1525 das Domkapitel die beibehaltenen Neuerungen - Historicum.net
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298 Winfried Schulze Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte 299<br />
flikte, sondern wählt eine abgewogene Untersuchung der konfligierenden<br />
Interessengruppen, ihrer Durchsetzungsmöglichkeiten und der Konsequenzen<br />
ihres Handelns. Neumairs eigene Inhaltsangabe mag <strong>das</strong> verdeutlichen:<br />
„Im ersten gesagt wird, aus was Ursachen <strong>die</strong> Untern bewogen werden, wider ihre<br />
Regenten und Obern aufzustehen.<br />
Im andern, was vor Nutz und Vortheil aus Auffstand und Aufruhr beydes den<br />
Untern und den Regenten und Obern wie auch andern und in gemein erfolgen kann.<br />
Im dritten, was vor Schad, Nachtheil und Ungemach aus Auffstand und Aufruhr<br />
so wol den Untern als den Regenten und Obern wie auch andern und in gemein<br />
zu entstehen pflege.<br />
Im vierten, was <strong>die</strong> Untern zu bedencken haben auch thun sollen, wann sie wider<br />
ihre Regenten und Obern aufstehen wollen oder albereits auffgestanden sind.<br />
Im fünffiten, was Regenten und Obern thun können, wann ihre Untern wider sie<br />
auffstehen wollen oder albereits auffgestanden sind.<br />
Im sechsten und letzten, durch was Mittel Aufruhr und Auffstand der Untern wider<br />
ihre Regenten und Obern auffhören oder sonst zergehen könne."'"<br />
Überschaut man den Bereich der hier behandelten Fragestellungen, <strong>die</strong><br />
jeweils mit einer Vielzahl historischer Beispiele umgeben werden, so wird<br />
<strong>die</strong> besondere Intention Neumairs sichtbar. Sie läuft insgesamt darauf<br />
hinaus, den Regierenden der deutschen Territorialstaaten deutlich vor<br />
Augen zu stellen, in welchem jeweils größeren Zusammenhang auftauchende<br />
soziale Konflikte gesehen werden müssen. Ihnen wird klar gemacht,<br />
daß ein Aufstand, eine geschlossene Verweigerung von Diensten,<br />
<strong>die</strong> Vorbereitung eines Prozesses gegen einen Grundherrn oder ähnliche<br />
Ereignisse nicht allein unter dem Aspekt des Aufruhrparagraphen gesehen<br />
werden können. Solche Bewegungen werden von Neumair als Fälle elementarer<br />
Infragestellung der tra<strong>die</strong>rten Sozialordnung gewertet, <strong>die</strong> ein<br />
angemessenes Krisenverhalten der beteiligten Obrigkeiten erfordern. Denn<br />
angesichts der relativen Unwahrscheinlichkeit, mit seinen Ausführungen<br />
über <strong>die</strong> Rolle der Untertanen in einem solchen Konflikt <strong>die</strong>se Gruppe<br />
direkt zu erreichen, muß sein Traktat doch letztlich als Anweisung für<br />
reflektiertes Handeln der betroffenen Obrigkeiten verstanden werden. So<br />
systematisiert und unterstützt seine Arbeit im Grunde jene bereits erwähnten<br />
Tendenzen der territorialstaatlichen Regierungsapparate, den Untertanen<br />
in ein entwickeltes administratives und judikatives System einzubinden<br />
und damit tendenziell den Aufstand als ultima ratio sozialen Verhaltens<br />
schon an der Wurzel unmöglich zu machen.<br />
Das qualitativ Neue an Neumairs Traktat — einem frühen Versuch einer<br />
Konfliktsoziologie der ständischen Gesellschaft — wird deutlicher, wenn<br />
man ihn den traditionellen Interpretationen der Sozialbeziehungen in der<br />
Ständegesellschaft gegenüberstellt. In <strong>die</strong>sem Verständnis kam jedem Stand<br />
eine Gruppe von Privilegien zu, deren ungetrübte Nutzung möglichst sicher-<br />
73 Neumair, Vom Aufstand, S. 2-6.<br />
zustellen war. Denkbare Überschreitungen der Privilegien, <strong>die</strong> zu Einschränkungen<br />
der Rechte anderer Schichten führten, wurden zwar abgelehnt,<br />
doch in ihren tatsächlichen Konsequenzen nicht diskutiert. Es wurde<br />
<strong>die</strong> Fiktion aufrechterhalten, als garantiere allein <strong>die</strong> Nutzung der jeweiligen<br />
Privilegien ein konfliktfreies Nebeneinander der unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Interessen. Ein Beispiel für <strong>die</strong>se Auffassung mag etwa<br />
<strong>die</strong> Gruppe von Schriften sein, <strong>die</strong> Ahasver Fritsch 1684/85 über <strong>das</strong> Verhalten<br />
einiger gesellschaftlicher Gruppen veröffentlichte. Gemeint ist hier<br />
sein „Subditus peccans sive tractatus de peccatis subditorum", sein<br />
„Quaestor peccans sive tractatus de peccatis quaestorum et officialium"<br />
und sein „Nobilis peccans sive tractatus de peccatis nobilium", um nur<br />
drei herauszugreifen. 74 Thematisiert werden hier vor allem Überschreitungen<br />
der Rechte und Privilegien <strong>die</strong>ser drei Gruppen, postuliert wird<br />
dagegen <strong>die</strong> Einhaltung der tra<strong>die</strong>rten Grenzen des sozialen Verhaltens<br />
aller drei Gruppen in der unausgesprochenen Annahme, daß damit <strong>die</strong><br />
gesellschaftliche Harmonie gesichert bleibt. Obwohl Fritsch bereits <strong>die</strong><br />
Frage der Überschreitungen <strong>die</strong>ser Grenzen zum Gegenstand seiner Untersuchung<br />
macht, so tut er <strong>das</strong> doch von der überholten Vorstellung möglicher<br />
„tranquillitas interna" 75 und verkennt dabei <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />
Realität, <strong>die</strong> mit ständigen Konflikten konfrontiert war. Hier scheint mir<br />
<strong>das</strong> Ver<strong>die</strong>nst Neumairs zu liegen, wenn er de facto von der Normalität<br />
ständiger Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen<br />
Gruppen ausgeht, <strong>die</strong> er zudem als „Untere" und „Obere" typisiert.<br />
Natürlich postuliert auch Neumair einen Zustand innerer Eintracht, bringt<br />
<strong>die</strong>s jedoch in einen engen Zusammenhang mit seiner Forderung nach<br />
einem Verhalten zwischen „Untern" und „Obern", <strong>das</strong> mögliche Reaktionen<br />
der anderen Seite im voraus einkalkuliert.<br />
Richtet sich Neumair trotz seines deutsch geschriebenen Buchs und trotz<br />
seiner scheinbar <strong>die</strong> Untertanen ansprechenden Aussagen an <strong>die</strong> Regierenden,<br />
so setzt sich der Traktat Andreas Dalners, eines niederösterreichischen<br />
Regimentsrats, „Von Auffruhr und Empörungen" zum Ziel, durch<br />
eine deutsche Übersetzung eines ursprünglich lateinischen Textes „den<br />
gemeynen und des Latein unerfahrnen Mann" zu erreichen. Dalners unmittelbarer<br />
Anlaß ist zudem ungleich konkreterer Art, wenn er auf <strong>die</strong>se<br />
Art und Weise den österreichischen Untertanen <strong>die</strong> „Lehren" aus den<br />
österreichischen Bauernaufständen von 1595/97 nahebringen will. Im Unterschied<br />
zu Neumair lehnt es Dalner ab, über <strong>die</strong> Entstehung eines Aufstands<br />
auch nur zu schreiben, sein Interesse gilt vielmehr der Beilegung<br />
des Aufstands vorzugsweise mit militärischen Mitteln. 76 Sein den öster-<br />
74 Vgl. <strong>die</strong> in Anm. 59 aufgeführten Schriften, hinzu kommt ders., Quaestor peccans<br />
sive tractatus de peccatis quaestorum et officialium, Nürnberg 1684.<br />
75 Es handelt sich hier m. E. um ein „autoharmonisches" Gesellschaftsbild, wie es<br />
Carl Brinkmann etwa für den frühen Wirtschaftsliberalismus feststellte.<br />
76 Dalner, Traktat, S. 18 f.