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Matthias Bauer: Liebe Deinen Replikanten wie Dich selbst

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<strong>Matthias</strong> <strong>Bauer</strong> (Mainz)<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>Deinen</strong> <strong>Replikanten</strong> <strong>wie</strong> <strong>Dich</strong> <strong>selbst</strong>!<br />

Das Melodram der Mensch-Maschine-Interaktion<br />

in Blade Runner und Solaris.<br />

Das filmische Melodram wird in der Regel als eine Erzählung von schick-<br />

salhafter Begegnung und Verstrickung bestimmt. Seine Wirkung besteht<br />

vor allem darin, seitens der Zuschauer starke Affekte zu erregen, diese<br />

anhand der Figurenkonstellation und ihrer konfliktreichen Dynamik auf die<br />

komplementären Pole von Sympathie und Antipathie zu verteilen, die<br />

Sympathie zur Identifikation zu steigern und dergestalt eine Anteilnahme<br />

am Schicksal der Figuren zu erzeugen, die man als Mitleid im emphatischen<br />

Sinn des Wortes bezeichnen kann. In dieser Hinsicht knüpft das Melodram<br />

einerseits an die Wirkungsästhetik der antiken griechischen Tragödie<br />

an, von der Aristoteles in seiner POETIK behauptet hat, sie sei auf die<br />

katharsis von eleos und phobos angelegt. Andererseits haftet dem Begriff<br />

des Melodramas insofern etwas Pejoratives an, als die Erregung und Abfuhr<br />

dieser Affekte im Unterschied zur antiken Tragödie nicht mehr an das<br />

Schicksal wahrhaft heroischer Gestalten gekoppelt ist, die den Durchschnittsmenschen<br />

an Mut und Moral übertreffen. 1 Vielmehr handelt das<br />

Melodrama gerade von Menschen, denen wir jederzeit im Alltag oder beim<br />

Blick in den Spiegel begegnen könnten, also von unseresgleichen. Daher<br />

ringen die Protagonisten des Melodramas, so sehr sie auch mit ihrem<br />

Schicksal hadern, nicht mehr mit Göttern oder mythischen Gewalten, sondern<br />

eben mit ihresgleichen respektive mit Dämonen, die eher psychosoziologisch<br />

als metaphysisch zu deuten sind. Das Melodrama ist ein säkulares<br />

Derivat der antiken Tragödie – und diese Genealogie erklärt, warum es<br />

zuweilen als triviale Schwundstufe, als bloß sentimentales Rührstück begriffen<br />

wird.<br />

1 Vgl. Aristoteles Hinweis: „[...] die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen,<br />

als sie in der Wirklichkeit vorkommen.“ In: Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben<br />

von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1991, S. 9. Dass manche Melodramen – etwa Königin Christina – nicht in<br />

bürgerlichen Kreisen spielen, ist nur scheinbar ein Einwand gegen die These, das Melodram würde von unseresgleichen<br />

handeln. Denn die Regeln, nach denen auch die Adligen im Melodrama soziopsychologisch <strong>wie</strong> dramaturgisch<br />

behandelt werden, lassen sich eben aus dem Bürgerlichen Trauerspiel bzw. den Postulaten der Empfindsamkeit<br />

ableiten, die darin übereinstimmen, dass sie ein einheitliches, schichtenübergreifendes Menschenbild<br />

voraussetzen, das sich über die Ständeklausel hinwegsetzt.<br />

1


Angesichts dieser Genealogie verwundert es nicht, dass Hermann Kappelhoff<br />

in seiner Habilitationsschrift MATRIX DER GEFÜHLE (2004) ausführlich auf<br />

das bürgerliche Trauerspiel und den empfindsamen Briefroman eingeht,<br />

die – vom Kino aus betrachtet – zu den literarischen Vorläufern des filmischen<br />

Melodrams gehören. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass Kappelhoff<br />

seine Abhandlung ausgerechnet mit einem Verweis auf Steven Spielbergs<br />

A.I. – Artificial Intelligence (2001) beginnt. Dessen Hauptfigur, der<br />

kleine David, gespielt von Haley Joel Osment, ist ein künstlicher Mensch,<br />

der beim Zuschauer intensive Gefühle des Mitleids und der Vorsorge<br />

weckt. Kappelhoff macht in diesem Zusammenhang auf drei Gesichtspunkte<br />

aufmerksam, an die ich anknüpfen möchte. Er betont erstens, dass<br />

Spielberg am Beispiel des kleinen, künstlichen David die Geschichte der<br />

Menschwerdung einer Maschine erzählt. Zweitens hebt er den Umstand<br />

hervor, dass die Emotionen, die diese Geschichte beim Zuschauer auslösen,<br />

eine komplexe psycho-semiotische Aktivität der Einfühlung erfordern,<br />

die offenbar nicht dadurch beeinträchtigt wird, dass der Bezugsgegenstand<br />

dieser Aktivität eine Illusion ist. 2 Drittens schließlich kann man aus<br />

Kappelhoffs Darstellung folgern, dass es einen Zusammenhang zwischen<br />

dem Thema der Menschwerdung einer Maschine und der Struktur jenes<br />

Prozesses gibt, in dem der kleine David zu einem ‚inneren Objekt‘ des Zuschauers<br />

wird.<br />

Kappelhoff meint nämlich, dass die paradigmatische Bedeutung des filmischen<br />

Melodrams darauf beruht, dass es die Inszenierung des kinematografischen<br />

Bilds <strong>selbst</strong> zu einem Objekt macht, „das seiner Funktion<br />

nach dem kleinen David aus Spielbergs A.I. gleicht“. 3 So <strong>wie</strong> diese Figur<br />

muss der Film insgesamt zu einem ‚inneren Objekt‘ des Zuschauers werden,<br />

damit sich dieser als empfindsames Subjekt wahrnehmen und begreifen<br />

kann. Anders formuliert: Der Gegenstand des filmischen Melodrams<br />

lässt sich nicht auf die dargestellte Handlung reduzieren, die – semiotisch<br />

gesprochen – nur das unmittelbare Objekt der Wahrnehmung ist. Das dynamische<br />

Objekt der psycho-semiotischen Aktivität, als die man die sukzessive<br />

Wahrnehmung und Deutung eines Films begreifen muss, ergibt<br />

sich erst aus der reflexiven Einstellung auf die Handlung so<strong>wie</strong> auf die Art<br />

und Weise ihrer Vermittlung. Dabei aber werden dem Zuschauer seine ei-<br />

2<br />

Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit.<br />

Berlin 2004, S. 11f.<br />

3<br />

Kappelhoff, S. 19.<br />

2


genen Gefühlsreaktionen auf die dargestellten Figuren und Aktionen zum<br />

Gegenstand der Interpretation.<br />

Mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und<br />

dem dynamischen Objekt der Wahrnehmung und Deutung habe ich eine<br />

Terminologie von Charles Sanders Peirce (1839-1914) verwendet, die<br />

Kappelhoff <strong>selbst</strong> nicht benutzt, die jedoch hilft, rascher als es ein umständliches<br />

Referat seiner Ausführungen erlauben würde, zu ihrem Kern<br />

vorzudringen. Dieser Kern lässt sich mit drei Zitaten einkreisen, die ich<br />

jeweils zurückbinden werde an das Thema der Menschwerdung der Maschine.<br />

Erstes Zitat: „Die melodramatische Darstellung strukturiert den Prozeß<br />

des Zuschauens als Entfaltung einer artifiziellen Innerlichkeit.“ 4 Zugleich<br />

ist diese Entfaltung einer artifiziellen Innerlichkeit aber auch der Prozess,<br />

den im Science Fiction-Genre Maschinen <strong>wie</strong> Data in der Star Trek-Serie<br />

durchlaufen müssen, um über die äußerliche Ähnlichkeit hinaus als Ebenbilder<br />

des Menschen eingestuft werden zu können.<br />

Zweites Zitat: „Das sympathetische Nachempfinden der Gefühlslage der<br />

Figur ist lediglich das Movens eines Selbstempfindens, das dem Zuschauer<br />

den Raum seiner eigenen Innerlichkeit eröffnet.“ 5 Diese Bemerkung bezieht<br />

sich auf Lessings Konzept des Mitleids, das sowohl für das Theater<br />

der Empfindsamkeit als auch für das filmische Melodram wegweisend war,<br />

weil es das Moment der Reflexivität in den Prozess des emphatischen<br />

Nachvollzugs der inneren Geschichte einer Figur einbaut, die der Schauspieler<br />

in Mimus, Gestik, Proxemik und Dialog auszudrücken versucht.<br />

Entscheidend ist, dass dieses Reflexivwerden der Empathie an eine dezidiert<br />

visuelle Szene gekoppelt ist, nämlich an die Beobachtung dessen,<br />

was sich vor allem im Antlitz, aber auch in den Bewegungen einer dramatischen<br />

Person zu spiegeln scheint. Es ist dabei gar nicht so leicht und<br />

kaum eindeutig zu sagen, womit dieser Prozess eigentlich beginnt: Mit der<br />

Wahrnehmung der eigenen Affekte, die in die Darstellung projiziert werden,<br />

oder mit der Wahrnehmung der Emotionen, die der Darsteller der<br />

Szene vorgibt, und die dann vom Zuschauer introjiziert werden? Mit einem<br />

von Hans J. Wulff klug gewählten Begriff kann man den Bereich, in dem<br />

sich dieses Wechselspiel von Projektion und Introjektion, Fremd- und<br />

4 Kappelhoff, S. 29.<br />

5 Kappelhoff, S. 81.<br />

3


Selbstwahrnehmung, Affiziert-Sein und Reflexiv-Werden abspielt, als ein<br />

„empathisches Feld“ begreifen, das gemäß der sich dynamisch entwi-<br />

ckelnden Figurenkonstellation und Konfliktlage zwischen den beiden Polen<br />

der Sympathie und Antipathie aufgespannt wird. 6 Dieses empathische Feld<br />

ist, <strong>wie</strong> ich hinzufügen möchte, stets ein intermediäres Feld, weil es nur<br />

insofern und solange existiert, als die symbolische bzw. imaginäre Interaktion<br />

zwischen dem Geschehen auf der Leinwand und dem Bewusstsein<br />

des Zuschauers stattfindet (was nicht bedeutet, dass seine Halbwertzeit<br />

auf die Spieldauer des Films beschränkt ist): Ausschlaggebend ist, dass<br />

dieses empathische, intermediäre Feld zumindest in der Science Fiction-<br />

Welt auch in der Mensch-Maschine-Interaktion entsteht, wenn zwei empfindsame<br />

Beobachter aufeinandertreffen: der homo sapiens und sein Replikant.<br />

Drittes Zitat: Als Kappelhoff auf Jean-Jacques Rousseaus Musikalische<br />

Skizze PYGMALION (1762) und Johann Gottfried Herders Essay über die<br />

PLASTIK (1778) zu sprechen kommt, der sich auf Pygmalions menschenbildnerischen<br />

Traum bezieht, bemerkt er, dass in diesen Texten „die Geburt<br />

der melodramatischen Heroine als Galionsfigur der <strong>Liebe</strong> in Szene<br />

[gesetzt wird]: Ihre Verwandlung markiert die Pole der zeitlichen Achse,<br />

welche die Heroine im Prozeß des Melodramas Mal um Mal durchläuft: Beginnend<br />

als Objekt eines begehrlichen Blicks und endend im Bewußtsein<br />

einer sich als Weiblichkeit gewahr werdenden Sensibilität.“ 7 Die Urszene<br />

der melodramatischen <strong>Liebe</strong>, die zugleich die Urszene des filmischen Melodrams<br />

darstellt, lässt also die Heroine einen Prozess der Selbstwahrnehmung<br />

durchlaufen, an dessen Ende das Bewusstsein für die Entfaltung<br />

genau jener artifiziellen Innerlichkeit steht, auf die auch die Wahrnehmung<br />

und Deutung dieses Prozesses durch die Zuschauer hinauslaufen.<br />

*<br />

Der Prozess, bei dem die Frau zunächst unmittelbar als Objekt der Begierde<br />

erscheint und sich dann unter den Augen des Zuschauers in ein empfindsames<br />

Subjekt verwandelt – was ja bedeutet, dass sie zu einem dynamischen<br />

Objekt der Selbsterfahrung des Zuschauers als empfindendes<br />

Subjekt wird – bestimmt auch die Schlüsselszene in Ridley Scotts The Bla-<br />

6 Vgl. Hans J. Wulff: Das empathische Feld. In: Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Hrsg. v. Jan<br />

Sellner und Hans J. Wulff. Marburg 2002, S. 109-122, insbesondere S. 110 und S. 119ff.<br />

7 Kappelhoff, S. 179.<br />

4


de Runner (1982, Director’s Cut 1991). Dort folgt Rachael Rosen, ein<br />

Replikant, Rick Deckard, dem Rachael soeben das Leben gerettet hat, in<br />

die Wohnung. Sie will nicht nur wissen, ob er sie trotzdem verfolgen und<br />

auftragsgemäß auslöschen wird. Sie möchte auch erfahren, ob er <strong>selbst</strong><br />

sich schon einmal dem Test unterzogen hat, der echte Menschen von ihren<br />

maschinellen Imitationen (<strong>Replikanten</strong>) unterscheidet. Deckard bleibt<br />

ihr die Antwort schuldig. Erschöpft liegt er auf einem Sofa, während sich<br />

Rachael an ein Klavier setzt und eine Melodie anstimmt, die ihr spontan in<br />

den Sinn zu kommen scheint. Anschließend löst sie ihr streng frisiertes<br />

Haar, so dass es ihr in fülligen Locken auf die Schulten fällt. Deckard, der<br />

sich inzwischen zu ihr gesetzt hat, beugt sich zu Rachael herüber und<br />

küsst sie auf die Wange. Als Rachael daraufhin, kopfscheu geworden, Deckards<br />

Wohnung zu verlassen sucht, versperrt er ihr den Ausgang, stößt<br />

sie zurück und nötigt ihr einen Kuss ab. Er verlangt, dass sie nach ihm<br />

verlangt und die Zärtlichkeiten erwidert. Zögernd, ja erschrocken, dann<br />

aber doch hingerissen und stürmisch wirft sich Rachael Rick an den Hals.<br />

Bedenkt man, dass die von Sean Young gespielte Frau im Rahmen der filmischen<br />

Fiktion ein Replikant, ein weiblich gestylter Roboter ist, werden<br />

die Zuschauer in dieser Szene Zeugen einer Menschwerdung durch den<br />

Akt der <strong>Liebe</strong>, wobei das Überwältigtwerden durch die stürmischen Gefühle,<br />

die Rachael und Rick für einander empfinden, voraussetzt, dass sie sich<br />

<strong>selbst</strong> als empfindsame Subjekte verstehen und fühlen. Eben deswegen<br />

können wir ihnen als Zuschauer weder unsere Sympathie noch unsere<br />

Fürsorge verweigern. Wir nehmen Anteil an ihrem Schicksal, sind also<br />

vom melodramatischen Gang der Handlung in einer zutiefst emotionalen<br />

Weise betroffen.<br />

Das aber ist vor allem ein Effekt der Art und Weise, in der Ridley Scott in<br />

Rachaels Fall die Verwandlung, die Menschwerdung der Maschine inszeniert<br />

hat: „Von Einstellung zu Einstellung“, so hat es Thomas Koebner<br />

formuliert, „verschwindet der puppen- und maskenhafte glatte Schimmer<br />

ihres unbewegten Gesichts und weicht einem natürlich wirkenden Teint.“ 8<br />

Dem komplexen Zusammenwirken von Mienenspiel und Beleuchtung,<br />

Farbdramaturgie und Gesichtsausdruck, Frisurenwechsel und Makeup<br />

können die Zuschauer entnehmen, <strong>wie</strong> Sehnsucht und Angst, Selbstbewusstsein<br />

und Unsicherheit, Verlangen und Fluchtimpulse entstehen. Ra-<br />

8 Thomas Koebner: Wovon träumen die Geschöpfe des Prometheus. Künstliche Menschen im Film. In: Derselbe:<br />

Halbnah. Schriften zum Film. Zweite Folge. St. Augustin 1999, S. 58-74; Zitat S. 70.<br />

5


chael weiß, dass ihr die Erinnerungen einer fremden Person implantiert<br />

worden sind, doch nun, bei der Erfahrung, Klavier spielen zu können, ent-<br />

deckt sie ihre Fähigkeit, unter Verwendung dieser Reminiszenzen echte<br />

Gefühle zum Ausdruck bringen und wecken zu können. Was in diesem Au-<br />

genblick, da Rachael aus dem Bannkreis ihrer Programmierung heraus<br />

tritt, mit Deckard geschieht, hat Fabienne Liptay in einer luziden Bespre-<br />

chung des Films als Wendepunkt der Geschichte markiert. Deckard, so<br />

schreibt sie, „erkennt, dass alles so wahr ist, <strong>wie</strong> man es empfindet.<br />

Schließlich ist es dann auch unbedeutend, ob Rach[a]els Kindheitserinnerungen<br />

an Klavierstunden ihre eigenen sind oder die einer anderen Per-<br />

son.“ 9<br />

Worauf es ankommt, ist nun zum einen die Erfahrung, dass die Affektenlehre<br />

des Kinos nicht nur eine kognitive und ethische Bedeutung, sondern<br />

in den Filmen, um die es hier geht, auch eine anthropologische Pointe hat.<br />

Zum anderen gilt es, die spezifische Funktion herauszuarbeiten, die dem<br />

Melodrama in seiner Rolle als sub plot zukommt.<br />

*<br />

Dass zahlreiche Filme, die man einem anderen Genre zurechnet – etwa<br />

dem Western oder dem film noir – melodramatische Züge aufweisen, ist<br />

gewiss keine neue Erkenntnis. Man muss nur an Raoul Walsh Pursued von<br />

1947 oder Roman Polanskys Chinatown von 1974 denken, um zu erkennen,<br />

<strong>wie</strong> gerne das Melodram als sub plot genutzt wird, um die Figuren<br />

und Konflikte, die auf der Ebene des action-reichen main plots nicht vertieft<br />

werden können, zu profilieren. Die schicksalhafte, vom Scheitern bedrohte<br />

<strong>Liebe</strong> erscheint dabei vor allem als ein Medium der Figuren- und<br />

Konfliktentwicklung, damit aber auch der Themenentfaltung. Die spezifische<br />

Leistung des filmischen Melodrams – ob nun als sub plot oder main<br />

plot – besteht somit, abstrakt formuliert, darin, Kognition und Emotion in<br />

ein Verhältnis der Ko-Evolution zu versetzen. Konkret zeigt sich das an der<br />

allmählichen Bildung dessen, was man Problembewusstsein nennt. Ohne<br />

die emotionale Teilnahme am Schicksal der Figuren würde man als Zuschauer<br />

nicht so leicht eine analytische Einstellung zu den Konflikten entwickeln,<br />

in die sie verstrickt sind. Ohne diese analytische Einstellung <strong>wie</strong>derum,<br />

bei der es immer auch um die Antizipation oder Reflexion kontin-<br />

9<br />

Fabienne Liptay: Der Blade Runner. In: Filmgenres Science Fiction, hrsg. v. Thomas Koebner. Stuttgart 2003,<br />

S. 376-387; Zitat S. 384.<br />

6


genter Konfliktverläufe geht, würde der kognitive Mehrwert der Inszenie-<br />

rung erheblich geschmälert. Man muss daher das filmische Melodram als<br />

Medium der Erkenntnisvermittlung im Modus der Gefühlserregung verstehen,<br />

hat damit aber noch nicht sein Spezifikum erfasst. Denn um Erkenntnisvermittlung<br />

im Modus der Gefühlserregung geht es ja fast immer im<br />

Kino und überhaupt in allen dramatisch erzählten Geschichten (was <strong>wie</strong>derum<br />

erklärt, warum das filmische Melodram als Paradigma für die Wirkungsästhetik<br />

des Kinos gilt).<br />

Um nun der spezifischen Pointe der Themenentfaltung in The Blade Runner<br />

auf die Spur zu kommen und zu begreifen, <strong>wie</strong> der Vorgang der<br />

Menschwerdung einer Maschine mit der psycho-semiotischen Aktivität des<br />

Zuschauers und der Inszenierung einer artifiziellen Innerlichkeit zusammenhängt,<br />

empfiehlt es sich, Scotts Film mit seiner Textvorlage zu vergleichen:<br />

In seinem 1968 unter dem Titel DO ANDROIDS DREAM OF ELECTRIC SHEEP?<br />

erstmals veröffentlichten Roman stellt Philip K. Dick (1928-1982) zwar das<br />

auch für Ridley Scott entscheidende Problem der Un-Unterscheidbarkeit<br />

von Mensch und Maschine, von homo sapiens und Replikant heraus, nutzt<br />

aber nur in sehr begrenztem Maße die Möglichkeiten des Melodrams, um<br />

dieses Problem zu veranschaulichen. Insbesondere die Figur der Rachael<br />

Rosen erfüllt im Roman eine ganz andere Funktion als im Film. Bei Dick<br />

setzt sie ihre erotische Verführungskraft ebenso zielstrebig <strong>wie</strong> kaltschnäuzig<br />

lediglich dazu ein, <strong>Replikanten</strong>jäger <strong>wie</strong> Rick Deckard in ihrer<br />

beruflichen Identität zu verunsichern. Das mag auch damit zusammenhängen,<br />

dass Deckard bei Dick mit Iran verheiratet ist, die ihn gleich zu<br />

Beginn der Geschichte als „Mörder“ apostrophiert, 10 weil er keinerlei Mitleid<br />

mit den Androiden empfindet, die sie liebevoll als „Andys“ bezeichnet.<br />

Der Erzähler kommentiert diese Gefühllosigkeit einige Seiten später mit<br />

den Worten:<br />

„Für Rick Deckard war ein entsprungener Androide, der seinen Herrn getötet<br />

hatte, der über eine größere Intelligenz als viele menschliche Wesen<br />

verfügte, der keine Tierliebe zeigte, der nicht die Fähigkeit besaß, empa-<br />

10 Vgl. Philip K. Dick: Blade Runner. Roman. Überarbeitete Neuausgabe. Deutsche Übersetzung von Norbert<br />

Wölfl, durchgesehen und ergänzt von Jacqueline Dougoud 2. Auflage. München 2002, S. 9.<br />

7


thische Freude für das Glück einer anderen Lebensform oder Trauer bei<br />

deren Unglück zu empfinden, die Verkörperung des Mörders.“ 11<br />

Zunächst scheint die Sache also eindeutig klar und Deckard in seiner Rolle<br />

als eiskalter Roboter-Terminator moralisch absolut gerechtfertigt zu sein.<br />

Verunsichert in seiner Selbstgerechtigkeit wird Deckard unter anderem im<br />

Gespräch mit Luba Luft, die er verdächtigt, ein Android zu sein. Als sie<br />

sein Misstrauen mit dem Angebot zur Mitarbeit zu zerstreuen sucht –<br />

„Würde ich Ihnen meine Hilfe anbieten, wenn ich <strong>selbst</strong> ein Androide wäre?“<br />

– kontert Deckard: „Einem Androiden ist es gleichgültig, was mit einem<br />

anderen Androiden geschieht.“ Woraufhin Luba Luft sofort bemerkt:<br />

„Dann müssen Sie ein Androide sein.“ Dass diese Bemerkung Deckard<br />

„<strong>wie</strong> ein Faustschlag“ trifft, 12 hebt seine Verunsicherung und die der Leser<br />

keineswegs auf. Im Gegenteil. Die entscheidende Frage, die der Roman<br />

fortan ventiliert, die Frage nämlich, ob womöglich auch Androiden eine<br />

Seele haben, droht mit Deckards Selbstgewissheit auch die anthropologische<br />

Differenz von Mensch und Maschine aufzuheben. Einerseits gilt:<br />

Wenn die <strong>Replikanten</strong> Empfindungen hegen, muss man auch Mitleid mit<br />

ihnen haben und sie <strong>wie</strong> Menschen behandeln. In diesem Fall verbietet es<br />

sich, sie erbarmungslos abzuschlachten. Andererseits gilt dann aber auch:<br />

Dass ich <strong>selbst</strong> Gefühle habe, bedeutet keineswegs, dass ich kein Roboter<br />

oder Automat bin. Dieses Dilemma wird in der für Deckard schicksalhaften<br />

Begegnung mit Rachael Rosen verschärft. Im Roman liest sich diese Szene<br />

– anders als im Film – so:<br />

„Wie mag es wohl sein, einen Androiden zu küssen? fragte er sich. Er<br />

beugte sich ein wenig vor und küßte ihre trockenen Lippen. Es folgte keine<br />

Reaktion. Rachael blieb gleichgültig, als berühre sie ein Kuß gar nicht. Anders<br />

bei ihm. Doch vielleicht war das bloß Wunschdenken.“ 13<br />

In Dicks Version nimmt das Dilemma der Un-Unterscheidbarkeit also folgende<br />

Form an: Entweder empfinden Maschinen im Unterschied zu Menschen<br />

keine echten Gefühle oder aber das, was Menschen für echte Gefühle<br />

halten, sind lediglich Simulationen, <strong>wie</strong> sie auch jede entsprechend<br />

programmierte Maschine erzeugen kann. Wenn also in der <strong>Liebe</strong> der eine<br />

Mensch für den anderen zur Projektionsfläche wird und das erotische<br />

11 Dick, S. 41.<br />

12 Vgl. Dick, S. 116.<br />

13 Dick, S. 208. Im Film erscheint Rachael von Deckards Zärtlichkeiten zunächst überfordert zu sein und zeigt<br />

daher eine Fluchtreaktion. Sie ist dort also keineswegs gleichgültig.<br />

8


Feedback nichts anderes als die Umkehr der Projektionsrichtung ist, verliert<br />

<strong>selbst</strong> das urromantische Erlebnis der wechselseitigen interpersonellen<br />

Rührung seine intrapersonelle Funktion als Beglaubigung der eigenen<br />

Authentizität. Im Roman wird dieser grundlegende Zweifel anhand der<br />

Gegenüberstellung zwischen Buster Freundlich, einem Medienstar, und<br />

Wilbur Mercer, dem Propheten der Empathie, dargestellt. Buster ist <strong>selbst</strong><br />

ein Androide, der den Mercerismus im Fernsehen als Schwindel und<br />

Selbstbetrug entlarvt. Dann aber taucht Mercer im entscheidenden Moment<br />

der Geschichte wider Erwarten auf, um Deckard vor dem gefährlichsten<br />

aller Androiden zu warnen. Dieser Androide ist nicht, <strong>wie</strong> im Film,<br />

Roy Batty, sondern Pris Stratton, weil sie Rachael Rosen zum Verwechseln<br />

ähnlich sieht. Tatsächlich stammen beide Andreiden aus der gleichen Baureihe<br />

und wurden ursprünglich als Kampfroboter entwickelt. Als Nebeneffekt<br />

ihrer Umprogrammierung zu Domestiken der Weltraum-Kolonisation<br />

ist ihre Disposition zur Entwicklung von Gefühlen entstanden. Damit diese<br />

emergente Eigenschaft nicht außer Kontrolle gerät, hat man die Lebensdauer<br />

der <strong>Replikanten</strong> auf vier Jahre terminiert.<br />

Deckard gelingt es, Pris auszuschalten, nachdem sie sich in einen Kampfroboter<br />

zurückverwandelt hat. Rachael <strong>wie</strong>derum rächt sich im Roman an<br />

Rick Deckard, der sie zwar nicht erschossen, aber auch nicht als gleichberechtigt<br />

akzeptiert hat, indem sie das Kostbarste, was er und seine Frau<br />

besitzen, ein Haustier, tötet. Die Eifersucht des Androiden auf das Tier respektive<br />

auf das, was es für Deckard und seine Frau bedeutet, so<strong>wie</strong> die<br />

Gefühllosigkeit, mit der das Tier exekutiert wird, unterstreichen bei Dick<br />

die Demarkationslinie, die zwischen dem Blade Runner auf der einen Seite<br />

und Mensch-Maschinen <strong>wie</strong> Pris Stratton oder Rachael Rosen auf der anderen<br />

Seite wohl nicht geradlinig, aber doch noch immer kenntlich verläuft.<br />

Zwar haben auch die Androiden Empfindungen und Wünsche, Ängste<br />

und Träume, sie handeln jedoch ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer,<br />

während sich wahres Menschsein an der Reflexivität zeigt, dank der<br />

nicht nur die eigenen, sondern auch die Empfindungen der anderen das<br />

Handlungskalkül bestimmen. Vielleicht – diese Perspektive eröffnet der<br />

Roman – ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Androiden auch zu<br />

dieser Reflexivität in der Lage sind; einstweilen gilt jedoch, dass sie mit<br />

dem christlichen Gebot, ‚<strong>Liebe</strong> <strong>Deinen</strong> Nächsten <strong>wie</strong> <strong>Dich</strong> <strong>selbst</strong>‘, rational<br />

und emotional nichts anzufangen wissen. Um es mit Blick auf Kappelhoffs<br />

Konzept des Melodramas zu sagen: Ihre artifizielle Innerlichkeit wird nicht<br />

9


is zu dem Punkt entfaltet, an dem sie im Sinne einer ethischen Maxime<br />

das eigene, soziale Handeln steuert.<br />

Der Film The Blade Runner geht in dieser Hinsicht erheblich weiter. Das<br />

wird vor allem deutlich, wenn man sich das Melodrama der <strong>Liebe</strong> ansieht,<br />

in das Rick und Rachael hier verstrickt sind. Voraussetzung dafür ist zum<br />

einen, dass Deckard im Film nicht verheiratet ist, so<strong>wie</strong> zum anderen,<br />

dass Rachael den Blade Runner keineswegs – <strong>wie</strong> im Roman – nur deswegen<br />

verführt, weil sie seinen Killerinstinkt lahmlegen möchte. Eher schon<br />

wird sie in der erwähnten Szene auch im erotischen Sinne gejagt und in<br />

die Enge getrieben, bevor sie sich schließlich ergibt und hingibt. Es ist also<br />

das interaktive, zum melodramatischen Klischee verfestigte Schema der<br />

Eroberung der Frau durch einen Mann, der, von ihren Reizen überwältigt,<br />

initiativ, ja aggressiv und handgreiflich wird, über das in der Schlüsselszene<br />

des Films eine von Reflexivität und Solidarität bestimmte Beziehung<br />

angebahnt wird, die schließlich dadurch stabilisiert wird, dass Deckard zu<br />

dem Schluss gelangt, <strong>selbst</strong> ein Androide zu sein.<br />

Wenn Deckard daher am Ende der Maxime, ‚<strong>Liebe</strong> <strong>Deinen</strong> Nächsten <strong>wie</strong><br />

<strong>Dich</strong> <strong>selbst</strong>‘, folgt, so bedeutet dies nicht nur, <strong>wie</strong> im Roman, dass er Rachael<br />

im biblischen Sinn als das erkennt, was sie ist, indem er mit ihr<br />

schläft, sondern dass er durch einen Akt der Selbsterkenntnis dahin gelangt<br />

ist, die Wahrhaftigkeit ihrer und seiner eigenen Empfindungen zu<br />

ratifizieren, indem er ihre Art der Existenz vollumfänglich teilt. Obwohl<br />

<strong>selbst</strong> ein Replikant, ist es ihm nicht mehr egal, was mit einem anderen<br />

Androiden geschieht. Das aber heißt: Deckard, der vermutlich <strong>selbst</strong><br />

schon auf der Abschussliste steht, transzendiert seine Programmierung<br />

und bildet mit Rachael eine Schicksalsgemeinschaft; gemeinsam mit seiner<br />

Geliebten wird er entweder überleben oder untergehen. Und genau<br />

darin, dass er seine <strong>Liebe</strong> über den eigenen Tod stellt, erweist sich Deckard<br />

in Ridley Scotts Director‘s Cut als durch und durch melodramatischer<br />

– sprich: humaner – Held. So <strong>wie</strong> in der Schlusssequenz des Films<br />

aus dem ehemaligen Kampfroboter Roy Batty eine Christus-Figur wird, die<br />

Mitleid vor Recht ergehen lässt, Deckards Leben schont und die Friedenstaube<br />

in die Freiheit entlässt – auch darin unterscheidet sich der Film<br />

nachhaltig von Dicks Roman –, führt der melodramatische sub plot Rachael<br />

und Rick an den Punkt, an dem die Zuschauer den beiden <strong>Replikanten</strong><br />

unmöglich ihre Empathie verweigern können. Obwohl dem alle Zeichen<br />

entgegenstehen, hoffen die Zuschauer, dass diese beiden liebens-<br />

10


werten Personen dem Schicksal der anderen, weniger sympathischen „Andys“<br />

entgehen möchten. 14<br />

Auffällig ist zudem, <strong>wie</strong> The Blade Runner den melodramatischen sub plot<br />

mit dem politischen Szenario des main plot verbindet. Wenn sich Rachael<br />

in Deckards Wohnung an das Klavier setzt und einige Töne anschlägt, wird<br />

das Haupt-Drama der <strong>Replikanten</strong>jagd so offensichtlich vom Melos unterbrochen,<br />

dass man darin beinahe schon eine reflexive Bezugnahme auf<br />

das Genre sehen darf. Ähnlich zart <strong>wie</strong> die Töne auf dem Klavier, die deutlich<br />

der Härte der Auseinandersetzungen kontrastieren, in die Deckard von<br />

Berufs wegen verwickelt ist, bahnt sich ein Moment der nicht nur erotischen<br />

Ekstase an. Tatsächlich treten Rick und Rachael, indem sie sich ineinander<br />

verlieben – also noch bevor Deckard die Entdeckung macht,<br />

<strong>selbst</strong> ein Replikant zu sein – aus dem moralischen und politischen Zusammenhang<br />

der Gesellschaft heraus, die Androiden das Recht verwehrt,<br />

zu lieben und geliebt zu werden. Entscheidend ist, dass dabei anders als<br />

im Roman keine der beiden Film-Figuren berechnend oder kaltblütig erscheint.<br />

Eher werden sie <strong>selbst</strong> von der Intensität der Gefühle überwältigt,<br />

als dass man ihnen als Zuschauer (im Rahmen der Fiktion) unterstellen<br />

könnte, Empfindungen zu simulieren.<br />

Das ist umso bemerkenswerter, als die allgegenwärtige Mediensimulation<br />

fest in die Szenografie der Mega-City eingebaut ist, die der Film in düsteren<br />

Bildern vor Augen führt. Das offene Ende der Geschichte, bei der die<br />

äußere Bedrohung der Protagonisten aufrecht erhalten bleibt, delegiert die<br />

Frage nach dem Unterschied von Mensch und Maschine dank der melodramatischen<br />

Grundierung der Figuren- und Konfliktentwicklung wesentlich<br />

nachhaltiger an das Publikum als dies in der Romanvorlage geschieht.<br />

14 Wobei man sagen muss, dass die beiden Kontrast- und Komplementärfiguren Pris Stratton und Roy Batty, die<br />

ebenfalls ein <strong>Liebe</strong>spaar bilden, keine unsympathischen Figuren sind. Eher schon antizipiert ihr Schicksal das<br />

von Rachael und Rick. Die Art und Weise, in der die beiden Figurenpaare aufeinander bezogen werden, ist zudem<br />

typisch für eine melodramatische Inszenierung und verweist auf das Moment der Kontingenz: Was diesen<br />

passiert, könnte auch jenen zugestoßen sein; jedes Schicksal steht im Melodram vor dem Hintergrund kontingenter<br />

Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade das Bewusstsein für diese Kontingenz aber verstärkt die Affektivität der<br />

Rezeption und damit den Eindruck, anders als in der Tragödie, keinem Schicksal beizuwohnen, das von vornherein<br />

unabänderlich wäre. Insofern erscheint dass Melodramatische als ein eminent senti-mentaler Modus der<br />

Darstellung: Er setzt mentalitätsgeschichtlich das moderne Wissen um die Möglichkeit voraus, das eigene<br />

Schicksal gestalten zu können, vermittelt jedoch das deutliche Gefühl, dass diese Möglichkeit ausgeschlagen<br />

werden oder nicht genutzt werden kann, weil dies entweder die sozialen und politischen Verhältnisse oder aber<br />

die psychische Verfassung der beteiligten Personen nicht erlauben. Als Grund der Ausweglosigkeit erscheint im<br />

Melodrama, so gesehen, nicht, <strong>wie</strong> in der (antiken) Schicksalstragödie, das von den Göttern beschlossene Verhängnis,<br />

sondern die von den Menschen <strong>selbst</strong> verschuldete Unvereinbarkeit zwischen der Unbedingtheit des<br />

(eigenen) Gefühls und den Lebensumständen, die scheinbar vernünftig geordnet sind und doch – im Einzelfall –<br />

nicht das Glück, sondern das Unglück befördern.<br />

11


Das wird noch deutlicher, wenn man The Blade Runner auf die Tradition<br />

der Darstellung künstlicher Menschen im Film und in der Literatur bezieht.<br />

Nicht nur in Fritz Langs Metropolis (1927), auch in den unzähligen Versio-<br />

nen des Frankenstein-Mythos, aber auch in dem zu Unrecht häufig igno-<br />

rierten Roman DIE EVA DER ZUKUNFT (1886) von Jean-Marie Villiers de l’Isle<br />

Adam wird die Andreide entweder, <strong>wie</strong> bei Mary Shelley, gar nicht erst<br />

zum Leben erweckt oder so bald als möglich vernichtet, weil der prome-<br />

thische Mann in ihr nur eine gefährliche Infragestellung seiner schöpferischen<br />

Potenz und Autonomie sehen kann. Echte Gefühle zu haben, wird<br />

der künstlichen Frau ebenso verwehrt <strong>wie</strong> das Anrecht darauf, als Mensch<br />

behandelt zu werden. In James Whales The Bride of Frankenstein (1935)<br />

etwa kann das arme Geschöpf im Gegensatz zum männlichen Monster,<br />

das über einen vergleichsweise elaborierten Code verfügt, lediglich spitze,<br />

grelle Schreckensschreie ausstoßen, bevor es, kaum das es existiert, auch<br />

schon <strong>wie</strong>der annihiliert wird.<br />

*<br />

Gerade im Vergleich mit den Geschichten von künstlichen Menschen, die<br />

im Kino vor The Blade Runner erzählt worden sind, aber auch im Vergleich<br />

mit der Romanvorlage, zeigt sich somit, dass Ridley Scott über die Variation<br />

des Themas hinaus zu einer innovativen Sicht der Dinge gelangt ist.<br />

Hervorzuheben ist dabei zum einen, dass er zum ersten Mal in der Literatur-<br />

und Filmgeschichte weibliche künstliche Menschen präsentiert, die<br />

überleben und deren Kampf um Anerkennung nicht diskreditiert wird. Zum<br />

anderen scheint der eigentliche Clou von Scotts Romanverfilmung gerade<br />

darin zu bestehen, dass ein Replikant, der sich <strong>wie</strong> Roy Batty, Rachael Rosen<br />

oder Rick Deckard verhält, ziemlich genau dem Bild entspricht, das<br />

Albert Camus vom „Mensch in der Revolte“ gezeichnet hat:<br />

„Was ist der Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt. [...] Er<br />

schritt unter der Peitsche des Herrn. Nun bietet er ihm die Stirn“, 15 heißt<br />

es bei Camus. Zwei wichtige Bemerkungen ergänzen dieses Bild vom Menschen<br />

in der Revolte. Erstens verweist Camus auf die deontische bzw. ethische<br />

Dimension der Revolte: „Scheinbar negativ, da sie nichts erschafft,<br />

15 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Essays. Reinbek bei Hamburg 1988 [Französische Erstausgabe<br />

1951], S. 14. Wenn Roy Batty im Film seinem ‚Vater‘, dem Roboterhersteller Tyrell, die Stirn bietet und verlangt,<br />

die Termination seiner Existenz aufzuheben, und diesem dann, nachdem er sich von der technischen Unmöglichkeit<br />

überzeugen musste, dass dieser Wunsch erfüllt werden könnte, die Augen eindrückt, reagiert er<br />

ähnlich <strong>wie</strong> Frankensteins Monster, nachdem ihm sein Schöpfer das Recht auf ein Mit-Geschöpf verwehrt hat.<br />

12


ist die Revolte dennoch zutiefst positiv, da sie offenbart, was im Menschen<br />

allezeit zu verteidigen ist.“ 16 Dass es in The Blade Runner <strong>Replikanten</strong><br />

sind, an deren Revolte sich diese Dimension offenbart, spricht ein deutliches<br />

Urteil über die Humanität der Gesellschaft, die sie zu lebenslänglichen<br />

Knechten bestimmt hat. Zweitens erklärt Camus: „daß die Revolte<br />

nicht allein und notwendigerweise im Unterdrückten ausbricht, sondern<br />

daß sie beim bloßen Anblick der Unterdrückung eines anderen ausbrechen<br />

kann. In diesem Fall kommt es also zur Identifikation mit dem anderen.“ 17<br />

Es ist nun aber genau diese Identifikation, die Rachael erst mit Deckard<br />

und Rick dann seinerseits mit ihr vollzieht, und die sich auch in der symbolischen<br />

bzw. imaginären Interaktion zwischen dem melodramatischen<br />

Geschehen auf der Leinwand und dem Bewusstsein des Zuschauers – also<br />

dank der psycho-semiotischen Aktivität im empathischen Feld des Kinos –<br />

ereignet. Dass es bei dieser Art der Identifikation in einem sehr spezifischen<br />

Sinne tatsächlich um die Herstellung eines ‚inneren Objekts‘ geht,<br />

kann man sogar neurobiologisch begründen, wenn man sich auf die so<br />

genannten ‚Spiegelneuronen‘ bezieht, die Ende des letzten Jahrhunderts<br />

von Giacomo Rizzolatti und seinem Team am Physiologischen Institut der<br />

Universität Parma entdeckt wurden. Es handelt sich dabei um Nervenzellen<br />

bzw. Zellverbände, die nicht nur aktiv werden, wenn es im motorischen<br />

und prämotorischen Cortex darum geht, Handlungen des eigenen<br />

Körpers oder Sprechakte einzuleiten. Vielmehr feuern die ‚Spiegelneuronen‘<br />

auch dann, wenn die Bewegungen und – das ist hier entscheidend –<br />

die Gefühlsregungen anderer Menschen beobachtet werden. Kurzum: „Wir<br />

erleben, was andere fühlen, in Form einer spontanen inneren Simulation“,<br />

18 die als Resonanzmuster der neuronalen Erregung aufgefasst werden<br />

kann. Interessant ist nun folgendes:<br />

„Das Resonanzmuster, das Nahestehende in uns hervorrufen, wird innerhalb<br />

kurzer Zeit zu einer festen Installation. Es entsteht eine dynamische<br />

innere Abbildung dieses Menschen“, 19 also das, was Kappelhoff als ‚inneres<br />

Objekt‘ bezeichnet hat. „Über eine solche innere Repräsentation einer<br />

nahe stehenden Person zu verfügen heißt, so etwas <strong>wie</strong> einen weiteren<br />

16<br />

Camus, S. 19.<br />

17<br />

Camus, S. 16f.<br />

18<br />

Joachim <strong>Bauer</strong>: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone.<br />

8. Auflage, Hamburg 2006, S. 145.<br />

19<br />

<strong>Bauer</strong>, S. 86.<br />

13


Menschen in sich zu haben.“ 20 Das aber bedeutet nicht nur, dass das Ge-<br />

hirn zur Wahrnehmung und inneren Abbildung anderer Menschen diesel-<br />

ben Programme einsetzt, mit denen es auch ein Bild von sich <strong>selbst</strong> mo-<br />

delliert. 21 Es bedeutet darüber hinaus, dass die Wahrnehmung und Reprä-<br />

sentation einer menschlichen Gestalt auf der Leinwand tatsächlich insofern<br />

der Herstellung eines <strong>Replikanten</strong> gleicht, als es dabei um die Identifikation<br />

mit dem dynamischen Objekt geht, das im empathischen Feld entsteht.<br />

Die spontanen Simulationen der Gefühlsregungen, die ein Schauspieler auf<br />

der Leinwand ausdrückt, werden im Rahmen der psycho-semiotischen Aktivität,<br />

die mit der Aktivität der Spiegelneuronen beginnt, zu einer vergleichsweise<br />

stabilen Repräsentation entwickelt, in der sich zwei Bilder<br />

von Personen ineinander spiegeln: das der eigenen Person und das einer<br />

Bezugsperson. In diesem Sinne ist der Replikant eine Allegorie der neuronalen<br />

Replikationen, die Menschen im Prozess der Identifikation mit einem<br />

signifikanten Anderen – sei es nun in der Realität oder in der Fiktion – erzeugen.<br />

Dabei ist die Simulation klar und deutlich von der Verhaltensimitation<br />

zu unterscheiden: Die ‚Spiegelneuronen‘ feuern, doch die eigene<br />

Bewegung wird inhibitiert. Gleichwohl findet in der Imagination offenbar<br />

statt, was George Herbert Mead auf die Formel „to take the role of the other“<br />

gebracht hat. 22 Der sentimentale Vorgang der Identifikation einer<br />

Zuschauerin oder eines Zuschauers mit Figuren <strong>wie</strong> Rachael Rosen oder<br />

Rick Deckard ist also kein Indiz von Naivität, sondern genau das, was man<br />

als die basale Interaktion bzw. als den immer <strong>wie</strong>der von neuem erforderlichen<br />

Akt der Konstitution einer humanen Gesellschaft bezeichnen könnte.<br />

Indem die Schlüsselszene von The Blade Runner diesen Vorgang modelliert<br />

und an das Bild vom Menschen in der Revolte koppelt, erhält der<br />

Film eine ethische Dimension, die über das empathische Feld hinausweist,<br />

das sich in seiner Wahrnehmung und Deutung bildet. Daher kann man mit<br />

Thomas Koebner über Scotts Film sagen:<br />

„Er definiert Menschlichkeit nicht traditionalistisch, etwa durch biologische<br />

Er[b]folge, Stammbaum, Familie – dies scheinen nur veraltete Vehikel<br />

bürgerlicher Selbstfindung aus verflossenen Tagen zu sein. Er definiert sie<br />

20 <strong>Bauer</strong>, S. 86.<br />

21 Vgl. <strong>Bauer</strong>, S. 165f.<br />

22 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Aus dem<br />

Amerikanischen von Ulf Pacher. Frankfurt am Main 1993. Dort heißt es auf S. 300 über die soziale Person:<br />

„Indem sie diese Rolle der anderen übernimmt, kann sie sich auf sich <strong>selbst</strong> besinnen und so ihren eigenen<br />

Kommunikationsprozeß lenken. Diese Übernahme der Rolle anderer [...] ist nicht nur zeitweilig von Bedeutung<br />

[...], sondern für die Entwicklung der kooperativen Gesellschaft wichtig.“ Siehe auch den Abschnitt ‚Über das<br />

Wesen des Mitgefühls‘, S. 346-350.<br />

14


vielmehr durch Abweichung vom vorgegebenen Handlungsauftrag, durch<br />

Innehalten im Schmerz, durch das Ablegen des starren Schutzpanzers,<br />

das Weichwerden, durch Widerstand gegen Fremdbestimmung, Wider-<br />

stand, der allmählich oder spontan aus fürsorglichen Gefühlen entsteht,<br />

auch durch den Verrat an der Pflicht aus <strong>Liebe</strong>, den Rach[a]el und Deckard<br />

begehen, indem sie sich gegenseitig beschirmen vor anderen <strong>Replikanten</strong><br />

und sich gegen die angeblichen Gebote vergehen, einander mit<br />

Gewalt zu begegnen und sich auszulöschen.“ 23<br />

Dass die Revolte von Pris und Roy im Film scheitert, und es wahrscheinlich<br />

auch Rick und Rachael nicht gelingen wird, dem Schicksal der <strong>Replikanten</strong><br />

zu entkommen, ist die eine Seite der Geschichte: „Menschlichkeit – das<br />

scheint das Resümé des Films zu sein – vereinzelt, gefährdet das Subjekt<br />

und bestimmt es offenbar zu frühem Untergang. So schließt die vom Regisseur<br />

bevorzugte Version (der sog. Director’s Cut) mit einem offenen<br />

Ende, das nichts Gutes verheißt.“ 24<br />

Die andere Seite kommt in den Blick, wenn man sich noch einmal vor Augen<br />

führt, dass der Replikant bei Ridley Scott die Rolle des signifikanten<br />

Anderen übernimmt, <strong>wie</strong> sie George Herbert Mead in seiner Theorie des<br />

Symbolischen Interaktionismus beschrieben hat: die Rolle einer Bezugsperson,<br />

an deren Autonomie sich reflexiv nicht nur das eigene Ich-<br />

Bewusstsein, sondern auch dessen soziale bzw. ethische Dimension ausbildet.<br />

In der primitiven Fassung lautet die Lektion, die sich aus der Begegnung<br />

mit dem signifikanten Anderen ergibt: Was Du nicht willst, das<br />

man Dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu. In dem empathischen Feld<br />

der symbolischen, melodramatisch inszenierten Interaktion von Film und<br />

Zuschauer wird daraus die Maxime: <strong>Liebe</strong> <strong>Deinen</strong> <strong>Replikanten</strong> <strong>wie</strong> <strong>Dich</strong><br />

<strong>selbst</strong>.<br />

*<br />

Man kann diese emphatische Steigerung mühelos an die Tradition der<br />

neuzeitlichen Philosophie zurück binden. Anknüpfungspunkt ist dabei die<br />

Sinnverschiebung, die das Hauptmotiv der Handlung, die Detektion der<br />

<strong>Replikanten</strong>, im Verlauf der Geschichte erfährt: Zu Beginn geht es für Deckard<br />

einfach nur darum, die <strong>Replikanten</strong> als die ganz Anderen des Men-<br />

23 Koebner, Wovon träumen die Geschöpfe des Prometheus, S. 72.<br />

24 Koebner, Wovon träumen die Geschöpfe des Prometheus, S. 72.<br />

15


schen zu identifizieren und ‚abzuschalten‘; am Ende geht es für ihn und<br />

die Zuschauer darum, sich mit den vermeintlich Anderen zu identifizieren<br />

und gemeinsam der Vernichtung zu entkommen. Wenn Deckard im Direc-<br />

tor’s Cut beim Anblick des Origamo-Einhorns vor seiner Wohnung reali-<br />

siert, dass man seine Träume kennt und ihn daher <strong>wie</strong> jeden anderen<br />

<strong>Replikanten</strong>, der nur über implantierte Erinnerungen verfügt, behandeln<br />

wird, hat der Zuschauer mit ihm in der Vorstellung, also psychosemiotisch,<br />

die Schwelle überschritten, die den Menschen von der Maschine<br />

trennt. Indem der Film die Anthropologie, derzufolge nur Menschen,<br />

aber keine Maschinen Empathie empfinden, dekonstruiert, als Ideologie<br />

entlarvt und invertiert, gewinnt er dem melodramatischen Geschehen somit<br />

eine philosophische Pointe ab. Dass dies im Rahmen einer Science Fiction<br />

geschieht, ist kein Einwand, zumal wenn man bedenkt, dass auch die<br />

Begründung dieser Anthropologie nur im Rahmen eines Gedankenexperiments<br />

gelang, das deutlich fiktionale Züge trägt.<br />

Nachzulesen ist dieses Gedankenexperiment bei René Descartes (1596-<br />

1650), in den MEDITATIONEN ÜBER DIE GRUNDLAGEN DER PHILOSOPHIE aus dem<br />

Jahre 1629. In seinem 1637 erstmals veröffentlichten DISCOURS DE LA<br />

MÉTHODE rekapituliert Descartes das Gedankenexperiment aus den MEDITA-<br />

TIONEN noch einmal und schreibt rückblickend: „Endlich erwog ich, daß uns<br />

genau die gleichen Vorstellungen, die wir im Wachen haben, auch im<br />

Schlafe kommen können, ohne daß in diesem Fall eine davon wahr wäre,<br />

und entschloß mich daher zu der Fiktion (Kursivierung MB), daß nichts,<br />

was mir jemals in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder<br />

meiner Träume.“ 25 Nur innerhalb dieses Verständnisrahmens kann Descartes<br />

an seine Behauptung aus den MEDITATIONEN anknüpfen: „Körper,<br />

Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären“. 26 Und<br />

allein unter dieser offenbar kontrafaktischen Voraussetzung gelingt es<br />

ihm, sein Gedankenexperiment auf das berühmte „cogito ergo sum“ zuzuspitzen:<br />

„Alsbald aber fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu<br />

denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas<br />

sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ‚ich denke, also bin<br />

ich‘ so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der<br />

Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich (Kursivierung<br />

MB), daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philoso-<br />

25<br />

René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. In:<br />

René Descartes: Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg 1996, S. 53.<br />

26<br />

René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. In: Descartes, Philosophische Schriften,<br />

S. 43.<br />

16


phie, die ich suchte, ansetzen könne.“ 27 Wohlgemerkt: Was Descartes<br />

vorträgt ist kein Beweis, sondern ein Entschluss, der sich aus dem experimentum<br />

crucis ergibt. Folglich muss man das ‚cogito ergo sum‘ stets auf<br />

die Versuchsanordnung der heuristischen Fiktion relativieren, in der es<br />

entwickelt worden ist.<br />

Unbedingt erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang eine weitere<br />

Bemerkung, die Descartes macht, um seinen Gedankengang zu illustrieren.<br />

Er verfällt dabei zunächst auf das vergleichsweise harmlose Beispiel<br />

vom Wachs und schreibt, es sei falsch, aus dem Geruch oder Gefühl von<br />

Wachs zu schließen, dass die Sinne des Menschen die entscheidende Rolle<br />

bei der Erkenntnis von Gegenständen oder beim Urteil über ihren Realitätsgehalt<br />

spielen würden. Schuld an diesem nahe liegenden Fehlschluss<br />

sei der Sprachgebrauch, indem er den Eindruck erwecke, dass man Wachs<br />

unmittelbar als das erkenne, was es sei. Tatsächlich sei es jedoch allein<br />

der Verstand, der zu dem Urteil gelange, dass es sich bei einem Gegenstand<br />

wirklich um dieses oder jenes handele. In diesem Augenblick unterbricht<br />

Descartes seine Reflexion gleichsam so, als habe ihn eine Sensation<br />

vom Weiterschreiben abgelenkt, um dann fortzufahren:<br />

„Doch da sehe ich zufällig vorm Fenster Menschen auf der Straße vorübergehen,<br />

von denen ich ebenfalls, genau <strong>wie</strong> vom Wachse, gewohnt bin<br />

zu sagen: ich sehe sie, und doch sehe ich nichts als Hüte und Kleider, unter<br />

denen sich ja Automaten verbergen können! Ich urteile aber, dass es<br />

Menschen sind. Und so erkenne ich das, was ich mit meinen Augen zu sehen<br />

vermeinte, einzig und allein durch die meinem Denken innewohnende<br />

Kraft zu urteilen.“ 28<br />

Die reziproke Schlüsselszene in The Blade Runner ließe sich etwa so paraphrasieren:<br />

Hier sehen die Zuschauer gemeinsam mit Rick Deckard einen<br />

Automaten oder <strong>Replikanten</strong>, in dem ein Mensch stecken könnte. Es<br />

ist aber nicht primär der Verstand, der zu diesem Urteil kommt, sondern<br />

die melodramatisch stimulierte Empfindung, die zu dieser Detektion bzw.<br />

Identifikation führt: Das Objekt der Beobachtung durchläuft also einen<br />

Prozess, in dem es in dem Maße seine (weibliche) Sensibiliät und Identität<br />

entdeckt, indem es in der Imagination des Beobachters zu einem dynamischen<br />

Objekt wird, in dessen Entwicklung sich die eigene Subjektgenese<br />

27 Descartes, Von der Methode, S. 53.<br />

28 Descartes. Meditationen, S. 57.<br />

17


spiegelt. Dass damit zugleich die anthropologische Differenz von Mensch<br />

und Maschine aufgehoben wird, macht den Clou dieser Schlüsselszene<br />

aus.<br />

Der Umstand, dass Rick Deckards Name, frankophon prononciert, an René<br />

Descartes erinnert, hat also eine tiefere Bedeutung. The Blade Runner ist<br />

eine Revision des traditionellen Menschenbilds, und es ist daher auch kein<br />

Zufall, dass der <strong>Replikanten</strong>jäger, als er Pris Stratton aufspürt, in ein Kabinett<br />

von Automaten gerät, das Exponate umfasst., die an E.T.A. Hoffmanns<br />

Olympia-Puppe aus DER SANDMANN und ähnliche Figuren erinnern.<br />

Dass ausgerechnet Pris im Film Descartes’ „cogito ergo sum“ rezitiert, gehört<br />

in den gleichen Zusammenhang. Ebenso offensichtlich knüpft der Film<br />

allerdings an eine weitere Genealogie des modernen Menschen an, die<br />

vom Prothesengott zum Cyborg führt:<br />

Schon 1930 hatte Sigmund Freud in seinem Essay DAS UNBEHAGEN IN DER<br />

KULTUR darauf hinge<strong>wie</strong>sen, dass der Mensch mit all den technischen Hilfsorganen,<br />

die er sich geschaffen hat, ein „Prothesengott“ geworden sei. 29<br />

Auf der gleichen Linie liegt Marschall McLuhans These, dass die Medien<br />

Ausdehnungen des menschlichen Körpers, seiner Sinne und seiner Extremitäten<br />

seien. Und nur drei Jahre nach dem Kinostart von The Blade Runner,<br />

nämlich 1985, bemerkte Donna Haraway in EIN MANIFEST FÜR CYBORGS:<br />

„Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben<br />

wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine<br />

und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs.“ 30<br />

Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Beobachtung von Thomas Koebner<br />

Relevanz, die er in seiner lesenswerten, bereits mehrfach zitierten Interpretation<br />

von The Blade Runner im Hinblick auf das Recycling kultureller<br />

Muster mitteilt, das Ridley Scott, seine Bühnenbildner und Ausstatter betrieben<br />

haben:<br />

„Das Zitathafte der geschichtlichen Verweise und Dokumente korrespondiert<br />

dem Zitathaften der Erinnerungen im Gedächtnis der <strong>Replikanten</strong>. Da<br />

29 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische<br />

Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich. Frankfurt am Main 1994, S. 57.<br />

30 Donna Haraway: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. Übersetzung.<br />

Fritz Wolf. In: Dieselbe: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, herausgegeben und<br />

eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß. Frankfurt New York 1995, S. 33-72, Zitat S. 34.<br />

18


<strong>wie</strong> dort handelt es sich um die systematische Ausstattung eines Gehirns<br />

mit Leitmotiven aus einer vergangenen Epoche, um den zusammengesetzten<br />

‚Individuen‘ lebensgeschichtliche Tiefe zu verleihen, eine Art Vorgeschichte,<br />

die sie als vermutlich künstliche Wesen sonst entbehren müß-<br />

ten.“ 31<br />

Die Frage muss erlaubt sein, was uns Mediensubjekte, die wir tagtäglich<br />

einer vom Recycling lebenden Bewusstseinsindustrie unterworfen – also<br />

sub-jectum – sind, eigentlich noch vom Gemütszustand der <strong>Replikanten</strong><br />

mit ihren Gehirnimplantaten unterscheidet? Man kann diese Frage als<br />

Hinweis auf einen weit verbreiteten Irrtum verstehen – den Irrtum nämlich,<br />

dass die Bedeutung von Empfindungen davon abhängt, dass sie eine<br />

authentische Genese haben. Offenbar ist dies nicht der Fall. Zumindest im<br />

Kino ist die Inauthentizität dessen, was der Zuschauer wahrnimmt, die<br />

Bedingung der Möglichkeit, wahrhaftig etwas zu empfinden und dieser<br />

Empfindung einen Wert zuzuschreiben, der bloß deswegen, weil er fiktional<br />

oder imaginär entworfen und entfaltet wird, keineswegs illusorisch ist.<br />

In diesem Sinne ist der Film, ist vor allem das filmische Melodram, das<br />

Simulakrum einer Interaktion zwischen dem Subjekt, das sich imaginär<br />

konstituiert, und dem signifikanten Anderen, der seine Rolle nur spielen<br />

kann, indem er von einem unmittelbaren Objekt der Wahrnehmung in das<br />

dynamische Objekt einer Deutung verwandelt wird, die sich das beständige<br />

Hin und Her zwischen Projektion und Introjektion, Fremdreferenz und<br />

Selbstreferenz zunutze macht, das der szenografische Diskurs anstößt. So<br />

gesehen, ist das Melodram nicht einfach nur ein Genre, sondern eine Implikatur,<br />

die sich im Verlauf der psycho-semiotischen Aktivität des Zuschauers<br />

entfaltet. Im Unterschied zu einer Implikation, deren Auflösung<br />

eine logische und semantische Kompetenz erfordert, stellt die Implikatur<br />

ein pragmatisches Phänomen dar, das performativ entfaltet wird durch die<br />

Art und Weise, <strong>wie</strong> sich ein Subjekt zu Bezugsobjekten verhält, die im<br />

empathischen Feld mit zum Teil sehr hohen Affektbeträgen ausgestattet<br />

werden. Und eben darin, in der performativen Entfaltung, ist sowohl die<br />

soziale als auch die ethische Dimension des Melodramas angelegt.<br />

*<br />

31 Thomas Koebner: Herr und Knecht. Über künstliche Menschen im Film. In: Derselbe: Halbnah. Schriften zum<br />

Film. Zweite Folge. St. Augustin 1999, S. 75-91, Zitat S. 85.<br />

19


Eine <strong>wie</strong>derum fiktionale Bestätigung erfährt diese Sicht der Dinge in dem<br />

Roman SOLARIS, den Stanislaw Lem 1968 erstmals publiziert hat. Er handelt<br />

nicht von Maschinen-Menschen, die man als <strong>Replikanten</strong> bezeichnen<br />

könnte, sondern von Replikationen der menschlichen Psyche, die sich in<br />

somatischer Form materialisieren. Kris Kelvin, der Ich-Erzähler des Romans,<br />

berichtet, <strong>wie</strong> er auf eine Raumstation geschickt wurde, die den<br />

rätselhaften Solaris-Ozean umkreist. Rätselhaft ist vor allem die starke<br />

Wechselwirkung, die zwischen der Materie dieses Ozeans und dem Gedächtnis<br />

der Astronauten entstanden ist. Nachdem man Solaris mit Röntgenstrahlen<br />

beschossen und zu einer Reaktion provoziert hat, werden die<br />

Astronauten auf ihrer Raumstation von seltsamen ‚Gästen‘ heimgesucht,<br />

die sich als Neutrino-Inkarnationen ihrer Wunsch- und Alpträume erweisen<br />

und sich genau so schnell, aber auch genau so hartnäckig zu regenerieren<br />

vermögen, <strong>wie</strong> es fixe Idee tun, die man gerade dadurch ständig <strong>wie</strong>der<br />

ins Bewusstsein holt, dass man sie vorsätzlich loswerden möchte.<br />

Folgerichtig wird der Solaris-Ozean im Roman als „protoplasmatisches<br />

Hirn-Meer“ bezeichnet. 32 Die starke Wechselwirkung dieser Materie mit<br />

dem menschlichen Gedächtnis wirkt, als habe Lem die Philosophie von<br />

Henri Bergson mit den erzählerischen Mitteln der Science Fiction veranschaulichen<br />

wollen. Auch Kelvin wird alsbald von den Erinnerungen an seine<br />

Frau Harey heimgesucht, an deren Selbstmord er sich schuldig fühlt.<br />

Als er das erste Mal auf der Raumstation erwacht, sitzt sie vor ihm. „Wie<br />

gut, daß das ein Traum ist, bei dem man weiß, daß man träumt“, 33 denkt<br />

Kris zunächst, muss dann aber erkennen, dass Harey auch im Wachzustand<br />

an seiner Seite bleibt. Es kommt sogar zur körperlichen Vereinigung<br />

zwischen den beiden, zur Wiedergeburt ihrer <strong>Liebe</strong>.<br />

Dennoch oder gerade deshalb gerät der Aufenthalt auf der Raumstation<br />

für Kelvin zu einer Zeit der Trauerarbeit, ohne dass es ihm abschließend<br />

gelingt, sein Wunschdenken mit dem Realitätssinn zu vermitteln. Kelvin<br />

weiß sehr wohl, dass seine Hoffnung auf eine Rückkehr der echten Geliebten<br />

illusorisch ist, aber er kann auch nicht mehr ohne ihr Phantasma leben:<br />

Ecce homo. Zudem entwickeln die ‚Gäste‘ ihrerseits ein mehr oder<br />

weniger eigenständiges Gefühlsleben. So leidet Harey daran, nicht authentisch<br />

und autonom zu sein. Da sie nur eine Materialisation von Kris‘<br />

32<br />

Vgl. Stanislaw Lem: Solaris. Roman. Deutsch von Irmtraud Zimmermann-Göllheim. München 12. Auflage<br />

1997, S. 27.<br />

33<br />

Lem, S. 62.<br />

20


Erinnerungen an seine verstorbene Frau darstellt, ist sie sich seiner Zu-<br />

neigung niemals sicher. Gilt diese Zuneigung ihr, dem Abbild, oder eigent-<br />

lich nur dem Vorbild? 34 Hareys Re-Inkarnation folgt der Regel von der<br />

Wiederkehr des Verdrängten, die unbewusst geschieht und sich willentlich<br />

nicht kontrollieren lässt, nur dass es nicht ihr eigenes Unbewusstes, son-<br />

dern das von Kelvin ist, dem sie ihre fragwürdige Existenz verdankt.<br />

Ihre letzten gemeinsamen Tage an Bord der Raumstation verbringen Kris<br />

und Harey in dem Wissen, dass es für sie unmöglich ist, auf Dauer oder<br />

gar auf der Erde zusammen zu leben. Harey kann sich nur in dem Feld der<br />

Wechselwirkung bewegen, das zwischen Kelvins Bewusstseinsstrom und<br />

dem elektroenzephallografischen Ozean von Solaris aufgespannt ist – ein<br />

intermediärer Bereich, in dem sie nur insofern und solange existiert <strong>wie</strong><br />

eine Film-Figur im empathischen Feld ihrer Wahrnehmung und Deutung.<br />

Um Kelvin die Rückkehr in die menschliche Zivilisation zu ermöglichen,<br />

bringt Harey schließlich dessen Kollegen Snaut dazu, ihre Neutrino-Matrix<br />

ein für alle Mal zu vernichten. 35 Kris hinterlässt sie einen Abschiedsbrief.<br />

Der Name Harey, mit dem sie diesen Brief unterschrieben hat, ist verschmiert.<br />

So wird die Signatur zum grafischen Reflex ihrer paradoxen,<br />

nicht-authentischen, nicht-autonomen Existenz. 36 Kris jedoch beschließt,<br />

in der Nähe von Solaris zu bleiben, weil er glaubt, im Menschengewimmel<br />

der Erde zu ertrinken. Einmal fliegt er zu einer Insel im Ozean, vermutlich<br />

in dem Bestreben, sich <strong>selbst</strong> zu vergessen. 37 Gelingen kann das schon<br />

deshalb nicht, weil er nach <strong>wie</strong> vor die Erwartung auf eine Rückkehr der<br />

Geliebten hegt. Statt mit einem Akt der Entsagung schließt die Ich-<br />

Erzählung mit einer philosophischen Reflexion auf die Un-Möglichkeit, ohne<br />

Illusion zu existieren:<br />

34 Angesichts der großen Rolle, die das Projektionsverfahren der Übertragung in der <strong>Liebe</strong> spielt, ist dies, nebenbei<br />

bemerkt, eine nur allzu menschliche und stets virulente Frage.<br />

35 Psychologisch betrachtet, entspricht dies der Notwendigkeit, das Trauma, das der Selbstmord ihres Vorbilds<br />

bei Kelvin hinterlassen hat, noch einmal imaginär durchzuspielen, um es überwinden zu können. Nur dass Kelvin<br />

diese Überwindung nicht restlos gelingt. Es wäre vorschnell, darin einen Einspruch Lems gegen die Psychotherapie<br />

oder gar deren Widerlegung zu sehen, haben Freud und seine Nachfolger doch stets betont, dass es bei<br />

der Redekur nicht darum geht, die Erinnerung an schmerzvolle Erfahrungen zu ‚löschen‘, sondern lediglich<br />

darum, die Lebens-Blockade, als die sie der Patient erfährt, aufzulösen, indem die Erinnerungen uminterpretiert<br />

werden.<br />

36 Wer dabei an das berühmte Gedankenexperiment von Schrödingers Katze denkt, die weder to noch lebendig,<br />

sondern eben 'verschmiert' ist, befindet sich durchaus auf dem richtigen Weg – nur das Lems literarisches Gedankenexperiment<br />

nicht der Veranschaulichung eines physikalischen, sondern eines philosophischen Paradoxons<br />

dient.<br />

37 Vgl. Lem, S. 236.<br />

21


„Jeder von uns weiß, daß er ein materielles, den Gesetzen der Physiologie<br />

und der Physik unterworfenes Wesen ist, und daß die Kraft aller unserer<br />

Gefühle zusammengenommen gegen diese Gesetze nicht ankämpfen<br />

kann; sie kann sie nur hassen. Der ewige Glaube der Verliebten und der<br />

<strong>Dich</strong>ter an die Macht der <strong>Liebe</strong>, die dauerhafter sei als der Tod, jenes ‚finis<br />

vitae sed non amoris‘, das uns durch die Jahrhunderte verfolgt – das ist<br />

eine Lüge. Aber diese Lüge ist nur vergeblich, nicht lächerlich.“ 38<br />

Mit dieser Bemerkung bekräftigt der Roman noch einmal, dass der Mensch<br />

seine Eigenart dem Zusammenspiel von Gefühl und Gedächtnis verdankt –<br />

einem Zusammenspiel, dessen Regelwerk außerhalb seiner bewussten<br />

Kontrolle liegt. Insofern ist das Gastspiel, das Harey in Kelvins Bewusstsein<br />

gibt, das mikroskopische Pendant zu dem makroskopischen Zusammenspiel<br />

zwischen Kris‘ schuldbeladener Erinnerung und den ozeanischen<br />

Gefühlen des Unbewussten, von denen Sigmund Freud gesprochen hat,<br />

und die Stanislaw Lem auf Solaris verortet. Lässt man sich auf sein Gedankenspiel<br />

ein, sind wir Menschen alle Gäste, d.h. Epiphänome jener<br />

starken Wechselwirkung von Materie und Memoria, die Bergson zufolge<br />

jeder Erscheinungsform von Bewusstsein vorausgeht und zugrundeliegt.<br />

Mutatis mutandis lässt sich dies auf die Wirkungsweise des Films übertragen.<br />

Denn einerseits erlangen die elektrischen Schatten, die über die<br />

Leinwand huschen, nur insofern Bedeutung, als sie mit Empfindungen und<br />

Gedanken aufgeladen werden, die der individuellen Erinnerung und dem<br />

kollektiven Gedächtnis der Zuschauer entstammen. Andererseits folgt aus<br />

dem Umstand, dass die Bezugsgegenstände dieser Bedeutung Chimären<br />

sind, noch lange nicht, dass auch das Kinoerlebnis rein illusorisch und damit<br />

wertlos wäre. Die emotionale Kraft des Kinos wird vom Zuschauer<br />

sehr wohl als evident erlebt, ist oft somatisch markiert und führt zu Einstellungen<br />

oder Schlussfolgerungen moralischer und politischer, sozialer<br />

und psychischer Art, die für das weitere Denken und Handeln in der Lebenswirklichkeit<br />

relevant sind, obwohl sie im Modus der Illusionsbildung<br />

erworben wurden. Zurückgewendet auf das Schicksal der Maschinen, die<br />

fühlen und Gefühlen Ausdruck verleihen können, bedeutet dies, dass auch<br />

simulierte Affekte reale Effekte haben können. Ausschlaggebend für die<br />

Bedeutsamkeit einer Erfahrung ist somit die Kopplung von Erlebnisintensität<br />

und Reflexivität, aber nicht, ob ihr dynamisches Objekt tatsächlich existiert<br />

oder nicht.<br />

38 Lem, S. 236f.<br />

22


Von Andreij Tarkowskij ist bekannt, dass er diese Kopplung von Erlebnis-<br />

intensität und Reflexivität vor allem durch die Verlangsamung der Zeit er-<br />

reichen wollte, die sowohl den Rhythmus seiner Bilder als auch das Tempo<br />

ihrer Wahrnehmung und Deutung bestimmt. Im Falle seiner SOLARIS-<br />

Verfilmung kommt noch hinzu, dass er ein Szenario entwerfen wollte, das<br />

sich deutlich von der Weltraum-Ästhetik unterscheidet, die in Stanley Kub-<br />

ricks Film 2001: A Space Odyssey (1968) vorherrscht. Tarkowskij erschien<br />

diese Ästhetik klinisch und steril, ahistorisch und posthuman. 39 Immerhin<br />

– das sei am Rande erwähnt, weil es für das Thema von der Subjektgene-<br />

se der künstlichen Intelligenz und von der Menschwerdung der Maschine<br />

nicht ganz unwichtig ist – gibt es in Kubricks überaus einflussreichem<br />

Science Fiction-Film den Super-Computer H.A.L., der <strong>wie</strong> eine Person a-<br />

giert, weil er über ein intentionales Bewusstsein, ein Gedächtnis und sogar<br />

eine Art von Gemüt zu verfügen scheint.<br />

Darauf ging Tarkowskij freilich nicht ein. Zudem reduzierte er, <strong>wie</strong> Lem<br />

befand, das Gedankenexperiment des Romans auf ein ödipales Familien-<br />

drama mit pantheistischer Moral, wobei Kelvin einen Läuterungsprozess<br />

absolviert, den man anhand der Anforderungen der Psychoanalyse inter-<br />

punktieren kann: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Insgesamt zeich-<br />

net Tarkowskijs Film im Unterschied zu Kubricks stilbildender Zeitreise<br />

durch den Raum der Menschheitsgeschichte eine präzise Rückkopplung<br />

der Geschichte an die zeitgenössische Lebenswirklichkeit der Sowjetunion<br />

im Jahre 1971 aus, als der Film gedreht wurde. Ebenso charakteristisch<br />

sind die für Tarkowskij typischen Momente der Dilation – vor allem bei den<br />

langen, kontemplativen Landschaftsaufnahmen. Diese farbintensiven Außenaufnahmen<br />

und Naturbilder stehen nicht nur im offensichtlichen Gegensatz<br />

zur gräulichen Innenwelt an Bord des Raumschiffs. Vielmehr erfahren<br />

sie am Ende des Films eine merkwürdige Umcodierung, wenn sich<br />

die Kamera aus der Heimat-Landschaft des Astronauten in die Luft erhebt<br />

und das, was die Zuschauer bis dahin für den Mutterplaneten Erde halten<br />

mussten, als eine Insel im Ozean von Solaris erweist. Man kann in dieser<br />

Totalen sehr wohl die kongeniale Umsetzung der metaphysischen Pointe<br />

sehen, auf die auch Lems Roman zusteuert.<br />

„Bis dahin ist das Vertrauen der Zuschauer in verläßliche Realitätskategorien<br />

ohnehin stark erschüttert worden. Bald wird klar, daß alles, was in<br />

23


der sichtbaren Kosmographie dieses Films außen ist, von innen kommen<br />

kann und umgekehrt, was innen ist, einmal außen gewesen zu sein<br />

scheint (Hari, die Landschaft usw.). Die Raumstation stellt gleichsam die<br />

Allegorie eines erweiterten Bewußtseins dar, einer Bühne der Erinnerung,<br />

auf der die Grenzen zwischen damals und heute aufgehoben scheinen.“ 40<br />

Sieht man dieses Wechselspiel von Introjektion und Projektion im Zusammenhang<br />

mit dem melodramatischen Thema der <strong>Liebe</strong>, das in Solaris<br />

entfaltet wird, stößt man erneut auf den reflexiven Prozess der artifiziellen<br />

Herstellung subjektiver Innerlichkeit durch ein dynamisches Objekt der<br />

Interpretation. Man kann diesen Prozess moralisch interpretieren, <strong>wie</strong> dies<br />

Thomas Klein in seinem Beitrag im Reclam-Reader zum Science Fiction-<br />

Film getan hat:<br />

„Unter den emotionalen Fähigkeiten des Menschen plädiert Solaris vor allem<br />

für die <strong>Liebe</strong>. Das Lebendigwerden der Erinnerung an die Ehefrau, deren<br />

Selbstmord er verschuldete, setzt in Kelvin einen Läuterungsprozess<br />

in Gang. [...] Nur der Glaube an die <strong>Liebe</strong> kann ihn retten. Es ist auch die<br />

Fähigkeit zur <strong>Liebe</strong>, mit der die immer <strong>wie</strong>der auferstehende Hari ihre zunehmende<br />

Menschwerdung begründet. Indem sie, das Phantasma, Kelvin<br />

liebt, wird sie Mensch.“ 41<br />

Ausdrücklich spricht Klein also von der Menschwerdung eines künstlichen<br />

Geschöpfs, auch wenn man Hari nicht im technokratischen Sinn des Wortes<br />

als Maschine auffassen kann. Jedenfalls stellt Tarkowskij anhand der<br />

Ko-Evolution von Kris‘ und Haris Bewusstsein ebenso <strong>wie</strong> anhand der Inversion<br />

von Innen- und Außenwelt, von Original und Kopie, heraus, <strong>wie</strong><br />

sehr die Menschwerdung im emphatischen Sinn des Wortes auf ein Simulakrum<br />

rekurriert. Der Unterschied zwischen Lems Roman und Tarkowskijs<br />

Film liegt, abgesehen von ihren verschiedenartigen Darstellungsmitteln,<br />

darin, dass diese transzendente Perspektive auf das Dasein in der Textvorlage<br />

eine bloß heuristische Vorrichtung zur Veranschaulichung eines<br />

Paradoxons ist, da der Mensch zugleich um die Un-Möglichkeit und um die<br />

Un-Verzichtbarkeit der <strong>Liebe</strong> weiß. Demgegenüber erscheint der Kniefall<br />

des Sohnes vor dem Vater, der von Tarkowskijs Film in Erinnerung bleibt,<br />

39<br />

Vgl. Thomas Klein: Solaris. In: Filmgenres Science Fiction, hrsg. v. Thomas Koebner. Stuttgart 2003, S. 240.<br />

40<br />

Koebner, Wovon träumen die Geschöpfe des Prometheus? S. 67.<br />

41<br />

Klein, S. 241.<br />

24


als eine Pathosformel, die das Gefühl der transzendenten Obdachlosigkeit<br />

in einen religiösen Kontext versetzt.<br />

Wieder ganz anders verfährt Steven Soderbergh 30 Jahre später. Er präsentiert<br />

den Zuschauern zwei Schlussvarianten, von denen die eine offensichtlich<br />

eher dem Blade Runner-Szenario als dem Roman SOLARIS verpflichtet<br />

ist. Zu Beginn der Handlung, bevor ihn der Auftrag ereilt, ins All<br />

zu fliegen, schneidet sich Kris Kelvin, gespielt von George Clooney, in einen<br />

Finger, der heftig zu bluten beginnt. Die Szene <strong>wie</strong>derholt sich <strong>wie</strong> in<br />

einer Zeitschleife gegen Ende des Films, als der Zuschauer meint, Kelvin<br />

sei zur Erde zurückgekehrt. Diesmal jedoch schließt sich die Wunde von<br />

<strong>selbst</strong> in wenigen Sekunden, <strong>wie</strong> es zuvor an Bord der Raumstation bei<br />

Rheya zu sehen war, <strong>wie</strong> Harey in dieser Romanverfilmung heißt. Für den<br />

aufmerksamen Zuschauer ist dies ein untrügliches Anzeichen dafür, dass<br />

Kelvin nur als ‚Gast‘ in der menschlichen Zivilisation existiert. Und in der<br />

Tat liefert der Film sofort im Anschluss an die erwähnte Szene eine Sequenz,<br />

in der man sieht, <strong>wie</strong> Chris an Bord der Raumstation geblieben und<br />

dort offenbar gestorben ist.<br />

Die Kamera hingegen sucht noch einmal den ‚Gast‘ auf der Erde auf. In<br />

dieser Gestalt nämlich gelingt es Chris erneut und diesmal, <strong>wie</strong> man annehmen<br />

darf, für immer – also über den Tod hinaus – sich mit Rheya zu<br />

vereinen. 42 Der Tod, so hatten es sich die beiden einst, Thomas Dylan zitierend,<br />

versprochen, soll keine Macht über sie haben. Die Frage, die der<br />

Film bewusst offen lässt, und die sich jeder Zuschauer <strong>selbst</strong> beantworten<br />

muss, lautet natürlich: Wer träumt dieses happy end eigentlich, wer ist<br />

das Subjekt dieser <strong>Liebe</strong>sutopie? Soderberghs neue, von James Cameron,<br />

Rae Sanchini und Jon Landau produzierte Romanverfilmung kann somit<br />

einerseits als konsequente Variation des Themas angesehen werden, das<br />

Lem in seinem Roman zur Sprache bringt. Andererseits dürfte das verräterische<br />

Indiz, das den auf die Erde zurückgekehrten Kelvin als ‚Gast‘ entlarvt,<br />

ein Echo auf die Blade Runner-Dramaturgie zu sein, derzufolge Deckard<br />

<strong>selbst</strong> als Replikant erscheint. Auch in dieser Hinsicht ist es die Variation<br />

des Themas, auf die es ankommt.<br />

42 Voraussetzung dafür ist, dass Soderbergh die im Roman vorgegebene Konstitutionsregel der Gäste mißachtet,<br />

die ihre Erscheinung an die Einflusssphäre des Solaris-Ozeans bindet. Jenseits dieser Sphäre können sie nicht<br />

existieren.<br />

25


In Dicks Roman hatte Luba Luft im verbalen Schlagabtausch mit Deckard<br />

Zweifel an seiner Menschlichkeit, an seiner Autonomie und Authentizität<br />

geweckt. In Lems Roman erfüllt <strong>wie</strong>derum ein Dialog fast dieselbe Funkti-<br />

on. Eines Tages erhält Kelvin Besuch von Gibarian. Da sich sein Freund<br />

umgebracht hat, kann es sich bei der Gestalt, die ihm begegnet, nur um<br />

einen weiteren ‚Gast‘ handeln. Folgerichtig sagt Kelvin zu seinem Besucher:<br />

„Du bist nicht Gibarian.“ – „Sieh mal an“, erwidert der ‚Gast‘. „Wer<br />

sonst? Etwa ein Traum von dir?“ „Nein“, lautet Kelvins Antwort auf diese<br />

sybillinische Frage. „Aber davon weißt du nichts.“ Mit dieser Bemerkung<br />

provoziert Kris aber eine Replik, die analog zu ihrem Pendant in Dicks<br />

Roman auch sein Selbstbewusstsein untergräbt: „Und woher kannst du<br />

wissen, wer DU bist?“ 43 Das ist der springende Punkt: Vielleicht kann man<br />

sich mit Descartes einbilden, dass das eigene Ich übrig bleibt, wenn man<br />

alles andere in Zweifel zieht. Doch diese Art der Selbstfindung endet bei<br />

der Suche nach einer Antwort auf die viel wichtigere Frage, wer man eigentlich<br />

ist und was die eigene Existenz bedeutet. Wenn die anderen für<br />

mich Automaten sind, könnte ich doch <strong>selbst</strong> das bloß transitorische Zerfallsprodukt<br />

eines fremden Bewusstseins sein (Jorge Luis Borges hat diese<br />

Hypothese in seiner Kurzgeschichte DIE KREISFÖRMIGEN RUINEN durchgespielt).<br />

Offensichtlich kann man die Gedankenexperimente, die Dick und Lem in<br />

ihren Romanen so<strong>wie</strong> Tarkowskij, Scott und Soderbergh in ihren Filmen<br />

angestellt haben, jeweils als eine Probe auf das Exempel von Descartes‘<br />

Argumentation verstehen. In jedem Fall werden die Leser oder Zuschauer<br />

mit Figuren konfrontiert, die denken, daraus aber nicht die Selbstgewissheit<br />

ihrer Existenz und Identität, ihrer Autonomie und Authentizität ableiten<br />

können, weil sie künstliche Körper haben, also keine natürlichen Lebewesen<br />

sind. Man muss darin nicht unbedingt eine Destruktion der cartesianischen<br />

Logik sehen. Viel eher handelt es sich um eine De-<br />

Konstruktion: Descartes‘ Methode beruht nämlich auf einer stillschweigenden<br />

Voraussetzung, die in seinem Diskurs nicht reflektiert wird. Diese Präsupposition<br />

besteht in der offenkundigen, weil scheinbar unproblematischen<br />

Bevorzugung der Selbst- vor der Fremdreferenz des Denkens. Nahe<br />

gelegt wird diese Bevorzugung durch die Struktur der Sprache, die jedem<br />

Verb ein Subjekt vindiziert und, indem sie dieses Subjekt mit einem Reflexivpronomen<br />

identifiziert, suggeriert, dass eine „Ich“ genannte Substanz<br />

dem Denken vorausgeht und zugrunde liegt. Schon Georg Christoph Lich-<br />

43 Vgl. Lem, S. 154.<br />

26


tenberg hatte freilich bemerkt, dass man vielleicht besser davon sprechen<br />

sollte, das „es denkt“, so <strong>wie</strong> man sagt, dass „es blitzt“, weil ohne weiteres<br />

gar nicht ausgemacht ist, ob das „Ich“ nicht ein Epiphänomen des<br />

Denkens sei, das Denken aber letztlich eine emergente Erscheinung, die<br />

sich im Kräftespiel der Natur gleichsam evolutionär ergeben hat. Zwar findet<br />

man diese Genealogie des Denkens so formuliert noch nicht bei Lichtenberg,<br />

ansatzweise aber bei Philosophen <strong>wie</strong> Friedrich Nietzsche oder<br />

Charles Sanders Peirce, Alfred North Whitehead, Henri Bergson oder Sigmund<br />

Freud, der das Ich aus ähnlichen Gründen zugunsten des Es relativiert<br />

hat. Zugespitzt lautet die Antithese zu Descartes, dass das Denken in<br />

der Plastizität der durch und durch unpersönlichen Materie angelegt ist<br />

und dass seine Zuschreibung zu einem Subjekt lediglich die für den Menschen<br />

besonders praktische Lesart ist, auf die sich sein sprachliches und<br />

sonstiges Verhalten eingependelt hat, weil sich diese Lesart evolutionär<br />

bewährt hat, also soziale und psychologische Vorteile bringt.<br />

Bezieht man den SOLARIS-Roman und die beiden Filme von Tarkowskij und<br />

Soderbergh auf das von Descartes exponierte Problem der modernen Ontologie,<br />

Epistemologie und Anthropologie, so wird jeweils die konstitutive<br />

Rolle der Imagination deutlich. Der Unterschied liegt darin, dass Descartes<br />

in seiner Versuchsanordnung die Selbstreferenz des Denkens, Lem, Tarkowskij<br />

und Soderbergh, aber auch Dick und Scott offensichtlich die<br />

Fremdreferenz des Empfindens für ausschlaggebend halten. Die Schlüsselbemerkung,<br />

auf die es bei Lem <strong>wie</strong> bei Tarkowskij und Soderbergh ankommt,<br />

lautet daher: „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen<br />

Spiegel [oder „Abbilder“, <strong>wie</strong> es in einigen Übersetzungen heißt MB]. Mit<br />

anderen Welten können wir nichts anfangen.“ Wohl aber, <strong>wie</strong> man ergänzen<br />

darf, mit anderen Menschen, deren <strong>Replikanten</strong> oder Replikationen wir<br />

auf der Leinwand begegnen.<br />

Sieht man den Kino-Apparat mithin als Maschine und den Prozess der<br />

Filmwahrnehmung und –deutung als eine Form der Interaktion, erscheint<br />

die melodramatisch inszenierte Menschwerdung einer Maschine, die dabei<br />

zum 'inneren Objekt' der psycho-semiotischen Aktivität eines Menschen<br />

wird, als gleichnishafte Veranschaulichung der Vermittlung humaner Werte,<br />

die das Medium leistet. Was auf der Leinwand geschieht, reflektiert,<br />

was sich im empathischen Feld ereignen soll. Indem die psychosemiotische<br />

Aktivität diese Implikatur realisiert, verwandelt sie die Illusionsmaschinerie<br />

des Kinos in ein Programm der Menschwerdung.<br />

27


*<br />

Ein letztes Wort noch zum Verhältnis von philosophischer Tradition und<br />

technologischer Innovation, auf das The Blade Runner immer <strong>wie</strong>der an-<br />

spielt. Dreh- und Angelpunkt ist das Leib-Seele-Problem. Zu beachten ist<br />

dabei zum einen, <strong>wie</strong> bereits im Zeitalter der Aufklärung Alternativen zu<br />

Descartes' Versuch, dieses Problem zu lösen, entwickelt wurden, und <strong>wie</strong><br />

sich diese Alternativen zum anderen gegenüber den rezenten Entwicklungen<br />

in der Roboter-Animation verhalten.<br />

In seinem 1747 veröffentlichten Essay DER MENSCH EINE MASCHINE (L'HOMME<br />

MACHINE) geht Julien Offray de La Mettrie von der Beobachtung aus, dass<br />

Körper und Seele zusammen einschlafen und aufwachen. Er folgert daraus,<br />

dass es eine beständige Wechselwirkung zwischen dem gibt, was wir<br />

heute Soma und Psyche nennen. Angesichts dieser unauflöslichen Wechselwirkung<br />

bezweifelt La Mettrie die Grundannahme des Cartesianismus,<br />

dass es zwei unterschiedliche Substanzen, nämlich die res extans und die<br />

res cogitans, gibt. Seine alternative Empfehlung lautet, die Seele des<br />

Menschen in den Organen seines Körpers zu entdecken. Nachhaltig von<br />

Descartes‘ Konzeption, in der die Gemeinschaft der Menschen keine Rolle<br />

bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins spielt, unterscheidet sich auch<br />

die Idee, die La Mettrie von der Entwicklung des menschlichen Seelenvermögens<br />

entwickelt, da er die Gemeinschaft der Menschen zu einem entscheidenden<br />

Faktor dieser Entwicklung macht. Nicht nur verwendet der<br />

Mensch körperliche Empfindungen um Gefühle, Gefühle <strong>wie</strong>derum um<br />

Geist zu erwerben, und den Geist schließlich um Erkenntnisse zu erlangen.<br />

Vielmehr hilft auch ein Mensch dem anderen auf die Sprünge, so dass es<br />

zu einer Koevolution von Kognition und Kultur durch die Kommunikation<br />

kommt, die in einer bestimmten Sprach- und Zeichengemeinschaft stattfindet.<br />

Allein mit dieser Vorstellung einer sozialen Koevolution entfernt<br />

sich La Mettrie weit von jener Idee eines autonomen, letztlich asozialen<br />

Cogito, das sich im Grunde solipsistisch verhält und stets bezweifeln muss,<br />

dass die anderen Menschen mehr als bloß seelenlose Automaten oder<br />

Chimären der eigenen Einbildungskraft sind. Im Unterschied zu Descartes’<br />

dualistischem Interaktionismus von Leib und Seele vertritt La Mettrie also<br />

eine dezidiert monistische Perspektive, in der sich das Leib-Seele-Problem<br />

terminologisch auflösen lässt:<br />

28


„Die Seele ist also nur ein nichtssagender Ausdruck, von dem man keiner-<br />

lei Idee hat und den ein guter Kopf nur gebrauchen darf, um den Teil zu<br />

bezeichnen, der in uns denkt. Setzt man nur das geringste Prinzip der Be-<br />

wegung voraus, so haben die beseelten Körper alles, was sie brauchen,<br />

um sich zu bewegen, zu empfinden, zu denken, zu bereuen, kurz sich in<br />

der physischen Welt ebenso richtig zu verhalten <strong>wie</strong> in der moralischen,<br />

die von ihr abhängt.“ 44<br />

Etienne Bonnot de Condillac folgt dieser Auffassung, wenn er in seiner AB-<br />

HANDUNG ÜBER DIE EMPFINDUNGEN (TRAITÉ DES SENSATIONS 1754) <strong>wie</strong>derum ein<br />

aufschlussreiches Gedankenexperiment anstellt, indem er von einer unbeweglichen<br />

Statue ausgeht, die zunächst nur über einen Sinn, nämlich<br />

über den Geruchssinn, verfügt. Während Descartes gleichsam top down<br />

vom Geist ausging, der über allen Dingen schwebt, verfährt Condillac umgekehrt<br />

bottom up und wählt die sinnliche Affektion des Körpers als Ausgangspunkt<br />

einer rein theoretischen Entwicklungsgeschichte des Denkens.<br />

Sobald die Statue auf ihre eigene Empfindungsfähigkeit aufmerksam wird,<br />

beginnt sie nach Condillac zu genießen oder zu leiden und Vergleiche zwischen<br />

den Affektionen anzustellen, woraus <strong>wie</strong>derum das Bestreben erwächst,<br />

Schmerzerfahrungen zu vermeiden und Lustmomente zu erheischen.<br />

In dieser Hinsicht kommt Condillacs Vorstellung Freuds Modell des<br />

physiologischen und psychologischen Apparats bereits sehr nahe, denn die<br />

Empfindungen der Statue werden libidinös besetzt. Ihre weitere Bildungsgeschichte<br />

führt von der Vermutung, dass die verschiedenen Düfte verschiedenen<br />

Körpern zukommen, zu Urteilen über diese Körper und ihre<br />

Eigenschaften – ein Prozess, der sich mit jedem weiteren Sinn, den die<br />

Statue erhält, nach dem gleichen Muster so oft <strong>wie</strong>derholt, bis ihr Sensorium<br />

das Spektrum der menschlichen Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit<br />

erreicht hat. Es ist nun keineswegs ein Zufall, dass die Bildungsgeschichte,<br />

die Frankensteins Geschöpf, von seinem Schöpfer allein sich<br />

<strong>selbst</strong> überlassen, zurücklegt, an Condillacs induktive Methode des Erwerbs<br />

von Erfahrungen, Unterscheidungen und Verstandesbegriffen erinnert.<br />

Allerdings entspricht und widerspricht sie Condillacs Gedankenexperiment<br />

zugleich: Seine Idee der Bewusstseinsgenese funktioniert bei Frankensteins<br />

Geschöpf nur in der sozialen Isolation; innerhalb der Gesellschaft<br />

‚versteinert‘ der künstliche Mensch angesichts seiner Repulsion und<br />

Exkommunikation. In diesem Sinne bestätigt der Romanverlauf e negativo<br />

44 Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch eine Maschine. Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke.<br />

Nachwort von Holm Tetens. Stuttgart 2001, S. 67.<br />

29


die Auffassung von La Mettrie, dass es die Integration eines Geschöpfes in<br />

die Sprache und Kultur einer Gesellschaft ist, die ihr Empfinden und Ver-<br />

halten entscheidend prägt.<br />

Wie gesagt: Condillacs Abhandlung über die Empfindungen ist ein Gedan-<br />

kenexperiment, ein theoretisches Konstrukt. Man könnte den Roman von<br />

Mary Shelley als ihr pragmatisches Pendant ansehen, da er im Rahmen<br />

einer ebenfalls heuristischen, aber poetisch ausgemalten Fiktion Überle-<br />

gungen zu den Folgen anstellt, die sich ergeben würden, wenn ein künstli-<br />

cher Mensch, der eine ähnliche Subjektgenese <strong>wie</strong> die Statue in Condillacs<br />

Essay durchläuft, auf Menschen trifft, die ihn nicht nach seinem inneren<br />

Wert und Selbstgefühl, sondern allein nach seinem Äußeren beurteilen<br />

und behandeln.<br />

Aber auch die pragmatisch orientierte Versuchsanordnung des Frankensteins-Romans<br />

ist und bleibt eben ein Gedankenexperiment – genauso <strong>wie</strong><br />

die heuristischen Fiktionen eines Philip K. Dick oder eines Stanislaw Lem.<br />

Allerdings könnten sie schon bald als Antizipationen einer Form der<br />

Mensch-Maschine-Interaktion gelesen werden, deren Realisierung unmittelbar<br />

bevorsteht. Rodney Brooks jedenfalls, Direktor des Artificial Intelligence<br />

Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Chef einer<br />

Firma mit dem von Isaac Asimov entlehnten, sprechenden Namen iRobot<br />

Corporation, prophezeit in seinem Buch MENSCHMASCHINEN. WIE UNS DIE ZU-<br />

KUNFTSECHNOLOGIEN NEU ERSCHAFFEN eine Verschmelzung von menschlichem<br />

Körper und Maschine, <strong>wie</strong> sie der Cyborg im Film schon jetzt vor Augen<br />

führt. Längst gibt es neuronale Verbindungen zwischen Mensch und Maschine<br />

45 und längst hat auch die neurobiologisch orientierte Kognitionswissenschaft<br />

den Irrtum von Descartes erkannt, dass es nämlich nicht die<br />

Trennung, sondern die Verbindung von Geist und Körper ist, die allem<br />

menschenähnlichen Empfinden und Denken zugrunde liegt. So kehrt die<br />

Rede vom ‚embodiment‘ die Logik der Argumentation um: Weder gibt es<br />

Maschinen, die durch einen Geist beseelt werden, noch Geister ohne Leib.<br />

Nur dank eines Körpers, der mit seiner Umwelt sensomotorisch interagiert,<br />

also mit anderen Körpern leibhaftige Erfahrungen macht, ist ein<br />

Lebewesen in der Lage, sich reflexiv auf das eigene Verhalten einzustellen<br />

und so etwas <strong>wie</strong> eine Psyche zu entwickeln.<br />

45 Rodney Brooks: Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen. Aus dem Amerikanischen<br />

von Andreas Simon. Frankfurt New York 2002, S. 10.<br />

30


Von daher spricht prinzipiell nichts gegen die Möglichkeit, dass Maschinen,<br />

die anhand der Wechselwirkung zwischen ihrem Gestell und der Umwelt<br />

Erfahrungen machen, die ihr Verhalten steuern, im weitesten Sinn des<br />

Wortes auch Empfindungen haben – zumal dann, wenn ihre Kybernetik<br />

positive Rückkopplungen und negative Rückkopplungen unterscheidet. Es<br />

ist dann letzten Endes nur noch eine terminologische Frage, ob man diese<br />

Unterscheidung auf die Begriffe von Lust und Unlust bezieht und der Verhaltenssteuerung<br />

die Intention unterstellt, Zustände der Lust zu begehren<br />

und Zustände der Unlust zu vermeiden. Das aber bedeutet, dass die aktuelle<br />

Diskussion, in deren Zentrum das Konzept des ‚embodiment‘ steht,<br />

nicht der Argumentation von Descartes, sondern der von La Mettrie und<br />

Condillac folgt. Jedenfalls teilen diese beiden Philosophen mit Brooks die<br />

Auffassung, dass man nur die Prinzipien der Bewegung und der Beobachtung<br />

dieser Bewegung in Relation zur Umwelt voraussetzen müsse, um<br />

einen Körper die Fähigkeit zu verschaffen, Empfindungen zu entwickeln.<br />

Tatsächlich prophezeit Brooks, dass die noch bestehende Grenze zwischen<br />

den Fantasien der Science Fiction-Autoren und Filmemacher und der Realität<br />

bereits in den nächsten zwanzig Jahren fallen wird. 46 Sein Buch erschien<br />

im Jahre 2002; The Blade Runner spielt im Jahre 2019.<br />

46 Vgl. Brooks, S. 13.<br />

31

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