Matthias Bauer: Liebe Deinen Replikanten wie Dich selbst
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„Die Seele ist also nur ein nichtssagender Ausdruck, von dem man keiner-<br />
lei Idee hat und den ein guter Kopf nur gebrauchen darf, um den Teil zu<br />
bezeichnen, der in uns denkt. Setzt man nur das geringste Prinzip der Be-<br />
wegung voraus, so haben die beseelten Körper alles, was sie brauchen,<br />
um sich zu bewegen, zu empfinden, zu denken, zu bereuen, kurz sich in<br />
der physischen Welt ebenso richtig zu verhalten <strong>wie</strong> in der moralischen,<br />
die von ihr abhängt.“ 44<br />
Etienne Bonnot de Condillac folgt dieser Auffassung, wenn er in seiner AB-<br />
HANDUNG ÜBER DIE EMPFINDUNGEN (TRAITÉ DES SENSATIONS 1754) <strong>wie</strong>derum ein<br />
aufschlussreiches Gedankenexperiment anstellt, indem er von einer unbeweglichen<br />
Statue ausgeht, die zunächst nur über einen Sinn, nämlich<br />
über den Geruchssinn, verfügt. Während Descartes gleichsam top down<br />
vom Geist ausging, der über allen Dingen schwebt, verfährt Condillac umgekehrt<br />
bottom up und wählt die sinnliche Affektion des Körpers als Ausgangspunkt<br />
einer rein theoretischen Entwicklungsgeschichte des Denkens.<br />
Sobald die Statue auf ihre eigene Empfindungsfähigkeit aufmerksam wird,<br />
beginnt sie nach Condillac zu genießen oder zu leiden und Vergleiche zwischen<br />
den Affektionen anzustellen, woraus <strong>wie</strong>derum das Bestreben erwächst,<br />
Schmerzerfahrungen zu vermeiden und Lustmomente zu erheischen.<br />
In dieser Hinsicht kommt Condillacs Vorstellung Freuds Modell des<br />
physiologischen und psychologischen Apparats bereits sehr nahe, denn die<br />
Empfindungen der Statue werden libidinös besetzt. Ihre weitere Bildungsgeschichte<br />
führt von der Vermutung, dass die verschiedenen Düfte verschiedenen<br />
Körpern zukommen, zu Urteilen über diese Körper und ihre<br />
Eigenschaften – ein Prozess, der sich mit jedem weiteren Sinn, den die<br />
Statue erhält, nach dem gleichen Muster so oft <strong>wie</strong>derholt, bis ihr Sensorium<br />
das Spektrum der menschlichen Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit<br />
erreicht hat. Es ist nun keineswegs ein Zufall, dass die Bildungsgeschichte,<br />
die Frankensteins Geschöpf, von seinem Schöpfer allein sich<br />
<strong>selbst</strong> überlassen, zurücklegt, an Condillacs induktive Methode des Erwerbs<br />
von Erfahrungen, Unterscheidungen und Verstandesbegriffen erinnert.<br />
Allerdings entspricht und widerspricht sie Condillacs Gedankenexperiment<br />
zugleich: Seine Idee der Bewusstseinsgenese funktioniert bei Frankensteins<br />
Geschöpf nur in der sozialen Isolation; innerhalb der Gesellschaft<br />
‚versteinert‘ der künstliche Mensch angesichts seiner Repulsion und<br />
Exkommunikation. In diesem Sinne bestätigt der Romanverlauf e negativo<br />
44 Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch eine Maschine. Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke.<br />
Nachwort von Holm Tetens. Stuttgart 2001, S. 67.<br />
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