

einen starken negativen Effekt auf<br />

die Anspannung und das Erholungsbedürfnis<br />

zur Schlafenszeit hat. Das heißt: Je angenehmer<br />

die Befragten die Aktivitäten erlebten,<br />

desto geringer war ihre Anspannung<br />

und ihr Erholungsbedürfnis unmittelbar vor<br />

dem Zubettgehen – auch wenn die Zeit, die<br />

für die einzelnen Aktivitäten aufgewendet<br />

wurde, in den Analysen mitberücksichtigt<br />

wurde. Selbstverständlich wurden auch in<br />

dieser Untersuchung das Befinden beim<br />

Nach-Hause-Kommen sowie demographische<br />

Merkmale und die Arbeitsplatzsituation<br />

statistisch konstant gehalten.<br />

In einer dritten Untersuchung ging es um<br />

ein weiteres Merkmal von Freizeitaktivitäten,<br />

das eine große Rolle für die Erholung<br />

spielen könnte: das »Abschalten« von der<br />

Arbeit. Abschalten von der Arbeit heißt,<br />

nicht mehr an die Arbeit zu denken und<br />

sich stattdessen auf anderes zu konzentrieren<br />

(Sonnentag & Bayer, 2002). Die zentrale<br />

Frage der Untersuchung war, ob es sich<br />

zusätzlich positiv auf das Befinden auswirkt,<br />

wenn man abends völlig von der Arbeit<br />

abschaltet. An dieser Untersuchung<br />

nahmen 90 Personen aus unterschiedlichen<br />

Berufsgruppen teil. Diesmal wurde das Tagebuch<br />

an drei Tagen ausgefüllt. Als Indikatoren<br />

für das Befinden (beim Nach-Hause-<br />

Kommen und beim Zubettgehen) wurden<br />

positive Stimmung und Ermüdung erfasst.<br />

Wie erwartet, zeigte sich, dass an Tagen,<br />

an denen die Befragten besser von der Arbeit<br />

abschalten konnten, die Stimmung zur<br />

Schlafenszeit besser und die Ermüdung geringer<br />

war als an Tagen, an denen das Abschalten<br />

weniger gut gelang. Auch in diesen<br />

Analysen wurde das Befinden beim<br />

Nach-Hause-Kommen statistisch kontrolliert:<br />

Es war keineswegs so, dass man sich<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


spät abends nur deshalb besser fühlte, weil<br />

das Befinden an diesem Tag sowieso schon<br />

relativ gut war und man deshalb auch gut<br />

abschalten konnte. Das Abschalten spielt<br />

über das Ausgangsbefinden hinaus eine<br />

große Rolle für das Befinden beim Schlafengehen.<br />

Insgesamt verdeutlichen diese drei Untersuchungen,<br />

dass die Art und das Erleben<br />

von Aktivitäten, denen nach der Arbeit<br />

nachgegangen wird, in deutlichem Zusammenhang<br />

mit dem Befinden zur Schlafenszeit<br />

stehen. Fasst man das Befinden als<br />

einen Indikator für das Auftreten von Erholung<br />

auf, ergibt sich Folgendes: Bestimmte<br />

Aktivitäten fördern die Erholung mehr als<br />

andere, dabei sind wenig anstrengende, soziale<br />

und körperliche Aktivitäten besonders<br />

hilfreich, während arbeitsbezogene eher<br />

einen negativen Einfluss haben. Zusätzlich<br />

spielt es eine große Rolle, wie diese Aktivitäten<br />

erlebt werden: Ein angenehmes Erleben<br />

und die Fähigkeit, beim Ausüben der<br />

Aktivitäten von der Arbeit abzuschalten,<br />

sind wichtig.<br />

VORAUSSETZUNG<br />

FÜR ERHOLUNG:<br />

DAS ABSCHALTEN<br />

Eine weitere interessante Frage ist, ob Arbeit<br />

und Erholung zwei völlig voneinander<br />

losgelöste Bereiche sind, die nichts miteinander<br />

zu tun haben – oder ob es möglicherweise<br />

Wirkungen des einen auf den anderen<br />

Bereich gibt. Konkret beinhaltet dies<br />

zunächst die Frage: Hat die Arbeitssituation<br />

einen Effekt auf die Erholung? Wird der<br />

Erholungsprozess als ein dem Beanspruchungsprozess<br />

entgegengesetzter Vorgang<br />

aufgefasst, ergibt sich daraus, dass Erholung<br />

umso notwendiger ist, je beanspruchender<br />

die Arbeit ist. Dies ist relativ trivial. Interessanter<br />

ist es jedoch, ob Aspekte der Arbeit<br />

einen Einfluss auf den Erholungsprozess<br />

selbst haben. Anders gefragt: Wann fällt<br />

Erholung besonders leicht und gelingt besonders<br />

gut – wenn die Arbeit stark oder<br />

wenn sie wenig belastend ist?<br />

Um zu einer ersten Antwort auf diese<br />

Frage zu kommen, wurde der Zusammenhang<br />

zwischen Merkmalen der Arbeitssituation<br />

und des Erholungserlebens analysiert.<br />

Dazu wurden nochmals die Daten,<br />

die im Rahmen der oben genannten dritten<br />

Untersuchung erhoben wurden, herangezo-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

gen. Als Merkmale der Arbeitsbelastung<br />

wurden die Dauer der täglichen Arbeitszeit<br />

sowie der erlebte Zeitdruck erhoben. Im<br />

Hinblick auf das Erholungserleben stand<br />

der Aspekt des Abschaltens von der Arbeit<br />

im Vordergrund. Die Analysen zeigten, dass<br />

chronischer Zeitdruck und lange tägliche<br />

Arbeitstage einen negativen Effekt auf das<br />

Abschalten haben, das heißt, je mehr Zeitdruck<br />

erlebt und je länger gearbeitet wird,<br />

desto schlechter gelingt es, in der Freizeit<br />

von der Arbeit abzuschalten. Dieses Ergebnis<br />

erscheint zunächst banal, denn je länger<br />

man arbeitet, desto weniger Zeit hat man<br />

für andere Aktivitäten und desto schwieriger<br />

wird es, in dieser kurzen Zeit tatsächlich<br />

abzuschalten. Zusätzliche Analysen<br />

deuten jedoch darauf hin, dass die Prozesse<br />

nicht ganz so trivial zu sein scheinen. Denn<br />

die wirkliche Zeit, die auf Freizeitaktivitäten<br />

verwendet wird, hat keinen Effekt auf<br />

das Abschalten. Das heißt, dass es nicht<br />

primär eine Rolle spielt, wie viel Zeit man<br />

zur Verfügung hat, um abschalten zu können.<br />

Vielmehr scheint es so zu sein, dass belastende<br />

Arbeitsbedingungen (Zeitdruck<br />

und lange Arbeitstage) die Arbeitenden<br />

über die eigentliche Arbeit hinaus beschäftigen<br />

und somit das Abschalten deutlich<br />

erschweren. Dieses Ergebnis impliziert,<br />

dass eine wesentliche Voraussetzung für die<br />

Erholung, das Abschalten, unter belastenden<br />

Arbeitsbedingungen besonders gefährdet<br />

ist – das sind jedoch genau die Situationen,<br />

in denen Erholung besonders notwendig<br />

ist.<br />

ERHOLUNG FÖRDERT<br />

ARBEITSENGAGEMENT<br />

Bei der Beschäftigung mit dem Zusammenhang<br />

zwischen Arbeit und Erholung stellt<br />

sich nicht nur die Frage, ob Arbeit auf Erholungsprozesse<br />

einwirkt. Genauso spannend<br />

– und für viele von besonderem Interesse –<br />

ist die umgekehrte Wirkrichtung: Wirkt<br />

Erholung auf die Arbeit zurück? In einer<br />

vierten Untersuchung wurde dieser Frage<br />

nachgegangen (Sonnentag, in press). Untersuchungsteilnehmer<br />

waren gut 140 Personen,<br />

die in unterschiedlichen Einrichtungen<br />

des öffentlichen Dienstes arbeiteten.<br />

Auch hier war ein Tagebuch das wesentliche<br />

Untersuchungsinstrument. Es sollte<br />

diesmal morgens vor dem Beginn der Arbeit<br />

sowie am Ende des Arbeitstages ausgefüllt<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

werden. Morgens wurde erfragt, wie gut<br />

man sich am vorherigen Abend von der<br />

Arbeit erholt hatte. Am Abend des Arbeitstages<br />

wurden Arbeitsengagement und proaktives<br />

Verhalten erfasst. Unter Arbeitsengagement<br />

verstehen wir in diesem Kontext,<br />

sich bei der Arbeit besonders tatkräftig zu<br />

fühlen und sich in besonderem Maße der<br />

Arbeit zu widmen, quasi darin »aufzugehen«<br />

und alles um sich herum zu vergessen.<br />

Proaktives Verhalten umfasst Verhalten<br />

wie das Zeigen von Eigeninitiative oder<br />

das Ergreifen von Lernchancen im Arbeitsalltag.<br />

Die Analysen zeigten, dass die Befragten<br />

an den Tagen, an denen sie sich besonders<br />

gut erholt fühlten, ein größeres Arbeitsengagement<br />

erlebten als an Tagen, an denen<br />

sie sich weniger gut erholt fühlten. Gleichzeitig<br />

ergriffen sie an den Tagen mit ausreichender<br />

Erholung mehr Eigeninitiative und<br />

verfolgten vermehrt Lernaktivitäten. Dies<br />

bedeutet, dass Erholung einem positiven Erleben<br />

der Arbeit und einem aktiven Arbeitsverhalten<br />

durchaus dienlich ist.<br />

LANGFRISTIGE EFFEKTE<br />

VON ERHOLUNG<br />

UNTERSUCHEN<br />

Insgesamt zeigen diese Untersuchungen,<br />

dass das Ausführen und Erleben von bestimmten<br />

Aktivitäten außerhalb der eigentlichen<br />

Arbeitszeit mit Befindensverbesserungen<br />

und Erholungsprozessen in Zusammenhang<br />

stehen. Ebenso wurde deutlich,<br />

dass komplexe Wechselwirkungen zwischen<br />

Arbeit und Erholung existieren. Einerseits<br />

ist ein wesentlicher Aspekt der Erholung<br />

– das Abschalten von der Arbeit –<br />

unter belastenden Arbeitsbedingungen erschwert;<br />

andererseits fördert Erholung Arbeitsengagement<br />

und proaktives Verhalten<br />

bei der Arbeit. Das heißt, die Arbeit profitiert<br />

von einer guten Erholung.<br />

Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen<br />

lassen sich praktische Konsequenzen<br />

ableiten. Auch wenn es wie bei den meisten<br />

psychologischen Prozessen interindividuelle<br />

Unterschiede gibt, so haben wenig<br />

anstrengende, soziale und körperliche Aktivitäten<br />

im Allgemeinen positive Effekte auf<br />

das Befinden; dabei kommt den körperlichen<br />

Aktivitäten, das heißt dem Sport, eine<br />

besonders große Bedeutung zu. Gleichzeitig<br />

wurde deutlich, dass arbeitsbezogene<br />

27


28 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Aktivitäten in der eigentlich arbeitsfreien<br />

Zeit einer guten Stimmung eher abträglich<br />

sind. Wichtig über die Art der verfolgten<br />

Aktivitäten hinaus sind das positive Erleben<br />

der Aktivitäten und das Abschalten. Somit<br />

macht es durchaus Sinn, wenn Arbeitende<br />

sich fragen, welche Aktivitäten sie persönlich<br />

als besonders angenehm empfinden. Im<br />

Hinblick auf überlange Arbeitszeiten und<br />

Überstunden ist deutliche Vorsicht geboten:<br />

Sie scheinen nicht nur im Moment als unangenehm<br />

erlebt zu werden. Fehlende Erholung<br />

hat auch negative Effekte auf das<br />

Arbeitserleben und Arbeitsverhalten am<br />

darauf folgenden Arbeitstag.<br />

Für die weitere Forschung ergeben sich<br />

eine Fülle weiterführender Fragen. Zwei besonders<br />

wichtige seien kurz genannt: Zum<br />

einen sollten die mittel- und langfristigen<br />

Effekte von Erholung in zukünftigen Studien<br />

untersucht werden. Die in diesem Beitrag<br />

vorgestellten Befunde beziehen sich<br />

alle auf Erholungseffekte, die sich kurzfristig,<br />

das heißt im Laufe eines Tages, einstellen.<br />

Die Untersuchung von Wirkmechanismen<br />

über längere Zeiträume ist jedoch dringend<br />

notwendig, um verlässliche Aussagen<br />

darüber treffen zu können, welche Wirkungen<br />

– fehlende – Erholung auf Dauer hat.<br />

Zum anderen wurde deutlich, dass unter<br />

belastenden Bedingungen erfolgreiche Erholung<br />

besonders gefährdet ist. Hier gilt es<br />

zu erforschen, wie auch unter Belastung<br />

Erholungsprozesse initiiert und aufrechterhalten<br />

werden können, sodass das Befinden,<br />

die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit<br />

der Arbeitenden erhalten bleiben. ■<br />

LITERATUR<br />

1 Bryk, A. S., & Raudenbush, S. W.<br />

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Application and data analysis methods.<br />

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2 Craig, A., & Cooper, R. E. (1992). Symptoms<br />

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A. P. Smith & D. M. Jones (Eds.), Handbook<br />

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3 Graf, O. (1925). Über die Wirkung<br />

mehrfacher Arbeitspausen bei geistiger<br />

Arbeit. Psychologische Arbeiten, 9, 1-69.<br />

4 Kahn, R. L., & Byosiere, P. (1992).<br />

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& L. M. Hough (Eds.), Handbook<br />

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(2nd ed., Vol. 3, pp. 571-650).<br />

Palo Alto, CA: Consulting Psychologists<br />

Press.<br />

5 Meijman, T. F., & Mulder, G. (1998).<br />

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P. J. D. Drenth & H. Thierry (Eds.),<br />

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psychology, Vol. 2: Work psychology<br />

(pp. 5-33). Hove, England: Psychology<br />

Press.<br />

6 Sonnentag, S. (in press). Recovery,<br />

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A new look at the interface<br />

between non-work and work. Journal of<br />

Applied Psychology.<br />

7 Sonnentag, S., & Bayer, U.-V. (2002).<br />

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report. Technical University of <strong>Braunschweig</strong>.<br />

8 Sonnentag, S., & Frese, M. (in press).<br />

Stress in organizations. In W. C. Borman<br />

& D. R. Ilgen & R. J. Klimoski<br />

(Eds.), Comprehensive handbook of<br />

psychology (Vol. 12: Industrial and<br />

organizational psychology). New York:<br />

Wiley.<br />

9 Sonnentag, S., & Zijlstra, F. R. H.<br />

(2002). Work and off-job time activitites<br />

as predictors of need for recovery<br />

and well-being. Technical Report. Technical<br />

University of <strong>Braunschweig</strong> and<br />

University of Surrey.


30 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

BAUWERKSÜBERWACHUNG:<br />

NOTWENDIGKEIT, PROBLEME<br />

UND MÖGLICHKEITEN<br />

Mit dem Wachstumsmarkt der Baubranche – der Erneuerung<br />

und Erhaltung von Bauwerken, für die in Deutschland schon<br />

jetzt pro Jahr rund 250 Millionen Euro aufgebracht werden<br />

müssten, beschäftigt sich der an der TU angesiedelte<br />

Sonderforschungsbereich (SFB) »Bauwerksüberwachung«.<br />

Ziel des SFB ist es, zuverlässige Methoden und Strategien zu<br />

entwickeln, die die Sicherheit und Nutzung von Bauwerken<br />

langfristig garantieren. Mitentscheidend dafür ist es, die<br />

Messtechnik für mechanische, physikalische und chemische<br />

Anwendungen zu verfeinern, um zu möglichst präzisen<br />

Aussagen über Lebensdauer und mögliche Schwachstellen der<br />

Bauwerke zu gelangen.<br />

VON UDO PEIL<br />

Institut für Stahlbau<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

Das Bauwesen befindet sich derzeit<br />

in einem erheblichen Umstrukturierungsprozess.<br />

Mit<br />

überdurchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten<br />

entwickelt sich die Bauwerkserneuerung<br />

zum Motor der Bauwirtschaft.<br />

Auslöser dieses Prozesses sind Alterung bestehender<br />

Bauwerke, Nutzungsänderung<br />

und die sich wandelnden Ansprüche an den<br />

Standard. Abbildung 1 zeigt die Tendenz<br />

der Umlagerung der Investitionen von Neubau-<br />

auf Erneuerungs- und Erhaltungsinvestitionen.<br />

Es ist zu erkennen, dass derzeit etwa ein<br />

Gleichstand der Investitionskosten für Neubau<br />

und für Instandhaltung besteht. In der<br />

Zukunft werden die Erneuerungskosten in<br />

beachtlichem Maße dominieren.<br />

BAUWERKSERNEUERUNG:<br />

MOTOR DER<br />

BAUWIRTSCHAFT<br />

Überschlagsberechnungen weisen einen<br />

Gesamtwert der Bauwerkssubstanz in der<br />

Bundesrepublik Deutschland von circa<br />

25 Billionen Euro aus. Bei einer optimistisch<br />

angenommenen mittleren Lebensdauer<br />

von 100 Jahren ergäben sich dabei<br />

jährliche Re-Investitionskosten von rund<br />

250 Milliarden Euro, eine Summe von erheblicher<br />

volkswirtschaftlicher Bedeutung.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


ABBILDUNG 1<br />

Entwicklung der Bauinvestitionen.<br />

Die öffentliche Hand kann bereits heute die<br />

Instandhaltungskosten für ihre Bauwerke<br />

nicht mehr aufbringen, wie die rückläufigen<br />

Ausgaben für Erhaltungsmaßnahmen an<br />

den Bundesfernstraßen beispielhaft ausweisen<br />

(s. Abb. 2). Dies führt naturgemäß zu<br />

erheblich vergrößerten Belastungen in der<br />

Zukunft. Eine möglichst präzise Vorhersage<br />

der Lebensdauer mit Angabe der potenziellen<br />

Schwachstellen ist deshalb dringend<br />

notwendig, um die vorhandene Bauwerkssubstanz<br />

so lange wie möglich nutzen zu<br />

können und damit die Kosten zu senken.<br />

Die Notwendigkeit, Haushaltsmittel für<br />

den Bereich des Bauwesens langfristig planbar<br />

zu machen, erfordert ebenfalls eine genauere<br />

Beschäftigung mit Fragen der Lebensdauer<br />

von Bauwerken. So ist die »Entwicklung<br />

und Verbesserung von Methoden<br />

zur Voraussage des künftig zu erwartenden<br />

Haushaltsmittelbedarfs für die Erhaltung<br />

des vorhandenen Baubestandes eine äußerst<br />

wichtige Maßnahme«, wie dem »Zwei-<br />

ABBILDUNG 2<br />

Instandhaltungskosten bei Bundesfernstraßen [1].<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ten Bericht über Schäden an Bauwerken<br />

der Bundesverkehrswege« [2] zu entnehmen<br />

ist. Dazu zählt zum Beispiel die Entwicklung<br />

von Methoden zur hinreichend<br />

genauen Vorhersage der Restnutzungsdauer<br />

von Bauwerken. Der Bericht verdeutlicht<br />

»die große Bedeutung der Erhaltung der<br />

Bundesverkehrswege zur Verminderung<br />

von Schäden für die Wirtschaft und die Bürger<br />

des Landes. Die Vernachlässigung dieser<br />

wichtigen Aufgabe kann zu schweren Störungen<br />

im Verkehrsablauf, Beeinträchtigung<br />

der Wirtschaft, zu Nachteilen für den<br />

Wirtschaftsstandort Deutschland und zu erheblichen<br />

finanziellen Belastungen des<br />

Bundes führen. Diese Aufgabe wird durch<br />

die Entwicklung des Verkehrs, des Alters<br />

des Anlagenbestandes und der Umweltbelastung<br />

künftig immer mehr an Bedeutung<br />

gewinnen«. Ähnliche Aussagen gelten nicht<br />

nur für die zitierten Bundesverkehrswege,<br />

sondern für alle anderen baulichen Anlagen<br />

gleichermaßen.<br />

Eine Verlängerung der möglichen Bauwerksnutzungsdauer<br />

führt in den meisten<br />

Fällen zu einer erheblichen Reduzierung<br />

der Re-Investitionskosten. Die derzeitigen<br />

Verfahren und Vorgehensweisen bei der Ermittlung<br />

der Nutzungs- oder Lebensdauer<br />

von Bauwerken aller Art sind aber nicht<br />

sehr zuverlässig: Abweichungen zwischen<br />

Prognose und Wirklichkeit mit dem Faktor<br />

10 (sic!) treten in Grenzfällen auf. Mithilfe<br />

von begleitendem Bauwerksmonitoring<br />

können erheblich präziserer Aussagen getroffen<br />

werden, sodass auch Re-Investitionen<br />

besser zu planen sind.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

31<br />

UDO PEIL<br />

(Prof. Dr.-Ing.); Jg. 1944; 1965-1971<br />

Studium des Bauingenieurwesens an<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong>; 1971-1988<br />

wissenschaftlicher Assistent,Akademischer<br />

Rat und Oberrat am TU-<br />

Institut für Stahlbau; 1976 Promotion;<br />

1987 Ruf an die <strong>Universität</strong><br />

Karlsruhe als Professor für Stahlund<br />

Leichtmetallbau; seit 1992<br />

Professor und Leiter der Abteilung<br />

Stahlbau am Institut für Stahlbau der<br />

TU <strong>Braunschweig</strong> als Nachfolger von<br />

Professor Dr.-Ing. J. Scheer; Mitglied<br />

mehrerer nationaler und internationaler<br />

Arbeits- und Normenausschüsse;<br />

Sprecher des SFB 477<br />

»Bauwerksüberwachung« und<br />

Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs<br />

»Risikomanagement<br />

bei Natur- und Zivilisationskatastrophen«;<br />

Prüfingenieur für Baustatik.


32 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

a) Keine planmäßige Wartung.<br />

b) Planmäßige Wartung.<br />

c) Planmäßige Wartung und Überwachung.<br />

ABBILDUNG 3<br />

Die Entwicklung der Betriebskosten eines<br />

Bauwerkes hängt wesentlich von der Art<br />

der Überwachung und der daraus abgeleiteten<br />

Maßnahmen ab. Drei – stark vereinfachte<br />

– Szenarien sollen dies verdeutlichen<br />

(Abb. 3):<br />

a) Das Bauwerk wird nicht unterhalten,<br />

verursacht deshalb zunächst auch keine<br />

Kosten (Abb. 3a). Der Widerstand des<br />

Bauwerks nimmt langsam ab und wird<br />

plötzlich durch den Eintritt eines Schadens,<br />

das heißt eines Ereignisses, das<br />

die Nutzung drastisch einschränkt oder<br />

verbietet, auf einen deutlich kleineren<br />

Wert oder sogar auf null abfallen. Die<br />

Wiederherstellung ist teuer.<br />

b) Das Bauwerk wird unterhalten, verursacht<br />

also etwa konstante Kosten je<br />

Zeiteinheit, das heißt, die Gesamtkosten<br />

nehmen etwa linear zu (Abb. 3b). Auch<br />

hier kann der Widerstand – wenn die<br />

Schwachstelle nicht erkannt wurde –<br />

plötzlich auf einen deutlich kleineren<br />

Wert oder auf null abfallen. Die Wiederherstellung<br />

ist teuer.<br />

c) Man überwacht die relevanten Schwachstellen<br />

und wartet das Bauwerk, hat<br />

höhere Kosten, da die Überwachung<br />

zusätzliche Mittel erfordert, hat aber<br />

lediglich kleine Reduktionen des Widerstandes<br />

hinzunehmen (Abb. 3c).<br />

Bei neuen Bauwerken sollte die Bauwerksüberwachung<br />

(BÜ) – im Sinne eines ganzheitlichen<br />

Qualitätssicherungskonzeptes –<br />

bereits durchgreifend bei der Planung berücksichtigt<br />

werden. So werden heute bei<br />

einigen Großbrücken kontinuierliche Überwachungsmaßnahmen<br />

von Beginn an vorgesehen.<br />

Bei den neu erbauten Werratalbrücken<br />

für die Autobahn A7 wird beispielsweise<br />

die Luftfeuchtigkeit im Inneren<br />

der Hohlkästen ständig überwacht. Bei steigender<br />

Luftfeuchtigkeit wird eine Trocknungsanlage<br />

aktiviert. Diese Lösung ist<br />

wesentlich preiswerter und wirksamer als<br />

ein aufwendiger innerer Korrosionsschutz<br />

der Hohlkästen. Derartige Überwachungsmaßnahmen<br />

führen auch dazu, dass Instandsetzungs-<br />

und Re-Investitionskosten<br />

wesentlich besser zu planen sind als ohne<br />

Bauwerksüberwachung.<br />

SCHADENSURSACHEN<br />

Daneben dient die BÜ der Reduzierung von<br />

Schadenspotenzialen. Ansteigende Schadensraten<br />

bei Bauwerken erfordern aus<br />

Gründen der öffentlichen Sicherheit eine<br />

gezielte Bauwerksüberwachung beziehungsweise<br />

eine Intensivierung gegebenenfalls<br />

bereits vorgenommener Überwachung.<br />

Abbildung 4 zeigt symptomatisch die Entwicklung<br />

der Qualität von Bauwerken über<br />

die letzten 100 Jahre an einem Beispiel aus<br />

Japan [1], das aber sicher auch die Tendenz<br />

in anderen Ländern widerspiegelt. In der<br />

Abbildung wird ein Vergleich zwischen<br />

Baujahr und Schadensjahr von Brücken vorgenommen.<br />

Links im Bild sind die Verhältnisse<br />

bei Straßenbrücken, rechts bei Eisen-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


ahnbrücken dargestellt. Die Strahlen beginnen<br />

links mit dem Baujahr und enden<br />

rechts mit dem Schadensjahr. Es ist zu erkennen,<br />

dass alte Brücken offenbar wesentlich<br />

robuster gebaut wurden als Brücken<br />

aus neuerer Zeit, bei denen bereits wenige<br />

Jahre nach der Fertigstellung die ersten<br />

Schäden auftraten. Mögliche Ursachen der<br />

Schäden sind:<br />

■ Anwachsen oder Veränderung der<br />

Einwirkungen,<br />

■ höhere Ausnutzung des Widerstandes,<br />

■ mangelnde Sorgfalt bei der Herstellung,<br />

■ mangelnde Sorgfalt bei der Bauwerksüberwachung,<br />

■ Erprobung nicht genügend erforschter<br />

Bauweisen.<br />

Eine BÜ ist daher aus Gründen der Sicherheit,<br />

aber auch der Qualitätssicherung dringend<br />

erforderlich. Neben der oben bereits<br />

dargestellten wirtschaftlichen Begründung<br />

für eine Bauwerksüberwachung, das heißt<br />

der Kostenersparnisse, bietet der Einsatz<br />

einer BÜ, wie sie der Sonderforschungsbereich<br />

(SFB) 477 »Bauwerksüberwachung«<br />

anstrebt, eine Reihe weiterer Vorteile:<br />

■ Einfache Bestimmung der Bauwerkssicherheit<br />

bei Nutzungsänderungen oder<br />

Anpassung an geänderte Verhältnisse<br />

beziehungsweise Randbedingungen.<br />

■ Die bisher übliche visuelle Inspektion<br />

führt dazu, dass häufig Schwachstellen<br />

nicht entdeckt werden. Eine BÜ im vorgeschlagenen<br />

Rahmen führt zu einer<br />

Objektivierung der ansonsten subjektiven<br />

visuellen Inspektion.<br />

■ Der Einsatz innovativer Bauweisen und<br />

Baustoffe – bisher nur mit großem Aufwand<br />

durchzusetzen – wird mithilfe<br />

einer geeigneten Bauwerksüberwachung<br />

erleichtert.<br />

■ Als Nebeneffekt wird die Qualität der<br />

üblichen Modellbildung verbessert, da<br />

durch das Monitoring genaue Daten<br />

über das Bauwerksverhalten über der<br />

Zeit vorliegen.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

STRATEGIEN ZUR<br />

SICHERUNG DER<br />

NUTZUNG<br />

Ziel der Forschungsaktivitäten des <strong>Braunschweig</strong>er<br />

SFB 477 ist es, Methoden und<br />

Strategien zur Sicherstellung der Gebrauchstauglichkeit<br />

und der Tragsicherheit von<br />

Bauwerken – im Folgenden zusammengefasst<br />

als Nutzungsfähigkeit bezeichnet -–<br />

mithilfe einer integrierten Bauwerksüberwachung<br />

zu entwickeln. Die dabei angestrebten<br />

Zwischenziele – die nicht alle in<br />

der nächsten Förderperiode angegangen<br />

werden können – lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />

■ Sicherstellung der Nutzungsfähigkeit<br />

von Bauwerken durch das Erkennen<br />

plötzlicher Widerstandsverluste mithilfe<br />

der Bauwerksüberwachung (Messung,<br />

Auswertung, Beurteilung) und durch<br />

daraufhin eingeleitete Sanierungen,<br />

■ realistische Prognose des künftigen<br />

Bauwerksverhaltens durch adaptive<br />

Modelle, das heißt durch Modelle, die<br />

mithilfe der Messgrößen an den jeweiligen<br />

Bauwerkszustand angepasst<br />

werden,<br />

ABBILDUNG 4<br />

Schadensentwicklung bei Brückenbauten.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ Planung, Optimierung und Bewertung<br />

von Überwachungsmaßnahmen im Hinblick<br />

auf maximale Effizienz und<br />

Aussagesicherheit,<br />

■ Konzeptionierung von Bauwerksüberwachung<br />

als Instrument zur Planung<br />

und Optimierung von Überwachungs-,<br />

Beobachtungs- und Instandhaltungsmaßnahmen,<br />

■ Konzeptionierung der BÜ als Baustein<br />

eines ganzheitlichen Qualitätssicherungssystems<br />

für Bauwerke,<br />

■ Entwicklung, Adaptierung von Sensoren<br />

für spezielle Zwecke der Bauwerksüberwachung,<br />

■ Entwicklung effizienter Methoden zur<br />

Minimierung der Gesamtkosten des<br />

Bauwerkes (volks- und betriebswirtschaftlich)<br />

durch integrierte BÜ.<br />

33


34 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 5<br />

Prinzipielle Vorgehensweise bei der Bauwerksüberwachung.<br />

Um die Methoden und Strategien, die im<br />

SFB 477 entwickelt werden, bei möglichst<br />

unterschiedlichen Bauwerken einsetzen zu<br />

können, werden neben Bauwerken des<br />

klassischen Konstruktiven Ingenieurbaus –<br />

zum Beispiel Hochbauten, Brücken, Tunnel,<br />

Krane, Türme, Maste – auch Deponien<br />

untersucht. Die Verfahren und Methoden<br />

sind in beiden Bereichen weitgehend gleich,<br />

sodass durch Beschränkung auf diese beiden<br />

Bauwerkstypen die Basis der eingesetzten<br />

Methoden und Verfahren verbreitert<br />

wird. Die Fragen, die die Geotechnik beim<br />

Bau von Deponien zu lösen hat, ähneln<br />

denen im Konstruktiven Ingenieurbau, da<br />

die auf die Gründung einwirkenden Lasten<br />

von Deponien denen von Hochhäusern entsprechen,<br />

sodass die Probleme, die von der<br />

Geotechnik zu lösen sind, in beiden Bereichen<br />

recht ähnlich sind.<br />

SCHWACHSTELLEN<br />

IDENTIFIZIEREN<br />

Die grundsätzliche Vorgehensweise bei der<br />

Bauwerksüberwachung lässt sich schematisieren.<br />

Abbildung 5 zeigt eine Übersicht der<br />

wesentlichen Punkte, die im Folgenden<br />

kurz kommentiert werden.<br />

Zunächst müssen die zu erwartende Schädigung<br />

und deren Symptome unter Berücksichtigung<br />

der Anforderungen an das Bauwerk<br />

(Nutzung, Gefahrenpotenzial, das<br />

heißt der zu erwartende Folgeschaden etc.)<br />

definiert werden. Schadenssymptome sind<br />

beispielsweise Anrissgrößen, Verformungen,<br />

anwachsende Dehnungen, chemische<br />

Grenzwerte, Durchfeuchtung oder andere<br />

Grenzzustände. Die jeweiligen Grenzzustände<br />

sind zu definieren.<br />

So unterschiedlich die Überwachungsaufgaben<br />

bei verschiedenen Bauwerken und<br />

Bauweisen auch sein mögen – eine ist allen<br />

gemeinsam: Es müssen die Schwachstellen<br />

des Bauwerkes identifiziert werden. Dies<br />

sind die Orte innerhalb eines Bauwerkes,<br />

die für Schäden besonders anfällig sind<br />

und/oder bei denen Schäden nicht zu tolerierende<br />

Folgen nach sich ziehen. Bei der<br />

Schwachstellenidentifizierung wird zweigleisig<br />

vorgegangen. Auf der einen Seite<br />

werden die deterministischen Verfahren zugeschärft;<br />

dies sind insbesondere Verbesserungen<br />

der (klassischen) Modelle zur Beschreibung<br />

und Prognose des jeweiligen<br />

Schadens. Derartige deterministische Vorgehensweisen<br />

sind dann problemlos anzuwenden,<br />

wenn – bauwerksbedingt – die<br />

Schwachstellen hinreichend einfach festzulegen<br />

sind. Dies ist häufig bei älteren<br />

Bauwerken der Fall, bei denen das Sicherheitsniveau<br />

innerhalb des Bauwerkes stark<br />

schwankt. Bei neu errichteten Bauwerken<br />

ist das Sicherheitsniveau dagegen, bedingt<br />

durch die traglastorientierte Bemessung<br />

aller Bauelemente, in der Regel vereinheitlicht.<br />

Eine eindeutige Schwachstelle existiert<br />

dann häufig nicht mehr, der Ort einer<br />

Schwachstelle kann sich, etwa durch Streuungen<br />

im Werkstoff, weit von der rechnerisch<br />

ermittelten Schwachstelle entfernt<br />

haben. Es liegt auf der Hand, dass eine derartige<br />

Situation nur mithilfe zuverlässigkeitsorientierter<br />

Vorgehensweisen behandelt<br />

werden kann. Dabei sind beispielsweise unterschiedliche<br />

Versagenspfade, die zu unterschiedlichen<br />

Grenzzuständen führen, unter<br />

Berücksichtigung der statistischen Streuungen<br />

und Korrelationen der jeweiligen Einflussgrößen<br />

zu untersuchen. Die Schwachstelle<br />

wird dann anhand der dominierenden<br />

Beiträge zur Versagenswahrscheinlichkeit<br />

des Bauwerkes identifiziert.<br />

Ein weiteres Problem im Zusammenhang<br />

mit der Schwachstellenidentifikation ergibt<br />

sich durch die dafür notwendigen Modellbildungen.<br />

Die Zugrundelegung falscher<br />

oder ungenauer Modelle kann Schwachstellen<br />

verdecken oder vortäuschen. Typische<br />

Beispiele sind die in den vergangenen Jahren<br />

bekannt gewordenen Schäden im Stahlbrückenbau<br />

durch nicht berücksichtigte<br />

räumliche Tragwirkung. Zur Vermeidung<br />

derartiger Fehler ist bei der Schwachstellenidentifikation<br />

eine möglichst genaue Modellierung<br />

des Bauwerkes vorzunehmen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Die Frage, welche Überwachungsstrategie<br />

anzuwenden ist, hängt vom jeweiligen Problem<br />

ab. Die Strategie kann<br />

■ prognostisch sein; dabei werden adaptive<br />

Modelle benötigt, die sich an den<br />

jeweiligen Bauwerkszustand anpassen<br />

oder die angepasst werden (der linke<br />

Ast des Flussdiagramms (Abb. 5) stellt<br />

die Vorgehensweise dar), oder<br />

ABBILDUNG 6<br />

Prinzipielle Vorgehensweise bei monitoring-basierter Methodik.<br />

ABBILDUNG 7<br />

Vergleich der Lastwechselzahlen: Prognose und Wirklichkeit.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ schwellwertüberwachend sein; dabei<br />

werden durch kontinuierliches Monitoring<br />

Schwellwerte (z. B. Grenzdehnung,<br />

Riss am Zuggurt) überwacht, ohne dass<br />

ein Modell benötigt wird. Diese Vorgehensweise<br />

könnte zum Beispiel bei<br />

älteren Bauwerken gewählt werden, bei<br />

denen die Vergangenheit weitgehend im<br />

Dunkeln liegt, sodass Modelle wegen<br />

der unbekannten Anfangsbedingungen<br />

zu unsicher wären.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ZUVERLÄSSIGERE<br />

MODELLE UND MESS-<br />

METHODEN ENTWICKELN<br />

Wie bereits angemerkt, passen sich die<br />

adaptiven Modelle mithilfe der durch die<br />

BÜ gemessenen Parameter stetig oder diskret<br />

an die jeweils neue Bauwerkssituation<br />

an. Die adaptiven Modelle sind deshalb<br />

grundsätzlich anders aufgebaut als die üblichen<br />

Prognosemodelle, die stets von einem<br />

Anfangszeitpunkt über einen relativ langen<br />

Zeitraum eine Aussage liefern sollen und<br />

aus diesem Grund vergleichsweise komplex<br />

sein müssen (vgl. z. B. Werkstoffmodelle für<br />

zyklische Beanspruchung mit einer großen<br />

Zahl innerer Variablen). Adaptive Modelle<br />

sind daher wesentlich zuverlässiger als die<br />

herkömmlichen Prognosemodelle. Wesentliche<br />

Voraussetzung für die adaptiven Modelle<br />

ist jedoch, dass ihre Eingangsparameter<br />

reale, möglichst einfach zu messende<br />

physikalische, chemische und biochemische<br />

Größen sind.<br />

Ein Beispiel für ein adaptives Modell, das<br />

theoretisch experimentell arbeitet, ist das<br />

Teilprojekt B3 des SFB 477. Um die Lebensdauer<br />

eines Bauwerkes oder Bauteiles vorhersagen<br />

zu können, werden in der Regel<br />

drei Modelle benötigt: ein Einwirkungsmodell,<br />

ein Systemmodell und ein Schädigungsmodell,<br />

die alle mit (Abb. 7) zufälligen<br />

und systematischen Fehlern behaftet<br />

sind.<br />

Bei der üblichen Methode zur Lebensdauervorhersage,<br />

dem Nennspannungskonzept,<br />

ist etwa die Einstufung eines Kerbdetails<br />

in eine Kerbfallklasse oft nicht eindeutig<br />

möglich. Reihenfolgeeffekte, die eine<br />

große Auswirkung haben, werden dabei<br />

nicht erfasst. Verfahren, die auf Grundlage<br />

örtlicher Beanspruchungen basieren, zeigen<br />

Probleme hinsichtlich der Einschätzung der<br />

Eingangsparameter und gegebenfalls auftretender<br />

plastischer Verformungsanteile.<br />

Es treten systematische und zufällige Einflüsse<br />

auf, die nur schwer bestimmt werden<br />

können.<br />

Werden die Dehnungen direkt am Bauwerk<br />

an den kritischen Stellen kontinuierlich<br />

gemessen (Monitoring), entfallen die<br />

Unsicherheiten der Einwirkungs- und Systemmodelle<br />

(Abb. 6). Mit den gemessenen<br />

Beanspruchungen und den daraus mithilfe<br />

von Zählverfahren wie der Rainflow-Methode<br />

ermittelten Beanspruchungskollektiven<br />

könnte zunächst eine Schädigungsberech-<br />

35


36 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 8<br />

Prinzip des Dehnungsaufnehmers – Empfindlichkeit als Funktion des Adapters.<br />

nung nach den bekannten linearen oder<br />

nichtlinearen Schadensakkumulationsverfahren<br />

durchgeführt werden. Eine solche<br />

Ermittlung der Lebensdauer umgeht<br />

die ersten beiden Modelle, ist aber nach<br />

wie vor mit erheblichen Unsicherheiten<br />

behaftet. Es ist daher konsequent, auch<br />

die Nutzung des unsicheren Schädigungs-<br />

ABBILDUNG 9<br />

Aufbau des Feuchte-Sensors.<br />

modells zu umgehen. Dessen Ungenauigkeit<br />

wird durch eine experimentelle<br />

Lebensdauerbestimmung minimiert. Dazu<br />

wird im Labor eine Probe mit einem dem<br />

Original nachgebildeten Detail in einer<br />

digital geregelten Prüfmaschine mit einem<br />

passenden Ersatzbeanspruchungsschrieb<br />

bis zum Bruch belastet (Abb. 6).<br />

Ein wesentliches Problem besteht in der<br />

Festlegung des Ersatzzeitschriebes. Da die<br />

Belastung bei Bauwerken im Allgemeinen<br />

randomartig ist (Verkehr, Wind, Wellen,<br />

etc.), muss ein Zufallszeitschrieb erzeugt<br />

werden, der die statischen Parameter der<br />

tatsächlichen Beanspruchung, beispielsweise<br />

des Verkehrs, korrekt wiedergibt. Zusätzlich<br />

muss der Zeitschrieb die zeitabhängigen<br />

Phänomene richtig angeben, da diese<br />

auf das Ergebnis einen erheblichen Einfluss<br />

haben. Dazu gehören unter anderem die<br />

Erfassung der genauen statistischen Fahrzeugklassenabfolge,<br />

der zeitliche Abstand<br />

der Fahrzeugklassen, Clusterbildung von<br />

LKW und so weiter.<br />

Wenn diese Effekte präzise erfasst werden,<br />

ist die Prognosegenauigkeit relativ hoch,<br />

das heißt eine Größenordnung besser als<br />

bei den üblichen Verfahren. Abbildung 7<br />

zeigt einen Vergleich der so ermittelten<br />

Prognosewerte der Anrisslast auf der<br />

Ordinate und der am Bauwerk aufgetretenen<br />

Anrisslasten. Jeder Versuch wurde<br />

mehrfach durchgeführt, die Ergebnisse<br />

statistisch bewertet. Die Mittelwerte sind<br />

durch ausgefüllte Punkte dargestellt, die<br />

Striche geben die 95-Prozent-Konfidenz-<br />

Intervalle in der jeweiligen Richtung an.<br />

Wenn ein Punkt auf der 45-Grad-Geraden<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


liegt, entspricht die Prognose der Bauwerkswirklichkeit.<br />

Es ist zu erkennen, dass<br />

die mithilfe des adaptiven Modells durchgeführte<br />

Prognose recht genau ist.<br />

Die Adaptierung und Anpassung unterschiedlichster<br />

Messtechniken sind ein<br />

weiteres wichtiges Teilgebiet im SFB, weil<br />

ohne hinreichend sichere Messwerte eine<br />

Bauwerksüberwachung nicht möglich ist.<br />

In Abhängigkeit von den zu lösenden<br />

Aufgaben wird Messtechnik für physikalische,<br />

mechanische und chemische Anwendungen<br />

genutzt. Die für eine BÜ einzusetzende<br />

Messtechnik muss den Bedingungen<br />

des langzeitlichen, sicheren Einsatzes an<br />

Bauwerken genügen (In-situ-Messungen).<br />

Da ein großer Teil der üblichen Labormesstechnik<br />

diese Bedingungen nicht erfüllt,<br />

muss sie an die speziellen Bedingungen<br />

angepasst werden. Ferner ist die Entwicklung<br />

neuer Messtechnik erforderlich.<br />

Darüber hinaus muss die gesamte Messtechnik<br />

robust sein, und sie muss redundant<br />

angelegt werden, da in vielen Fällen<br />

ein Ersatz bei Ausfall nicht zu realisieren<br />

wäre. Bei der Datenübertragung wird,<br />

falls erforderlich, Funkfernübertragung<br />

(digitales Funktelefonnetz) eingesetzt.<br />

Zwei Entwicklungen werden im Folgenden<br />

kurz vorgestellt.<br />

Zur Messung des mechanischen zweidimensionalen<br />

Dehnungszustandes wird<br />

vom Projekt C3 ein neuartiger Sensor entwickelt,<br />

der in eine kleine Bohrung gepresst<br />

wird (s. Abb. 8). Im einzupressenden Adapter<br />

sind Dehnungsmessstreifen integriert,<br />

die die Verformung des Adapters messen<br />

und damit die Dehnungszustände anzeigen.<br />

Man sieht, dass der Adapter Nr. 4 hervorragende<br />

Übertragungseigenschaften aufweist.<br />

Für die Messung der Feuchte und des<br />

Chloridgehaltes von Beton wurde und wird<br />

vom Teilprojekt C1 ein Sensor entwickelt,<br />

der die Feuchte oder den Chloridgehalt<br />

über die Modifikation von Reichhardt’schen<br />

Farbstoffen misst. Der Farbstoff wird in eine<br />

geeignete Polymermatrix eingebettet, die<br />

Farbänderungen werden über Glasfaser<br />

übertragen. Abbildung 9 zeigt den prinzipiellen<br />

Aufbau, Abbildung 10 den Einbau<br />

in ein Betontestbauwerk (Hohes C).<br />

In der Folge der Überwachungsmaßnahmen<br />

wird nun eine Entscheidung über das<br />

weitere Vorgehen notwendig. Dieses kann<br />

sein:<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ Wartungen, Instandsetzungen,<br />

■ Nutzungseinschränkungen oder<br />

-ausweitungen,<br />

■ Verkürzung der Inspektionsintervalle,<br />

das heißt Intensivierung der Bauwerksüberwachung,<br />

beziehungsweise<br />

■ Außerbetriebnahme des Bauwerkes.<br />

Alle diese Aspekte werden in starkem Maße<br />

von Wirtschaftlichkeits-, aber auch von<br />

rechtlichen Gesichtspunkten gesteuert.<br />

VERFAHREN AN REALEN<br />

UND LABOR-BAUWERKEN<br />

VERIFIZIEREN<br />

Da die prognostizierte Lebensdauer realer<br />

Bauwerke relativ groß ist, ergeben sich Probleme<br />

bei der Validierung der entwickelten<br />

Verfahren, das heißt, die Schadensprognose<br />

lässt sich am realen Bauwerk nicht unmittelbar<br />

bestätigen. Unabhängig davon ist<br />

man bei der Messung an einem realen Bauwerk<br />

auf die dort vorliegende zufällige Situation<br />

beschränkt. Aus diesem Grunde<br />

sind neben Messungen an realen Bauwerken<br />

zunächst vor allem Untersuchungen an<br />

Bauwerken im Labor – so genannte Ersatz-<br />

Bauwerke – vorgesehen, an denen ohne<br />

große Mühe alle wesentlichen Parameter<br />

eingestellt und variiert werden können. Dadurch<br />

wird die Validierung der Verfahren<br />

auch bei großer Parametervielfalt sichergestellt.<br />

Gleichzeitig werden an ausgewählten<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 10<br />

Sensortest im Ersatzbauwerk »Hohes C«.<br />

realen Bauwerken Überwachungseinrichtungen<br />

installiert, um unter Nicht-Laborbedingungen<br />

Messtechnik, Auswertung und<br />

Bewertung zu überprüfen.<br />

Abbildung 11 zeigt die derzeit eingesetzten<br />

Ersatzbauwerke. Für den Bereich<br />

stählerner Konstruktionen ist dies der so<br />

genannte Tremolant (wegen der aufgebrachten<br />

Schwingbeanspruchung), in dem<br />

vorwiegend Ermüdungsprozesse mit unterschiedlichen<br />

Methoden studiert werden.<br />

Im Bereich der Betonkonstruktionen wurde<br />

das »Hohe C« (wegen seiner Form) als<br />

Ersatzbauwerk entwickelt, in dem die<br />

genannten Feuchte- und Cloridsensoren getestet<br />

werden. In der »Harmonia« (wegen<br />

der dort im Gleichgewicht befindlichen biologischen<br />

und chemischen Prozesse) werden<br />

für Deponiebauwerke Prozesse studiert,<br />

die innerhalb einer Deponie stattfinden.<br />

Die Ersatzbauwerke sind die Fokuspunkte<br />

für alle Teilprojekte, das heißt, alle Projekte<br />

37


38 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Hohes C Tremolant Harmonia<br />

ABBILDUNG 11<br />

Ersatzbauwerke.<br />

nutzen die Ergebnisse, die an den Ersatzbauwerken<br />

gemessen werden. Abbildung<br />

12 zeigt beispielhaft die Risserkennung in<br />

der Ecke eines Stegfensters. Diese wurde<br />

mithilfe der Verfahren des Teilprojektes B3,<br />

des Teilprojektes B4 und des Teilprojektes<br />

C3 durchgeführt. Man sieht, dass alle Verfahren<br />

und Sensoren den Anriss, der kleiner<br />

als ein Millimeter war, recht gut anzeigen.<br />

Die bereits vor dem Anriss abfallenden Kurven<br />

der Sensoren der Teilprojekte B4 und<br />

C3 sind durch die lineare Verbindung der<br />

Messpunkte vor und nach dem Anriss entstanden.<br />

Bei engeren zeitlichen Messabständen<br />

wären auch hier die Kurven zum<br />

Risszeitpunkt abgeknickt.* ■<br />

LITERATUR<br />

1 Mikami, J. Sakano, M., Shibata, H.:<br />

Database of damaged steel bridges.<br />

Technology Reports of Kansai-Univ.<br />

No.35 (1993) 185-196.<br />

2 Zweiter Bericht über Schäden an Bauwerken<br />

der Bundesverkehrswege.<br />

Bundesministerium für Verkehr 1995.<br />

Literatur zu den Teilprojekten siehe:<br />

http://www.sfb477.tu-bs.de/<br />

* Die Arbeiten im SFB 477 »Bauwerksüberwachung«<br />

werden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG) unterstützt. Dafür sei auch<br />

an dieser Stelle herzlich gedankt.<br />

Nähere Angaben zu den Teilprojekten finden<br />

Interessierte unter http://www.sfb477.tu-bs.de/<br />

ABBILDUNG 12<br />

Vergleich der Risserkennungsverfahren.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


40 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

INDUSTRIELLE MESSTECHNIK –<br />

KEIN SELBSTZWECK<br />

Der Blick auf die Uhr,<br />

die morgendliche Gewichtskontrolle<br />

auf der Badezimmerwaage oder die<br />

Prüfung des Reifenluftdrucks an der<br />

Tankstelle – im Alltag führen wir<br />

Messungen der unterschiedlichsten<br />

Art durch, meist ohne uns dessen<br />

bewusst zu sein. Messen ist ein<br />

alltäglicher Vorgang, den<br />

offensichtlich jeder beherrscht.<br />

Warum sich Menschen dennoch<br />

beruflich – insbesondere im Bereich<br />

der Forschung – mit Messtechnik<br />

auseinandersetzen, erklärt<br />

Professor Dr. Rainer Tutsch<br />

im folgenden Artikel.<br />

In der Praxis werden bei der Anwendung<br />

der Messtechnik immer wieder<br />

Fehler gemacht, die zum Teil fatale<br />

Folgen haben. Extreme Beispiele sind in<br />

der Weltraumtechnik zu finden:<br />

■ Das Versagen des Hubble-Space-Telescopes<br />

im Jahr 1990, das eine spektakuläre<br />

Reparatur im All mit Kosten in<br />

Höhe von circa zwei Milliarden Dollar<br />

erforderte, war auf ein fehlerhaftes<br />

Messsystem zurückzuführen.<br />

1999 stürzten zwei Satelliten auf dem Mars<br />

ab und gingen verloren:<br />

VON RAINER TUTSCH<br />

Institut für Produktionsmesstechnik (IPROM)<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

Von der Messtechnik noch nicht erreicht:<br />

das akustische Ortungsvermögen von Fledermäusen.<br />

■ Beim Mars Polar Lander registrierte ein<br />

falsch kalibrierter Sensor an Bord den<br />

Ruck beim Ausfahren des Landefahrwerks<br />

als Aufsetzen auf der Marsoberfläche.<br />

Daraufhin schaltete der Steuerrechner<br />

die Triebwerke in großer Höhe<br />

ab.<br />

■ In einem Software-Modul des Mars<br />

Climate Orbiter wurden versehentlich<br />

Längenmaße in Inch statt in Meter verwendet;<br />

das führte zu fehlerhafter<br />

Bahnberechnung und zum Absturz.<br />

Fehlerhafter Umgang mit Maßeinheiten<br />

ist ein typischer Messfehler.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


HERAUSFORDERUNGEN<br />

FÜR DIE MESSTECHNIK<br />

Im industriellen Alltag sind die Pannen<br />

glücklicherweise weniger spektakulär und<br />

werden in der Regel nicht publik gemacht.<br />

Dennoch sei die Aussage erlaubt: Die Messtechnik<br />

ist im industriellen Produktionsprozess<br />

zwar nicht direkt wertschöpfend, fehlende<br />

oder falsch angewandte Messtechnik<br />

kann jedoch in hohem Maße wertvernichtend<br />

sein.<br />

Die Messtechnik wird durch die Fortschritte<br />

in der Fertigungstechnik vor immer<br />

neue Herausforderungen gestellt. So sind<br />

die typischen Toleranzen in der spanenden<br />

Bearbeitung seit 1900 um mehr als eine<br />

Größenordnung kleiner geworden. Heutige<br />

Massenprodukte wie Videorecorder oder<br />

Computerfestplattenlaufwerke enthalten<br />

Bauteile als preiswerte Großserienteile, die<br />

vor 50 Jahren nur im wissenschaftlichen<br />

Gerätebau in Einzelstücken und vor 100<br />

Jahren überhaupt nicht hätten gefertigt<br />

werden können. Aber auch andere Charakteristika<br />

der modernen Produktion wirken<br />

sich auf die industrielle Messtechnik aus:<br />

■ Die Produkte werden immer individueller<br />

auf Kundenwünsche zugeschnitten.<br />

Aus einer steigenden Variantenvielfalt<br />

bei immer kleineren Losgrößen folgt<br />

eine wachsende Anforderung an die<br />

Flexibilität der Messmittel.<br />

■ Mit der Erhöhung der Produktionstakte<br />

muss die Geschwindigkeit von Messsystemen<br />

steigen.<br />

■ Dem wachsenden Kostendruck im Fertigungsprozess<br />

muss die Messtechnik<br />

durch kostengünstige Messsysteme<br />

gerecht werden.<br />

■ Die Fertigungstiefe vieler Unternehmen<br />

wurde in den 90er-Jahren wesentlich<br />

reduziert. Lieferantennetzwerke über<br />

Landesgrenzen hinweg sind keine Seltenheit.<br />

Daraus resultiert die Forderung,<br />

dass die Rückführbarkeit der in<br />

verschiedenen Unternehmen – auch in<br />

verschiedenen Ländern – verwendeten<br />

Messmittel auf gemeinsame Normale<br />

gesichert sein muss. Standards für die<br />

Protokollierung und Übermittlung von<br />

Messergebnissen müssen ebenfalls vorhanden<br />

sein.<br />

Somit besteht Handlungsbedarf, die Messtechnik<br />

für industrielle Produktionsprozesse<br />

weiterzuentwickeln. Das TU-Institut für<br />

Produktionsmesstechnik (IPROM) nimmt<br />

diese Herausforderung an. Im Folgenden<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

werden aktuelle und für die nahe Zukunft<br />

geplante Arbeiten des Instituts vorgestellt.<br />

Diese lassen sich den Themenfeldern<br />

■ optische 3-D-Messtechnik, das heißt Messung<br />

der dreidimensionalen Gestalt von<br />

Werkstücken mit optischen Verfahren,<br />

■ Mikro- und Oberflächenmesstechnik,<br />

■ akustische Messtechnik und<br />

■ Qualitätsmanagement<br />

zuordnen.<br />

3-D-MESSVERFAHREN –<br />

EIN WACHSTUMSMARKT<br />

Im Vergleich mit »klassischen« Koordinatenmessgeräten<br />

mit berührend arbeitenden<br />

Tastern haben optische 3-D-Messverfahren<br />

den Vorteil der berührungslosen, rückwirkungsfreien<br />

Messtechnik und der hohen<br />

Datenrate. Es existiert eine Fülle unterschiedlicher<br />

optoelektronischer Systeme<br />

zur Messung der dreidimensionalen Geometrie<br />

von Werkstücken. Die meisten<br />

lassen sich auf zwei grundlegende Messverfahren<br />

zurückführen, zu deren Entwicklung<br />

das TU-Institut unter Professor<br />

Dr. Reinhold Ritter in den vergangenen<br />

zehn Jahren Beiträge geleistet hat: die<br />

Photogrammetrie und die Anwendung<br />

strukturierter Beleuchtung.<br />

ABBILDUNG 1<br />

Prinzip der Photogrammetrie<br />

(links) und ein Beispiel<br />

eines photogrammetrischen<br />

Messsystems (rechts).<br />

ABBILDUNG 2<br />

a) Prinzip der strukturierten<br />

Beleuchtung;<br />

b) Werkstück mit projiziertem<br />

Linienmuster;<br />

c) Punktwolke als Ergebnis<br />

einer Messung;<br />

d) realitätsnahe Darstellung<br />

des Messdatensatzes.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Die Photogrammetrie basiert auf der Aufnahme<br />

mehrerer zweidimensionaler Bilder<br />

des Objekts aus verschiedenen Richtungen<br />

(Abb. 1). Im einfachsten Fall sind dies zwei<br />

Richtungen. Das entspricht dem stereoskopischen<br />

Sehen mit zwei Augen. In technischen<br />

Messsystemen wird häufig mit einer<br />

größeren Zahl von Einzelbildern gearbeitet,<br />

die entweder gleichzeitig von einer entsprechend<br />

großen Zahl von Kameras aufgenommen<br />

werden oder nacheinander von einer<br />

Kamera, die um das Objekt herum bewegt<br />

wird. Zur Auswertung der Bilder müssen<br />

Punkte der Objektoberfläche in mehreren<br />

Einzelbildern identifiziert und einander zugeordnet<br />

werden. Da die verfügbaren Bildverarbeitungsalgorithmen<br />

bei weitem nicht<br />

die Leistungsfähigkeit des menschlichen<br />

Mustererkennungsvermögens haben, werden<br />

die Objektoberflächen häufig mit Mustern<br />

versehen, die eine automatisierte Erkennung<br />

vereinfachen. Das können Punkte,<br />

Gitter oder unregelmäßige, stochastische<br />

Strukturen sein.<br />

Bei der Anwendung strukturierter Beleuchtung<br />

(Abb. 2) wird der Effekt genutzt,<br />

dass bei der Projektion eines Musters auf<br />

eine Objektoberfläche und bei Betrachtung<br />

des Objekts aus einer anderen Richtung als<br />

der Projektionsrichtung das Muster entsprechend<br />

der dreidimensionalen Oberflächenform<br />

verzerrt wahrgenommen wird<br />

(Abb. 2b). In der praktischen Anwendung<br />

41


42 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

werden meist nacheinander mehrere unterschiedliche<br />

Liniengitter projiziert.<br />

Weite Verbreitung haben Auswertealgorithmen<br />

nach dem Phasenschiebeverfahren<br />

oder dem von Professor Dr. Friedrich Wahl,<br />

TU-Institut für Robotik und Prozessinformatik,<br />

erfundenen binären Graycode-Algorithmus<br />

beziehungsweise einer Kombination<br />

beider Ansätze gefunden. Ergebnis ist eine<br />

aus mehreren 1.000 Messpunkten bestehende<br />

Punktwolke (Abb. 2c), die durch so<br />

genannte Flächenrückführungs- und Renderingsoftware<br />

in eine realitätsnahe graphische<br />

Darstellung des Objektes überführt<br />

werden kann (Abb. 2d).<br />

Optische 3-D-Messtechnik ist ein derzeit<br />

stark wachsender Markt mit zuletzt circa<br />

30 Prozent Umsatzplus. Nach einer Schätzung<br />

des Verbandes der Investitionsgüterindustrie<br />

(VDMA) sind erst 15 bis 20 Prozent<br />

des Marktes erschlossen.<br />

Weiterer Forschungsbedarf<br />

vorhanden<br />

Es gibt bereits zahlreiche marktreife kommerzielle<br />

Lösungen, nicht zuletzt von mehreren<br />

<strong>Braunschweig</strong>er Unternehmen. Dennoch<br />

besteht für viele mögliche Anwendungsfälle<br />

noch Forschungsbedarf. Drei<br />

Beispiele aus aktuellen Projekten des<br />

IPROM sollen dies belegen:<br />

ABBILDUNG 5<br />

Komponente eines Mikromotors und Kopf eines<br />

Hundeflohs als Beispiele für Rasterelektronenmikroskop-Aufnahmen.<br />

■ Für Werkstücke mit spiegelnder Oberfläche<br />

sind die vorab beschriebenen Verfahren<br />

nicht anzuwenden, da weder<br />

Strukturen auf der Oberfläche sichtbar<br />

sind noch Muster auf die Oberfläche<br />

projiziert werden können. Bei einem am<br />

IPROM entwickelten Messsystem wird<br />

die Verzerrung eines Musters bei Spiegelung<br />

an der gekrümmten Oberfläche<br />

ausgewertet. Das Ergebnis der Messung<br />

an einem Kaffeelöffel ist in Abbildung 3<br />

dargestellt.<br />

■ Um die Positioniergenauigkeit von<br />

Industrierobotern zu erhöhen und um<br />

Toleranzen bei der Darbietung von<br />

Werkstücken zuzulassen, werden mittlerweile<br />

in vielen Fällen elektronische<br />

Sichtsysteme eingesetzt. Werden zwei<br />

Kameras genutzt, so kann der Roboter<br />

im dreidimensionalen Raum geführt<br />

werden. Das Auflösungsvermögen eines<br />

optischen 3-D-Messsystems ist umso<br />

besser, je kleiner das Messvolumen ist.<br />

Daher ist es vorteilhaft, mit den beiden<br />

Kameras nicht den gesamten Arbeitsbereich<br />

des Roboters auszuwerten, sondern<br />

sie an der Roboterhand zu befestigen<br />

und mitzuführen.<br />

Im Rahmen des Sonderforschungsbereiches<br />

»Aktive Mikrosysteme« soll eine<br />

derartige optische 3-D-Regelung für<br />

einen Mikromontageroboter entwickelt<br />

werden. Eine konventionelle Lösung mit<br />

zwei Kameras ist für diesen Anwendungsfall<br />

zu groß und zu schwer. Daher<br />

wird ein miniaturisierter photogrammetrischer<br />

3-D-Sensor entwickelt, der die<br />

ABBILDUNG 3<br />

Beispiel für die optische Messung der<br />

Gestalt eines spiegelnden Objekts.<br />

ABBILDUNG 4<br />

Miniaturisierter 3-D-Bildsensor.<br />

Integration in den kleinen Einbauraum<br />

ermöglicht (Abb. 4). Durch eine spezielle<br />

Strahlteileroptik gelingt die gleichzeitige<br />

Abbildung zweier Ansichten des Objekts<br />

auf den Bildsensor einer Miniaturkamera.<br />

Ein Funktionsmuster dieses<br />

Sensors wurde erfolgreich getestet, nun<br />

folgt der Bau eines Prototypen.<br />

■ Das Rasterelektronenmikroskop (REM)<br />

wurde 1939 von Manfred von Ardenne<br />

erfunden und ist heute ein äußerst leistungsfähiges<br />

Instrument zur Untersuchung<br />

mikroskopischer und nanoskopischer<br />

Strukturen. Typische REM-Bilder<br />

(Abb. 5) erwecken einen plastischen<br />

Eindruck, der allerdings durch die im<br />

Vergleich mit optischen Mikroskopen<br />

große Schärfentiefe lediglich vorgetäuscht<br />

ist. Auch REM-Bilder sind zweidimensional.<br />

Allerdings lässt sich das<br />

Prinzip der photogrammetrischen Auswertung<br />

auf das Rasterelektronenmikroskop<br />

übertragen. Natürlich ist es nicht<br />

sinnvoll, das Mikroskop um das Objekt<br />

herum zu bewegen, stattdessen wird die<br />

Probe auf einem Kipp-/Schwenktisch in<br />

unterschiedliche Orientierungen relativ<br />

zum abtastenden Elektronenstrahl<br />

gebracht. Der photogrammetrische Ansatz<br />

konnte am IPROM anhand mehrerer<br />

Messreihen verifiziert werden. Zurzeit<br />

wird die erreichbare Genauigkeit<br />

analysiert, und es werden spezifische<br />

Kalibrieralgorithmen erarbeitet. Ziel ist<br />

die hochaufgelöste 3-D-Messung an<br />

Mikrobauteilen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


MIKROBAUTEILE UND<br />

OBERFLÄCHENPROFILE<br />

EXAKT VERMESSEN<br />

Dies führt uns zum Arbeitsgebiet der<br />

Mikro- und Oberflächenmesstechnik, das<br />

gegenwärtig aufgebaut wird. Im ersten<br />

Schritt wird eine messtechnische Ausstattung<br />

beschafft, mit der sowohl die Geometrie<br />

von Mikrobauteilen als auch das Oberflächenprofil<br />

technischer Werkstücke gemessen<br />

werden kann.<br />

Typische Mikrobauteile weisen Abmessungen<br />

von wenigen Millimetern und<br />

kleinste Strukturen von der Größenordnung<br />

Mikrometer auf. Die geometrische<br />

Gestalt kann relativ komplex sein. Die Mikrostruktur<br />

technischer Oberflächen ist –<br />

abhängig vom Material und von der Bearbeitung<br />

– sehr unterschiedlich.<br />

Kein derzeit verfügbares Messsystem<br />

kann alle Anforderungen, die durch die<br />

beiden genannten Aufgabenfelder gestellt<br />

werden, gleichzeitig erfüllen. Deshalb werden<br />

mehrere unterschiedliche Messsysteme<br />

beschafft, die sich gegenseitig ergänzen und<br />

zusammen einen sehr flexiblen Messplatz<br />

zur Mikro- und Oberflächenmesstechnik<br />

ergeben werden.<br />

Die zentrale Komponente des Messplatzes<br />

wird ein Multisensorkoordinatenmessgerät<br />

sein, das je nach Aufgabenstellung mit unterschiedlichen<br />

Sensoren die Oberfläche<br />

eines Werkstücks antasten kann. Neben<br />

optischen Verfahren auf der Basis eines Videomessmikroskops<br />

oder eines Autofokussensors<br />

können auch zwei unterschiedliche<br />

mechanische Taster eingesetzt werden. Insbesondere<br />

für Mikrobauteile ist der an der<br />

Physikalisch-<strong>Technische</strong>n Bundesanstalt<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

(PTB) in <strong>Braunschweig</strong> entwickelte Fasertaster<br />

mit einem Tastkugelradius von einem<br />

Bruchteil eines Millimeters interessant<br />

(Abb. 6).<br />

Besonders wichtig für die Zukunftsplanung<br />

des Instituts ist die Erweiterungsmöglichkeit.<br />

Sensoren, die künftig am IPROM<br />

entwickelt werden sollen, können zusätzlich<br />

in das Multisensorkoordinatensystem<br />

integriert werden, sodass mit der Zeit ein<br />

universeller Baukasten entstehen wird.<br />

Dabei sollen über die Geometrie hinaus<br />

auch weitere physikalische Eigenschaften<br />

der Oberfläche gemessen werden, zum<br />

Beispiel Ladungs- oder Temperaturverteilung<br />

und das magnetische Feld.<br />

Das Multisensorkoordinatenmessgerät<br />

wird durch ein Weißlichtinterferenzmikroskop<br />

und ein Tastschnittgerät ergänzt. Bei<br />

aktiven Mikrosystemen mit beweglichen<br />

Elementen ist die Messung von Relativbewegungen<br />

und Schwingungen im mikroskopischen<br />

Maßstab eine schwierige Aufgabe.<br />

Zu diesem Zweck wird ein faseroptisches<br />

Laservibrometer mit Einkoppelmöglichkeit<br />

in ein Mikroskop beschafft.<br />

SICH WIE FLEDERMÄUSE<br />

ORIENTIEREN – AKUSTI-<br />

SCHE MESSTECHNIK<br />

In der akustischen Messtechnik wird im<br />

Rahmen des Projekts »akustische Holographie«<br />

Neuland betreten. Ziel ist es, die<br />

Fähigkeit von Fledermäusen, sich auf der<br />

Basis von Ultraschall zu orientieren, technisch<br />

nachzubilden. Fledermäuse können<br />

bei Dunkelheit gespannten Drähten ausweichen<br />

und fliegende Insekten fangen.<br />

ABBILDUNG 6<br />

a) Multisensorkoordinatenmessgerät;<br />

b) Messkamera (MK) und Messtaster (MT);<br />

c) Fasertaster im Einsatz;<br />

d) Tastkugel des Fasertasters an Mikrozahnrad;<br />

e) Messprinzip des Fasertasters.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

43<br />

RAINER TUTSCH<br />

(Prof. Dr.-Ing.); Jg. 1959; Studium der<br />

Physik an der <strong>Universität</strong> Düsseldorf;<br />

dort arbeitete er von 1984 bis 1985<br />

als wissenschaftlicher Angestellter<br />

auf dem Gebiet der optischen Spektroskopie;<br />

1985 Wechsel zum Fraunhofer-Institut<br />

für Produktionstechnologie<br />

(IPT),Aachen, ab 1989 Leiter<br />

der Gruppe »optische Messtechnik«<br />

und ab 1991 Leiter der Abteilung<br />

»Mess- und Qualitätstechnik«; 1994<br />

Promotion an der RWTH Aachen;<br />

1995 bis 2000 Entwicklungsleiter<br />

und Mitglied der Geschäftsleitung in<br />

einem Unternehmen des MAN-Konzerns<br />

in München, dort Arbeiten zur<br />

Mess- und Regelungstechnik für den<br />

Offsetdruck-Prozess; seit Dezember<br />

2000 ist Dr.Tutsch Professor für<br />

Produktionsmesstechnik an der TU<br />

<strong>Braunschweig</strong>.


44 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Heutige technische Systeme sind von dieser<br />

Leistungsfähigkeit noch weit entfernt. Sonargeräte<br />

und medizinische Ultraschalldiagnostik<br />

arbeiten mit Ankopplung über Flüssigkeiten.<br />

Dort ist die Dämpfung des Schalls<br />

wesentlich geringer, und höhere Frequenzen<br />

sind möglich. In Luft wird Ultraschall<br />

zurzeit lediglich zur Abstandsmessung verwendet,<br />

etwa bei Einparkhilfen für PKWs.<br />

Unser Ziel ist die hochauflösende 3-D-<br />

Messung mit Schallwellen. Dabei wird das<br />

Prinzip der optischen Holographie auf die<br />

Akustik übertragen. Die optische Holographie<br />

basiert darauf, dass die Information<br />

über die dreidimensionale Gestalt eines Gegenstandes<br />

dadurch gespeichert werden<br />

kann, dass die Amplituden- und Phasenverteilung<br />

einer am Objekt reflektierten Welle<br />

aufgezeichnet wird (Abb. 7). In gleicher<br />

Weise soll im Rahmen dieses Projekts die<br />

Amplituden- und Phasenverteilung von an<br />

einem Objekt reflektierten akustischen<br />

Wellen ausgewertet und daraus die dreidimensionale<br />

Gestalt des Objekts bestimmt<br />

werden.<br />

MESSTECHNIK IN DAS<br />

QUALITÄTSMANAGEMENT<br />

INTEGRIEREN<br />

Ziel der Weiterentwicklung der industriellen<br />

Messtechnik ist die Integration in das<br />

unternehmensweite Qualitätsmanagement.<br />

Die systematische Umsetzung der Prinzipien<br />

des Qualitätsmanagements hat im vergangenen<br />

Jahrzehnt zu einer Wandlung der<br />

Rolle der Fertigungsmesstechnik geführt.<br />

Stand die Prüfung ursprünglich am Ende<br />

eines Produktionsprozesses und hatte<br />

primär Sortier- und Kontrollaufgaben, so<br />

ABBILDUNG 8<br />

Aufbau eines Qualitätsregelkreises durch Rückführung von<br />

Prüfinformationen in den Fertigungsprozess.<br />

ABBILDUNG 7<br />

a) Aufnahme eines optischen Hologramms;<br />

b) Rekonstruktion eines dreidimensionalen Bildes aus einem Hologramm;<br />

c) Messung der Amplituden- und Phasenverteilung eines am Objekt reflektierten<br />

Schallfeldes in der akustischen Holographie.<br />

steht nun die Rückführung der Prüfinformation<br />

in den Prozess im Vordergrund (Abb.<br />

8). Fehlerhafte Produkte sind Indizien für<br />

Fehler im Fertigungsprozess. Das Aussortieren<br />

dieser Fehlteile ist lediglich ein Kurieren<br />

an den Symptomen. Erst die Behebung<br />

der Prozessfehler führt zur Beseitigung der<br />

Ursachen. Vor einem Eingriff in den Prozess<br />

muss allerdings mit statistischen Verfahren<br />

sichergestellt werden, dass kein »Ausreißer«<br />

vorliegt. Derartig qualitätsgeregelte<br />

Produktionsprozesse erweisen sich als stabil<br />

gegen äußere Störeinflüsse.<br />

In der Praxis werden Produktionsprozesse<br />

sinnvoll in Teilprozesse gegliedert, die jeweils<br />

für sich einen Qualitätsregelkreis erhalten.<br />

Die Fülle der anfallenden Prüfinformationen<br />

wird aufbereitet, konzentriert<br />

und in einer unternehmensweiten Qualitätsdatenbasis<br />

allen Bereichen des Unternehmens<br />

zur Verfügung gestellt (Abb. 9).<br />

Mit diesen Daten können zum Beispiel<br />

Lieferanten beurteilt, die Fähigkeit von<br />

Maschinen und Prozessen ermittelt oder<br />

Schwachstellen in Konstruktionen erkannt<br />

werden.<br />

Die Herausforderung bei der Umsetzung<br />

dieses Ansatzes ist die Extraktion der wichtigen<br />

und verwertbaren Informationen aus<br />

der immensen Datenmenge, die während<br />

des Produktionsprozesses anfällt. Für die<br />

Entwicklung effizienter Qualitätsdatenbanken<br />

und so genannter Data-Mining-Strategien<br />

besteht noch großer Handlungsbedarf.<br />

Industrielle Messtechnik ist kein Selbstzweck,<br />

sondern soll die Fertigung oder die<br />

Entwicklung von Produkten unterstützen.<br />

Das Team des Instituts für Produktionsmesstechnik<br />

arbeitet daher in den meisten<br />

Projekten in enger Kooperation mit anderen<br />

Instituten oder mit Partnern aus der Industrie.<br />

Wir sind gerne bereit, auch mit<br />

Ihnen über Ihre aktuellen Messprobleme<br />

zu sprechen.* ■<br />

* Kontakt:<br />

TU <strong>Braunschweig</strong><br />

Institut für Produktionsmesstechnik<br />

Prof. Dr. Rainer Tutsch<br />

Tel.: 0531/391-7020<br />

Fax: 0531/391-5837<br />

E-Mail: r.tutsch@tu-braunschweig.de<br />

ABBILDUNG 9<br />

Zerlegung eines Fertigungsprozesses in qualitätsgeregelte Teilprozesse<br />

und Speicherung von Qualitätsinformationen in einer<br />

unternehmensweiten Qualitätsdatenbank.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


46 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

TU-COMPUTER FÜR DEN<br />

WELTRAUMEINSATZ<br />

Computer, die an Bord von<br />

Satelliten oder Raumsonden zum<br />

Einsatz kommen, steuern<br />

wissenschaftliche Instrumente, etwa<br />

Kameras zur Planetenerkundung. Der<br />

Einsatz im Weltraum stellt hohe<br />

Anforderungen an diese Rechner. Sie<br />

müssen klein und leicht sein, dürfen<br />

nur wenig Energie verbrauchen, und<br />

sie müssen den im Weltraum<br />

herrschenden Bedingungen<br />

standhalten, etwa gefährlichen<br />

Strahlungen oder extremen<br />

Temperaturschwankungen. Zudem ist<br />

Zuverlässigkeit oberstes Gebot.<br />

Notwendig ist auch die Entwicklung<br />

kleinerer Rechner mit größerer<br />

Datenspeicherkapazität, an der<br />

Professor Dr. Harald Michalik und<br />

seine Mitarbeiter zurzeit unter<br />

anderem arbeiten.<br />

Die Arbeitsgruppe »Kompaktrechner<br />

für die Raumfahrt« am Institut<br />

für Datentechnik und Kommunikationsnetze<br />

(IDA) der TU erforscht und<br />

entwickelt spezialisierte Computersysteme<br />

und Halbleitermassenspeicher. Diese kompakten<br />

Rechnersysteme werden zur Steuerung<br />

wissenschaftlicher Instrumente auf<br />

Raumsonden eingesetzt. Die Speicher die-<br />

VON HARALD MICHALIK<br />

Institut für Datentechnik und Kommunikationsnetze (IDA)<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

ABBILDUNG 1<br />

Integration der Rosetta-Sonde.<br />

nen als »Festplatte« zur Datenspeicherung<br />

an Bord von Satelliten und Raumsonden.<br />

Warum sind eigentlich für diese Aufgaben<br />

Rechner an Bord eines Raumfahrzeuges<br />

notwendig, und warum müssen dazu spezielle<br />

Systeme eingesetzt werden?<br />

Der Hauptgrund liegt in der Funkverbindung<br />

zwischen Bodenstation und Raumfahrzeug.<br />

Diese kann in der Regel nicht<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


ständig betrieben werden. Ein Satellit in<br />

erdnaher Umlaufbahn hat am Tag nur einige<br />

Funkkontakte von jeweils wenigen Minuten<br />

Dauer zu einer Bodenstation. Zudem<br />

ist die übertragbare Datenrate durch die<br />

Sendeleistung begrenzt. An Bord einer<br />

Raumsonde ist insbesondere elektrische<br />

Leistung eine knappe Ressource.<br />

Es lohnt sich also, automatische Steuerungen<br />

durch Rechner an Bord einer Raumsonde<br />

zu installieren. Auch Datenspeicherung<br />

an Bord ist notwendig, damit die Messungen<br />

von Instrumenten nicht durch die Bodenkontaktzeiten<br />

begrenzt werden.<br />

Von der Rechenleistung und Speicherkapazität<br />

her gesehen, würde ein heute üblicher<br />

PC oder ein Notebook durchaus ausreichen,<br />

um zum Beispiel einen Satelliten<br />

zu steuern oder die an Bord anfallenden<br />

Daten bis zum nächsten Bodenkontakt zwischenzuspeichern.<br />

Jedoch sind im Handel<br />

zu erwerbende Rechner aufgrund der Umweltbedingungen<br />

nicht tauglich für den<br />

Weltraumeinsatz. Neben mechanischer Beanspruchung<br />

beim Raketenstart, Vakuum<br />

und großen Temperaturschwankungen<br />

macht der modernen Elektronik im Weltraum<br />

vor allem die Strahlungsumgebung zu<br />

schaffen. In Erdnähe ist dies der so genannte<br />

Van-Allen-Gürtel, in dem hochenergetische<br />

Teilchen durch das Erdmagnetfeld gefangen<br />

sind. Bei interplanetaren Missionen<br />

sind die Raumsonden dem Sonnenwind<br />

ausgesetzt oder durchqueren Strahlungsgürtel<br />

von Planeten.<br />

ABBILDUNG 2<br />

Flugbahn der Rosetta-Sonde.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

COMPUTER WELTRAUM-<br />

BEDINGUNGEN ANPASSEN<br />

Die Computersysteme müssen daher diesen<br />

Umgebungsbedingungen angepasst werden<br />

und sollen auch, anders als ein Notebook,<br />

oft nach zehn Jahren oder mehr noch zuverlässig<br />

funktionieren. Ein gutes Beispiel<br />

dafür ist die wissenschaftliche Mission Rosetta,<br />

die von der europäischen Weltraumagentur<br />

ESA durchgeführt wird.<br />

Rosetta ist eine Sonde, die Anfang 2003<br />

gestartet wird und zum Kometen Wirtanen<br />

fliegen soll, um in der Nähe des Kometen<br />

über längere Zeit Messungen vorzunehmen<br />

und eine Tochtersonde auf dem Kometen<br />

abzusetzen. Auf dem langen Wege dorthin<br />

sind unter anderem Vorbeiflüge an Asteroiden<br />

geplant. Die eigentlichen Messungen<br />

am Kometen finden ab 2011 statt. Beendet<br />

wird die Mission voraussichtlich im Jahre<br />

2013. Die Arbeitsgruppe am IDA hat für<br />

diese aktuelle Mission Beiträge zu zwei wissenschaftlichen<br />

Instrumenten geliefert.<br />

Für das Massenspektrometer ROSINA –<br />

Rosetta Orbiter Spectrometer for Ion and<br />

Neutral Analysis –, das mit mehreren Sensoren<br />

die Teilchenzusammensetzung um<br />

den Kometen analysieren soll, hat das IDA<br />

den Instrumentenrechner, eine so genannte<br />

DPU (Digital Processing Unit), gebaut und<br />

programmiert. Der Rechner beinhaltet in<br />

einem etwa würfelförmigen Gehäuse von<br />

circa zwölf Zentimetern Kantenlänge alle<br />

Funktionen, um die Sensoren zu steuern,<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

47<br />

HARALD MICHALIK<br />

(Prof. Dr.-Ing.); Jg. 1957; Studium<br />

der Elektrotechnik an der TU <strong>Braunschweig</strong>;<br />

ab 1982 wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am TU-Institut für Datenverarbeitungsanlagen,Abteilung<br />

Instrumentenrechner für Weltraumexperimente;<br />

1991 Promotion mit<br />

einer Dissertation zum Thema »Bewegungskorrekturlangzeitbelichteter<br />

Bilder bei satellitengestützten<br />

Kameras«; 1991-1993 Projektingenieur<br />

im Bereich Raumfahrttechnologie<br />

mit den Schwerpunkten<br />

System- und Software-Engineering<br />

bei der OHB-System GmbH, dort<br />

ab 1993 Leiter der Abteilung<br />

Extraterrestrik;1993-2001 Professor<br />

für Informationstechnik an der Hochschule<br />

Bremen, Mit-Initiator der<br />

Gründung des fächerübergreifenden<br />

Instituts für Aerospace-Technologie<br />

und dessen stellvertretender Leiter;<br />

seit 2001 Professor an der TU <strong>Braunschweig</strong>.


48 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Messdaten aufzunehmen und Daten für die<br />

Telemetrie zur Erde aufzubereiten. Unter<br />

anderem werden die Daten der aufgenommenen<br />

Spektren komprimiert, um die knappe<br />

Übertragungsrate besser auszunutzen.<br />

Die geforderte Zuverlässigkeit des Rechners<br />

wird durch spezielle Bauteileauswahl, Fehlerkorrekturmaßnahmen<br />

und redundante<br />

Auslegung von Funktionsgruppen erreicht.<br />

Darüber hinaus ist der Rechner zusammen<br />

mit den übrigen Teilen des Instruments in<br />

enger Kooperation mit den Hauptverantwortlichen<br />

für das Instrument am Physikalischen<br />

Institut der <strong>Universität</strong> Bern intensiven<br />

Tests unterzogen worden.<br />

Für ein weiteres Instrument auf der Rosetta-Sonde,<br />

die Multifunktionskamera OSIRIS<br />

(Optical, Spectroscopic and Infrared Imaging<br />

System), hat das IDA ebenfalls Beiträge<br />

zur DPU geliefert. Hier ist neben dem Bilddatenmassenspeicher<br />

vor allem ein am IDA<br />

entwickeltes Softwaresystem zu nennen,<br />

das es den Wissenschaftlern am Max-Planck-<br />

ABBILDUNG 3<br />

Der ROSINA-Instrumentenrechner.<br />

Institut für Aeronomie in Lindau am Harz<br />

während der Kometenmission ermöglicht,<br />

die Kamera wie ein Observatorium zu betreiben:<br />

Trotz der großen Entfernung zum<br />

Messinstrument kann die komplexe Kamera<br />

von der Erde aus flexibel gesteuert werden.<br />

So sind im Prinzip auch bildinhaltsgesteuerte<br />

Messabläufe möglich. Diese Flexibilität<br />

ist gerade bei solchen Missionen wie<br />

Rosetta notwendig, weil es schwierig ist,<br />

Messabläufe schon Jahre vorher zu programmieren<br />

und weil darüber hinaus die<br />

große Entfernung von der Erde Direkteingriffe<br />

unmöglich macht.<br />

Die Rechner haben in beiden Fällen im<br />

Vergleich zu heutigen Pentium-PCs eine<br />

deutlich geringere Rechenleistung. Bei komplexeren<br />

Messaufgaben wie in der Erdbeobachtung<br />

mit zukünftigen Multispektralkameras<br />

oder Radarmessinstrumenten werden<br />

jedoch zum Teil auch in Raumfahrtanwendungen<br />

wesentlich höhere Rechenleistungen<br />

an Bord von Satelliten notwendig.<br />

ABBILDUNG 4<br />

ENVISAT-Speicher.<br />

ZUKUNFTSAUFGABE<br />

MINIATURISIERUNG<br />

In diesem Bereich erforscht die Arbeitsgruppe<br />

am IDA derzeit intensiv, wie mit den zur<br />

Verfügung stehenden Bauelementen zuverlässige<br />

und den Umweltbedingungen gerecht<br />

werdende Rechner für künftige Anwendungen<br />

gebaut werden können. Dabei<br />

spielt die Miniaturisierung eine große Rolle.<br />

Dies vorrangig jedoch nicht, um Volumen<br />

oder Masse zu sparen, sondern um bei kleinem<br />

Volumen des Rechners die Möglichkeit<br />

zu haben, ihn in einem dicken Aluminiumgehäuse<br />

zu verpacken. Durch diese<br />

Schirmung kann zumindest ein Teil der<br />

schädlichen Strahlungseffekte reduziert<br />

werden. Damit ist es möglich, den Rechner<br />

mit modernen kommerziellen Elektronikbauteilen<br />

aufzubauen – statt mit zwar<br />

strahlungsunempfindlichen, aber teuren<br />

und technologisch veralteten Bauelementen.<br />

Die Schirmung alleine reicht jedoch<br />

nicht, die Auslegung des Rechners muss<br />

fehlertolerant in Elektronik und Programmierung<br />

sein.<br />

Um die geforderte Rechenleistung in komplexen<br />

Instrumenten zu realisieren, werden<br />

zudem immer mehr Funktionen in kundenspezifische<br />

Chips verlagert. Hier arbeitet<br />

das Institut an so genannten Systems-on-<br />

Chip-Lösungen, die künftig die wesent-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


lichen Funktionen eines Instrumentenrechners<br />

auf einem Chip vereinen und damit<br />

die Miniaturisierung weiter vorantreiben<br />

werden. Erste Einsätze solcher »Mikro-<br />

DPUs« werden derzeit vorbereitet. Geplant<br />

ist, einen solchen Rechner integriert in<br />

einer wissenschaftlichen Mikrokamera auf<br />

einer Mission zur Venus im Jahre 2005 zu<br />

erproben.<br />

SPEICHERKAPAZITÄT<br />

ERHÖHEN<br />

Zunehmende Anforderungen werden auch<br />

an die Datenspeicher an Bord von Raumfahrzeugen<br />

gestellt. Für den gerade in Betrieb<br />

genommenen Umweltforschungssatelliten<br />

ENVISAT wurde ein Halbleiterdatenspeicher<br />

mit einer Kapazität von circa<br />

neun Gigabyte für Datenraten bis zu 110<br />

Megabit pro Sekunde unter Beteiligung des<br />

IDA in enger Kooperation mit der Firma<br />

Astrium in Friedrichshafen entwickelt. Auf<br />

jedem der sieben Speichermodule mit einer<br />

Fläche vom 22 mal 25 Zentimetern konnte<br />

jeweils etwas mehr als ein Gigabyte untergebracht<br />

werden.<br />

Für künftige Satelliten sind am IDA derzeit<br />

Module mit 16 Gigabyte Kapazität auf<br />

etwa der gleichen Größe und mit höheren<br />

Datenraten von bis zu zwei Gigabit pro Sekunde<br />

in der Entwicklung. Mit einigen wenigen<br />

Modulen lassen sich somit schnelle<br />

Systemspeicher von circa 100 Gigabyte<br />

Kapazität problemlos realisieren. Diese<br />

Speichermodule sind mit kommerziellen<br />

Speicherchips aufgebaut und ebenfalls<br />

durch Entwurfsmaßnahmen wie redundante<br />

Auslegung und autonome Fehlerkorrektur<br />

äußerst zuverlässig.<br />

NEUE TESTSYSTEME<br />

NOTWENDIG<br />

Die spezialisierten Rechner und Speicher<br />

werden schon während ihrer Entwicklung<br />

und vor ihrer Montage auf das Raumfahrzeug<br />

intensiven Funktions- und Umwelttests<br />

unterzogen. Dafür werden ebenso spezialisierte<br />

Testsysteme benötigt, die leicht<br />

konfigurierbar sein müssen und die genauso<br />

wie die Testobjekte mit hohen Datenraten<br />

betrieben werden können.<br />

Da kommerziell verfügbare Tester mindestens<br />

eine der Anforderungen nicht erfül-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 5<br />

16-Gigabyte-Speichermodul.<br />

len, beschäftigt sich die Arbeitsgruppe am<br />

IDA auch mit der Entwicklung von Testsystemen.<br />

Sie basieren auf handelsüblichen<br />

PCs und werden am IDA mit zusätzlicher<br />

Elektronik versehen sowie mit dem speziell<br />

entwickelten Softwaresystem GSEOS betrieben.<br />

Diese Software unterstützt sowohl<br />

die leichte Konfigurierbarkeit als auch den<br />

hohen Datendurchsatz. Zudem können mit<br />

diesem Softwaresystem die Testsysteme für<br />

einen Einsatz als Datenanalysegerät während<br />

der späteren Raumfahrtmission konfiguriert<br />

werden. Diese Testsysteme sind<br />

inzwischen so erfolgreich, dass sie auch<br />

von anderen Anwendern – zum Beispiel in<br />

der Medizintechnik – eingesetzt werden.<br />

Weitere Betätigungsfelder der Arbeitsgruppe<br />

sind die Durchführung von Strahlungstests<br />

mit elektronischen Bauteilen<br />

sowie Zuverlässigkeits- und Strahlungseffektanalysen<br />

von Baugruppen. Beides ist<br />

notwendig, um eine verlässliche Basis für<br />

die Entwicklung der Rechner und Speichersysteme<br />

für zukünftige wissenschaftliche<br />

Missionen und für Anwendungen in der<br />

Erdbeobachtung zu erhalten.<br />

Mit ihren Aktivitäten hat sich die Arbeitsgruppe<br />

in mehr als 30 Jahren eine hervorragende<br />

Position bei internationalen Raumfahrtprojekten<br />

erworben. Es bestehen Ko-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

operationen mit vielen wissenschaftlichen<br />

Institutionen in Europa und den USA sowie<br />

zu Raumfahrtfirmen.<br />

Natürlich werden die Erkenntnisse auch<br />

an die Studierenden weitergegeben. Der<br />

Autor, der die 15-köpfige Gruppe seit Mitte<br />

des letzten Jahres leitet, sowie Professor<br />

Dr. Fritz Gliem, der für die Gruppe vorher<br />

mehr als 30 Jahre verantwortlich war, bieten<br />

einschlägige Vorlesungen zur Elektronik<br />

in der Raumfahrt an – dies auch in Kooperation<br />

mit weiteren TU-Wissenschaftlern,<br />

die raumfahrtbezogene Fragestellungen<br />

bearbeiten, beispielsweise aus dem Institut<br />

für Luft- und Raumfahrtsysteme. Darüber<br />

hinaus sind Studierende über Diplom- und<br />

Studienarbeiten an den interessanten Projekten<br />

der Arbeitsgruppe beteiligt. ■<br />

49


52 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

KLIMAEINFLUSS DURCH CO 2 IN<br />

DER ATMOSPHÄRE – DIE ROLLE<br />

DES »TREIBHAUS-EFFEKTES«<br />

Der Autor weist darauf hin,<br />

dass der »Treibhaus-Effekt« in<br />

einem Gewächshaus nicht genau<br />

dem Effekt der Klimaerwärmung<br />

durch die Existenz von CO 2 in<br />

der Erdatmosphäre entspricht.<br />

Während bei Sonneneinstrahlung<br />

in einem<br />

Gewächshaus vor allem eine<br />

Wärmeabfuhr durch Luftkonvektion<br />

nicht möglich ist, ist<br />

die Erwärmung der Erde eine<br />

Folge der zum Teil verhinderten<br />

Strahlungskühlung. Eine<br />

einfache Modellberechnung des<br />

Verfassers zeigt für einen<br />

konkreten Fall erhöhter<br />

CO 2-Belastung mit realistischen<br />

Annahmen, dass sich die mittlere<br />

effektive Erdoberflächentemperatur<br />

um drei<br />

Grad Celsius erhöht.<br />

Geowissenschaftler und Ökologen<br />

diskutieren den schädlichen Einfluss<br />

einer erhöhten Konzentration<br />

an Kohlensäure-Gas (molekularer Bestandteil:<br />

CO 2 ) auf das Klima der Erde. Es<br />

wird eine weltweite Anhebung der Durchschnittstemperatur<br />

an der Erdoberfläche befürchtet.<br />

Wenn diese Erhöhung auch nur<br />

VON FRANZ RUDOLF KESSLER *<br />

Institut für Halbleiterphysik und Optik<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

Hat der »Treibhaus-Effekt« Einfluss auf das Leben auf der Erde?<br />

wenige Grad beträgt, ergeben sich bereits<br />

zum Teil verheerende Folgen für die Besiedlung<br />

der Erde. Ein Beispiel ist das erwartete<br />

Abschmelzen des Eises an den Polkappen<br />

der Erde mit der Konsequenz des Anstiegs<br />

des Wasserstandes der Ozeane – derart,<br />

dass heutige Uferbereiche und Inseln in<br />

größerem Umfang überschwemmt und<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


damit nicht mehr wie bisher bewohnbar<br />

sein werden.<br />

Als Grund für die globale Erwärmung<br />

wird der »Treibhaus-Effekt« zitiert, über<br />

dessen Art, Zustandekommen und Ausmaß<br />

jedoch häufig falsche beziehungsweise kontroverse<br />

Vorstellungen zirkulieren [1].<br />

Kurz gesagt: Es handelt sich bei dem<br />

»Treibhaus-Effekt« um die Erwärmung<br />

eines Raumes unter Einwirkung einfallender<br />

Sonnenstrahlung; dabei wird gleichzeitig<br />

die Abkühlung des Raumes durch Konvektion<br />

der Luft weitgehend verhindert.<br />

Auf diese Weise kommen relativ beträchtliche<br />

Temperaturerhöhungen über die Umgebungstemperatur<br />

zustande. Bei genauerer<br />

quantitativer Analyse der Temperaturerhöhung<br />

müssen zwar noch die zusätzlichen<br />

Abkühlungsphänomene des Raumes durch<br />

Wärmeleitung und Wärmestrahlung berücksichtigt<br />

werden. Diese Einflüsse sind jedoch<br />

im Allgemeinen relativ klein, und sie<br />

hängen überdies von zahlreichen, im Einzelfall<br />

unterschiedlichen Materialien und<br />

Konstruktionsdetails ab, sodass bei einer<br />

einführenden Erläuterung zum Thema<br />

»Treibhaus-Effekt« von ihnen absehen werden<br />

kann.<br />

DIE ERDE – KEIN<br />

»GÄRTNER-TREIBHAUS«<br />

Beim Treibhaus der Gärtner wird die Luftkonvektion<br />

im Innern und der Luftaustausch<br />

mit der Außenwelt durch die Verglasung<br />

weitgehend verhindert, während die –<br />

direkte und/oder diffus gestreute – Sonnenstrahlung<br />

praktisch ungehindert in den<br />

Raum gelangt und dort fast zu 100 Prozent<br />

absorbiert, das heißt in Wärme umgesetzt<br />

wird. Diese »Heizleistung« der Sonne, und<br />

das ist ein wesentlicher Aspekt des »Treibhaus-Effektes«,<br />

wird überwiegend durch<br />

Photonen des sichtbaren Spektralbereichs,<br />

das heißt mit Quanten-Energien zwischen<br />

1,59 [eV] und 3,26 [eV], transportiert, für<br />

die das Glas durchlässig und das menschliche<br />

Auge als Sinnesorgan empfindlich ist.<br />

Diese Heizleistung kann in voller Sonne in<br />

unseren Breitengraden – in einer Ebene<br />

senkrecht zum Sonnenstrahl gemessen –<br />

etwa 600 bis 900 Watt pro Quadratmeter<br />

betragen.<br />

Im Rahmen der Diskussion des mittleren<br />

Klimas beziehungsweise der mittleren Temperatur<br />

der Erde ist diese als Ganzes als rie-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

siger Raum zu verstehen, auf den die Sonne<br />

scheint. Was nun den Einfluss von Kohlensäuregas<br />

in der hohen Atmosphäre auf das<br />

Klima beziehungsweise die Temperatur betrifft,<br />

so reduziert sich die Diskussion auf<br />

die Frage, ob eine dortige CO 2 -Gasschicht<br />

wie eine Art »Verglasung« wirkt, die eine<br />

Temperaturerhöhung zur Folge hat. Diese<br />

Frage zu beantworten, heißt jedoch gerade,<br />

vornehmlich die Abkühlungsverhältnisse<br />

der Erde durch ihre Abstrahlung in das<br />

Weltall zu betrachten.<br />

Es ist nämlich bei der geringen Dichte der<br />

hohen Erdatmosphäre und dem weitgehend<br />

fehlenden Gasaustausch mit dem Vakuum<br />

des Weltalls gerade der Konvektionsanteil<br />

als Kühlungsmechanismus der vernachlässigbare!<br />

Insofern findet im Vergleich<br />

mit dem Gärtner-Treibhaus ein »Pferdewechsel«<br />

statt, der den unmittelbaren Vergleich<br />

mit dem dortigen, das heißt dem eigentlichen<br />

»Treibhaus-Effekt« etwas »hinken«<br />

lässt und dem Laien im Allgemeinen<br />

Verständnisschwierigkeiten beschert.<br />

Im Folgenden soll deshalb der Versuch<br />

unternommen werden, den »Treibhaus-Effekt«<br />

in der Erdatmosphäre physikalisch<br />

auf der Basis des Strahlungsaustausches<br />

zunächst ohne und dann mit CO 2 -Beimischung<br />

in der hohen Atmosphäre in vereinfachter<br />

Form zu erläutern, jedoch mit dem<br />

Ziel, die Kenntnis der ungefähren Größe<br />

der bei CO 2 -Existenz zu erwartenden<br />

Klima-Temparaturerhöhung, die, wie sich<br />

zeigen wird, etwa zwei bis fünf Grad Celsius<br />

(C) betragen könnte, quantitativ zu<br />

gewinnen.<br />

STATIONÄRE TEMPERATUR<br />

IM STRAHLUNGS-<br />

GLEICHGEWICHT<br />

Die Oberflächentemperatur der Erde ist die<br />

notwendige Folge einer Wärmezufuhr und<br />

einer Wärmeabfuhr. Im Gleichgewichtsfall,<br />

das heißt, wenn sich beide Wärmeströme<br />

gegenseitig aufheben, ist die Temperatur<br />

zeitlich konstant. Nach langjährigen Messungen<br />

ist eine derartige Konstanz derzeit<br />

gegeben.<br />

Der Wärmezustrom in die Oberfläche –<br />

einschließlich der darüber befindlichen Atmosphäre<br />

– besteht aus der in der Oberfläche<br />

absorbierten Sonnenstrahlung und<br />

aus dem, überwiegend durch Wärmeleitung,<br />

aus dem heißen Erdinnern zugeführ-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

53<br />

FRANZ RUDOLF<br />

KESSLER<br />

(Prof. Dr. phil.); Jg. 1927; 1948-1954<br />

Studium der Physik, Mathematik und<br />

Physikalischen Chemie an den <strong>Universität</strong>en<br />

Köln und Freiburg i. Br.,<br />

1954 Promotion mit einer physikalischen<br />

Arbeit zum Dr. phil. an der <strong>Universität</strong><br />

Köln; 1955-58 Wissenschaftlicher<br />

Assistent/Oberassistent an der<br />

<strong>Universität</strong> Köln und der <strong>Universität</strong><br />

des Saarlandes, Saarbrücken; 1959<br />

Habilitation für Physik; 1961 Diätendozent;<br />

1964 ordentlicher Professor<br />

für Physik und Direktor des neu gegründeten<br />

»Instituts B für Physik«<br />

[des heutigen »Instituts für Halbleiterphysik<br />

und Optik«] an der TH<br />

<strong>Braunschweig</strong>; 1992 Emeritierung;<br />

Akadem. Ämter an der <strong>Carolo</strong><br />

<strong>Wilhelmina</strong>: Leiter der Naturwiss.<br />

Abteilung (1967-69), Dekan der<br />

Naturwiss. Fakultät (1971-73),<br />

Dekan des Fachbereichs für Physik<br />

und Geowissenschaften (1987-89);<br />

Mitgliedschaften: 1969-92 Mitglied,<br />

ab 1992 korrespondierendes Mitglied<br />

der <strong>Braunschweig</strong>ischen Wissenschaftlichen<br />

Gesellschaft, 1978-<br />

93 Kurator der PTB, Mitglied zahlreicher<br />

Gremien, Kommissionen und<br />

Ausschüsse, unter anderem der DFG<br />

und des Landes Niedersachsen.


54 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 1<br />

Spektrale Abstrahlungsleistung der Erde bei 4,9° Celsius; die unteren Kurvenstücke gelten für<br />

CO 2 -Existenz.<br />

ten Wärmestrom (Stichwort »Geowärme«).<br />

Letzterer ist jedoch neben der solaren Erwärmung<br />

vernachlässigbar klein. Insgesamt<br />

wird im zeitlichen und räumlichen Mittelwert<br />

der Erdoberfläche ziemlich genau<br />

1*10 14 kWatt 1 an Wärmeleistung zugeführt.<br />

Da sich die Erde als Ganzes, ihre Atmosphäre<br />

eingeschlossen, nicht anders kühlen<br />

kann als durch die Wärmeabfuhr in der<br />

Form der Wärmestrahlung in das Weltall,<br />

ist der abgeführte Wärmestrom mithilfe der<br />

Strahlungsgesetze der Temperaturstrahlung<br />

zu berechnen. Diese Strahlungsgesetze in<br />

ihrer korrekten Kombination und Integration<br />

sind die Gesetze nach Planck, Kirchhoff<br />

und Lambert-Beer. Man kann in erster<br />

Näherung davon ausgehen, dass nur das<br />

Planck’sche Strahlungsgesetz die Frequenzabhängigkeit<br />

der Strahlungsanteile innerhalb<br />

der emittierten Gesamtstrahlung bestimmt.<br />

Das heißt, die Spektralfunktion des<br />

Emissionsgrades für die Temperaturstrahlung<br />

der Erde wird in vereinfachender Annahme<br />

als im relevanten infraroten Spektralbereich<br />

konstant vorausgesetzt. Auch<br />

wird in diesem Spektralbereich der Emissionsgrad<br />

im relativ kleinen Temperaturintervall<br />

von 4,9° bis 9,9° C als temperaturkonstant<br />

angenommen. Die damit allein aus<br />

dem Planck’schen Strahlungsgesetz folgende<br />

Kenntnis der Spektralfunktion und der<br />

Temperaturabhängigkeit der emittierten<br />

Temperaturstrahlung der Erde erlaubt es,<br />

das zur Diskussion stehende Thema des<br />

»Treibhaus-Effektes« beim Erdklima unter<br />

CO 2 -Einfluss quantitativ zu erörtern. Eine<br />

entsprechende spektrale Integration liefert<br />

dabei den Wert der abgegebenen Gesamtstrahlungsleistung<br />

und deren Temperaturabhängigkeit<br />

in dem genannten Temperaturintervall.<br />

Die Abbildung 1 zeigt in dem »oberen«<br />

glatten Kurvenverlauf die entsprechende<br />

Spektralverteilung der abgehenden Wärmestrahlung<br />

ohne CO 2 -Einfluss. Aufgetragen<br />

ist die »spektrale Abstrahlungsleistung«, das<br />

heißt die abgehende Strahlungsleistung pro<br />

Intervall dE der Photonenenergie als Funk-<br />

tion der Photonenenergie E bei der (mittleren!)<br />

effektiven Erdoberflächentemperatur<br />

von 4,9° C. Die spektrale Abstrahlungsleistung<br />

ist dabei »in willkürlicher Einheit«<br />

([a. u.]) aufgetragen.<br />

Es ist eine Art »Glockenkurve« mit einem<br />

ausgeprägten Maximum und beidseitigem,<br />

allerdings unsymmetrischen Abfall auf null<br />

zu erkennen. Die Fläche unter der Kurve<br />

ist die insgesamt abgestrahlte Leistung der<br />

zur Diskussion stehenden Wärmestrahlung<br />

der Erde und damit dem obigen Wert<br />

1*10 14 kWatt im Sinne des gegebenen<br />

Gleichgewichtes von Wärmezufuhr und<br />

Wärmeabfuhr gleichzusetzen. Damit besteht<br />

eine eindeutige Zuordnung der Gesamtstrahlungsleistung<br />

zu der absoluten<br />

Temperatur in der Einheit »Kelvin« [K], die<br />

als Parameter im Planck’schen Strahlungsgesetz<br />

enthalten ist. Für die Erde ergibt sich<br />

damit für die bei der stationären Temperatur<br />

insgesamt abgestrahlte Leistung eine absolute<br />

(mittlere!) Temperatur von (273,15<br />

+ 4,9) [K] beziehungsweise eine mittlere effektive<br />

Oberflächentemperatur der Erde<br />

von 4,9° C (s. Abb. 1).<br />

Die mittlere Temperatur der Erdoberfläche<br />

beträgt zwar 14,3° C, aber die darüber<br />

gelagerte Atmosphäre, deren Emissionsanteil<br />

etwa die Hälfte ausmacht, ist kälter. So<br />

tritt hier mit 4,9° C als niedrigere »effektive<br />

Erdoberflächentemperatur« ein entsprechender<br />

Mittelwert in Erscheinung.<br />

ABBILDUNG 2<br />

Spektrale Abstrahlungsleistung der Erde bei 9,9° Celsius; die unteren<br />

Kurvenstücke gelten für CO 2 -Existenz.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


56 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

CO 2-EINFLUSS AUF DAS<br />

STRAHLUNGSGLEICH-<br />

GEWICHT<br />

Ist in der hohen Erdatmosphäre eine CO 2 -<br />

Konzentration hinreichender Größe vorhanden,<br />

so muss deren Einfluss auf den<br />

Wärmehaushalt, das heißt den Strahlungsaustausch<br />

der Erde, betrachtet werden.<br />

CO 2 -Gas besitzt ein Absorptionsspektrum,<br />

das sich bei Photonenenergien E unterhalb(!)<br />

von E = 0,86 [eV] bis herab zu E =<br />

0,08 [eV] in einem mehr oder weniger starken<br />

»Bandenspektrum« bemerkbar macht<br />

[3], [4]. Zunächst ist also festzustellen, dass<br />

für das Sonnenspektrum, das sich schwerpunktmäßig<br />

oberhalb (!) von E = 0,9 [eV]<br />

erstreckt, keine Absorption existiert. Deshalb<br />

bleibt die Wärmezufuhr auf die Erde<br />

durch die Sonneneinstrahlung praktisch ungeändert<br />

erhalten. Es verhält sich also eine<br />

CO 2 -Gasschicht in der hohen Atmosphäre<br />

gegenüber dem Sonnenlicht wie das Glas<br />

eines Treibhauses: Sie ist voll durchlässig.<br />

Anders sind die Verhältnisse bezüglich<br />

der von der Erde abgegebenen Wärmestrahlung:<br />

Speziell die beiden relativ starken<br />

Absorptionsbanden des CO 2 -Gases bei<br />

»A«: 14,8 [µm] und »B«: 4,3 [µm] Vakuumwellenlänge,<br />

denen Photonenenergien zwischen<br />

EA1 = 0,075 [eV] und EA2 = 0,99<br />

[eV] beziehungsweise zwischen EB1 = 0,26<br />

[eV] und EB2 = 0,31 [eV] zuzuordnen sind,<br />

führen dazu, dass ein nennenswerter Teil<br />

dieser Wärmestrahlung die Erde nicht mehr<br />

verlässt, weil er absorbiert wird. Damit ist<br />

dieser Anteil als »Kühlungsanteil« zunächst<br />

ausgeschieden. Als Folge wird sich die<br />

Erde – einschließlich ihrer Atmosphäre –<br />

erwärmen, bis bei einer etwas höheren<br />

Temperatur durch die dann verstärkte Abstrahlung<br />

von Temperaturstrahlung, vornehmlich<br />

auch in den absorbtionsfreien<br />

Spektralbereichen, ein neuer Gleichgewichtszustand<br />

– das heißt ein neues kompensatorisches<br />

Gleichgewicht von Wärmezufuhr<br />

und Wärmeabfuhr und damit Temperaturstabilität<br />

– erreicht wird.<br />

Die damit ausgelöste Temperaturerhöhung<br />

um den Wert ∆T gegenüber der stationären<br />

Temperatur von 4,9° C ohne CO 2 -<br />

Gas in der hohen Atmosphäre lässt sich mithilfe<br />

einer Modellrechnung unter einigen<br />

ergänzenden Annahmen ableiten: Bei der<br />

Absorption der Strahlung durch die CO 2 -<br />

Gasmoleküle werden diese zu inneren<br />

Schwingungen und Rotationsbewegungen<br />

angeregt. Ist die atmosphärische Gaskonzentration<br />

hinreichend gering, so kann die<br />

von den Molekülen aufgenommene Energie<br />

wiederum nur durch Abstrahlung abgegeben<br />

werden. Man spricht dann von »Resonanzfluoreszenz«<br />

, das heißt, es tritt eine<br />

Wiederabstrahlung (»Re-Emission«) auf.<br />

Diese Abstrahlung erfolgt jedoch aufgrund<br />

der gegebenen molekularen Bewegung statistisch<br />

in jede Richtung, also isotrop, in den<br />

gesamten Raum. Auf die Erde fällt infolge<br />

dieser 50%igen Rückstrahlung praktisch<br />

wieder die Hälfte der absorbierten Leistung<br />

zurück, während die andere Hälfte in das<br />

Weltall geht.<br />

Als Modellfall nehme man an, dass 40<br />

Prozent der Temperaturstrahlung der Erde<br />

zunächst absorbiert werden, soweit sie in<br />

eines der beiden oben genannten spektralen<br />

Absorptionsintervalle des CO 2 -Gases<br />

fallen. Die Rückstrahlung reduziert also in<br />

diesen Spektralbereichen die Kühlungsleistung<br />

auf 80 Prozent des Wertes ohne CO 2 -<br />

Gas. Innerhalb der beiden Absorptionsbereiche<br />

»A« und »B« sollen die Rückstrahlungsprozentsätze<br />

spektral gleich groß und<br />

konstant sein.<br />

Abbildung 1 zeigt neben dem Spektralverlauf<br />

der Temperaturstrahlung »ohne CO 2 -<br />

Einfluss« auch den gültigen Spektralverlauf<br />

der effektiv zur Kühlung abgestrahlten<br />

ABBILDUNG 3<br />

Gesamtemission der Erde in den Weltraum.<br />

Temperaturstrahlung der Erde »mit CO 2 -<br />

Einfluss« für die effektive Erdoberflächentemperatur<br />

von 4,9° C : Innerhalb der beiden<br />

Absorptionsbereiche »A« und »B« sind<br />

jetzt jeweils die unteren Funktionsstücke<br />

zu betrachten. In den beiden Spektralbereichen<br />

der Strahlungsabsorption durch das<br />

CO 2 -Gas ist die in den Weltraum abgegebene<br />

Strahlungsleistung entsprechend reduziert.<br />

Die abgegebene Gesamtstrahlungsleistung<br />

hat sich durch diesen CO 2 -Einfluss<br />

um etwa vier Prozent reduziert gegenüber<br />

dem Fall ohne Existenz einer CO 2 -Gasschicht.<br />

Abbildung 2 enthält die analoge Darstellung<br />

für eine angenommene effektive Erdoberflächentemperatur<br />

von 9,9° C . Auch<br />

hier beträgt die Reduktion der Gesamtstrahlungsleistung<br />

durch den CO 2 -Einfluss etwa<br />

vier Prozent.<br />

Abbildung 3 zeigt vergleichend die resultierende<br />

abgestrahlte Gesamtleistung zur<br />

Kühlung der Erde als Funktion der mittleren<br />

effektiven Erdoberflächentemperatur<br />

einmal ohne und einmal mit CO 2 -Gas. Es<br />

ist zu erkennen, dass die Funktionsgerade<br />

»mit CO 2 -Schicht« den 4,9°-C-Wert »ohne<br />

CO 2 -Schicht« und damit den derzeitigen<br />

Gleichgewichtswert zur Kompensation der<br />

solaren Wärmezufuhr wieder erreicht (s.<br />

den Schnittpunkt mit der horizontalen<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Geraden, die der Gesamtleistung der Wärmezufuhr<br />

durch Sonneneinstrahlung entspricht),<br />

wenn die mittlere effektive Erdoberflächentemperatur<br />

um den Wert ∆T =<br />

2,99° C gestiegen ist. 2<br />

Damit hat das Modell bei entsprechend<br />

erhöhter CO 2 -Gas-Konzentration in der<br />

hohen Erdatmosphäre einen Klima-Temperaturanstieg<br />

von fast genau 3° C ergeben –<br />

einen Richtwert, der mit den Ergebnissen<br />

sehr viel detaillierterer und spezifizierterer<br />

Rechnungen der Klimaforschung [1] in befriedigender<br />

Weise übereinstimmt. ■<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

LITERATUR<br />

1 Die große Zahl der Publikationen zu<br />

dem Themenkreis »Klima/Treibhauseffekt/Atmosphäre«<br />

kann und braucht an<br />

dieser Stelle nicht aufgelistet zu werden.<br />

Sie erschließt sich relativ leicht<br />

über das Internet mithilfe einer »Suchmaschine«,<br />

zum Beispiel www.google.de,<br />

bei Eingabe der drei oben genannten<br />

Suchbegriffe. Die Lektüre der in der<br />

Suchantwort unter anderem erscheinenden<br />

Ausführungen (http://www.<br />

giub.uni-bonn.de/fs/klima/1grundla.<br />

htm) der <strong>Universität</strong> Bonn mit dem<br />

Titel »1. Klima & Treibhauseffekt –<br />

Naturwissenschaftliche Grundlagen« sei<br />

als erstes empfohlen.<br />

2 F. R. Keßler, Woran wird der Fortschritt<br />

der Physik gemessen?, Heft 60 der<br />

»Schriftenreihe der Nordwestdeutschen<br />

<strong>Universität</strong>sgesellschaft«, Wilhelmshaven,<br />

Vortrag vom 9. Januar 1975.<br />

3 Cl. Schaefer und F. Matossi, Das Ultrarote<br />

Spektrum, Springer-Verlag, Berlin,<br />

1930.<br />

4 W. Brügel, Einführung in die Ultrarotspektroskopie,<br />

Verlag D. Steinkopf,<br />

Darmstadt, 2. Auflage 1957.<br />

FUSSNOTEN<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

* Privatanschrift: Professor em. Dr. Franz Rudolf<br />

Keßler,Am Krausberg 12, 52351 Düren.<br />

Homepage: http://franzrudolf.kessler.bei.<br />

t-online.de<br />

1 1*1014 ist die Zahl 1 mit 14 Nullen angehängt.<br />

Die Einheit 1 kWatt entspricht 1000 Watt.<br />

Dieser Zahlenwert entspricht den in der Literatur<br />

angegeben Werten. Es kommt hier jedoch nicht<br />

auf den genauen Zahlenwert an, vielmehr soll nur<br />

die Größenordnung vermittelt werden.<br />

Entsprechende Berechnungen zu diesem Zahlenwert<br />

finden sich in den wissenschaftlichen Standardwerken<br />

der Geophysik bzw. Klimatologie.<br />

Diesbezüglich sei auch auf das Literaturzitat [2]<br />

verwiesen.<br />

2 Für den relativ kleinen Temperaturbereich von<br />

4,9° C bis 9,9° C liegt, wie Zwischenrechnungen<br />

ergeben haben, in beiden Fällen eine quasi-lineare<br />

Abhängigkeit der abgestrahlten Gesamtleistung<br />

von der Temperatur vor.<br />

57


58 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

WISSEN AUS »GROSSMUTTERS<br />

HANDKÖRBCHEN« – HEILENDE<br />

FRAUEN IM 18. JAHRHUNDERT<br />

Bis zum Beginn des<br />

18. Jahrhunderts war es nicht<br />

ungewöhnlich, dass Frauen<br />

ohne akademische Ausbildung<br />

medizinische Behandlungen<br />

durchführten. Es gab<br />

zahlreiche kompetente Frauen,<br />

die ein handwerklich<br />

orientiertes, empirisches<br />

Wissen besaßen, das sie<br />

zumeist durch mündliche<br />

Überlieferung erworben<br />

hatten. Seit Mitte des<br />

Jahrhunderts wurde unter<br />

anderem durch die<br />

Interessenpolitik der studierten<br />

Ärzte, die ihre Einnahmen<br />

durch die ungeliebte<br />

Konkurrenz gefährdet sahen,<br />

die Heiltätigkeit von Frauen<br />

stärker eingeschränkt.<br />

ABBILDUNG 1<br />

Das Mutterkorn – spätestens ab dem 18. Jahrhundert<br />

zur Beschleunigung der Wehentätigkeit<br />

eingesetzt.<br />

Am 19. September 1750 stellte die<br />

Redaktion der <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />

Anzeigen ihrer Leserschaft folgende<br />

»Aufgabe« (75. St., S. 1512): »Hat die,<br />

in der Medicin sehr erfahrne, Margaretha<br />

von Polen, vom Könige Ladislao wirklich<br />

die Freyheit erhalten, andere zu curiren;<br />

und sind mehrere Exempel vorhanden, dass<br />

man solches den Frauenspersonen erlaubt<br />

hat?«<br />

FAST EINE<br />

BRAUNSCHWEIGER<br />

QUERELLE DES FEMMES<br />

Dass im Mittelalter ein König einer Frau<br />

ganz offiziell das Kurieren erlaubt haben<br />

sollte, erschien den Verfassern der »Aufgabe«<br />

offensichtlich höchst ungewöhnlich.<br />

Die Redaktion hoffte vermutlich auf Zuschriften<br />

im Sinne eines Wettstreits und<br />

wohl auch auf Diskussionsbeiträge zum<br />

Thema »Frauen als Ärztinnen«. Das Thema<br />

war zu diesem Zeitpunkt gerade äußerst aktuell.<br />

1741 hatte die preußische Regierung<br />

der Arzttochter Dorothea Leporin, später<br />

Erxleben, gemeinsam mit ihrem Bruder die<br />

Genehmigung zum Studium der Medizin<br />

erteilt. Dieser Vorgang, zusammen mit<br />

VON BETTINA WAHRIG<br />

Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften<br />

mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

einer Streitschrift der Kandidatin »Gründliche<br />

Untersuchung der Ursachen, die das<br />

Weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten«<br />

(1742), hatte eine zum Teil polemisch<br />

geführte Debatte darüber ausgelöst, ob es<br />

Frauen erlaubt sein sollte, in die höheren<br />

Schulen und <strong>Universität</strong>en und in der Folge<br />

auch in die bisher männlich beherrschten<br />

Berufsfelder vorzudringen. Dorothea Erxleben<br />

erwarb schließlich trotz aller Widerstände<br />

im Jahre 1754 den Doktorgrad; es<br />

blieb jedoch für über hundert Jahre bei dieser<br />

einen medizinischen Promotion für<br />

Frauen. 1<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Doch zurück zu unserer »Aufgabe«. Einem<br />

Leser des <strong>Braunschweig</strong>er Intelligenzblattes,<br />

Friedrich Börner (1723-1761), Doktor<br />

der Medizin und Mitglied der renommierten<br />

Akademia Leopoldina, kam<br />

die Frage der Redaktion gerade recht. Sein<br />

Schwager Urban Benedict Friedrich Brückmann<br />

(1728-1812) hatte auf der <strong>Universität</strong><br />

Helmstädt zum Dr. med. promoviert,<br />

und so war es Börners Aufgabe, im Rahmen<br />

der Promotionsfeier eine Laudatio auf den<br />

jüngeren Kollegen zu halten. In der kleinen<br />

Festschrift 2 erörterte Börner die Frage, »ob<br />

es dem Frauenzimmer erlaubt sey, die Arzeneykunst<br />

auszuüben«. So konnte er sich<br />

aus dem Lorbeerkranz für den Laureatus<br />

ein paar Zweiglein für die eigene gelehrte<br />

Unsterblichkeit herauszupfen und nebenher<br />

ein paar Dinge sagen, die ihm auf der<br />

Seele lagen. Zum Schluss blieb dann auch<br />

noch etwas Raum für die eigentliche Laudatio.<br />

Börners Ausführungen zum Thema »Frau<br />

und Medizin« sind polemisch und für heutige<br />

Leserinnen nicht leicht nachzuvollziehen.<br />

Zwar fand er in der Literatur zahlreiche<br />

Hinweise auf gelehrte und in der Heilkunst<br />

erfolgreiche Frauen, er besaß sogar<br />

selbst eine Schrift der Hildegard von Bingen<br />

und beurteilte die heilkundige Äbtissin als<br />

eine »Zierde der Arzeneykunst«. Dennoch<br />

kam er zu dem Schluss: »Kurz, das weibliche<br />

Geschlecht ist völlig von der ausüben-<br />

ABBILDUNG 2<br />

Die Streitschrift von Dorothea Erxleben, der<br />

ersten Doktorin der Medizin (1754), löste<br />

eine kontroverse Debatte über das Frauenstudium<br />

aus.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

den Arzeneykunst auszuschließen, und<br />

durch obrigkeitliche Befehle davon abzuhalten.«<br />

Seine Hauptargumente sind erstens die<br />

göttlich gewollte Arbeitsteilung zwischen<br />

Mann und Frau, nach der letztere für die<br />

Erhaltung der Gattung und für den Haushalt<br />

zuständig sei, zweitens die Schwatzhaftigkeit<br />

der Frauen, die ihnen »verunmögliche«,<br />

der ärztlichen Schweigepflicht<br />

nachzukommen, und drittens der Umstand,<br />

dass sie keinen Zugang zum akademischen,<br />

schriftlichen, gelehrten Wissen hätten:<br />

»Endlich so gehöret auch etwas mehrere<br />

Wissenschaft dazu als die, welche die Weiberchen<br />

aus der Frau Großmutter ihren<br />

Handkörbchen haben. Ein rechtschaffner<br />

Arzt muß ein Mann von gutem Verstande,<br />

reifem Nachsinnen und trifftiger Ueberlegung<br />

seyn. Er muß den menschlichen Körper<br />

genau kennen: er muß wissen, wie derselbe<br />

in gesunden und kranken Tagen beschaffen<br />

sey; er muß eine jede Krankheit<br />

von der andern wohl zu unterscheiden wissen;<br />

er muß die Arzeneymittel, die zu Herstellung<br />

der verlohrnen Gesundheit gehören,<br />

genau kennen und gehörig zu verordnen<br />

wissen; er muß etwas mehres seinem<br />

Kranken geben können, als etwan<br />

Mixtur Simplex, Schwefelblumen, Chinarinde,<br />

Theerwasser und Sauerbrunnen; ...«<br />

Börners Schriftchen blieb die einzige Reaktion<br />

auf die »Aufgabe« der Braunschwei-<br />

ABBILDUNG 3<br />

Hildegard von Bingen – auch im 18. Jahrhundert<br />

noch als »Zierde der Arzeneykunst« betrachtet.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

59<br />

BETTINA<br />

WAHRIG<br />

Studium der Medizin und Philosophie<br />

in Mainz und Marburg; nach<br />

Studienaufenthalt in Florenz 1983-<br />

85 Arbeit am Institut für Medizinund<br />

Wissenschaftsgeschichte in Lübeck<br />

bis 1997; seit 1997 Professorin<br />

für Geschichte der Naturwissenschaften<br />

und der Pharmazie an der<br />

TU <strong>Braunschweig</strong>; Forschungsschwerpunkte:<br />

Geschichte des<br />

Gesundheitswesens, Staats-Organismusmetaphorik<br />

vom 17. bis zum 19.<br />

Jahrhundert, Experimentalisierung in<br />

den Biowissenschaften,<br />

Geschlechterverhältnisse in den Biowissenschaften.


60 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

gischen Anzeigen. Anscheinend hatte sich<br />

die Redaktion mehr Debatte und weniger<br />

Polemik versprochen, denn der Rezensent<br />

des Intelligenzblatts tadelt: »Sein [Börners]<br />

Eifer verleitet ihn so weit, daß er sich dem<br />

schönen Geschlechte, das uns doch überhaupt<br />

jederzeit ehrwürdig bleiben muß, unsers<br />

wenigen Ermessens, beynahe etwas zu<br />

nachtheilig ausdrückt.« 3<br />

Verfolgt man Börners Argumente im Einzelnen,<br />

so gewinnt man den Eindruck, als<br />

seien für Börner medizinisch praktizierende<br />

Frauen nur der am meisten ins Auge fallende<br />

Ausdruck einer allgemeinen Unordnung<br />

in medizinischen Dingen. Wortreich beklagt<br />

er auch, dass es so viele unwissende<br />

Pfuscher gebe, die den studierten Ärzten<br />

die Kunden wegschnappten. Dass sogar<br />

Frauen sich ungestraft mit Heilkunst beschäftigen,<br />

ist für ihn ein Beleg dafür, wie<br />

schlecht es um die Profession der Medici<br />

allgemein steht. Börners Schrift ist also<br />

auch ein Stück Berufspolitik.<br />

Das ‚weibliche Wissen‘ hat in der Darstellung<br />

Börners mehrere Nachteile, die es<br />

deutlich von der akademischen Medizin abheben:<br />

■ Es ist so begrenzt, dass mit circa fünf<br />

Medikamenten alle Krankheiten bekämpft<br />

werden.<br />

■ Es ist mündlich – von der Großmutter<br />

ihrem Handkörbchen – überliefert,<br />

und<br />

■ es drückt sich auch nicht schriftlich<br />

aus, da Frauen nicht gelernt haben,<br />

Rezepte zu schreiben.<br />

Hier werden wir Augenzeuginnen und Augenzeugen<br />

der Konstruktion eines Stereotyps:<br />

Das Wissen aus der »Großmutter ihrem<br />

Handkörbchen« ist mündlich überliefert,<br />

es gilt als zeitlich und inhaltlich begrenzt,<br />

unzuverlässig, abergläubisch, unautorisiert<br />

und damit letztlich unmoralisch,<br />

während das akademische Wissen über<br />

einen langen Zeitraum und in großem Umfang<br />

schriftlich überliefert, mit Religion und<br />

Vernunft vereinbar, autorisiert, legitimiert<br />

und damit letztlich moralisch ist. Der<br />

»Großmutter« steht der Arzt als »Mann von<br />

gutem Verstande« gegenüber. Das mündliche<br />

Wissen ist weiblich konnotiert und<br />

wird abgewertet, das schriftliche ist männlich<br />

konnotiert und wird aufgewertet. Die<br />

Geschlechterordnung ist der Kettfaden, in<br />

den die Ordnung des medizinischen Diskurses<br />

im 18. Jahrhundert eingewoben<br />

wird.<br />

ABBILDUNG 4<br />

Der Theriak-Verkäufer – Porzellanfigur eines<br />

fliegenden Arzneimittelhändlers im 18. Jahrhundert.<br />

»DAS WISSEN IM KOPF<br />

EINES ALTEN WEIBES«<br />

Die von Börner artikulierten Stereotype finden<br />

sich nicht nur in der Medizinalgesetzgebung<br />

des 18. Jahrhunderts wieder, sie<br />

wurden nach 1750 allmählich praktisch<br />

wirksam, auch wenn es die gelehrten Ärzte<br />

viel Tinte und persönliche Überzeugungsarbeit<br />

kostete, bis die in den Gesetzen formulierten<br />

Ordnungskriterien auch zu Handlungsmaximen<br />

wurden. Ein besonders eindrucksvolles<br />

Beispiel findet sich im Archiv<br />

der Hansestadt Lübeck.<br />

1714 verabschiedete der Lübecker Rat<br />

eine »Revidirte Medicinal-Ordnung«, die<br />

dann bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

hinaus in Kraft blieb. Diese verordnete<br />

unter anderem, dass »Theriac-Krähmer, Alchymisten,<br />

Quack-Salber, Zahn-Brecher,<br />

Winckel-Aerzte, so wohl Mann-, als Weibspersonen«<br />

gar nicht in die Stadt gelassen<br />

werden und erst recht keine Waren verkaufen<br />

dürften. Zusätzlich wurde der Verkauf<br />

einiger stark wirksamer pflanzlicher Drogen,<br />

unter ihnen auch gängiger Abtreibungsmittel,<br />

verboten.<br />

Dieser Verordnung scheinen lange keine<br />

Taten gefolgt zu sein. Dem Lübecker Intelligenzblatt<br />

ist sogar zu entnehmen, dass die<br />

Vertreiber von Geheimmitteln in krassem<br />

Gegensatz zur Medizinalordnung unbehelligt<br />

Annoncen schalten und ihre Ware verkaufen<br />

konnten.<br />

Erst im Jahre 1793 erreichten die Ärzte in<br />

einer gemeinsamen Anstrengung, dass sich<br />

die zuständige Behörde, die Lübeckische<br />

Wette, intensiv der Verfolgung von Übertretungen<br />

der Medizinalordnung widmete.<br />

Physicus (Stadtarzt) und Ratschirurg hatten<br />

in Zusammenarbeit mit ihren Kollegen eine<br />

Liste von neunzehn Personen zusammengestellt,<br />

die gegen die Medizinalordnung<br />

verstießen. Diese Personen wurden nun<br />

vor die Wette zitiert.<br />

Unter ihnen befanden sich auch vier Frauen,<br />

von denen zwei zusammen mit dem<br />

Ehemann beziehungsweise dem Bruder kurierten.<br />

Zwölf der neunzehn Beschuldigten<br />

hatten keine oder nur eine sehr fragwürdige<br />

Legitimation für einen Heilerinnen- oder<br />

Heilerberuf. Die Befragten versuchten, vor<br />

der Wette die Vorwürfe zu entkräften:<br />

Mehrere betonten, dass sie keine Medikamente<br />

benutzten, beziehungsweise dass die<br />

Medikamente einfache, im Alltag erhältliche<br />

Stoffe seien, wie zum Beispiel Butter<br />

oder Branntwein. Sie beschränkten sich<br />

nach eigenen Angaben zudem auf äußerliche<br />

Behandlung, etwa Pflaster oder Einreibungen,<br />

einige von ihnen behaupteten, sie<br />

hätten für ihre Hilfeleistung kein Geld angenommen.<br />

Die Rechtfertigungsmuster sprechen<br />

dafür, dass die Beschuldigten sich weniger<br />

wegen Durchführung medizinischer<br />

Behandlungen angeklagt sahen, für die sie<br />

nicht die nötige Ausbildung besaßen – vielmehr<br />

hatten sie die vom ständischen Gewerbeverständnis<br />

auferlegten Grenzen<br />

übertreten und beispielsweise den Chirurgen,<br />

den Apothekern oder den Ärzten das<br />

Brot weggenommen.<br />

In zwei Fällen wurden Frauen zusammen<br />

mit Bruder oder Ehemann befragt: Darin<br />

kann man einen Hinweis auf die Pflege heilerischen<br />

Wissens in der Familientradition<br />

sehen, bei dem es sich wohl hauptsächlich<br />

um mündlich überliefertes Wissen gehandelt<br />

hat. Gleichzeitig legen die Akten die<br />

Vermutung nahe, dass die Frauen in diesen<br />

Familien selbstverständlich an den heilerischen<br />

Tätigkeiten ihrer männlichen Verwandten<br />

teilhatten. Die beiden Frauen, die<br />

ohne männliche Begleitung vor der Wette<br />

erschienen, waren alt und allein stehend.<br />

Über eine von ihnen äußert sich das Wetteprotokoll<br />

ausführlich: »Margaretha Eliesabeth<br />

Barthelfelder, eine sehr bejahrte Wittwe,<br />

zeigt an, daß ihr Papa Scharfrichter und<br />

Doctor, und ihr Mann Regimentsfeldscheerer<br />

gewesen, sie habe schon 18 Jahre hier<br />

gewohnet, rühmte sich überaus großer Wis-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


senschaften, besonders vieler merckwürdigen<br />

Curen von Arm und Beinbrüchen, die<br />

sie, wie sie sich ausdrückte, von ihrem Papa<br />

erlernt, indem sie Schäden, die andere<br />

nicht heilen könnten, curirete. Was sie innerlich<br />

gebrauche, lasse sie von der Apothecke<br />

holen, und alle Recepte habe sie in<br />

ihrem Kopf. Es wurden ihr aber dem allen<br />

ungeachtet alle innerlichen so wohl, als<br />

äußerliche Curen, und alle Quacksalbereien<br />

untersagt, ob sie gleich hinzufügte, daß sie<br />

sich sonst nicht ernähren könnte« (Archiv<br />

der Hansestadt Lübeck, Polizeiamt 2535).<br />

Zwischen den Zeilen lesen wir eine deutliche<br />

Abwertung der Margaretha Eliesabeth<br />

Barthelfelder. Wie viel richtiges Wissen<br />

kann schon im Kopf einer alten Frau sein,<br />

die ihr Handwerk zudem von einem Scharfrichter<br />

gelernt hat? Sie selbst hingegen sieht<br />

das anders: Dass alle ihre Rezepte in ihrem<br />

Kopf sind, zeigt, wie sinnvoll ihr Wissen geordnet<br />

ist, wie gut ihr Gedächtnis arbeitet,<br />

dass sie nicht zu viel und nicht zu wenig<br />

weiß, um das Richtige zu tun, wenn sie gerufen<br />

wird. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit<br />

ist äußerliche Behandlung, eine traditionelle<br />

Domäne der Scharfrichter. 4 Dort<br />

liegt in ihren eigenen Augen auch die Legitimation<br />

ihres Wissens. Der Vater als Scharfrichter<br />

und der Mann als Feldscherer hatten<br />

nicht nur das Können, sondern auch die<br />

gesetzliche Erlaubnis, innerhalb bestimmter<br />

Grenzen heilerisch tätig zu sein. Ihr Hinweis,<br />

dass sie die Medikamente aus der<br />

Apotheke holen lasse, zeigt, dass auch sie<br />

sich eher gegen den Vorwurf des gewerblichen<br />

Übergriffs als gegen den medizinischer<br />

Inkompetenz wehrt. Ihr Wissen ist,<br />

so steht es im Protokoll, mündlich überliefert,<br />

zusätzlich ist es durch Vater und Ehemann,<br />

die beide ein staatliches Patent hatten,<br />

legitimiert. Ebenso wie die anderen Befragten<br />

nennt sie keine Einzelheiten über<br />

die von ihr angewandten Rezepte. »In ihrem<br />

Kopf« sind diese eben auch sicher davor,<br />

in die Hände Unberufener und gewerblicher<br />

Konkurrenten zu gelangen.<br />

Am Fall Barthelfelder wird deutlich, wie<br />

schwierig es ist, im Rückblick Kategorien zu<br />

bilden, welche nicht die Vor-Urteile der untersuchten<br />

Quellen übernehmen: Aus dem<br />

Protokoll des Wettebeamten geht eine Geringschätzung<br />

hervor, die genau jenem Stereotyp<br />

entspricht, das sich ab der Mitte des<br />

18. Jahrhunderts um den Vorstellungskomplex<br />

»Frauen/Wissen« herum bildet (modellhaft<br />

dafür die Schrift Börners). Das be-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

deutet umgekehrt aber nicht, dass zum Beispiel<br />

das Wissen von Margaretha Eliesabeth<br />

Barthelfelder über Generationen hinweg<br />

ausschließlich mündlich überliefert gewesen<br />

sein muss. Ihr Vater kann es aus einem<br />

Buch übernommen, ein gelehrter Mediziner<br />

kann das Wissen ihres Vaters und seiner<br />

männlichen und weiblichen Kollegen längst<br />

aufgeschrieben haben.<br />

Immerhin zeigt der Vergleich von Börners<br />

Laudatio mit den impliziten Normen im<br />

Wetteprotokoll einige Tendenzen: Es hat in<br />

der Geschichte der Heilkunde eine Zeit gegeben,<br />

in der Heilkompetenz nicht notwendig<br />

mit der Verfügung über schriftlich überliefertes<br />

akademisch und staatlich legitimiertes<br />

Wissen verbunden wurde; Inhaberinnen<br />

und Inhaber eines solchen Wissens<br />

müssen auch gefragt gewesen sein; 5 die<br />

Überzeugung, dass nur ein Doktortitel zur<br />

medizinischen Behandlung befähigt, hat<br />

sich in den Behörden und bei den Kranken<br />

erst langsam und nie vollständig durchgesetzt.<br />

In den »Nischen« dieses nichtakademischen<br />

Wissens hat sich unter anderem<br />

die Heiltätigkeit von Frauen fortgesetzt, die<br />

durch obrigkeitliche Gesetze, ganz so wie<br />

Börner es gefordert hatte, im Laufe des 18.<br />

und 19. Jahrhunderts immer weiter kontrolliert<br />

und eingeschränkt wurde, bis zunächst<br />

in Nordamerika und England, dann<br />

auch auf dem europäischen Kontinent, die<br />

ersten Frauen zum Medizin- und zum Pharmaziestudium<br />

6 zugelassen wurden.<br />

VORGEHEN GEGEN<br />

»PFUSCHEREI«?<br />

Gehörte die von der Wette vernommene<br />

Margaretha Eliesabeth Barthelfelder zu<br />

einer verschwindenden Kategorie von Heilenden?<br />

Ist es im späten 18. Jahrhundert generell<br />

schwieriger geworden für Frauen,<br />

eine Heiltätigkeit auszuüben, da der Verfolgungswille<br />

der Regierungen gegenüber<br />

»Pfuschern« zunahm, wie man damals alle<br />

diejenigen nannte, die gegen die Medizinalordnung<br />

verstießen? Auch in den Akten aus<br />

dem Herzogtum <strong>Braunschweig</strong> finden sich<br />

zahlreiche Spuren von heilenden Männern<br />

und Frauen, die mit der Medizinalordnung<br />

in Konflikt gekommen waren. Zwei sehr<br />

gründliche Studien haben diese Akten bereits<br />

ausgewertet, jedoch nicht speziell im<br />

Hinblick auf das Geschlechterverhältnis. 7<br />

Für die Herzogtümer Jülich und Berg hat<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Susanne Landgraf 8 jüngst in einer Dissertation<br />

über Handlungsmuster von »Pfuscherinnen«<br />

und »Pfuschern« berichtet und interessante<br />

Details über deren Akzeptanz in<br />

der Bevölkerung herausgefunden. Wenn sie<br />

Erfolg beziehungsweise nicht mehr Misserfolge<br />

als ihre männlichen und gesetzlich legitimierten<br />

Kollegen hatten, wurden sie<br />

selbstverständlich konsultiert. Frauen sind<br />

in den überlieferten Akten unterrepräsentiert;<br />

die Autorin erklärt diesen Umstand<br />

damit, dass Frauen mit ihrer Heiltätigkeit<br />

seltener größere Einkünfte erzielten und<br />

somit auch seltener den Tatbestand eines<br />

verbotenen Gewerbes erfüllten.<br />

Eine weitere Quelle für die Suche nach<br />

heilenden Frauen und ihrer konkreten<br />

Tätigkeit sind medizinische Zeitschriften,<br />

die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />

oft Fragen des Medizinalwesens<br />

widmeten. Dort treffen wir etwa auf ein<br />

Mutterkornpräparat, das von einem »durchreisenden<br />

Empiriker« in der Stadtapotheke<br />

eingeführt und seitdem häufig von Gebärenden<br />

und Hebammen zur Beschleunigung<br />

der Wehentätigkeit benutzt wird. Ein<br />

klarer Verstoß gegen die Medizinalordnung,<br />

die innere Behandlung akademischen Ärzten<br />

vorbehält; dennoch wird über die Praxis<br />

berichtet, da sie neuen Aufschluss über<br />

die noch wenig erforschte Wirkung des<br />

ABBILDUNG 5<br />

Juniperus sabina, der Sadebaum: in der frühen<br />

Neuzeit als Abtreibungsmittel verbreitet.<br />

61


62 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Mutterkorns verspricht. Eine Frau aus dem<br />

Bürgertum hat sogar das Augenpulver des<br />

berühmten Arztes Ernst Georg Baldinger<br />

verbessert und mit Erfolg gegen Flügelfelle<br />

– eine häufige Augenkomplikation bei Pockenerkrankung<br />

– eingesetzt.<br />

Eine von Obrigkeiten besonders ungern<br />

gesehene Hilfe von Frauen für Frauen war<br />

die Beschaffung von Abtreibungsmitteln.<br />

Empört berichtet Baldinger über den Krankenbesuch<br />

bei einer Frau, der eine »alte<br />

Hexe« einen Trank von Sadebaum (Juniperus<br />

sabina, ein berüchtigtes Abtreibungsmittel)<br />

verabreicht hatte. Die Frau hatte<br />

abortiert, allerdings um den Preis einer Vergiftung.<br />

Als Baldinger ihr vorhielt, sie sei<br />

»eine wahre Mörderin«, ließ sie sich noch<br />

nicht einmal beeindrucken, denn sie war<br />

wie wohl die meisten ihrer Zeitgenossinnen<br />

und Zeitgenossen der Meinung, dass das<br />

ungeborene Kind in der Frühschwangerschaft<br />

noch unbelebt sei.<br />

HEILENDEN FRAUEN<br />

AUF DER SPUR<br />

Ein weiterer Ansatz, mehr über Frauen als<br />

Heilende zu erfahren, besteht darin, medizinische<br />

Quellen, vor allem solche, die sich<br />

auch an Laien richten, auf frauenspezifische<br />

Indikationen zu durchforsten. Ein vor kurzem<br />

abgeschlossenes Projekt an der TU-<br />

Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften<br />

9 hat diesen Ansatz verfolgt. Als besonders<br />

ergiebig hat sich hier die Gattung<br />

der Hausarzneibücher erwiesen. Für eine<br />

vorher ausgewählte Gruppe von gynäkologisch<br />

und geburtshilflich wirksamen pflanzlichen<br />

Drogen wurden die Nennungen über<br />

drei Jahrhunderte hinweg erfasst und analysiert.<br />

Bereits bei den Vorarbeiten zum<br />

Projekt haben wir festgestellt, dass zur Geschichte<br />

pflanzlicher Drogen im Bereich<br />

Gynäkologie und Geburtshilfe bislang noch<br />

wenig gearbeitet worden ist.<br />

In einem interdisziplinären Workshop im<br />

Dezember 2001 haben die Autorin und Dr.<br />

Christine Loytved, <strong>Universität</strong> Osnabrück,<br />

daher versucht, den Austausch zwischen<br />

aktuell bestehenden Forschungsprojekten<br />

in diesem Bereich zu intensivieren. 10 Die<br />

Ergebnisse werden voraussichtlich Mitte<br />

2003 in Buchform erscheinen; ein Folgetreffen<br />

des in Wolfenbüttel entstandenen<br />

Arbeitskreises Geschichte der Frauenheilkunde<br />

fand im November 2002 statt.<br />

Ziele des Arbeitskreises sind der Austausch<br />

von Arbeitsergebnissen in der Geschichte<br />

der Geburtshilfe, der Medizin und der Pharmazie<br />

im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe.<br />

Dabei ist uns besonders daran gelegen,<br />

heilenden und helfenden Frauen,<br />

aber auch Forscherinnen auf die Spur zu<br />

kommen. Abgesehen von der immer noch<br />

nötigen Bestandsaufnahme geht es ebenfalls<br />

darum, die zentrale Rolle der Geschlechterordnung<br />

in der Ordnung des Wissens sichtbar<br />

zu machen und zu analysieren.<br />

In meinem Beitrag habe ich einige Schlaglichter<br />

auf das 18. Jahrhundert geworfen,<br />

denn in dieser Zeit finden wesentliche<br />

Verschiebungen in der Ordnung der Geschlechter<br />

und in der Ordnung des Wissens<br />

sowie in ihrem wechselseitigen Verhältnis<br />

statt. Ich habe mehr Fragen aufgeworfen,<br />

als ich beantworten konnte.<br />

Dennoch hoffe ich gezeigt zu haben, dass<br />

sich hinter der »Großmutter ihrem Handkörbchen«<br />

ein breites Spektrum unterschiedlich<br />

kompetenter Frauen verbirgt, die<br />

ein handwerklich orientiertes, empirisches<br />

Wissen hatten, das sie über persönliche<br />

Weitergabe oder vielleicht auch aus dem<br />

einen oder anderen landessprachlichen<br />

Buch erworben hatten. Daneben gab es einzelne<br />

Frauen, die mit den akademischen<br />

Medizinern auf gleicher Augenhöhe standen<br />

– so lange sie es nicht wagten, akademische<br />

Würden zu fordern und ein vergleichbares<br />

Einkommen aus ihrer Heiltätigkeit<br />

anzustreben. ■<br />

FUSSNOTEN<br />

1 Vgl. Schiebinger, Londa: Schöne Geister. Frauen in<br />

den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart<br />

1993.<br />

2 Börner, Friedrich:Als der Hochedelgebohrne und<br />

Hocherfahrne Herr Urb. Friedr. Benedict Brückmann<br />

... die längstverdiente höchste Würde in der<br />

Arzeneykunst auf der berühmten Julius-Carls-<strong>Universität</strong><br />

zu Helmstädt empfing, wollte in gegenwärtigem<br />

Sendschreiben kürzlich untersuchen: ob<br />

dem Frauenzimmer erlaubt sey, die Arzeneykunst<br />

auszuüben? und zugleich seinen aufrichtigen<br />

Glückwunsch abstatten ... Leipzig [1750].<br />

3 <strong>Braunschweig</strong>ische Anzeigen Jg. 7, 1751, 41. St.,<br />

22.5. Rubrik: Recensiones einiger <strong>Braunschweig</strong>er<br />

und Wolfenbüttelischen Schriften, Rez. v. der<br />

Schrift Börners: Sp. 819.<br />

4 Vgl. Nowosadtko, Jutta: Scharfrichter und Abdecker.<br />

Der Alltag zweier »unehrlicher Berufe« in<br />

der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994; mit der<br />

Genese des Medizinalwesens und der Rolle der<br />

verschiedenen legitimierten Heilpersonen beschäftigte<br />

sich ein von der Autorin und Dr.Werner<br />

Sohn organisiertes Arbeitsgespräch an der Herzog<br />

August Bibliothek Wolfenbüttel im März 2000.<br />

Die Ergebnisse werden in Buchform veröffentlicht.<br />

5 Dies ist durch eine große Zahl historischer Studien<br />

bereits belegt.Vgl. z. B. Loetz, Francisca:Vom<br />

Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und<br />

medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens<br />

1750-1850, Stuttgart 1993, Lindemann,<br />

Mary: Health and Healing in Eighteenth-Century<br />

Germany, Baltimore u. a. 1996; . Beisswanger,<br />

Gabriele:Arzneimittelversorgung im 18. Jahrhundert:<br />

Die Stadt <strong>Braunschweig</strong> und die ländlichen<br />

Distrikte im Herzogtum <strong>Braunschweig</strong>-Wolfenbüttel,<br />

Stuttgart 1996.<br />

6 Vgl. Beisswanger Gabriele, Gudrun Hahn, Evelyn<br />

Seibert, Ildkó Szász, Christl Trischler: Frauen in der<br />

Pharmazie: die Geschichte eines Frauenberufes,<br />

Stuttgart 2001.<br />

7 Vgl. Lindemann 1996, Beisswanger, 1996 (wie<br />

Anm. 5).<br />

8 Landgraf, Susanne: Heilen außerhalb der Medizinal-Ordnung.Autorität,<br />

Konkurrenz und Geschlecht<br />

in den Herzogtümern Jülich-Berg 1799-<br />

1875, Diss. <strong>Braunschweig</strong> 2002.<br />

9 Projekt »Pflanzliche Arzneimittel für Frauen:<br />

Historische Aspekte und aktuelle Perspektiven für<br />

Gynäkologie und Geburtshilfe an konkreten Beispielen«,<br />

gefördert vom »Niedersächsischen Förderverbund<br />

Frauen in Naturwissenschaft und<br />

Technik« (NFFG) am Niedersächsischen Ministerium<br />

für Wissenschaft und Kultur) vom 1.6.1999<br />

bis zum 31.12.2001, in Zusammenarbeit mit dem<br />

Institut für Pharmazeutische Biologie,TU <strong>Braunschweig</strong>;<br />

Bearbeiterinnen: Iris Hübsch für die Geschichte<br />

der Naturwissenschaften und Eva Goclik<br />

für die Pharmazeutische Biologie.<br />

10 Tradieren – Aufschreiben – Verschweigen. Zur Geschichte<br />

pflanzlicher Drogen in Gynäkologie und<br />

Geburtshilfe,Tagung in der Herzog August Bibliothek<br />

Wolfenbüttel vom 12.-14.12.2001, gefördert<br />

vom NFFG.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


64 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ZWANGSARBEIT IN DER<br />

KRIEGSWIRTSCHAFT IM LAND<br />

BRAUNSCHWEIG 1939 BIS 1945<br />

Auch im Land <strong>Braunschweig</strong> ließ sich die Kriegswirtschaft<br />

nur durch die brutale Ausbeutung von Zwangsarbeitern,<br />

Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen aufrechterhalten. Ihre<br />

Zahl stieg während des Krieges von Monat zu Monat. In<br />

vielen Rüstungsbetrieben lag der Anteil der Zwangsarbeiter<br />

bei fast 50 Prozent. Aber nicht nur mit diesen Aspekten<br />

beschäftigen sich die Autoren und weitere Historiker in einem<br />

breit angelegten Forschungsprojekt: Sie untersuchen ebenfalls<br />

die Integration der <strong>Braunschweig</strong>er Industrie in die NS-<br />

Rüstungswirtschaft, Herkunft und Alter der Zwangsarbeiter<br />

oder das gegen sie angewandte Strafsystem – bis hin zu<br />

Todesurteilen durch das <strong>Braunschweig</strong>er Sondergericht.<br />

VON HANS-ULRICH LUDEWIG 1 UND GUDRUN FIEDLER 2<br />

1) Historisches Seminar der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

2) Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel<br />

ABBILDUNG 1<br />

Der <strong>Braunschweig</strong>er Arbeitsamtsneubau<br />

Cyriaksring: ein Musterarbeitsamtsgebäude<br />

im Nationalsozialismus.<br />

Kurz vor dem Abschluss steht<br />

ein Forschungsvorhaben, das<br />

gemeinsam vom Historischen<br />

Seminar der TU <strong>Braunschweig</strong> und dem<br />

<strong>Braunschweig</strong>ischen Geschichtsverein<br />

durchgeführt wird. Es hat sich die Aufgabe<br />

gestellt, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit<br />

im Land <strong>Braunschweig</strong> darzustellen.<br />

Als das Projekt vor über vier Jahren konzipiert<br />

wurde, gab es zwar einige wichtige<br />

lokale Einzelstudien über den Einsatz von<br />

Zwangsarbeitern im Land <strong>Braunschweig</strong>, es<br />

fehlte aber eine umfassende Untersuchung,<br />

die Kriegswirtschaft, Rüstungsproduktion,<br />

Arbeitsverwaltung und Zwangsarbeit während<br />

des Zweiten Weltkrieges systematisch<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


erforscht und aufeinander bezogen hätte.<br />

Deshalb entschlossen sich der <strong>Braunschweig</strong>ische<br />

Geschichtsverein unter seinem<br />

Vorsitzenden Dr. Horst-Rüdiger Jarck<br />

und das Historische Seminar mit Dr. Hans-<br />

Ulrich Ludewig, eine solche regionale Fallstudie<br />

zu betreuen. Das Projekt wird gefördert<br />

von der Stiftung NORD LB/ÖFFENT-<br />

LICHE. Mitarbeiter konnten aus Stiftungsund<br />

weiteren Drittmitteln angeworben<br />

werden. 1<br />

Erste Projektergebnisse wurden diskutiert<br />

anlässlich einer Tagung zum Thema »Zwangsarbeit<br />

und Kriegswirtschaft im Land <strong>Braunschweig</strong>«,<br />

die Geschichtsverein und Historisches<br />

Seminar in Zusammenarbeit mit<br />

dem Arbeitskreis »Gegen Vergessen – Für<br />

Demokratie e. V.«, Regionalgruppe <strong>Braunschweig</strong>,<br />

im Dezember 2000 abhielten. Die<br />

abschließenden Forschungsergebnisse werden<br />

in einem Aufsatzband veröffentlicht,<br />

der im Frühjahr 2003 erscheinen wird.<br />

ABBILDUNG 2<br />

Selbst Frauen, die auf die 80 Jahre zugingen,<br />

wurden im Land <strong>Braunschweig</strong> als Zwangsarbeiterinnen<br />

eingesetzt (Quelle: NStA WF, 55 Neu<br />

Wieda, Zg. 37/2002 Nr. 2).<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Das Historische Seminar geht mit diesem<br />

Projekt einen Weg weiter, den es seit vielen<br />

Jahren verfolgt: sich bewusst der Regionalgeschichte<br />

zu öffnen und mit außeruniversitären<br />

Forschungseinrichtungen der<br />

Region eng zusammenzuarbeiten.<br />

ZWANGSARBEIT UND<br />

WIRTSCHAFTSSTRUKTUR<br />

IN BRAUNSCHWEIG<br />

Die Erforschung der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus<br />

gehört zu den zentralen<br />

Aufgaben der Zeitgeschichtsforschung und<br />

stößt nach wie vor auf großes Interesse in<br />

der Öffentlichkeit. Ziel des Projektes ist es,<br />

den Einsatz von Zwangsarbeitern in der<br />

Rüstungsindustrie, in anderen Betrieben<br />

mit kriegswichtiger Produktion (Konservenfabriken<br />

etc.) und in der Landwirtschaft vor<br />

dem Hintergrund der <strong>Braunschweig</strong>er Wirt-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

65<br />

HANS-ULRICH<br />

LUDEWIG<br />

(Dr. phil.), Jg. 1943; Studium der<br />

Geschichte, Germanistik und<br />

Politischen Wissenschaften an<br />

der <strong>Universität</strong> München; 1975<br />

Promotion; seit 1972 an der<br />

TU <strong>Braunschweig</strong>; Forschungsschwerpunkte:<br />

Geschichte der<br />

Arbeiterbewegung, Justiz im Nationalsozialismus,<br />

Regionalgeschichte<br />

des 19. und 20. Jahrhunderts.


66 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

schaftsstruktur im Zweiten Weltkrieg und<br />

der Rolle der Arbeitsverwaltung als Anwerbungs-<br />

und Lenkungsbehörde zu untersuchen.<br />

Das Projekt will damit einen Beitrag<br />

leisten zur Erforschung der politischen Geschichte<br />

des <strong>Braunschweig</strong>er Landes, zur<br />

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber<br />

auch zur Alltagsgeschichte. Aktenmaterial<br />

ist in den regionalen Archiven – unter anderem<br />

im Niedersächsischen Staatsarchiv<br />

Wolfenbüttel (NStA WF) und im Stadtarchiv<br />

<strong>Braunschweig</strong> –, im Militärarchiv in<br />

Freiburg und im Bundesarchiv in Berlin<br />

reichlich vorhanden. Vor allem aber gilt es,<br />

Leben und Arbeit zehntausender von<br />

Zwangsarbeitern in den Rahmen der regionalen<br />

Geschichte einzuordnen und an ihr<br />

Schicksal angemessen zu erinnern.<br />

Deshalb werden zwei methodische Ansätze<br />

verfolgt, nämlich die Auswertung des<br />

vorhandenen schriftlichen Quellenmaterials<br />

und die Befragung von Zeitzeugen. Die<br />

Auswertung von Fragebögen, die an ehemalige<br />

zivile Zwangsarbeiter aus Polen, aus<br />

der Ukraine und Weißrussland versandt<br />

wurden, ermöglicht die Erstellung einer<br />

Kollektivbiografie von Zwangsarbeitern aus<br />

Osteuropa. Interviews mit Überlebenden<br />

des KZ-Außenlagers Schillstraße, die Dr.<br />

Karl Liedke, einer der Mitarbeiter im Projekt,<br />

in Israel geführt hat, brachten nicht<br />

nur eine Fülle neuer Erkenntnisse über die<br />

damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen,<br />

sondern liefern eindrucksvolle Informationen<br />

über das Weiterleben nach 1945,<br />

erzählen von häufig recht erfolgreichen Lebensläufen,<br />

die freilich auch immer wieder<br />

durch psychische Krisen gefährdet waren.<br />

Wir werden einige dieser bewegenden<br />

Lebensgeschichten abdrucken.<br />

Als sehr ergiebig erwiesen sich die Gespräche<br />

mit deutschen Zeitzeugen, denen<br />

in der bisherigen Forschung ein eher untergeordneter<br />

Stellenwert zukommt. Damalige<br />

Wahrnehmungsperspektiven und heutige<br />

Verarbeitungsmechanismen stehen dabei<br />

im Mittelpunkt des Interesses.<br />

KRIEGSWIRTSCHAFT,<br />

ARBEITSVERWALTUNG<br />

UND ZWANGSARBEIT<br />

Das Buch wird in einem ersten Teil auf die<br />

Struktur von Kriegswirtschaft, Arbeitsverwaltung<br />

und Zwangsarbeit im regionalen<br />

Kontext eingehen. Zwar waren bereits vor<br />

Kriegsbeginn so genannte wehrwirtschaftli-<br />

che Maßnahmen ergriffen worden, der eigentliche<br />

Übergang zur Kriegswirtschaft<br />

setzte jedoch erst mit dem Ende der »Blitzkriege«<br />

1941 ein. Dies bedeutete die Erweiterung<br />

der staatlichen Zwangsmittel, um<br />

die Volkswirtschaft auf die vorrangige Produktion<br />

von Rüstungsgütern umzustellen.<br />

Das hatte Änderungen unter anderem in<br />

der Produktionsstruktur, beim Einsatz von<br />

Investitionen und bei der Anwerbung von<br />

Arbeitskräften zur Folge. Großbetriebe können<br />

in einer gelenkten Wirtschaft eher ihre<br />

Interessen durchsetzen als kleine Betriebe.<br />

War der freie Arbeitsmarkt bereits vor dem<br />

Krieg durch den durch die Reichsarbeitsverwaltung<br />

gelenkten »Arbeitseinsatz« weitgehend<br />

ersetzt worden, so wurde dieser Dirigismus<br />

nunmehr erweitert und in immer<br />

radikaleren Formen auf das Arbeitskräftepotenzial<br />

in den von der deutschen Wehrmacht<br />

besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas<br />

ausgedehnt. Auch in <strong>Braunschweig</strong><br />

ließ sich Kriegswirtschaft nur durch die<br />

Ausbeutung von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen<br />

und KZ-Häftlingen aufrechterhalten.<br />

Die Nationalsozialisten konnten<br />

dadurch auf die totale Erfassung der deutschen<br />

Arbeitskräfte verzichten – auch auf<br />

die Arbeitspflicht für Frauen. Der Arbeitseinsatz<br />

deutscher Frauen in der Rüstungsproduktion<br />

passte nicht in das Frauenbild<br />

des Nationalsozialismus.<br />

Die Zahl der ausländischen Arbeiter stieg<br />

im Kriegsverlauf von Monat zu Monat. Der<br />

Höchststand war im Herbst 1944 mit etwa<br />

43.000 zivilen Zwangsarbeitern allein im<br />

Arbeitsamtsbezirk <strong>Braunschweig</strong> erreicht;<br />

circa 15.000 von ihnen waren Frauen, hinzu<br />

kamen rund 8.800 Kriegsgefangene. In<br />

den Büssing-Automobilwerken arbeiteten<br />

in den letzten Kriegsmonaten etwa 1.300<br />

KZ-Häftlinge, darunter circa 1.200 jüdische<br />

Häftlinge. In vielen Rüstungsbetrieben lag<br />

der Anteil der Zwangsarbeiter bei annähernd<br />

50 Prozent. Erstmals wird eine Liste<br />

sämtlicher Rüstungsbetriebe im Land <strong>Braunschweig</strong><br />

mit der Zahl der beschäftigten<br />

Zwangsarbeiter abgedruckt.<br />

Auftragsbetreuung und Personalbewirtschaftung<br />

oblagen dem Rüstungskommando<br />

<strong>Braunschweig</strong> und dem Hauptarbeitsamt<br />

<strong>Braunschweig</strong>. Recherchen ergaben,<br />

dass sich am Beispiel des <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Arbeitsamtes der Funktionszuwachs der Arbeitsverwaltung<br />

deutlich nachweisen lässt.<br />

1941 war bereits abzusehen, dass der im<br />

November 1940 eingeweihte Neubau des<br />

Arbeitsamtes am Cyriaksring bald nicht<br />

mehr ausreichen werde. Wesentlichen Anteil<br />

daran hatte die Abteilung »Arbeitseinsatz«,<br />

die als größte Abteilung die unter<br />

Zwang zur Arbeit verpflichteten ausländischen<br />

Arbeiter an die braunschweigischen<br />

Betriebe vermittelte. Zum Vergleich: Nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg bot dieses Gebäude,<br />

von einem kleinen Anbau abgesehen,<br />

immerhin bis Mitte der 1980er-Jahre genügend<br />

Raum für die Arbeit der Behörde!<br />

MODERNISIERUNGSSCHUB<br />

DURCH RÜSTUNGS-<br />

WIRTSCHAFT<br />

Die für das Projekt zum ersten Mal ausgewerteten<br />

Kriegstagebücher des <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Rüstungskommandos geben Auskunft<br />

über die Organisation der staatlich gelenkten<br />

Rüstungsproduktion. In <strong>Braunschweig</strong><br />

selbst wurden für alle drei Wehrmachtsteile<br />

– Heer, Luftwaffe und Marine –<br />

Kriegsgerät gefertigt, unter anderem von<br />

Büssing, NAG, NIEMO, MIAG, Luther &<br />

Jordan und den Wilke-Werken. Es ergibt<br />

sich das Bild einer Mangelwirtschaft, in der<br />

trotz zentraler Lenkung durch Berlin regionale<br />

Netzwerke für die Aufrechterhaltung<br />

der Betriebe wichtig waren. Die konkrete<br />

Analyse des Beziehungsgeflechts von Rüstungskommando,Bezirkswirtschaftsämtern,<br />

Arbeitsämtern, Industrie- und Handelskammer<br />

und Unternehmen einschließlich<br />

der Wehrwirtschaftsführer (Rudolf<br />

Egger-Büssing, Stephan Luther, Adolf<br />

Oehme, Paul Werners, Walter Jordan, Dr.<br />

Ernst Blaicher) lässt neue Erkenntnisse<br />

über Strukturen und Funktionsmechanismen<br />

der Kriegswirtschaft erwarten.<br />

Zu fragen ist, wie groß der Handlungsspielraum<br />

von Inhabern großer und kleiner<br />

Firmen im Krieg war und ob unternehmerisches<br />

Handeln sich immer mit den Erfordernissen<br />

der Kriegswirtschaft und auch<br />

den ideologischen Vorstellungen deckte<br />

und damit konsequentes unternehmerisches<br />

Handeln das NS-System im Krieg<br />

stabilisierte. Einseitige Ausrichtung auf die<br />

Produktion von Rüstungsgütern hätte für<br />

den Bestand des Unternehmens gefährlich<br />

werden können, barg sie doch die Gefahr,<br />

nach dem Kriegsende den Anschluss an<br />

eine Friedensproduktion zu verpassen.<br />

Wie überall im Reich zeichnen sich gegen<br />

Kriegsende auch im <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />

unterschiedliche Interessen zwischen überzeugten<br />

Parteigängern und Vertretern der<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Wirtschaft ab. Vonseiten der Partei wurde<br />

die Auslagerung von Maschinen aus den<br />

durch Bomben bedrohten Produktionsstätten<br />

begrüßt, um die Kriegsproduktion zu<br />

gewährleisten. Die Firmenleitungen stimmten<br />

zu, sorgten aber dafür, dass die Maschinen<br />

in Reichweite verblieben, um sie für<br />

eine mögliche Friedensproduktion zu sichern.<br />

Die Integration der hiesigen Industrie in<br />

die nationalsozialistische Rüstungswirtschaft<br />

brachte den betroffenen Branchen<br />

einen enormen Modernisierungsschub, der<br />

für die Zeit nach 1945 eine günstige Ausgangsposition<br />

schuf. Dass dazu tausende<br />

von Zwangsarbeitern beitrugen, hat die<br />

bundesrepublikanische Gesellschaft lange<br />

Zeit vergessen. Der erst nach erheblichem<br />

politischen, gesellschaftlichen und moralischen<br />

Druck im Jahr 2001 zu Stande gekommene<br />

Entschädigungsfonds hat zumindest<br />

ansatzweise einen späten finanziellen<br />

Ausgleich für die geleistete Zwangsarbeit<br />

gebracht.<br />

GNADENLOSE<br />

AUSBEUTUNG DER<br />

ZWANGSARBEITER<br />

Die Beschreibung der Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

der zivilen Zwangsarbeiter,<br />

der Kriegsgefangenen und der Konzentrationslagerhäftlinge<br />

bildet einen weiteren<br />

Schwerpunkt der Publikation. Es ist bekannt,<br />

dass die Behandlung von Zwangsarbeitern<br />

in den Betrieben sehr unterschiedlich<br />

war. Auf dem Lande ist das Leben durchweg<br />

leichter gewesen. In der Industrie verrichteten<br />

ausländische Arbeitskräfte oft<br />

ohne ausreichende Ernährung schwere und<br />

niedere Arbeiten. Für die Aufrechterhaltung<br />

der Produktion wurde durchaus die<br />

gnadenlose Ausbeutung von Zwangsarbeitern<br />

in Kauf genommen – bis hin zur »Vernichtung<br />

durch Arbeit«, vor allem bei jüdischen<br />

KZ-Häftlingen oder kriegsgefangenen<br />

russischen Soldaten. Dies gilt besonders für<br />

die letzte Kriegsphase ab 1944, in der vermehrt<br />

jüdische KZ-Häftlinge auch in <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Firmen eingesetzt wurden. Einzeldarstellungen<br />

– unter anderem über die<br />

Zwangsarbeit bei der Firma Büssing als<br />

größtem Arbeitgeber und bei der Firma<br />

Steinöl GmbH in Schandelah als Beispiel für<br />

den Einsatz von KZ-Häftlingen in der letzten<br />

Kriegsphase bei der Entwicklung neuer<br />

Technologien (Ölschieferabbau) – werden<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

diesen Einsatz von Zwangsarbeitern veranschaulichen.<br />

Die Veröffentlichung wird einen umfassenden<br />

Überblick über die Lager im <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Land geben. Dabei haben wir<br />

neben den bekannten Lagerverzeichnissen<br />

auch die erst kürzlich in einem Brüsseler<br />

Archiv aufgefundenen Listen des Suchdienstes<br />

des belgischen Roten Kreuzes, die<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg für die gesamte<br />

britische Zone aufgestellt wurden, ausgewertet.<br />

Sie werden durch Angaben aus zeitgenössischen<br />

Quellen aus den Archiven der<br />

Region ergänzt.<br />

Erstmals konnten die Meldekarten ausländischer<br />

Arbeiter bei der für die Stadt und<br />

den Landkreis <strong>Braunschweig</strong> zuständigen<br />

Allgemeinen Ortskrankenkasse 2 herangezogen<br />

werden. Die Auswertung einer Fünf-<br />

Prozent-Stichprobe der circa 50.000 Meldungen<br />

wird unter anderem Aufschlüsse<br />

geben über die unterschiedliche Behandlung<br />

von ost- und westeuropäischen<br />

Zwangsarbeitern im Krankheitsfalle, über<br />

ihre Herkunft, über Familienzusammenhänge,<br />

über das Alter, über die Art der<br />

Tätigkeit in den Betrieben, über die Dauer<br />

des Aufenthaltes in <strong>Braunschweig</strong> und bei<br />

einer bestimmten Firma sowie über die Art<br />

der auftretenden Krankheiten. Dass Kinder<br />

und Ehefrauen auf den Meldebogen vermerkt<br />

und damit ebenfalls krankenversichert<br />

waren, scheint keine Seltenheit gewesen<br />

zu sein.<br />

Als erste Tendenz lässt sich ablesen, dass<br />

der durch den Krieg bedingte große Einsatz<br />

von Zwangsarbeitern sich in Stadt und<br />

Landkreis <strong>Braunschweig</strong> erst ab 1940<br />

bemerkbar machte. Für 1942 und 1944<br />

liegen die meisten Meldungen für einen<br />

Arbeitsbeginn in einem Betrieb vor. Dabei<br />

muss es sich nicht zwangsläufig um die<br />

erste Stelle von neu im Deutschen Reich<br />

angekommenen Zwangsarbeitern handeln.<br />

Für die Zahl des Jahres 1944 wie auch für<br />

die erstaunlich hohe Zahl der Meldungen<br />

in den ersten drei Monaten des Jahres 1945<br />

waren wohl vor allem Umsetzungen aus<br />

Betrieben außerhalb von Stadt und Landkreis<br />

<strong>Braunschweig</strong> verantwortlich. 1945<br />

werden dabei in erster Linie Zwangsarbeiter<br />

aus den von den Alliierten besetzten<br />

Gebieten nach <strong>Braunschweig</strong> gekommen<br />

sein. Insgesamt handelte es sich bei der<br />

Gruppe der Zwangsarbeiter um mehr Männer<br />

als Frauen.<br />

80 Prozent der Zwangsarbeiter waren bei<br />

ihrer Meldung jünger als 34 Jahre. Die<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

67<br />

GUDRUN FIEDLER<br />

(Dr. phil.); Jg. 1956; 1976-1982<br />

Studium an der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

(Geschichte, Germanistik und Philosophie);<br />

1982-1985 Stipendiatin<br />

der Studienstiftung des deutschen<br />

Volkes; 1985 Promotion an der TU<br />

mit einer Arbeit über »Jugend im<br />

Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung,<br />

Erster Weltkrieg und sozialer Wandel«<br />

(Prof. Dr. Klaus-Erich Pollmann);<br />

1985-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

am Historischen Seminar<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong>/<strong>Universität</strong>sarchiv;<br />

1989-1991 Referendariat<br />

für den höheren Archivdienst;<br />

1991-1999 archivarische Tätigkeit<br />

im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv<br />

Hannover und in der niedersächsischen<br />

Archivverwaltung; seit<br />

Januar 2000 Archivoberrätin am niedersächsischen<br />

Staatsarchiv in Wolfenbüttel.


68 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Gruppe der älteren, also über 34-jährigen<br />

Zwangsarbeiter umfasst rund 20 Prozent<br />

der 50.000 Meldungen. Sie setzte sich fast<br />

ausschließlich aus Arbeitern zusammen, die<br />

aus den Gebieten der damaligen Sowjetunion<br />

(Russland, Weißrussland, Ukraine),<br />

aus Polen, aus dem »Protektorat Böhmen<br />

und Mähren« und aus Serbien stammten.<br />

Es zeichnet sich ab, dass die Jüngeren zwar<br />

weniger krank waren, dafür jedoch eher an<br />

Tuberkulose starben.<br />

ZWANGSARBEITER UND<br />

DAS SONDERGERICHT<br />

Ausführlich behandelt wird das System von<br />

Überwachen und Strafen der Zwangsarbeiter<br />

– von Disziplinarmaßnahmen in den<br />

Betrieben über die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager<br />

bis hin zur Einlieferung<br />

in Konzentrationslager und zu Hinrichtungen<br />

durch die Gestapo. Zwangsarbeiter<br />

wurden auch vor Gerichte gestellt,<br />

bei leichteren Delikten vor die Amtsgerichte,<br />

bei Verstößen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung,<br />

bei sexuellen Beziehungen<br />

zu Deutschen, bei »Plünderungen« und<br />

bei Verstößen gegen die »Volksschädlingsverordnungen«<br />

vor das Sondergericht<br />

<strong>Braunschweig</strong>. Von den 92 vom <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Sondergericht zum Tode Verurteilten<br />

waren 46 Zwangsarbeiter und<br />

Kriegsgefangene (= 50 %), unter ihnen<br />

zwölf Franzosen, elf Polen, neun Russen,<br />

vier Holländer und sechs Protektoratsangehörige.<br />

Das Sondergericht wurde zur gefürchteten<br />

Institution für Zwangsarbeiter<br />

und Kriegsgefangene.<br />

Da die Kriegswirtschaft im <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Land reichsweite Bedeutung hatte,<br />

könnten die Ergebnisse der Projektarbeit<br />

auch zur allgemeinen Forschung über<br />

Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft beitragen,<br />

die seit der Studie von Ulrich Herbert<br />

1985 mit erfreulicher Dynamik in Gang gekommen<br />

ist. Es ist das Ziel des Projektes,<br />

unabhängig von dem selbstverständlich beachteten<br />

und auch dokumentierten emotionalen<br />

Bereich künftig der Forschung eine<br />

verlässliche und korrekt aus Quellen erarbeitete<br />

Dokumentation und Analyse der<br />

Kriegswirtschaft und der als integraler Teil<br />

in ihr verankerten Zwangsarbeit zu erarbeiten<br />

und zur Verfügung zu stellen. ■<br />

FUSSNOTEN<br />

1 Dazu zählen Dr. Karl Liedke (ausgeschieden),<br />

Dr. Jerzy Drewnowski (ausgeschieden),<br />

Dr. Norman-Mathias Pingel, Manfred Stulgies-<br />

Wirt, M.A., Joachim Schmid, M.A., und Anke<br />

Menzel-Rathert, M.A.<br />

Die Projektleitung liegt bei Dr. Gudrun Fiedler<br />

als Vorstandsmitglied des <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />

Geschichtsvereins und Dr. Hans-Ulrich Ludewig<br />

für das Historische Seminar.<br />

2 Die Meldekartenkartei für Ausländer wurde in<br />

der Zwischenzeit von der AOK <strong>Braunschweig</strong> dem<br />

Stadtarchiv <strong>Braunschweig</strong> übergeben.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


70 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

»UNTERNEHMERTUM IN<br />

UNTERNEHMEN«<br />

ALS INSTRUMENT DER FÜHRUNG<br />

ABBILDUNG 1<br />

Im »Unternehmertum im Unternehmen« sind vor allem die mittleren Führungskräfte die<br />

Promotoren des Innovationsmanagements und »Change Agents« des Wandels.<br />

»Unternehmertum in Unternehmen«, auch Corporate<br />

Entrepreneurship genannt, ist aus der Sicht großer Firmen ein<br />

Ansatz zur Veränderung »träger« Organisationsstrukturen und<br />

Einstellungen von Mitarbeitern, um die Innovationskraft zu<br />

steigern. Zielgruppe des neuen »Unternehmertums« sind vor<br />

allem die mittleren Führungskräfte. Das Konzept des<br />

Corporate Entrepreneurship hat aber immer noch zahlreiche<br />

Schwächen: So benötigt die Weiterbildung vom »Sachwalter«<br />

zum »Unternehmer im Unternehmen« relativ viel Zeit. Daher<br />

ist es notwendig, schon den Studierenden unternehmerisches<br />

Denken nahezubringen.<br />

VON JOACHIM HENTZE<br />

Institut für Wirtschaftswissenschaften<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

Der in der angloamerikanischen<br />

Literatur verwendete Terminus<br />

»Entrepreneurship« entstammt<br />

dem französischen Verb »entreprendre«<br />

und heißt übersetzt »(etwas) unternehmen«.<br />

Aufgrund der vielfältigen Innovations-<br />

und strategischen Wandlungsnotwendigkeiten<br />

von Organisationen wird<br />

auch für Großunternehmen zunehmend<br />

mehr »Unternehmergeist« und unternehmerisches<br />

Handeln gefordert.<br />

ORGANISATIONS-<br />

STRUKTUREN<br />

VERÄNDERN<br />

»Corporate Entrepreneurship« (»Intrapreneurship«)<br />

kann aus Sicht der in der Literatur<br />

propagierten strategischen Führung als<br />

wichtige Ergänzung von betriebswirtschaftlich-rationalen,<br />

analytisch-methodischen<br />

Ansätzen interpretiert werden. Durch Kreativität,<br />

Intuition, Erfahrung, unternehmerische<br />

Initiative, Risikobereitschaft und Motivierungsfähigkeit<br />

können Schwachpunkte<br />

wissenschaftlich aufbereiteter strategischer<br />

Konzepte bei der Implementierung – zum<br />

Beispiel zu hohe Komplexität des Gegenstandsbereiches,<br />

Informationsdefizite der<br />

Führungskräfte – kompensiert werden. Aus<br />

Sicht der Praxis in Großunternehmen lässt<br />

sich das »Unternehmertum in Unternehmen«<br />

als »dynamisierender« Basisansatz<br />

zur Veränderung »träger« Organisationsstrukturen<br />

und Verhalten sowie Einstellungen<br />

von Organisationsmitgliedern auffassen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Grundlegendes Ziel ist die Steigerung der<br />

Innovationskraft (Fähigkeit und Motivation<br />

zu Innovation) von Unternehmungen, die<br />

in der Vergangenheit allzu sehr von innovationshemmendenbürokratisch-hierarchischen,<br />

stark formalisierten Strukturen bestimmt<br />

war. Die ursprüngliche Grundidee<br />

besteht in der Verknüpfung von Innovationspotenzialen<br />

von Großunternehmen<br />

und unternehmerischen Fähigkeiten kleiner<br />

(Venture-)Einheiten (vgl. Walz/Barth<br />

1990: 358).<br />

VERÄNDERUNGEN IN<br />

UNTERNEHMEN – EIN<br />

PERMANENTER PROZESS<br />

Das starke Interesse am Gegenstandsbereich<br />

»Corporate Entrepreneurship« hat<br />

indes keine Einheitlichkeit in der Begriffsexplikation<br />

zutage gefördert. In der Literatur<br />

zum strategischen Management wird<br />

ein erweiterter Begriff favorisiert. Danach<br />

umfasst »Corporate Entrepreneurship«<br />

nicht nur Prozesse der Schaffung und Entwicklung<br />

neuer Geschäftsfelder in Unternehmen,<br />

Produkt- und/oder Verfahrensinnovationen<br />

im Rahmen bestehender Organisationsformen,<br />

sondern zusätzlich die laufende<br />

strategische Gesamterneuerung der<br />

Organisation.<br />

Zentrale Aufgabe unternehmerischen<br />

Handelns ist nach Schumpeter (1946:<br />

214f.), der in seinen nationalökonomischen<br />

Arbeiten den »dynamischen Unternehmer«<br />

als »Triebfeder« wirtschaftlicher Entwicklung<br />

beschrieb, Inventionen und »neue<br />

Kombinationen« (= Innovationen) voranzutreiben<br />

und »die Dinge in Gang« zu setzen.<br />

Inzwischen werden in der sich in vielen<br />

Fällen auf Schumpeter berufenden Literatur<br />

präzisere Merkmale zur Beschreibung des<br />

»Entrepreneurship« herausgearbeitet, die<br />

gleichzeitig Hinweise für die entsprechende<br />

Gestaltung von Organisationen (»strukturelle<br />

Führung«) und Leitkriterien für die<br />

Mitarbeiterführung vorgeben.<br />

Stopford/Baden-Fuller (1994: 523 f.) unterscheiden<br />

fünf zentrale Kategorien, die<br />

auf sämtliche Konzepte des Entrepreneurship<br />

zutreffen (sollen):<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

1 Proaktivität<br />

Proaktivität lässt sich als ein Verhalten<br />

kennzeichnen, das sich durch eine frühzeitige<br />

und handlungsbezogene<br />

Vorbereitung auf die Zukunft auszeichnet<br />

(Scholz 1987: 33). Vorausgesetzt<br />

werden muss dabei individuelle Innovationsfähigkeit<br />

(Eignungspotenzial zur<br />

Lösung einer innovativen Aufgabe) und<br />

organisationale Innovationsfähigkeit.<br />

Beim Innovieren geht es aber nicht um<br />

jeden Preis darum, hohe Risiken einzugehen,<br />

damit dem Kriterium der<br />

Proaktivität Genüge getan wird. Die<br />

Umsetzung von Innovationen muss sich<br />

an den Marktgegebenheiten orientieren.<br />

2 Ehrgeizige Bestrebungen, die über die<br />

bisherigen Möglichkeiten und Fähigkeiten<br />

hinausgehen<br />

Diese Kategorie beschreibt den uneingeschränkten<br />

Willen zu laufender<br />

Weiterentwicklung beziehungsweise<br />

kontinuierlicher Verbesserung (Innovationsbereitschaft).<br />

Entrepreneure<br />

respektive innovative Organisationen<br />

begnügen sich nicht mit dem Status<br />

quo, das heißt, sie beschränken ihre<br />

strategischen Erwartungen und<br />

Chancenausbeutung keineswegs auf die<br />

vorgegebenen limitierten Ressourcen als<br />

unveränderbare Größen.<br />

3 Teamorientierung<br />

Bei der Durchsetzung von Entscheidungen,<br />

bei der Unterstützung innovativer<br />

Ideen und bei der Förderung kreativer<br />

Persönlichkeiten spielen Koalitionen und<br />

Teams von Topmanagern und mittleren<br />

Führungskräften eine wichtige Rolle.<br />

Teamorientierung auf unteren hierarchischen<br />

Ebenen fördert das für flexibles<br />

Handeln notwendige Schnittstellenmanagement.<br />

Unternehmerisches Handeln<br />

lässt sich als eine kontinuierliche<br />

Gemeinschaftsleistung kennzeichnen.<br />

Im Sinne eines »kollektiven<br />

Unternehmertums« fordert Reich (1988)<br />

ein enges Netzwerk von Managern mit<br />

kollektiver Verantwortung. Gesucht sind<br />

nicht »einsame« charismatische<br />

Führungspersönlichkeiten in Anlehnung<br />

an die »Great Man Theory«, sondern es<br />

wird auf eine synergetische Nutzung der<br />

für eine erfolgreiche Unternehmensführung<br />

unverzichtbaren Qualitäten<br />

eines vertrauensvoll und professionell<br />

zusammenarbeitenden Managements<br />

abgestellt (vgl. Staehle 1991: 119).<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

71<br />

JOACHIM HENTZE<br />

(Prof. Dr. rer. pol. habil. Dr. h. c.);<br />

Jg. 1940; Studium der Betriebswirtschaftslehre<br />

an den <strong>Universität</strong>en<br />

Hannover, Innsbruck, Göttingen;<br />

Promotion 1969 an der <strong>Universität</strong><br />

Hannover, Habilitation im Fach Betriebswirtschaftslehre;<br />

seit 1974<br />

Professor an der TU <strong>Braunschweig</strong>.<br />

Arbeitsschwerpunkte: humanressourcenorientierteUnternehmensführung,<br />

Unternehmensplanung,<br />

Organisation.


72 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 2<br />

Die <strong>Universität</strong>en sollten den Studierenden frühzeitig<br />

unternehmerisches Denken nahebringen.<br />

4 Kreative Fähigkeiten<br />

Die Erneuerung von Organisationen<br />

bringt zum Teil völlig unerwartete, bislang<br />

unbekannte Herausforderungen mit<br />

sich, die nur mittels kreativer Prozesse<br />

gelöst werden können. In der Kreativitätsforschung<br />

besteht schon lange darüber<br />

Einigkeit, dass Kreativität erforderlich<br />

wird, sobald eine Problemstellung<br />

so neu ist, dass keine routinemäßig<br />

passende Vorgehensweise zu<br />

einer Lösung führt.<br />

5 Lernfähigkeit<br />

Organisationales Lernen und speziell Lernen<br />

im Team werden als essenziell für<br />

die strategische Erneuerung beziehungsweise<br />

den »bahnbrechenden« Wandel<br />

angesehen und von »Corporate Entrepreneurship«<br />

forcierenden Organisationen<br />

entsprechend umfassend gefördert. Die<br />

Schaffung von Voraussetzungen für erfolgreiches<br />

Lernen beinhaltet zum Beispiel<br />

Maßnahmen der Personalentwicklung<br />

(»Entrepreneural Learning«), die<br />

Verbesserung der Kommunikationsstrukturen<br />

und des Lernklimas (in<br />

»lernenden« Organisationen) und zielt<br />

auf diese Weise auf eine Verbesserung<br />

der Bedingungen erfolgreichen Wissenstransfers.<br />

MITTLERES MANAGEMENT<br />

ALS PROMOTOR<br />

Im Gegensatz zur strategischen Führung<br />

liegt »Corporate Entrepreneurship« nicht<br />

vornehmlich in den Händen des Topmanagements;<br />

insbesondere die mittleren Führungskräfte<br />

dienen als Promotoren des Innovationsmanagements<br />

und »Change<br />

Agents« des Wandels (vgl. Fulop 1991).<br />

Zunächst kommt es allerdings durch »radikale«<br />

Dezentralisierungen »aufgeblähter«<br />

bürokratischer Strukturen in vielen Unternehmungen<br />

über eine Abflachung von Hierarchien<br />

zu einer merklichen »Ausdünnung«<br />

des mittleren Managements. Denjenigen<br />

Führungskräften, die nicht »Opfer«<br />

der Restrukturierung werden, stellen sich<br />

völlig veränderte Aufgaben im Sinne einer<br />

Synthese respektive einer »Balance« zwischen<br />

unternehmerischem und administrativem<br />

Denken und Handeln (vgl. Kanter<br />

1985). Im Unterschied zum unabhängigen<br />

Unternehmer bleiben die »Unternehmer im<br />

Unternehmen« mit ihren Vorhaben an den<br />

organisationalen Kontext (Gesamtstrategie,<br />

Organisationsstruktur, Budgets) gebunden.<br />

Sie haften zwar nicht mit ihrem Kapital,<br />

gefährden dagegen bei Misserfolgen ihre<br />

Karrieren; bei Erfolg fallen indes auch die<br />

monetären Vorteile vergleichsweise geringer<br />

aus.<br />

Die notwendigen Eigenschaften des »Corporate<br />

Entrepreneurs« lassen sich nach Aufgabenfeldern<br />

differenzieren (vgl. Moore<br />

1986). Im Rahmen von Ideengenerierung<br />

bis zur Ideenakzeptierung zählen dazu<br />

unter anderem Kreativität, »Mut zur Phantasie«,<br />

Initiative, Engagement« für eine<br />

Sache« und Lernfähigkeit. Außerdem sind<br />

Erfahrung und traditionelle »sachlich-technische«<br />

Managementkompetenz zur Etablierung<br />

neuer Geschäftsfelder und organisatorischer<br />

Strukturen erforderlich. Geht<br />

man vom »kollektiven internen Unternehmertum«<br />

bei vertrauensvoller Teamarbeit<br />

aus, so kommen (Selektions-)Kriterien wie<br />

soziale Kompetenz (Interaktionsfähigkeiten)<br />

und kontextspezifische Gruppenkompatibilität<br />

hinzu.<br />

FREIHEITSRÄUME<br />

GEWÄHREN<br />

Im Hinblick auf die Personalführung lässt<br />

sich zwischen strukturellen und personalen<br />

Führungsansätzen unterscheiden. Die institutionell-organisatorische<br />

Forcierung des<br />

»Corporate Entrepreneurship« beinhaltet<br />

allgemein die Gewährung von Freiheitsräumen.<br />

In der Organisationsliteratur finden<br />

sich keine einheitlichen Empfehlungen beziehungsweise<br />

Schlüsselfaktoren zur konkreten<br />

Ausgestaltung. Beispielsweise hebt<br />

Galbraith (1984) die Verteilung von Rollen<br />

(»Ideengeneratoren«, Sponsoren, Koordinatoren),<br />

(Innovations-)Prozessmanagement<br />

im weitesten Sinne, Anreizsysteme und<br />

Personalmanagement einschließlich Personalführung<br />

als zentrale Gestaltungsparameter<br />

hervor. Hinzufügen lassen sich die Gestaltungsbereiche<br />

Unternehmungskultur<br />

und Kommunikationsnetzwerke. In der<br />

Praxis wird versucht, durch die Implementierung<br />

von Profit-Centern (»Quasi-Unternehmungen«<br />

in der Unternehmung – vgl.<br />

Schweitzer 1992) entlang der Wertschöpfungskette<br />

und durch umfassende Kompetenzen<br />

des Leiters gekennzeichnetes, funktionsübergreifendes<br />

(»schwergewichtiges«)<br />

Projektmanagement in der Produktentwicklung<br />

(vgl. Clark/Wheelwright 1992)<br />

dem internen Unternehmertum näher zu<br />

kommen.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Die Führung von »Intrapreneuren« ist primär<br />

durch »Hilfe zur Selbsthilfe« zu charakterisieren.<br />

Pinchot (1988: 179 ff.) schlägt<br />

einen »Sponsorship«-Ansatz vor, der die<br />

Bereitstellung von Ressourcen, die Beseitigung<br />

organisatorischer »Hürden«, die Beratung<br />

und die »Protektion« des Innovators in<br />

der Unternehmung umfasst. Die vom Topmanagement<br />

zu initiierende beziehungsweise<br />

selbst wahrzunehmende Führungsaufgabe<br />

sollte ergänzt werden durch die<br />

Schaffung und Etablierung einer »Intrapreneurship-Kultur«<br />

(vgl. hierzu Frey/<br />

Kleinmann/Barth 1995: 1276).<br />

Dass Führung »ein ganz wichtiger Bestandteil<br />

der Arbeit des Intrapreneurs« ist,<br />

wird niemand bestreiten, doch findet diese<br />

Tatsache bislang keinen entsprechenden<br />

Niederschlag in der Personalführungsliteratur;<br />

allenfalls vage Gestaltungshinweise auf<br />

wenig ausgereifter Forschungsbasis finden<br />

sich dort. Darüber hinaus sind weitere<br />

grundlegende Schwächen im Konzept<br />

des »Corporate Entrepreneurship« nicht<br />

zu übersehen:<br />

1 Eine verbindliche Definition des Begriffes<br />

»Unternehmertum« und seiner<br />

»Abart«, des internen Unternehmers,<br />

existiert nicht; das erschwert die Charakterisierung<br />

und das Auffinden des<br />

nach Leistung, Einfluss und Unabhängigkeit<br />

strebenden »Corporate<br />

Entrepreneurs«. Deshalb lassen sich<br />

auch sehr unterschiedliche Eigenschaftsprofile<br />

– mit mehr oder oft<br />

minderer empirischer Fundierung – in<br />

der Literatur ausmachen (vgl. Grüner<br />

1993: 486 f.).<br />

2 Es stellt sich grundsätzlich die Frage,<br />

ob ein Intrapreneur überhaupt noch<br />

im eigentlichen Sinne unternehmerisch<br />

tätig sein kann (und will), wenn wichtige<br />

Elemente des Unternehmertums<br />

wegfallen, nämlich persönliches finanzielles<br />

Risiko, erwartete hohe monetäre<br />

Vorteile, Unabhängigkeit hinsichtlich<br />

Ressourcenbeschaffung und Unabhängigkeit<br />

von organisationalen Einflüssen<br />

(Organisationsstruktur, Unternehmenspolitik<br />

etc.). Diese Frage ist eng<br />

verbunden mit der<br />

3 Anreizproblematik. Einkommen kann<br />

nicht der entscheidende Motivator sein:<br />

»Das Gehalt eines Intrapreneurs steht<br />

oft in keinem Verhältnis zu seiner<br />

Arbeit« (Frey/Kleinmann/Barth 1995:<br />

1281). Ob es allerdings durch so genannte<br />

Intrakapitalsysteme (frei<br />

verfügbare, eigenerwirtschaftete finanzielle<br />

Ressourcen) tatsächlich gelingt,<br />

Voraussetzungen für eine »hervorragende«<br />

Arbeitsmotivation zu schaffen,<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Intrapreneure zu akquirieren und an<br />

die Unternehmung zu binden, ist nicht<br />

belegt.<br />

4 Kritisch ist ferner – auch unter zeitlichen<br />

Gesichtspunkten – die<br />

Erneuerungsfähigkeit bestehender<br />

Großunternehmen zu sehen. Gegenkräfte<br />

des Wandels sind neben »Trägheit«<br />

(Stopford/Baden-Fuller 1994: 525)<br />

großer Unternehmungen auch Widerstände<br />

gegen den Wandel.<br />

5 Auch im Hinblick auf ein »Entrepreneural<br />

Learning« (Grüner 1993) bleibt es<br />

zweifelhaft, dass in kürzeren Zeiträumen<br />

aus in traditionellen Strukturen<br />

von Großunternehmen sozialisierten<br />

»Sachwaltern« sozial kompetente Intrapreneure<br />

entwickelt werden können.<br />

Geht man davon aus (was keineswegs<br />

so eindeutig ist), dass eine Ausbildung<br />

zum Unternehmertum möglich ist, so<br />

fehlt – von Ausnahmen abgesehen – die<br />

erforderliche breit gefächerte, interdisziplinäre<br />

und anwendungsorientierte<br />

Grundausbildung im deutschen, österreichischen<br />

und schweizerischen (Hoch-)<br />

Schulwesen. Anders als in den USA, in<br />

denen nach Lück/Böhmer (1994) die<br />

Etablierung einer Entrepreneurship-<br />

Lehre an den <strong>Universität</strong>en bereits<br />

weit fortgeschritten ist, besteht in der<br />

deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre<br />

in Lehre und Forschung ein<br />

erheblicher Nachholbedarf.<br />

AN DEN UNIVERSITÄTEN<br />

BEGINNEN<br />

Vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />

und sich verschärfender Wettbewerbsbedingungen<br />

wird im Konzept des »Corporate<br />

Entrepreneurship« ein Instrument der Unternehmensführung<br />

gesehen, sich einen<br />

Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Durch<br />

die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft<br />

ist es notwendig, wachstumsorientierte<br />

unternehmerische Konzepte zu<br />

entwickeln, die sich an internationalen<br />

Maßstäben orientieren. Es sollen Wege aufgezeigt<br />

werden, den individuellen Wohlstand<br />

im Einklang mit gesellschaftlichen<br />

Normen und marktwirtschaftlichen Prozessen<br />

zu vergrößern. Die <strong>Universität</strong> kann im<br />

Rahmen ihrer Ausbildung unternehmerisches<br />

Denken fördern, indem die Studierenden<br />

angeregt werden, sich in die Lage<br />

des »Corporate Entrepreneurs« zu versetzen<br />

und so die Entscheidungen im unternehmerischen<br />

Prozess als verständlich und<br />

nachvollziehbar zu empfinden. Zu fördern<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

sind im Wesentlichen unternehmerische<br />

Schlüsselqualifikationen und -motivationen.<br />

Zu diesen Kernkompetenzen zählen:<br />

■ Gestaltungskompetenz (unter anderem<br />

strategieorientierte Innovationen),<br />

■ Sozialkompetenz (unter anderem kooperative<br />

Selbstorganisation, Integrationsfähigkeit)<br />

sowie<br />

■ Handlungskompetenz (unter anderem<br />

effiziente, kreative Ideenumsetzung).<br />

Anknüpfungspunkte für konkrete Maßnahmen<br />

sind die Dimensionen (indirekte)<br />

strukturelle Führung einerseits und direkte<br />

Beeinflussung (Personalführung) andererseits.<br />

Die strukturelle Führung fördert über<br />

unternehmerische Optimierung der Strategie,<br />

Organisation und Kultur der eigenen<br />

Organisationseinheit die Bedingungen für<br />

unternehmerisches Verhalten der Unternehmungsmitglieder.<br />

Die Institutionalisierung<br />

eines »Corporate Entrepreneurship«<br />

wird in der Literatur primär unter dem Gesichtspunkt<br />

der Gewährung von möglichst<br />

weitreichenden Handlungsspielräumen diskutiert.<br />

Direkte Beeinflussung wirkt unter anderem<br />

über persönlich oder teamorientiert<br />

adressierte Kommunikation, zum Beispiel<br />

über die Formulierung einer gemeinsam<br />

getragenen Mission, durch Zielvereinbarungen,<br />

durch darauf ausgerichtete Anreize,<br />

Fördermaßnahmen (Coaching, Mentoring),<br />

Selektionsprozesse und auch über Kontrollen.<br />

Das Konzept der unternehmerischen<br />

Führung enthält umfassende konzeptionelle<br />

Überlegungen und Postulierungen. Bei<br />

der Umsetzung kann es zu Schwierigkeiten<br />

kommen, wenn Führungskräfte in bislang<br />

hierarchischen Unternehmen mit unteren<br />

Ebenen ihre bisherigen Machtstellungen<br />

teilen müssen, um Mitarbeitern unternehmerische<br />

Freiräume zu gewähren. ■<br />

73


74 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

LITERATUR<br />

1 Clark, K. B./Wheelwright, S. C.: Organizing<br />

and Leading »Heavy-weight«<br />

Development Teams, in: California<br />

Management Review, Vol. 34 (1992),<br />

No. 3, S. 9-28.<br />

2 Frey, D./Kleinmann, M./Barth, S.:<br />

Intrapreneuring und Führung, in: Kieser,<br />

A./Reber, G./Wunderer, R. (Hrsg.):<br />

Handwörterbuch der Führung, 2. Aufl.,<br />

Stuttgart 1995, Sp. 1272-1284.<br />

3 Fulop, L.: Middle Managers: Victims or<br />

Vanguards of the Entrepreneural Movement?,<br />

in: The Journal of Management<br />

Studies, Vol. 28 (1991), S. 25-44.<br />

4 Galbraith, J. R.: Designing the Innovating<br />

Organization, in: Competitive<br />

Strategic Management (1984), S. 297-<br />

318.<br />

5 Grüner, H.: Entrepreneural Learning –<br />

Ist eine Ausbildung zum Unternehmertum<br />

möglich?, in: Zeitschrift für Berufsund<br />

Wirtschaftspädagogik, 89. Jg.<br />

(1993), S. 485-509.<br />

6 Kanter, R. M.: Supporting Innovation<br />

and Venture Management in Established<br />

Companies, in: Journal of Business<br />

Venturing, Vol. 1 (1985), S. 47-60.<br />

7 Lück, W./Böhmer, A.: Entrepreneurship<br />

als wissenschaftliche Disziplin in den<br />

USA, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche<br />

Forschung, 46. Jg. (1994),<br />

S. 403-421.<br />

8 Moore, C. F.: Understanding Entrepreneural<br />

Behavior: A Definition and<br />

Model, in: Academy of Management<br />

Best Paper Proceedings, Vol. 46 (1986),<br />

S. 66-70.<br />

9 Pinchot, G.: Intrapreneuring – Mitarbeiter<br />

als Unternehmer, Wiesbaden 1988.<br />

10 Reich, R. B.: Die Mär vom Entrepreneur,<br />

in: Harvard Manager, Vol. 10 (1988),<br />

Nr. 1, S. 11-16.<br />

11 Scholz, Ch.: Strategisches Management.<br />

Ein integrativer Ansatz, Berlin/New<br />

York 1987.<br />

12 Schumpeter, J. A.: Kapitalismus, Sozialismus<br />

und Demokratie, Bern 1946<br />

(deutsche Übersetzung von »Capitalism,<br />

Sozialism and Democracy«, New York<br />

1942).<br />

13 Schweitzer, M.: Profit-Center, in: Frese,<br />

E. (Hrsg.): Handwörterbuch der Organisation,<br />

3. Aufl., Stuttgart 1992, Sp.<br />

2078-2089.<br />

14 Staehle, W. H.: Unternehmer und Manager,<br />

in: Müller-Jentsch, W. (Hrsg.):<br />

Konfliktpartnerschaft: Akteure und<br />

Institutionen der industriellen Beziehungen,<br />

München/Mering 1991, S.<br />

105-121.<br />

15 Stopford, J. M./Baden-Fuller, C. W. F.:<br />

Creating Corporate Entrepreneurship,<br />

in: Strategic Management Journal, Vol.<br />

15 (1994), S. 521-536.<br />

16 Walz, H./Barth, Ch.: Intrapreneuring,<br />

in: Personal, 42. Jg. (1990), S. 358-<br />

363.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


76 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

AUSLÄNDISCHE STUDIERENDE<br />

AN DER TU BRAUNSCHWEIG<br />

Die Zahl ausländischer<br />

Studierender an der TU steigt<br />

seit Jahren. Während früher vor<br />

allem Studierende aus westlichen<br />

Staaten für ein oder zwei<br />

Semester kamen, wächst zurzeit<br />

die Zahl derjenigen, die ihre<br />

Ausbildung an der TU beenden<br />

wollen. Sie kommen immer<br />

häufiger aus »Entwicklungsländern«<br />

und Osteuropa und<br />

besitzen oft nur geringe<br />

Kenntnisse der deutschen<br />

Sprache. Diese Entwicklungen<br />

haben dazu geführt, dass<br />

Kapazitätsgrenzen erreicht sind:<br />

Das betrifft sowohl die<br />

Arbeitsbelastung des<br />

Akademischen Auslandsamts und<br />

des Sprachenzentrums als auch<br />

die Unterbringung der<br />

Studierenden. Der Autor plädiert<br />

daher für eine Steuerung der<br />

Zulassung – im Idealfall bereits<br />

durch eine Auswahl unserer<br />

Partnerhochschulen im<br />

Heimatland.<br />

ABBILDUNG 1<br />

Junge Menschen aus 137 Ländern studieren an der TU.<br />

VON ULRICH MENZEL<br />

Institut für Sozialwissenschaften<br />

der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Die deutschen <strong>Universität</strong>en stehen<br />

vor einem Strukturwandel, der<br />

tief greifender ist als derjenige, der<br />

durch die Hochschulreform der 1970er-<br />

Jahre ausgelöst wurde. Dabei reagieren die<br />

Hochschulen auf sich verändernde gesellschaftliche<br />

Rahmenbedingungen. Genannt<br />

seien nur der Übergang von der Industriezur<br />

Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft,<br />

die daraus resultierenden neuen Anforderungen<br />

an die Beschäftigten und die<br />

Internationalisierung der Wirtschaft vor<br />

dem Hintergrund des Mitte der 1980er-<br />

Jahre einsetzenden Globalisierungsdrucks.<br />

Die <strong>Universität</strong>en reagieren darauf unter<br />

anderem mit dem Umbau ihres Lehrangebots<br />

durch die Einführung von Kombinations-,<br />

Aufbau- und Weiterbildungsstudiengängen<br />

sowie durch die konsekutiv angelegten<br />

internationalen Studiengänge.<br />

An der TU <strong>Braunschweig</strong> äußern sich die<br />

genannten gesellschaftlichen Trends in einem<br />

seit Mitte der 1990er-Jahre einsetzenden<br />

Rückgang der Erstsemesterzahlen in<br />

den klassischen ingenieurwissenschaftlichen<br />

(Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauingenieurwesen)<br />

und naturwissenschaftlichen<br />

(Mathematik, Physik, Chemie) Studiengängen,<br />

der nicht nur auf konjunkturelle<br />

Ursachen zurückgeführt werden kann. Dieser<br />

Rückgang konnte nur zum Teil durch<br />

den vermehrten Zulauf in vergleichsweise<br />

junge Fächer wie die Informatik oder die<br />

neuen Kombinationsstudiengänge kompensiert<br />

werden. Fast parallel zum Nachfragerückgang<br />

in den klassischen Kernfächern ist<br />

der verstärkte Zulauf ausländischer Studierender<br />

zu registrieren, die in besonderem<br />

Maße solche Studiengänge nachfragen, die<br />

im weiteren Sinne der IT-Branche, aber<br />

auch den neuen Dienstleistungsberufen zuzurechnen<br />

sind. Auf diese Weise tragen sie<br />

dazu bei, den Strukturwandel des Lehrangebots<br />

zu forcieren.<br />

Der nahe liegende Gedanke, nach dem<br />

Muster amerikanischer <strong>Universität</strong>en mit<br />

einer offensiven Marketingstrategie qualifizierte<br />

Bewerber aus der ganzen Welt nach<br />

<strong>Braunschweig</strong> zu holen, Anstrengungen zu<br />

unternehmen, um auch in den klassischen<br />

Fächern die freien Kapazitäten durch ausländische<br />

Studierende aufzufüllen und den<br />

Nachwuchsmangel zu beheben, trifft auf erhebliche<br />

strukturelle Probleme, nicht zuletzt<br />

deshalb, weil die TU <strong>Braunschweig</strong><br />

von einer wirklichen Internationalisierung<br />

ihres Lehrangebots, die einem strategischen<br />

Konzept folgt, trotz erster zögerlicher<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Schritte in diese Richtung noch weit entfernt<br />

ist. 1 Andere deutsche <strong>Universität</strong>en<br />

sind in dieser Hinsicht schon ein ganzes<br />

Stück weiter.<br />

SPRACHPROBLEME<br />

LÖSEN<br />

Das Profil der ausländischen Studierenden<br />

an der TU <strong>Braunschweig</strong> ist seit fünf Jahren<br />

einer starken Veränderung unterworfen. 2<br />

Hervorzuheben ist der außerordentliche<br />

Anstieg der Bewerberzahlen. Während in<br />

früheren Jahren im Schnitt zu jedem Wintersemester<br />

(WS) etwa 500 Anträge eingegangen<br />

sind, ist seit dem WS 1998/99 ein<br />

exponentielles Wachstum auf 1.410 im<br />

WS 2000/01, 2.360 im WS 2001/02 und<br />

4.000 im WS 2002/03 zu verzeichnen.<br />

Von diesen Bewerbern erfüllen etwa zwei<br />

Drittel die deutsche Hochschulzugangsvoraussetzung,<br />

sodass sie die Zulassung erhalten.<br />

Das waren im WS 2001/02 etwa<br />

1.250 Personen, von denen sich schließlich<br />

436 tatsächlich in <strong>Braunschweig</strong> immatrikulierten.<br />

Zum Vergleich: Im WS 1997/98<br />

waren es lediglich 79 Immatrikulationen.<br />

Gemessen an der Gesamtzahl aller Immatrikulationen<br />

betrug die Ausländerquote in<br />

den letzten drei Jahren etwa 18 Prozent.<br />

Auch wenn berücksichtigt wird, dass viele<br />

ausländische Studierende nur für ein bis<br />

zwei Semester nach <strong>Braunschweig</strong> kommen,<br />

so hat sich doch die Zahl der Ausländer<br />

in den letzten fünf Jahren etwa verdoppelt.<br />

Die Ausländerquote hat sich, bezogen<br />

auf alle Studierende, von knapp fünf (WS<br />

1995/96) auf knapp elf Prozent (WS 2001/<br />

02) erhöht. Dies liegt auch daran, dass die<br />

Zahl der deutschen Studierenden im gleichen<br />

Zeitraum aufgrund der rückläufigen<br />

Erstsemesterzahlen in ingenieur- und naturwissenschaftlichen<br />

Studiengängen abgenommen<br />

hat. Ohne den vermehrten Zustrom<br />

von Ausländern wäre der Rückgang<br />

der Gesamtzahl aller Studierenden (WS<br />

1991/92 = 17.454, WS 2001/02 =<br />

14.400) noch stärker ausgefallen.<br />

Dahinter verbirgt sich allerdings ein Problem.<br />

Voraussetzung zur Aufnahme eines<br />

Fachstudiums ist der Nachweis entsprechender<br />

Sprachkenntnisse, die durch die<br />

Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang<br />

(DSH) beziehungsweise neuerdings<br />

durch den TestDaF zu erbringen sind.<br />

Leider ist es aber so, dass ein wachsender<br />

Anteil derjenigen, die zum Studium zuge-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

77<br />

ULRICH MENZEL<br />

(Prof. Dr. ); Jg. 1947; 1969-1974<br />

Studium der Politikwissenschaft,<br />

Geschichte, Philosophie und Germanistik<br />

an den <strong>Universität</strong>en Düsseldorf,<br />

Köln und Frankfurt,Abschluss<br />

1. Staatsexamen; 1978 Promotion<br />

an der <strong>Universität</strong> Frankfurt, dort<br />

1982 auch Habilitation im Fach Politikwissenschaft;<br />

1975-1993 lehrte<br />

und forschte Professor Menzel an<br />

den <strong>Universität</strong>en Bremen,Tokyo,<br />

Frankfurt und Duisburg; 1993 erhielt<br />

er einen Ruf auf den Lehrstuhl für<br />

Internationale und Vergleichende<br />

Politik am Institut für Sozialwissenschaften<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong>;<br />

Erfahrungen in der akademischen<br />

Selbstverwaltung: 1995-1997<br />

Dekan, 1997-1999 Mitglied des<br />

Senats, 1999-2001 Mitglied der<br />

Planungskommission, seit Oktober<br />

2001 Vizepräsident für den Bereich<br />

»Lehre, Studium und Weiterbildung«<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong>.


78 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

lassen werden könnten, nicht über adäquate<br />

Sprachkenntnisse verfügen. Dieses ist in<br />

den letzten Jahren dadurch aufgefangen<br />

worden, dass das Sprachenzentrum verstärkt<br />

Kurse im Bereich Deutsch als Fremdsprache<br />

(DaF) angeboten hat, um auf die<br />

DSH vorzubereiten. Es wächst aber die<br />

Zahl derjenigen, deren Deutschkenntnisse<br />

so gering sind, dass selbst für die Kurse des<br />

Sprachenzentrums die Voraussetzung fehlt.<br />

Ohne ausreichende Deutschkenntnisse<br />

macht aber, solange kaum englischsprachige<br />

Lehrveranstaltungen angeboten werden,<br />

ein Fachstudium keinen Sinn.<br />

STUDIERENDE AUS<br />

ALLER WELT<br />

Aus welchen Ländern rekrutieren sich die<br />

rund 1.500 Ausländer, die im WS 2001/02<br />

in <strong>Braunschweig</strong> studiert haben? Eine Aufschlüsselung<br />

nach Herkunftsländern zeigt,<br />

dass nahezu die gesamte Welt vertreten ist,<br />

sodass insofern tatsächlich von einer Internationalisierung<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong> gesprochen<br />

werden kann. Mit Abstand wichtigstes<br />

Herkunftsland ist derzeit China mit<br />

259 Studierenden beziehungsweise 16,8<br />

Prozent aller Ausländer, gefolgt von Tunesien,<br />

der Türkei und Kamerun. Diese vier<br />

stellen zusammen fast 48 Prozent aller<br />

Ausländer. Auf den nächsten Plätzen folgen<br />

mit deutlichem Abstand Spanien, Polen,<br />

Rumänien, Italien, Russland, Griechenland<br />

und der Iran. Die USA landen mit 27 Studierenden<br />

beziehungsweise 1,8 Prozent lediglich<br />

auf Platz 13. Die neun wichtigsten<br />

Herkunftsländer erreichen zusammen 63<br />

Prozent.<br />

Fasst man die einzelnen Herkunftsländer<br />

über die letzten drei Jahre nach Weltregionen<br />

zusammen, werden gewaltige Verschiebungen<br />

deutlich. Westeuropa, Nordamerika<br />

und Lateinamerika stagnieren, Afrika<br />

südlich der Sahara hat einen geringen<br />

Zuwachs zu verzeichnen, während Osteuropa,<br />

der Nahe und Mittlere Osten sowie<br />

Ostasien hohe Zuwächse verzeichnen. Auffällig<br />

ist auch, dass englischsprachige Herkunftsländer<br />

wie zum Beispiel Indien, Pakistan<br />

oder andere ehemalige britische Kolonien<br />

kaum vertreten sind. Studierende<br />

aus solchen Ländern gehen direkt in die<br />

USA, nach Australien, Kanada oder Großbritannien<br />

und nicht nach Deutschland,<br />

wo sie erst Deutschkenntnisse erwerben<br />

müssten.<br />

ABBILDUNG 2<br />

Das Lernen der deutschen Sprache – oft mit großen Schwierigkeiten verbunden.<br />

Ein besonderer Faktor sind die so genannten<br />

Bildungsinländer, also Studierende mit<br />

deutschem Hochschulzugang (Abitur, Fachhochschulabschluss),<br />

aber ohne deutsche<br />

Staatsbürgerschaft. Sie spielen bei klassischen<br />

Gastarbeiterländern wie der Türkei<br />

oder Ex-Jugoslawien eine erhebliche Rolle,<br />

aber auch bei Herkunftsländern wie dem<br />

Iran, aus dem zu früheren Zeiten zahlreiche<br />

politische Asylsuchende nach Deutschland<br />

gekommen sind. Die Bildungsinländer umfassen<br />

derzeit immerhin 20 Prozent der<br />

ausländischen Studierenden und stellen bei<br />

etlichen Herkunftsländern sogar die Mehrheit.<br />

Diese Unterscheidung ist insofern<br />

wichtig, da bei dieser Gruppe keine Sprachprobleme<br />

bestehen und sie sich in ihrem<br />

Studienverhalten (Fächerwahl, Studiendauer,<br />

Erfolgsquote) wie Deutsche verhalten.<br />

BERUFSORIENTIERTE<br />

FÄCHERWAHL<br />

Welche Fächer werden von den Ausländern<br />

belegt? Zwar sind fast alle Studiengänge<br />

vertreten, doch ist eine Konzentration auf<br />

bestimmte Fächer sowie ein Verlagerungsprozess<br />

zu konstatieren. An der Spitze der<br />

Beliebtheit stehen Informatik, Maschinenbau,<br />

Elektrotechnik und Wirtschaftsinformatik,<br />

gefolgt mit deutlichem Abstand von<br />

Germanistik, Architektur, Bauingenieurwesen,<br />

Pharmazie, Chemie, Computational<br />

Sciences in Engineering (CSE), Wirtschaftsingenieurwesen/Elektrotechnik<br />

und Biologie.<br />

Die übrigen Fächer weisen nur geringe<br />

Fallzahlen auf.<br />

Trotz des noch immer hohen Niveaus<br />

sind in dieser Rangliste absteigende Fächer<br />

Maschinenbau und Germanistik, während<br />

vor allem Informatik, Elektrotechnik, Wirtschaftsinformatik,<br />

CSE und Wirtschaftsingenieurwesen/Elektrotechnik<br />

starken Zulauf<br />

erfahren haben. Damit konkurrieren die<br />

Ausländer um Plätze in solchen Studiengängen,<br />

die auch von Deutschen stark nachgefragt<br />

werden. Ausnahme ist die Elektrotechnik:<br />

Ihre Attraktivität hat für Deutsche<br />

stark nachgelassen, sodass hier eine willkommene<br />

Auslastung brachliegender Kapazitäten<br />

stattfindet.<br />

Der Hinweis, dass die Herkunft der Ausländer<br />

sich tendenziell von den westlichen<br />

Ländern in Richtung auf die so genannte<br />

Dritte Welt und Osteuropa verlagert, weist<br />

darauf hin, dass die durchschnittliche Verweildauer<br />

der Ausländer zunimmt. Während<br />

früher bis zu 80 Prozent der Ausländer<br />

so genannte Programmstudierende<br />

waren, die nur für ein oder zwei Semester<br />

nach <strong>Braunschweig</strong> kamen, wächst der Anteil<br />

derjenigen mit einer längeren Aufenthaltsdauer<br />

– bis hin zu der Absicht, ein<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


komplettes Studium zu absolvieren und<br />

in <strong>Braunschweig</strong> das Examen abzulegen.<br />

Ebenso nimmt der Anteil derjenigen zu, die<br />

»auf eigene Faust« – ohne Unterstützung<br />

durch ein Programm – für ein bis zwei Semester<br />

kommen. Auch wenn die Zahl der<br />

ausländischen Absolventen immer noch gering<br />

ist, dürfte diese doch in wenigen Jahren<br />

signifikant steigen; dies ist auf die veränderte<br />

Motivation für den Deutschlandaufenthalt<br />

zurückzuführen.<br />

Kombiniert man schließlich die diversen<br />

Merkmale, lassen sich bestimmte Cluster<br />

identifizieren. Elektrotechnik und Informatik<br />

ziehen in besonderem Maße Tunesier,<br />

Maschinenbau Spanier, Wirtschaftsinformatik<br />

Chinesen, Chemie Rumänen und Germanistik<br />

Russen und Polen an. Dieses Phänomen<br />

lässt sich durch besondere Faktoren<br />

wie etwa Partnerschaften zu ausländischen<br />

Hochschulen oder das Engagement einzelner<br />

Hochschullehrer in <strong>Braunschweig</strong> wie<br />

bei den Herkunftsuniversitäten erklären.<br />

Möglicherweise gibt es auch »Trampelpfadeffekte«<br />

bei einzelnen Staaten, wie zum<br />

Beispiel bei Kamerun.<br />

Zusammenfassend lässt sich vereinfacht<br />

als Gesamttrend formulieren: Das starke<br />

Anwachsen ausländischer Studierender<br />

wird begleitet beziehungsweise sogar verursacht<br />

durch die Verlagerung von Studierenden<br />

aus westlichen Ländern mit kurzer Verweildauer<br />

in den klassischen Studiengängen<br />

zu solchen aus Entwicklungsländern<br />

beziehungsweise Osteuropa hin zu den<br />

neuen Studiengängen, die ein komplettes<br />

Studium absolvieren wollen. Dabei verliert<br />

die Förderung durch Austauschprogramme<br />

zugunsten eines selbst finanzierten und<br />

selbst organisierten Studiums an Bedeutung.<br />

VIER<br />

KAPAZITÄTSENGPÄSSE<br />

Dieser im Lichte der eingangs skizzierten<br />

Überlegungen erfreuliche Prozess wirft allerdings<br />

eine Reihe Probleme auf, die ohne<br />

drastische Maßnahmen kaum mehr zu<br />

handhaben sind. An erster Stelle sind die<br />

aus dem Andrang resultierenden Kapazitätsengpässe<br />

zu nennen. Das betrifft zuerst<br />

das Akademische Auslandsamt (AKA): Wenn<br />

man berücksichtigt, dass ein Zulassungsantrag<br />

im Schnitt eine Bearbeitungszeit von<br />

etwa 30 Minuten erfordert und dass jeder<br />

in <strong>Braunschweig</strong> immatrikulierte Ausländer<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

für längere Zeit betreut werden sollte, dann<br />

sind bereits 3.000 Bewerbungen, 2.000 Zulassungen<br />

und 1.000 Immatrikulationen<br />

unter den gegebenen Bedingungen nicht<br />

mehr zu verkraften.<br />

Der zweite Engpass offenbart sich beim<br />

Sprachenzentrum im Bereich DaF. Bislang<br />

wurden alle Anstrengungen unternommen,<br />

jedem den Weg zur DSH zu ermöglichen.<br />

Zu diesem Zweck wurde durch die Beschäftigung<br />

immer weiterer Lehrkräfte das Kursangebot<br />

im Bereich DaF kontinuierlich von<br />

28 Semesterwochenstunden (SWS) auf 150<br />

SWS gesteigert, sodass die Zahl der Teilnehmer<br />

an den Sprachkursen seit 1990 von 80<br />

auf fast 500 gesteigert werden konnte. Da<br />

die mitgebrachten Sprachkenntnisse der<br />

Teilnehmer immer geringer werden, gleichzeitig<br />

die Teilnehmerzahl pro Kurs erhöht<br />

wurde, ist die Durchfallquote bei den DSH-<br />

Prüfungen deutlich gestiegen, sodass auch<br />

noch die Zahl derjenigen zunimmt, die den<br />

Sprachkurs wiederholen müssen. Berücksichtigt<br />

man ferner den zusätzlichen Betreuungsaufwand<br />

und die wachsende Zahl von<br />

Sprachprüfungen, wird einsichtig, dass die<br />

Kapazitätsgrenze des Sprachenzentrums erreicht,<br />

wenn nicht bereits überschritten ist.<br />

Hinzu kommt ein qualitativer Faktor. Der<br />

hohe Zuwachs von Studierenden aus China<br />

hat zu einer besonderen Belastung geführt,<br />

da bei den Chinesen die Deutschkenntnisse<br />

in der Regel ausgesprochen gering sind.<br />

Mehr als die Hälfte der derzeit in <strong>Braunschweig</strong><br />

studierenden Chinesen haben deshalb<br />

noch kein Fachstudium aufgenommen,<br />

sondern sind lediglich im Fach DaF<br />

eingeschrieben. Diese Möglichkeit ist eine<br />

<strong>Braunschweig</strong>er Besonderheit. Von den neu<br />

immatrikulierten Chinesen dürfte kaum jemand<br />

sofort zum Fachstudium zugelassen<br />

werden. Das wiederum hat dazu geführt,<br />

dass nahezu zwei Drittel der Teilnehmer<br />

der DaF-Kurse aus China stammen. Da aber<br />

die Spracherwerbsprobleme entsprechend<br />

der Nähe oder Ferne der Muttersprache<br />

zum Deutschen durchaus unterschiedlich<br />

sind, dominieren die Chinesen mit ihren<br />

Problemen die Sprachkurse – eine Tatsache,<br />

die von den Teilnehmern anderer<br />

Nationalitäten durchaus reserviert betrachtet<br />

wird.<br />

Ein dritter Engpass offenbart sich bei der<br />

Unterbringung der Ausländer. Deutschen<br />

Studierenden steht eine breite Palette von<br />

Möglichkeiten offen. Im Bundesdurchschnitt<br />

wohnen sie nach einer Erhebung<br />

des Deutschen Studentenwerks weiterhin<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

zu Hause (21 %), sie mieten eine Wohnung<br />

allein (21 %) oder mit einem Partner (19 %),<br />

sie gründen mit anderen eine Wohngemeinschaft<br />

(22 %), sie wohnen (immer seltener)<br />

zur Untermiete (2 %) oder sie finden einen<br />

Platz in einem Studentenwohnheim (14 %).<br />

Ausländern stehen diese Alternativen aus<br />

nahe liegenden Gründen – zumal wenn<br />

sie nur für ein bis zwei Semester in <strong>Braunschweig</strong><br />

studieren – nur sehr eingeschränkt<br />

zur Verfügung. Sie sind deshalb auf das Angebot<br />

der Studentenwohnheime angewiesen.<br />

Deren Angebot ist in <strong>Braunschweig</strong><br />

mit insgesamt 2.175 Plätzen (Studentenwerk,<br />

Hochschulgemeinden, studentische<br />

Verbindungen) durchaus beachtlich: Es entspricht<br />

etwa 15 Prozent der derzeit an der<br />

TU Studierenden, liegt deutlich höher als<br />

etwa in Hannover (7 %), aber auch deutlich<br />

niedriger als in Göttingen (23 %).<br />

Dennoch ist das Angebot nicht mehr ausreichend.<br />

Die 2.175 Plätze werden in<br />

1.280 Fällen von Deutschen und in 895<br />

Fällen von Ausländern belegt (Stand Oktober/November<br />

2001). Das bedeutet, dass<br />

knapp zehn Prozent der Deutschen, aber<br />

fast 60 Prozent der Ausländer im Studentenwohnheim<br />

wohnen und die Belegungsquote<br />

durch die Ausländer in den Wohnheimen<br />

41 Prozent beträgt. Von Wohnheim<br />

zu Wohnheim ist sie allerdings sehr unterschiedlich.<br />

Als Faustregel gilt: Je größer das<br />

Wohnheim beziehungsweise je niedriger<br />

die Miete, desto höher der Ausländeranteil.<br />

»An der Schunter« und »APM/Rebenring«<br />

(»Affenfelsen«) weisen deshalb eine Quote<br />

von 51 beziehungsweise 52 Prozent Ausländer<br />

auf, der »Michaelishof« nur eine<br />

Quote von 16 Prozent.<br />

Deutliche Hinweise, dass das Angebot<br />

nicht mehr ausreicht, sind die lange Warteliste,<br />

die vom Studentenwerk geführt wird,<br />

und der Umstand, dass es offenbar eine<br />

Dunkelziffer von »Gästen« gibt, die für<br />

kurze oder längere Zeiträume das Zimmer<br />

mit einem Kommilitonen teilen, bis sie<br />

einen eigenen Wohnheimplatz bekommen.<br />

Faktisch reduziert wird das Angebot auch<br />

durch die Zunahme der Verweildauer bei<br />

den Ausländern. Konnte ein Zimmer früher<br />

vielleicht jedes Jahr neu vermietet werden,<br />

so bleibt es jetzt vier, fünf oder sechs Jahre<br />

belegt, bis ein Wechsel stattfindet. Da die<br />

Belegungsquote der Ausländer nicht noch<br />

weiter gesteigert werden kann, wenn der<br />

Gedanke der sozialen Integration nicht völlig<br />

preisgegeben werden soll, ist auch hier<br />

eine Grenze erreicht.<br />

79


80 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

ABBILDUNG 3<br />

Das Akademische Auslandsamt ist erste<br />

Anlaufstelle für ausländische Studieninteressenten<br />

und hält umfangreiches Informationsmaterial<br />

bereit.<br />

Der vierte Engpass resultiert aus dem Numerus<br />

clausus. Der NC bedeutet, dass in<br />

dem betreffenden Studiengang die Ausländerquote<br />

lediglich acht Prozent (früher 5 %)<br />

betragen darf. Da aber die ausländischen<br />

Studierenden keineswegs bevorzugt solche<br />

Studiengänge nachfragen, in denen es<br />

brachliegende Kapazitäten gibt, sondern<br />

eher solche, die auch von Deutschen bevorzugt<br />

werden, stoßen sie auf eine dreifache<br />

Hürde: NC, Ausländerquote und besonders<br />

hoher NC im Ausländerkontingent, wenn<br />

die Relation von Bewerbungen zu Studienplätzen<br />

besonders ungünstig ist. Mit dieser<br />

Situation konfrontiert werden sie in vielen<br />

Fällen aber erst, wenn sie bereits ein oder<br />

zwei Jahre lang Deutschkurse besucht und<br />

die DSH bestanden haben. Nur wenn sich<br />

nicht genug Deutsche für ein NC-Fach beworben<br />

haben, können ausländische Studieninteressenten<br />

die freien Kapazitäten einnehmen.<br />

STEUERUNG NOTWENDIG<br />

Die beschriebenen Trends und Engpässe<br />

geben die Situation im WS 2001/02 wieder.<br />

Im Verlaufe des Jahres 2002 hat sich<br />

die Situation weiter zugespitzt, weil die Zunahme<br />

der Bewerbungen ungebrochen ist.<br />

Zum Sommersemester (SS) sind fast 2.000<br />

Bewerbungen eingegangen, zum WS<br />

2002/03 hat sich die Zahl auf 4.000 Bewerbungen<br />

verdoppelt. Hinzu kommt aufseiten<br />

des Sprachenzentrums ein gewachsener<br />

Berg von »Wiederholern«, die<br />

die DSH nicht bestanden haben und<br />

die Sprachkurse wiederholen müssen.<br />

Damit ist klar, dass die bislang verfolgte<br />

Politik, die steigenden Bewerbungen mit<br />

großer Kraftanstrengung irgendwie zu bewältigen<br />

und jeden, der die formalen Voraussetzungen<br />

erfüllt, zum Studium zuzulassen,<br />

nicht fortgesetzt werden kann. Selbst<br />

wenn im AKA und im Sprachenzentrum die<br />

Engpässe durch Verlagerung von Personal<br />

und Ressourcen aufgebohrt würden – was<br />

zum Teil auch schon geschehen ist –, ist das<br />

keine Lösung. Erstens kann dieses nicht in<br />

beliebigem Umfang immer weiter geschehen,<br />

und zweitens sind damit die Engpässe<br />

bei den Wohnheimen, deren Angebot nur<br />

langfristig durch den Bau weiterer Heime<br />

zu erweitern ist, und bei den NC-Fächern<br />

nicht behoben.<br />

Maßnahmen zur quantitativen und qualitativen<br />

Steuerung des Andrangs sind deshalb<br />

unvermeidlich. Das Problem ist nur,<br />

dass fast jede Regulierungsmaßnahme,<br />

wenn sie nicht schlicht darauf hinausläuft,<br />

einen bestimmten Prozentsatz der Anträge<br />

einfach nicht zu bearbeiten, mit zusätzlichem<br />

Arbeitsaufwand verbunden ist, den<br />

das AKA zu leisten hat.<br />

Wenn wir von den Engpässen ausgehen,<br />

ist das entscheidende Nadelöhr das Sprachenzentrum.<br />

Im SS 2002 konnte wegen<br />

der »Wiederholer« fast niemand neu aufgenommen<br />

werden. Also lautet der erste<br />

Filter: Sortierung der Anträge nach dem<br />

leicht zu erfassenden Kriterium, ob DSH beziehungsweise<br />

TestDaF vorliegt oder nicht.<br />

Durch diesen Filter wird die Zahl der Anträ-<br />

ge halbiert. Erst wenn das Sprachkriterium<br />

erfüllt ist, wird die mehr Aufwand erfordernde<br />

Hochschulzugangsberechtigung<br />

geprüft. Ist das Ergebnis positiv, kann der<br />

Studieninteressent sich für sein Studienfach<br />

immatrikulieren. Schreiben sich diese<br />

Zugelassenen tatsächlich ein, ist davon das<br />

Sprachenzentrum nicht betroffen.<br />

Doch was geschieht mit den übrigen 2.000<br />

Bewerbungen des Wintersemesters? Eine<br />

pragmatische Lösung besteht darin, die freien<br />

Kapazitäten des Sprachenzentrums zum<br />

Wintersemester als Richtschnur zu nehmen.<br />

Es dürfte sich um etwa 80 bis 100<br />

Plätze handeln. Wenn die bisherige Relation<br />

von Anträgen, Zulassungen und Immatrikulationen<br />

fortgeschrieben wird, kommt<br />

man auf etwa 350 zu prüfende Anträge, um<br />

am Ende 80 Studieninteressenten zu immatrikulieren<br />

– zunächst alle im Fach DaF.<br />

Wie filtere ich aber aus der Zahl von 2.000<br />

übrig gebliebenen Bewerbungen die 350<br />

besten heraus? Selbst wenn man sich über<br />

entsprechende Auswahlkriterien verständigt,<br />

würde diese Auswahl einen erheblichen<br />

Aufwand der Vorbearbeitung vonseiten<br />

des AKA und der anschließenden<br />

Auswahl durch die entsprechenden Fachvertreter<br />

erfordern. Diese wäre nur zu leisten,<br />

wenn das AKA zusätzliches Personal<br />

bekommt und die einzelnen Fächer kooperieren.<br />

Die Alternative ist ein schlichtes<br />

Losverfahren. Um zu verhindern, dass auf<br />

diese Weise nur Bewerber aus einem Land<br />

zum Zug kommen, die eventuell die große<br />

Mehrheit derjenigen stellen, die das DSH-<br />

Kriterium nicht erfüllen, und Studieninteressenten<br />

aus Herkunftsländer, die unterrepräsentiert<br />

sind, kaum eine Chance haben,<br />

bietet sich an, die 350 nach Ländern zu<br />

quotieren und erst anschließend zu losen.<br />

Das Ergebnis dieses Verfahrens, das so für<br />

das Wintersemester 2002/03 vorgesehen<br />

ist, ist ambivalent. Aufgrund der insgesamt<br />

hohen Bewerberzahlen wird die Zahl der<br />

am Ende immatrikulierten Ausländer nicht<br />

geringer sein als in früheren Jahren. Da das<br />

Sprachkriterium im Vordergrund steht, ist<br />

es der eigentliche qualitative Filter. Es ist zu<br />

hoffen, dass bei den Zertifikaten nicht zu<br />

viele Fälschungen vorliegen, da sich im<br />

Fachstudium rasch herausstellt, ob die<br />

Sprachkenntnisse wirklich ausreichen.<br />

Dass es hier eine Dunkelziffer in unbekannter<br />

Höhe gibt, ist seit langem bekannt.<br />

Würde die DSH in <strong>Braunschweig</strong> abgelegt,<br />

wäre die Garantie sicherlich höher. Erreicht<br />

würde auch eine Entlastung von AKA und<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Sprachenzentrum; dabei würde eine Umverteilung<br />

von Ressourcen weitgehend vermieden.<br />

Ärgerlich ist allerdings, dass ein Potenzial<br />

von etwa 2.000 (in Zukunft womöglich<br />

noch mehr) Studieninteressierten nicht ausgeschöpft<br />

wird, weil man so nicht in der<br />

Lage ist, aus denjenigen, bei denen die<br />

Sprachvoraussetzungen nicht vorliegen, die<br />

fachlich besten auszusuchen. Dies ist vor<br />

allem deshalb ärgerlich, weil etliche Studiengänge<br />

ja erhebliche freie Kapazitäten<br />

haben und mit Nachwuchsproblemen konfrontiert<br />

sind. Zudem ist auf der deklamatorischen<br />

Ebene schon lange die Rede davon,<br />

dass die <strong>Universität</strong>en sich ihre Studierenden<br />

selbst aussuchen sollten. Dies erfordert<br />

in der Praxis angesichts der Dimensionen<br />

des Problems allerdings einen zusätzlichen<br />

Aufwand, den offenbar niemand so ohne<br />

weiteres zu betreiben bereit ist. Ärgerlich<br />

ist auch der Umstand, dass sich die internationale<br />

Strategie der TU <strong>Braunschweig</strong> der-<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

zeit im Wesentlichen auf die Regulierung<br />

des Zugangs für Ausländer beschränkt beziehungsweise<br />

dieses Problem alle anderen<br />

positiven Ansätze auf diesem Feld überschattet.<br />

Die bessere Strategie im Umgang mit der<br />

Ausländerfrage, quantitative Begrenzung<br />

bei gleichzeitiger qualitativer Auswahl aus<br />

allen Anträgen, ist derzeit nicht zu realisieren.<br />

Noch weniger zu realisieren erscheint<br />

die optimale Strategie, nämlich bereits in<br />

den Herkunftsländern durch gezielte Werbung<br />

und Auswahl die Qualität der Zulassungsanträge<br />

zu beeinflussen. Dazu wären<br />

die Intensivierung der Hochschulpartnerschaften<br />

und des Sprachangebots im Herkunftsland<br />

sowie eine Auswahlprüfung vor<br />

Ort notwendig. Sollen die eingangs geschilderten<br />

grundsätzlichen Überlegungen nicht<br />

nur deklamatorischen Charakter haben, ist<br />

es Zeit zu handeln, muss die internationale<br />

Strategie der TU <strong>Braunschweig</strong> endlich in<br />

Angriff genommen werden. ■<br />

FUSSNOTEN<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

1 Vgl. dazu die Überlegungen bei Franz-Joseph<br />

Barthold, Internationalisierung: Notwendiges<br />

Übel oder akademisches Selbstverständnis? In:<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 36.2001,2. S. 72-76.<br />

2 Vgl. dazu ausführlich Ulrich Menzel unter Mitarbeit<br />

von Stefan Jahns,Ausländische Studierende<br />

an der TU <strong>Braunschweig</strong>. Bestandsaufnahme<br />

und hochschulpolitische Empfehlungen. Forschungsberichte<br />

aus dem Institut für Sozialwissenschaften<br />

Nr. 47, März 2002. 154 S. Der Forschungsbericht<br />

kann im Internet unter<br />

http://www.tu-bs.de/~umenzel/ abgerufen<br />

werden.<br />

81


82 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ NACHRICHTEN<br />

AUS DER<br />

FORSCHUNG<br />

Helipod – fliegendes<br />

Messgerät auf<br />

Forschungskampagne<br />

Wie entwickelt sich unser Klima<br />

in der Zukunft? Welchen Einfluss<br />

hat der Mensch darauf?<br />

Und mit welchen Folgen des<br />

Treibhauseffektes ist zu rechnen?<br />

Im Auftrag der Klimaund<br />

Atmosphärenforschung<br />

wird das neuartige Turbulenzmessgerät<br />

Helipod der TU<br />

diesen Fragen nachgehen.<br />

Der Helipod ist ein weltweit<br />

einmaliges meteorologisches<br />

Forschungsgerät.An einem<br />

15 Meter langen Seil wird es<br />

von einem Hubschrauber geschleppt<br />

und sammelt dabei<br />

Daten aus der Atmosphäre.<br />

Das fünf Meter lange und<br />

250 Kilogramm schwere<br />

Messsystem wurde in gemeinsamer<br />

Arbeit von dem<br />

Institut für Meteorologie und<br />

Klimatologie der <strong>Universität</strong><br />

Hannover, von der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

und von der Firma<br />

Aerodata, <strong>Braunschweig</strong>, entwickelt<br />

und gebaut. Seit 2001<br />

wird der Helipod am TU-Institut<br />

für Luft- und Raumfahrtsysteme<br />

(ILR) unter Leitung<br />

von Professor Dr. Peter<br />

Vörsmann betreut.<br />

Im Rahmen zweier Forschungsprogramme<br />

der Bundesregierung<br />

findet bis 2003<br />

eine groß angelegte Messkampagne<br />

in einer für Mitteleuropa<br />

typischen Region –<br />

50 Kilometer südöstlich von<br />

Berlin – statt. Dort unterhält<br />

der Deutsche Wetterdienst<br />

das Meteorologische Observatorium<br />

Lindenberg inmitten<br />

einer Landschaft aus Seen,<br />

Wald,Wiesen und unterschiedlicher<br />

Landnutzung.<br />

Sowohl das Deutsche Klimaforschungsprogramm<br />

als<br />

auch das Programm Atmosphärenforschung<br />

2000<br />

zielen unter anderem auf<br />

ein besseres Wissen über die<br />

Funktion und Belastungsgrenze<br />

natürlicher Systeme<br />

und auf wirksamere Methoden,<br />

Schadstoffe zurückzuhalten.<br />

An dem Vorhaben sind zahlreiche<br />

meteorologische Forschungsinstitute<br />

aus ganz<br />

Deutschland beteiligt. Der<br />

Helipod stellt in den Feldexperimenten,<br />

die im vergangenen<br />

und im nächsten Sommer<br />

in Lindenberg durchgeführt<br />

wurden beziehungsweise<br />

werden, ein wichtiges Bindeglied<br />

zwischen den Bodenstationen,<br />

den Fernerkundungen<br />

mit Satelliten, Radar und<br />

anderen Methoden sowie<br />

den numerischen Simulationen<br />

der Atmosphäre dar. Er<br />

ist besonders geeignet, den<br />

kleinskaligen turbulenten<br />

Energieaustausch zwischen<br />

der Erdoberfläche und der<br />

Atmosphäre zu messen.<br />

Im nächsten Frühjahr geht<br />

der Helipod mit dem Forschungsschiff<br />

Polarstern auf<br />

große Fahrt in die Arktis.<br />

AKTUELLES<br />

NOTIZEN AUS DEM LEBEN<br />

DER CAROLO-WILHELMINA<br />

Drei Millionen Euro für<br />

Adaptronik-Forschung<br />

Aus dem Schwerpunktprogramm<br />

Adaptronik für Werkzeugmaschinen<br />

der DeutschenForschungsgemeinschaft<br />

(DFG) erhalten fünf<br />

Institute des Maschinenbaus<br />

in den nächsten zwei Jahren<br />

drei Millionen Euro.<br />

Gegenwärtig stagniert der<br />

deutsche Werkzeugmaschinenbau<br />

auf hohem Niveau.<br />

Neue Leistungssprünge sind<br />

nur durch grundlegend innovative<br />

Ansätze zu erwarten,<br />

wie sie die Adaptronik bietet.<br />

Bislang wurden adaptronische<br />

Lösungen für Anwendungen<br />

in der Luft- und<br />

Raumfahrttechnik entwickelt.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

AUS DER UNIVERSITÄT<br />

Durch den Einsatz adaptronischer<br />

Lösungen kann auch die<br />

Leistungsfähigkeit von Werkzeugmaschinen<br />

erhöht werden.<br />

Beim Einsatz in Werkzeugmaschinen<br />

können adaptronische<br />

Bauelemente in<br />

Zukunft Schwingungen beseitigen,<br />

die durch höhere<br />

Arbeitsgeschwindigkeiten<br />

zwangsläufig entstehen und<br />

so den Bearbeitungsprozess<br />

ungünstig beeinflussen. Die<br />

Wissenschaftler wollen statische<br />

Verformungen durch<br />

Temperaturschwankungen<br />

ausgleichen und adaptronische<br />

Werkzeuge und Werkzeughalter<br />

entwickeln, die den<br />

stabilen Bearbeitungsbereich<br />

deutlich erweitern sollen.<br />

Sprecherinstitut ist das TU-Institut<br />

für Werkzeugmaschinen<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

und Fertigungstechnik (IWF),<br />

das seit 1999 auch Partner im<br />

»Leitprojekt Adaptronik:<br />

Adaptive Verbundstrukturen<br />

für den Leichtbau – strukturkonform<br />

integrierte piezoelektrische<br />

Fasern und Folien«<br />

des Bundesministeriums für<br />

Bildung und Forschung ist und<br />

eng mit dem Institut für Strukturmechanik<br />

des DLR in <strong>Braunschweig</strong><br />

zusammenarbeitet.<br />

Die Erfahrungen aus diesem<br />

Verbundprojekt haben sowohl<br />

zur Gründung des DFG-<br />

Sonderforschungsbereichs<br />

»Robotersysteme für Handhabung<br />

und Montage – hochdynamische<br />

Parallelstrukturen<br />

mit adaptronischen Komponenten«<br />

im Jahr 2000 geführt<br />

als auch zu dem neuen<br />

Schwerpunktprogramm.<br />

Präzision und Schnelligkeit: Professor Dr. Friedrich Wahl (rechts), Institut<br />

für Robotik und Prozessinformatik, und Professor Dr. Dr. h.c. Jürgen<br />

Hesselbach, Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik,<br />

demonstrieren als Beispiel für die Faszination und die Herausforderungen<br />

der Adaptronik den Parallelroboter »Paraplacer«, der als Prototyp<br />

für die Handyfertigung entwickelt wurde.<br />

TU-Forschungskatalog<br />

erschienen<br />

Der neue Forschungskatalog<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong> liegt in<br />

gedruckter Form vor.Auf 180<br />

Seiten fasst das Kompendium<br />

alle relevanten Daten über<br />

die 111 Institute sowie über<br />

die Sonderforschungsbereiche<br />

und interdisziplinären<br />

Zentren zusammen. Übersichtlich<br />

und kompakt strukturiert<br />

ermöglicht es der<br />

service-orientierte Katalog,<br />

schnell Forschungsschwerpunkte<br />

und die dazugehörigen<br />

Ansprechpartner zu<br />

finden. Er enthält neben den<br />

Forschungsgebieten konkrete<br />

Leistungsangebote sowie Informationen<br />

zur jeweiligen<br />

Ausstattung – vom Bioreaktor<br />

über das Mikromontagelabor<br />

bis zum Ultrakurzzeitlaser.<br />

Er weist natürlich auch<br />

die Institutsdurchwahlen und<br />

Adressen der direkten Ansprechpartner<br />

aus. Selbstverständlich<br />

sind ebenfalls die<br />

Internetadressen der einzelnen<br />

Institute im Katalog aufgeführt.<br />

Mit dem Forschungskatalog<br />

will die <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

den Technologietransfer gerade<br />

mit mittelständischen Unternehmen<br />

fördern und diese<br />

zur Kontaktaufnahme einladen.<br />

Der Katalog ist zu beziehen<br />

über die<br />

TU-Pressestelle,<br />

Tel.: 0531/391-4124,<br />

E-Mail:<br />

presse@tu-braunschweig.de.<br />

83


84 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ GAUSS-<br />

MEDAILLE 2002<br />

VERLIEHEN<br />

Professor Dr.Wolfgang Krätschmer,<br />

der Pionier der Fulleren-<br />

Chemie, ist am 21. Juni die<br />

Gauß-Medaille 2002 der<br />

<strong>Braunschweig</strong>ischen Wissenschaftlichen<br />

Gesellschaft<br />

(BWG) verliehen worden.<br />

Fullerene sind seit 1984 bekannt<br />

und stellen neben den<br />

lange bekannten Modifikationen<br />

des Kohlenstoffs – dem<br />

Graphit und dem Diamant –<br />

eine dritte Form dieses ubiquitären<br />

Elementes dar. Professor<br />

Krätschmer hat sich in<br />

zweifacher Weise um die Fulleren-Chemie<br />

verdient gemacht:<br />

Er hat erstens die<br />

Existenz der bis dahin unbekannten<br />

Verbindung C 60 im<br />

interstellaren Raum durch<br />

Spektralanalyse nachgewiesen<br />

und zweitens durch ein<br />

denkbar einfaches, bis heute<br />

unübertroffenes Verfahren<br />

das Fulleren C 60 in präparativ-technischen<br />

Mengen verfügbar<br />

gemacht. Erst dadurch<br />

wurde es Wissenschaftlern in<br />

aller Welt möglich, die faszinierenden<br />

Möglichkeiten der<br />

Fullerene zu erkunden und<br />

für Wissenschaft und Anwendung<br />

bahnbrechende Ergebnisse<br />

zu erzielen.<br />

Vorrangige Entwicklungsgebiete<br />

unter Einsatz der Fullerene<br />

sind zurzeit die Materialund<br />

Biowissenschaften.<br />

■ HEINRICH-<br />

BÜSSING-PREIS<br />

Drei Nachwuchswissenschaftler<br />

der TU wurden für ihr hervorragendeswissenschaftliches<br />

Arbeiten zusätzlich<br />

belohnt. Der Mathematiker<br />

Dr. Harald Löwe, der<br />

Wirtschaftsinformatiker<br />

Dr. Andreas Fink und der<br />

Elektroingenieur Dr. Ulrich<br />

Bock erhielten am 30. Mai<br />

den Heinrich-Büssing-Preis<br />

2002 der »Stiftung zur Förderung<br />

der Wissenschaften an<br />

der <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong>« des<br />

<strong>Braunschweig</strong>ischen Hochschulbundes<br />

(BHB). Der Wissenschaftspreis,<br />

der mit<br />

einem Preisgeld von je 3.000<br />

Euro der höchstdotierte in<br />

der Hochschullandschaft der<br />

Region ist, wird für herausragende<br />

Promotionen und<br />

Habilitationen vergeben, die<br />

praxisbezogene Forschungsergebnisse<br />

enthalten. Zudem<br />

will der BHB mit seiner Stiftung<br />

dazu beitragen, dass die<br />

Bedeutung <strong>Braunschweig</strong>s<br />

als Wissenschafts- und Wirtschaftsregion<br />

noch bekannter<br />

wird.<br />

Die Arbeiten der Preisträger:<br />

Dr. Harald Löwe,TU-Institut<br />

für Analysis, hat in seiner Habilitationsschrift<br />

»The classification<br />

of connected symmetric<br />

planes« untersucht, inwieweit<br />

sich in Geometrien,<br />

in denen die Winkelsumme im<br />

Dreieck nicht 180 Grad beträgt,<br />

Ersatz für »Geodäten«<br />

finden lässt, indem man statt<br />

mit Kurven zum Beispiel mit<br />

Flächen arbeitet. Seine Leistung<br />

besteht darin, dass er<br />

vollständig aufgeklärt hat, in<br />

welchen symmetrischen Räumen<br />

und auf welche Weise<br />

dies möglich ist.<br />

Der Wirtschaftsinformatiker<br />

Dr. Andreas Fink untersuchte<br />

in seiner Doktorarbeit die<br />

Möglichkeiten der Software-<br />

Wiederverwendung bei der<br />

Lösung betrieblicher Planungs-<br />

und Steuerungsprozesse<br />

mittels Meta-Heuristiken.<br />

Meta-Heuristiken sind<br />

moderne Lösungskonzepte<br />

für komplexe Optimierungsprobleme.<br />

Die von ihm konzipierten<br />

Verfahren und die<br />

entsprechende Software sind<br />

so allgemein und anpassbar<br />

gehalten, dass sie für verschiedenstePlanungsprobleme<br />

in einem Unternehmen<br />

verwendet werden können.<br />

Dr. Ulrich Bock entwickelte<br />

in seiner Dissertation »Betriebs-<br />

und Kommunikationskonzept<br />

für dynamische Rendezvous-Manöver<br />

von<br />

Zügen«, die er am TU-Institut<br />

für Elektrische Messtechnik<br />

anfertigte, ein Konzept für<br />

einen »intelligenten« Güterzugverkehr<br />

mit kleinen Einheiten,<br />

die mithilfe von Funkkommunikation<br />

selbstständig<br />

das Schienennetz befahren.<br />

■ PUBLIKATIONEN<br />

Rot-grüne Politik –<br />

das Land verändert?<br />

Professor Dr. Ulrich Heyder, Professor<br />

Dr. Ulrich Menzel und<br />

Professor Dr. Bernd Rebe, alle<br />

vom TU-Institut für Sozialwissenschaften,<br />

sind Herausgeber<br />

des Buches »Das Land<br />

verändert? Rot-grüne Politik<br />

zwischen Interessenbalancen<br />

und Modernisierungsdynamik«,<br />

das im Sommer dieses<br />

Jahres im VSA-Verlag erschienen<br />

und für 16 Euro über den<br />

Buchhandel zu beziehen ist.<br />

13 Autorinnen und Autoren<br />

aus Wissenschaft und Politik<br />

ziehen in dieser Publikation<br />

eine kritische Bilanz der ersten<br />

rot-grünen Bundesregierung,<br />

die 1998 mit dem Anspruch<br />

angetreten war, den<br />

»Reformstau« aufzulösen,<br />

das Land zu »modernisieren«<br />

und die Basis für soziale Gerechtigkeit<br />

zu verbreitern.<br />

Der Inhalt in Stichworten: Orientierung<br />

und Stil der Regierungsarbeit,programmatische<br />

Grundlagen der Reformpolitik,<br />

die wirtschafts- und<br />

beschäftigungspolitischen<br />

Modernisierungskonzepte,<br />

die Modernisierung des Sozialstaates,<br />

des Gesundheitswesens<br />

und die ökologische<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


Modernisierung, die Kulturund<br />

Bildungspolitik, die neue<br />

Agrar- und Verbraucherpolitik,<br />

die Zuwanderungspolitik<br />

sowie das Bemühen um die<br />

Vollendung der deutschen<br />

Einheit. Die außenpolitische<br />

Bilanz wird sichtbar in Beiträgen<br />

zu Deutschlands Rolle in<br />

der neuen Weltordnung, zur<br />

internationalen Sicherheitspolitik<br />

und den deutsch-amerikanischen<br />

Beziehungen.<br />

Das Stammbuch des<br />

Benedict Christian<br />

Avenarius<br />

Das in einer Faksimile-Ausgabe<br />

publizierte Stammbuch des<br />

Benedict Christian Avenarius<br />

mit Eintragungen aus <strong>Braunschweig</strong>,<br />

Celle und Leipzig<br />

lässt ein Stück Literatur- und<br />

Kulturleben aus den 60er-<br />

Jahren des 18. Jahrhunderts<br />

wieder erstehen. Die Bearbeiterin<br />

Dr. Rosemarie<br />

Schillemeit ergänzte den<br />

Band um Erläuterungen und<br />

eine Lebensbeschreibung<br />

sowie durch Briefe an Avenarius.Aus<br />

dem Kreis des<br />

<strong>Braunschweig</strong>er Collegium<br />

Carolinum begegnen dem<br />

Leser neben dem Gründer<br />

Abt Jerusalem die als Bremer<br />

Beiträger bekannten Literaten<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Carl Christian Gärtner,<br />

Johann Arnold Ebert, Friedrich<br />

Wilhelm Zachariä und Conrad<br />

Arnold Schmid.<br />

Die Publikation wurde als<br />

Band 4 der <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Beiträge zur deutschen Sprache<br />

und Literatur von den TU-<br />

Germanisten Professor Dr.<br />

Hans-Joachim Behr, Dr. Herbert<br />

Blume und Dr. Eberhard<br />

Rohse herausgegeben. Das<br />

Buch, das im Verlag für Regionalgeschichte<br />

erschienen<br />

ist, ist für 29 Euro über den<br />

Buchhandel zu beziehen.<br />

Hochschuldidaktik<br />

an der TU<br />

Die Publikation »Gute Lehre in<br />

der Vielfalt der Disziplinen.<br />

Hochschuldidaktik an der<br />

<strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong><br />

<strong>Braunschweig</strong>« thematisiert<br />

»gute Lehre« und ihre Förderungsmöglichkeiten<br />

aus der<br />

Sicht der Ingenieur-, Naturund<br />

Geisteswissenschaften<br />

exemplarisch am Beispiel der<br />

TU. Lehrende und Experten<br />

der Hochschulentwicklung<br />

erörtern nicht nur grundlegende<br />

Aspekte der Hochschullehre,<br />

sondern auch ihre<br />

Chancen und Probleme angesichts<br />

der Herausforderungen<br />

zur Innovation, Evaluation<br />

und Akkreditierung des Studienangebotes<br />

und zum Einsatz<br />

neuer Medien. Konzepte,<br />

Organisationsformen und<br />

Wirkungsanalysen hochschuldidaktischerWeiterbildungsprogramme<br />

und Innovationsprojekte<br />

werden ausführlich<br />

vorgestellt.<br />

Herausgeber des Buches sind<br />

der TU-Pädagoge Professor<br />

Dr. Karl Neumann und Dr.<br />

Jürgen Osterloh, der bis 2001<br />

Geschäftsführer der TU-Arbeitsstelle<br />

für Hochschuldidaktik<br />

war. Es ist im Beltz-<br />

Verlag erschienen und für<br />

29 Euro über den Buchhandel<br />

zu beziehen.<br />

■ JUBILÄEN<br />

100 Jahre TU-Institut<br />

fürVerbrennungskraftmaschinen<br />

Das TU-Institut für Verbrennungskraftmaschinen<br />

feierte<br />

in diesem Jahr sein 100-jähriges<br />

Bestehen. Hervorgegangen<br />

ist das Institut aus dem<br />

ersten Maschinenbaulaboratorium<br />

der TH <strong>Braunschweig</strong>,<br />

dessen Errichtung1902<br />

in die Wege geleitet<br />

wurde. Zwar wurden im<br />

Laufe der Jahrzehnte Fachgebiete<br />

ausgegliedert und neue<br />

hinzugenommen – etwa Kältemaschinen<br />

oder Flugtriebwerke<br />

–, aber die Kolben-Verbrennungskraftmaschinebildet<br />

bis heute die Basis von<br />

Forschung und Lehre.<br />

Zehn Jahre Kooperation<br />

mit der TU Cluj-Napoca<br />

Aus Anlass der zehnjährigen<br />

Kooperation zwischen dem<br />

TU-Institut für Werkzeugmaschinen<br />

und Fertigungstechnik<br />

(IWF) und der TU Cluj-Napoca,<br />

Rumänien, fand am 18.<br />

September ein Festakt in Cluj-<br />

Napoca statt, zu dem eine<br />

<strong>Braunschweig</strong>er TU-Delegation<br />

reiste.<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Anlässlich des Festaktes<br />

wurde ein Parallelroboterlabor<br />

eingeweiht, das mit Unterstützung<br />

der TU-Wissenschaftler<br />

ausgestattet worden<br />

war. Die rumänischen Wissenschaftler<br />

erhielten aus <strong>Braunschweig</strong><br />

als Jubiläumsgabe<br />

einen am IWF entwickelten<br />

und in Leichtbauweise gefertigten<br />

Roboter mit sechs<br />

parallel zueinander beweglichen<br />

Gelenkarmen.<br />

In der zehnjährigen Zusammenarbeit<br />

mit dem von Professor<br />

Dr.-Ing. Dr. h. c. Jürgen<br />

Hesselbach geleiteten IWF<br />

und der TU Cluj-Napoca wurden<br />

zahlreiche gemeinsame<br />

DFG- und EU-Forschungsprojekte<br />

auf dem Gebiet der Industrierobotertechnikdurchgeführt.<br />

Drei gemeinsame Patente<br />

sind daraus entstanden.<br />

Ein weiterer Erfolg der Kooperation<br />

war im letzten Jahr<br />

die Verleihung des Technologietransferpreises<br />

der Industrie-<br />

und Handelskammer<br />

<strong>Braunschweig</strong> an eine Forschergruppe<br />

beider <strong>Universität</strong>en<br />

für die gemeinsame<br />

Entwicklung eines neuartigen<br />

Produktionssystems zum<br />

Schneiden sphärischer Spiegel<br />

für die Fahrzeugindustrie.<br />

Versuchsmotorrad von 1952, mit dem im Institut für Verbrennungskraftmaschinen<br />

damals Messdaten erfasst wurden.<br />

85


86 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ PERSONALIA<br />

Die <strong>Universität</strong> Marburg zeichnete<br />

am 14. November<br />

Meinhard von Gerkan,<br />

emeritierter Professor für<br />

Gebäudelehre und Entwerfen<br />

von Hochbauten der TU, mit<br />

der Würde eines Ehrendoktors<br />

der Theologie aus. Die<br />

Ehrendoktorwürde wurde<br />

ihm für seine Gestaltung des<br />

Christus-Pavillons auf der<br />

EXPO 2000 verliehen, der<br />

den Beitrag der Kirchen auf<br />

einer säkularen Weltausstellung<br />

beispielhaft verwirkliche.<br />

Am 30. Oktober verlieh der<br />

Fachbereich für Wirtschaftsund<br />

Sozialwissenschaften<br />

der TU dem schwedischen<br />

Dokumentarfilmer und Wissenschaftler<br />

Dr. med. h.c.<br />

Lennart Nilsson Grad und<br />

Würde eines Doktors Ehren<br />

halber (Dr. phil. h.c.). Damit<br />

würdigte der Fachbereich<br />

Nilssons visionären Beitrag<br />

zur Kommunikation zwischen<br />

Wissenschaft und Öffentlichkeit.Vor<br />

allem durch seine<br />

atemberaubenden Filmproduktionen<br />

und Bildbände<br />

über die Entstehung des Lebens<br />

ist er in aller Welt bekannt.<br />

Betont wird in der Begründung<br />

aber auch seine<br />

Pionierarbeit bei der Weiterentwicklung<br />

bestehender<br />

Techniken, die viele der spektakulären<br />

Aufnahmen erst ermöglichte.<br />

1964 nahm Lennart Nilsson<br />

erstmals Fotografien eines lebenden<br />

Fötus im Mutterleib<br />

auf. Die Technik, mithilfe<br />

eines Endoskops per Kamera<br />

den menschlichen Körper zu<br />

bereisen, hat er seither kontinuierlich<br />

weiterentwickelt.<br />

Auf diese Weise entstand<br />

unter anderem der Bildband<br />

»A child is born«, weltweit<br />

ein Bestseller.Ab 1982 realisierte<br />

Nilsson international<br />

preisgekrönte Fernsehdokumentationen.<br />

Dabei kam<br />

Lennart Nilsson, Jahrgang<br />

1922, als Autodidakt zur<br />

Fotografie und zum Film. Er<br />

begann seine Karriere als<br />

Fotograf mit Arbeiten für<br />

schwedische Zeitungen. Schon<br />

früh machte er sich mit Portraitfotografien,<br />

später mit Sozialreportagen<br />

einen Namen,<br />

bevor er sich ganz der Vermittlung<br />

wissenschaftlicher<br />

Zusammenhänge widmete.<br />

Die gemeinsame Fakultät für<br />

Maschinenbau und Elektrotechnik<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

verlieh am 27. September<br />

Dipl.-Ing. (FH) Peter Drexel<br />

Grad und Würde eines Doktoringenieurs<br />

Ehren halber<br />

(Dr.-Ing. E. h.). Peter Drexel,<br />

Vorstandsmitglied für den<br />

Bereich Technik der Siemens<br />

Dematic AG, erhielt die Auszeichnung<br />

aufgrund »seiner<br />

außerordentlichen Verdienste<br />

um die systematische, wissenschaftlich<br />

fundierte Entwicklung<br />

der automatisierten<br />

Montage- und Bestücktechnik<br />

und seiner schöpferischen<br />

Leistung als gestaltender<br />

Ingenieur und Unternehmer«,<br />

so der Text der Urkunde.<br />

Peter Drexel, Jahrgang 1944,<br />

hat die technische Entwicklung<br />

auf dem Gebiet der<br />

Montage- und Bestücktechnik<br />

richtungweisend beeinflusst.Als<br />

technischer<br />

Leiter des Anlagenbaus der<br />

Robert Bosch GmbH gelang<br />

es ihm, konsequente Standardisierungsstrategien<br />

bei<br />

den verschiedenen Komponenten<br />

umzusetzen. Unter<br />

seiner Leitung wurde der<br />

Produktbereich »Baueinheiten<br />

der Montagetechnik« geschaffen,<br />

der sich mit der Entwicklung,<br />

der Herstellung und<br />

dem Vertrieb standardisierter<br />

Komponenten für den Aufbau<br />

manueller und automatisierter<br />

Montagesysteme beschäftigte.<br />

Bei der Bosch GmbH war er in<br />

Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen<br />

Einrichtungen für<br />

Neuentwicklungen verantwortlich,<br />

die durch erste<br />

mechatronische Ansätze geprägt<br />

waren. Durch diese technischen<br />

Neuentwicklungen<br />

wurde sein Geschäftsbereich<br />

innerhalb von drei Jahren<br />

Marktführer auf dem Gebiet<br />

der Montagetechnik. 1993<br />

wechselte er zur Siemens AG,<br />

München. Dort übernahm er<br />

die Geschäftsleitung »Bestück-<br />

und Produktionssysteme<br />

Elektronik«. Durch die<br />

Entwicklung innovativer Produkte,<br />

etwa einiger Hochleistungsbestückmaschinen,gelang<br />

es ihm 1999, mit seinem<br />

Geschäftsbereich erneut zum<br />

Weltmarktführer aufzusteigen.<br />

Im folgenden Jahr wurde sein<br />

Geschäftsbereich der ertragreichste<br />

des Unternehmens.<br />

Seit 2001 gehört Peter Drexel,<br />

der die Entwicklung von Industrierobotern<br />

und Montagesystemen<br />

in Deutschland<br />

wesentlich geprägt und befruchtet<br />

hat, dem Vorstand<br />

der neu formierten Siemens<br />

Dematic AG, München, an.<br />

Der Fachbereich für Wirtschafts-<br />

und Sozialwissenschaften<br />

der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

verlieh am 17. Juni Klaus<br />

Volkert Grad und Würde<br />

eines Doktors der Staatswissenschaften<br />

Ehren halber<br />

(Dr. rer. pol. h.c.).Volkert –<br />

Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzender<br />

der Volkswagen<br />

AG, Präsident des<br />

Europäischen Volkswagen-<br />

Konzernbetriebsrates und<br />

Präsident des Volkswagen-<br />

Welt-Konzernbetriebsrates –<br />

erhielt die Auszeichnung »in<br />

Anerkennung seiner herausragenden<br />

innovativen Leistung<br />

bei der Weiterentwicklung der<br />

industriellen Beziehungen<br />

sowie bei der Gestaltung<br />

moderner Betriebs-,ArbeitsundUnternehmensstrukturen«,<br />

so der Text der Urkunde.<br />

»Die herausragenden Verdienste<br />

von Klaus Volkert sehen wir<br />

insbesondere in der Weiterentwicklung<br />

von Partizipation<br />

und Mitbestimmung. Im Volkswagen-Konzern<br />

hat der Betriebsrat<br />

unter seiner Führung<br />

ein spezifisches Modell kooperativer<br />

Modernisierungs- und<br />

Konfliktbewältigung entwickelt,<br />

das weit über den gesetzlich<br />

vorgeschriebenen<br />

Rahmen hinausgeht und entscheidend<br />

zur Innovation von<br />

Organisations- und Produktionsstrukturen<br />

sowie von Arbeits-<br />

und Beschäftigungsverhältnissenbeigetragen<br />

hat«, erläuterte Professor<br />

Dr. Herbert Oberbeck, Dekan<br />

des Fachbereichs für Wirtschafts-<br />

und Sozialwissenschaften.<br />

»Unter der<br />

Ägide von Klaus Volkert ist es<br />

der Arbeitnehmervertretung<br />

im VW-Konzern gelungen, in<br />

kreativer Aufnahme und Weiterentwicklung<br />

von Impulsen<br />

aus den Sozial- und WirtschaftswissenschaftenMeilensteine<br />

für eine zukunftsfähige<br />

Arbeits- und Unternehmensgestaltung<br />

zu setzen. Die Ent-<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 2/2002


wicklung einer aktiven unternehmensbezogenenArbeitsmarktpolitik<br />

zur Senkung der<br />

Arbeitslosigkeit in der Region<br />

durch Cluster-Bildung und<br />

neue Modelle der Public-<br />

Private-Partnership geht<br />

ebenfalls auf Anstöße von<br />

Klaus Volkert und seinem<br />

Team zurück.«<br />

Die Fakultät für Chemie und<br />

Chemieingenieurwesen der<br />

Babes-Bolyai-<strong>Universität</strong> in<br />

Cluj-Napoca, Rumänien, verlieh<br />

im Juni Professor Dr. Henning<br />

Hopf, Leiter des TU-<br />

Instituts für Organische<br />

Chemie, die Ehrendoktorwürde.<br />

Professor Hopf wurde<br />

für seine Beiträge zur Entwicklung<br />

der modernen Organischen<br />

Chemie und zur<br />

Zusammenarbeit zwischen<br />

den beiden Hochschulen ausgezeichnet.<br />

Mit der Ehrung<br />

wurden auch sein Engagement<br />

beim Studierendenaustausch<br />

und seine Initiative bei<br />

der Verlagerung einer umfangreichen<br />

Chemiebibliothek<br />

eines Chemieunternehmens<br />

nach Cluj-Napoca gewürdigt.<br />

Am 25. September wurde Professor<br />

Dr. Ulrich Reimers,<br />

Leiter des TU-Institutes für<br />

Nachrichtentechnik, anlässlich<br />

des »2002 IEEE International<br />

Symposium on Consumer<br />

Electronics« in Erfurt mit dem<br />

»IEEE Consumer Electronics<br />

Engineering Excellence Award<br />

2002« ausgezeichnet. Mit<br />

dem Preis wurden vor allem<br />

die jüngsten Arbeiten von<br />

Professor Reimers zur »Multimedia<br />

Home Platform« gewürdigt.<br />

Diese geben sowohl<br />

der nationalen als auch der<br />

internationalen Industrie<br />

einen klaren Rahmen für<br />

Entwicklungen im multimedialen<br />

Heimbereich vor<br />

und erschließen dem Nutzer<br />

modernste Geräte und Anwendungen.<br />

2/2002 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Das Konzil der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

wählte in seiner Sitzung am<br />

28. Juni Professor Berthold<br />

Burkhardt, Institut für Tragwerksplanung,<br />

zu seinem<br />

neuen Vizepräsidenten für den<br />

Aufgabenbereich »Infrastrukturplanung«.<br />

Professor Burkhardt,<br />

der sich als einziger<br />

Kandidat zur Wahl gestellt<br />

hatte, wurde im ersten Wahlgang<br />

gewählt. Seine zweijährige<br />

Amtszeit begann am<br />

1. Oktober 2002.<br />

Seit 1984 ist Burkhardt Professor<br />

an der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

und Leiter des Instituts für<br />

Tragwerksplanung im Fachbereich<br />

Architektur. Er hat zahlreiche<br />

Erfahrungen in der akademischen<br />

Selbstverwaltung<br />

der TU gesammelt. So war er<br />

von 1986 bis 1988 und von<br />

1999 bis 2001 Dekan des<br />

Fachbereichs für Architektur<br />

und mehrfach Mitglied des<br />

Senats und der Haushalts- und<br />

Planungskommission. Darüber<br />

hinaus war er von 1993 bis<br />

2001 vorsitzender Gutachter<br />

der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

für das Fachgebiet<br />

Architektur.<br />

Professor Dr. Dr. h.c. Rolf<br />

Kayser, von 1970 bis 1993<br />

Professor für Siedlungswasserwirtschaft<br />

an der TU, wurde<br />

am 13. Mai die mit 5.000 Euro<br />

dotierte William-Dunbar-<br />

Medaille verliehen. Professor<br />

Kayser wurde mit diesem Preis<br />

für seine herausragenden Leistungen<br />

auf dem Gebiet des<br />

Belebungsverfahrens geehrt,<br />

das das Rückgrat der modernen<br />

Abwasserreinigung ist.<br />

Dr. Nina Heinrichs,Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin am<br />

TU-Institut für Psychologie,<br />

wurde im Mai anlässlich des<br />

diesjährigen Symposiums<br />

der Fachgruppe »Klinische<br />

Psychologie und Psychotherapie«<br />

der Deutschen<br />

Gesellschaft für Psychologie<br />

der Nachwuchswissenschaftler-Preis<br />

für hervorragende<br />

wissenschaftliche Leistungen<br />

im Bereich der klinischpsychologischen<br />

Forschung<br />

verliehen. Der Preis wurde<br />

dieses Jahr das erste Mal<br />

vergeben und ist mit 500 Euro<br />

dotiert.<br />

■ NACHRUFE<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

Am 30.August verstarb im Alter<br />

von 83 Jahren Professor em.<br />

Dr. Dr. h.c. Karlheinz Roth.<br />

Er war ein international geschätzter<br />

Wissenschaftler auf<br />

dem Gebiet der Konstruktionsmethodik.<br />

1965 folgte der aus Siebenbürgen<br />

stammende Professor<br />

Roth dem Ruf an die damalige<br />

TH <strong>Braunschweig</strong> und gründete<br />

das Institut für Konstruktionslehre,<br />

Maschinen- und<br />

Feinwerkelemente. Dieses leitete<br />

er bis zu seiner Emeritierung<br />

1988. Er blieb bis zu seinem<br />

Tod wissenschaftlich<br />

tätig.<br />

Für seine wissenschaftlichen<br />

wie auch kulturellen Leistungen<br />

erhielt Professor Roth<br />

die Diesel-Medaille in Gold<br />

und die Fritz-Kesselring-<br />

Ehrenmedaille vom Verein<br />

Deutscher Ingenieure<br />

sowie den Siebenbürgisch-<br />

Sächsischen Kulturpreis.<br />

Am 28. Juni 2002 verstarb im<br />

Alter von 97 Jahren Professor<br />

em. Dr. Karl Gerke. Karl<br />

Gerke hat an der <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

studiert, promoviert<br />

und kam 1962 als Direktor<br />

des damaligen Instituts für<br />

Vermessungskunde zurück an<br />

seine Heimathochschule.Von<br />

1966 bis 1968 war er Rektor<br />

der TU, der er auch nach seiner<br />

Emeritierung im Jahre 1972<br />

eng verbunden blieb.<br />

Der Wissenschaftler Karl Gerke<br />

hat die Geodäsie stets als<br />

Ingenieur- und Naturwissenschaft<br />

verstanden. So hat er<br />

die deutschen Arbeiten zur<br />

Erforschung der Plattenkinematik<br />

in Island initiiert und<br />

geleitet.<br />

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88 <strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong><br />

■ IMPRESSUM<br />

Herausgeber<br />

Der Präsident der TU <strong>Braunschweig</strong><br />

Redaktion<br />

Dr. Hergen Manns<br />

Regina Eckhoff, M.A.<br />

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />

TU <strong>Braunschweig</strong><br />

Pockelsstr. 14<br />

38106 <strong>Braunschweig</strong><br />

Tel.: 0531/391-4123<br />

Fax: 0531/391-4120<br />

Gestaltung<br />

gerebydesign<br />

Robin Bretschneider<br />

Kaffeetwete 3<br />

38100 <strong>Braunschweig</strong><br />

Tel.: 0531/890639<br />

Fax: 0531/890601<br />

Bildnachweis<br />

Wenn nicht anders angeben, stammen die<br />

Abbildungen der Artikel<br />

aus den entsprechenden Instituten der TU<br />

<strong>Braunschweig</strong>.<br />

TU-Sportzentrum, S. 24, Abb. 1<br />

Rolf Toch, S. 26, Abb. 2<br />

aginmar.de, S. 78, Abb. 2<br />

Deutsche Bauzeitung, 1941, H. 49/50, S. K<br />

305, S. 64, Abb 1<br />

Werth Messtechnik, S. 43, Abb. 6<br />

ESA, S. 47, Abb. 2<br />

Astrium S. 48, Abb. 4<br />

Ehrenpromotion Volkert, S. 86,<br />

Volkswagen AG<br />

Anzeigenverwaltung und Herstellung<br />

Anzeigenagentur ALPHA<br />

Informations GmbH<br />

Finkenstr.10<br />

68623 Lampertheim<br />

Tel.: 06206/939-0<br />

Fax: 06206/939-232<br />

Geschäftsführung:<br />

Klaus Wagner<br />

Verkaufsleitung:<br />

Peter Asel<br />

Tel.: 06206/939-220<br />

ISSN 1434-4645<br />

<strong>Carolo</strong>-<strong>Wilhelmina</strong> 3/2000

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