Matthias Bauer: Liebe Deinen Replikanten wie Dich selbst
Matthias Bauer: Liebe Deinen Replikanten wie Dich selbst
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„Jeder von uns weiß, daß er ein materielles, den Gesetzen der Physiologie<br />
und der Physik unterworfenes Wesen ist, und daß die Kraft aller unserer<br />
Gefühle zusammengenommen gegen diese Gesetze nicht ankämpfen<br />
kann; sie kann sie nur hassen. Der ewige Glaube der Verliebten und der<br />
<strong>Dich</strong>ter an die Macht der <strong>Liebe</strong>, die dauerhafter sei als der Tod, jenes ‚finis<br />
vitae sed non amoris‘, das uns durch die Jahrhunderte verfolgt – das ist<br />
eine Lüge. Aber diese Lüge ist nur vergeblich, nicht lächerlich.“ 38<br />
Mit dieser Bemerkung bekräftigt der Roman noch einmal, dass der Mensch<br />
seine Eigenart dem Zusammenspiel von Gefühl und Gedächtnis verdankt –<br />
einem Zusammenspiel, dessen Regelwerk außerhalb seiner bewussten<br />
Kontrolle liegt. Insofern ist das Gastspiel, das Harey in Kelvins Bewusstsein<br />
gibt, das mikroskopische Pendant zu dem makroskopischen Zusammenspiel<br />
zwischen Kris‘ schuldbeladener Erinnerung und den ozeanischen<br />
Gefühlen des Unbewussten, von denen Sigmund Freud gesprochen hat,<br />
und die Stanislaw Lem auf Solaris verortet. Lässt man sich auf sein Gedankenspiel<br />
ein, sind wir Menschen alle Gäste, d.h. Epiphänome jener<br />
starken Wechselwirkung von Materie und Memoria, die Bergson zufolge<br />
jeder Erscheinungsform von Bewusstsein vorausgeht und zugrundeliegt.<br />
Mutatis mutandis lässt sich dies auf die Wirkungsweise des Films übertragen.<br />
Denn einerseits erlangen die elektrischen Schatten, die über die<br />
Leinwand huschen, nur insofern Bedeutung, als sie mit Empfindungen und<br />
Gedanken aufgeladen werden, die der individuellen Erinnerung und dem<br />
kollektiven Gedächtnis der Zuschauer entstammen. Andererseits folgt aus<br />
dem Umstand, dass die Bezugsgegenstände dieser Bedeutung Chimären<br />
sind, noch lange nicht, dass auch das Kinoerlebnis rein illusorisch und damit<br />
wertlos wäre. Die emotionale Kraft des Kinos wird vom Zuschauer<br />
sehr wohl als evident erlebt, ist oft somatisch markiert und führt zu Einstellungen<br />
oder Schlussfolgerungen moralischer und politischer, sozialer<br />
und psychischer Art, die für das weitere Denken und Handeln in der Lebenswirklichkeit<br />
relevant sind, obwohl sie im Modus der Illusionsbildung<br />
erworben wurden. Zurückgewendet auf das Schicksal der Maschinen, die<br />
fühlen und Gefühlen Ausdruck verleihen können, bedeutet dies, dass auch<br />
simulierte Affekte reale Effekte haben können. Ausschlaggebend für die<br />
Bedeutsamkeit einer Erfahrung ist somit die Kopplung von Erlebnisintensität<br />
und Reflexivität, aber nicht, ob ihr dynamisches Objekt tatsächlich existiert<br />
oder nicht.<br />
38 Lem, S. 236f.<br />
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