1525 das Domkapitel die beibehaltenen Neuerungen - Historicum.net
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290 Winfried Schulze Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte 291<br />
und andern ungebräuchlichen Diensten als Botschaften, Schildwachen und andern mit<br />
Gewalt zwinget, in solchem Fall mügen <strong>die</strong> Untertanen wohl der hohen Obrigkeit<br />
Hülf und Schutz anrufen und begehren, daß den Herren bei hoher Straf auferleget<br />
werde, sie über Gebühr nicht zu beschweren."<br />
Nach einer Aufzählung der üblichsten Fälle solcher „ungebührlichen Beschwerung"<br />
hielt es Gail vor dem Hintergrund der aus einem kleineren<br />
Konflikt entstehenden großen Aufstände für rechtlich zulässig, einen<br />
Grundherrn „seines Lehens zu entsetzen". Der zweite Teil <strong>die</strong>ses Artikels<br />
offenbarte freilich wieder <strong>die</strong> Widersprüchlichkeit solcher Untertanenklagen,<br />
wenn Gail erklärte, daß Mandate des Gerichts gegen <strong>die</strong> Obrigkeit<br />
keineswegs leichtfertig ausgesprochen werden dürften, „dann sonsten gemeiner<br />
Rechtslehr nach, hat ein jeder Magistratus oder Obrigkeit <strong>die</strong><br />
Präsumption oder stattliche Vermutung vor sich, daß sie jedem Gleich und<br />
Recht zu lassen geneigt".40<br />
Hier zeigt sich <strong>die</strong> Problematik des nicht präzis abgesteckten Spielraums<br />
zwischen den Vorschriften der Carolina und der rechtlichen Möglichkeit<br />
der Beschwerde, der für <strong>die</strong> Untertanen immer ein Risiko einschloß, für<br />
<strong>die</strong> Obrigkeiten aber <strong>die</strong> Möglichkeit einer abgestuften Reaktion offen<br />
ließ. In den Kommentaren zu den Bestimmungen der Carolina finden sich<br />
deshalb bei der Erörterung der Strafe für Aufrührer immer eindeutige Verweise<br />
auf eine abgestufte Bestrafung, mit der nach Daniel Clasen weitere<br />
Aufstände verhindert werden sollten. Johannes Brunnemann stellte <strong>die</strong><br />
Strafe völlig in <strong>das</strong> Ermessen der Obrigkeit, wenn er schrieb: „Sic poena<br />
ratione causa, ratione facti, ratione modi et damni dati est arbitraria."<br />
Die weitestgehende Ermäßigung des Strafmaßes ergab sich bei einem auslösenden<br />
Verschulden der Obrigkeiten, ohne freilich selbst in <strong>die</strong>sem Falle<br />
auf eine Bestrafung der betroffenen Untertanen zu verzichten.'"<br />
Die hier zitierten Passagen aus dem wichtigsten Kammergerichtshandbuch<br />
und aus einigen Prozeßhandbüchern des 17. Jahrhunderts bilden den Übergang<br />
zur dritten Ebene der Argumentation für <strong>die</strong> hier vertretene These<br />
von der Durchsetzung eines veränderten Konfliktbewußtseins in der ständischen<br />
Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert. Auszugehen ist hierbei da-<br />
40 A. Gail, Practicarum observationum ad processum iudiciarium, praesertim imperalis<br />
camerae, quam causarum decisiones pertinentium, libri duo, editio postrema,<br />
Köln 1592. Die Zitate nach der deutschen Ausgabe Hamburg 1601, fol.<br />
37 f. — Zur Bedeutung Gails vgl. R. Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft,<br />
1. Abteilung, München 1880, S. 495-502. — J. Friedrich, Dissertatio<br />
de pace publica ad praesentem Germanorum reipublicae et usum accomodata,<br />
Gießen 1618 (praes. H. Conring), folgt in thesis 50 Gail fast wörtlich und betont<br />
<strong>die</strong> Pflicht des Kaisers, Untertanen vor „viehischer behandlung" mit allen Mitteln<br />
zu schützen.<br />
41 Ich greife hier zurück auf D. Clasen, Commentarius in Constitutiones Criminales<br />
Caroli V. imperatoris, Frankfurt/M. 1693, S. 457 und J. Brunnemann, Tractatus<br />
juridicus de inquisitionis processu, Wittenberg 1672, S. 203. In der Tendenz<br />
ähnlich <strong>die</strong> andere hier benutzte juristische Literatur, sowie auch <strong>die</strong> politischen<br />
Abhandlungen „de seditionibus".<br />
von, daß sich <strong>die</strong> neuen Probleme, <strong>die</strong> sich dem frühmodernen Staat im<br />
Hinblick auf <strong>die</strong> Fragen der gesellschaftlichen Ordnung stellten, auch in<br />
der wissenschaftlichen Politik <strong>die</strong>ser Epoche ihren Niederschlag fanden.<br />
So ist etwa von Hans Maier jener Problemkomplex aufgearbeitet worden,<br />
den wir mit dem Begriff der „Lehre von der guten Polizei" bezeichnen,42<br />
der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der obrigkeitlichen Vorsorge um<br />
den gemeinen Nutzen im Territorialstaat des 16.-18. Jahrhunderts. Neuere<br />
Untersuchungen von Oestreich, Seils und Dreitzel haben <strong>die</strong> Anfänge<br />
einer praktisch orientierten Politikwissenschaft im 17. Jahrhundert betont<br />
und damit ältere Urteile über <strong>die</strong>se Literatur revi<strong>die</strong>rt.43<br />
Der bei Maier entwickelte Überblick über <strong>die</strong>se „ältere deutsche Staatsund<br />
Verwaltungslehre" bliebe freilich unvollständig, wollte man nicht <strong>die</strong><br />
Literatur einbeziehen, <strong>die</strong> sich der Problematik des manifesten innergesellschaftlichen<br />
Konflikts widmete. Ihren — keineswegs erstaunlichen —<br />
speziellen Ausgangspunkt nahm <strong>die</strong> intensivere Behandlung <strong>die</strong>ses Themas<br />
von der frühen Steuerliteratur, <strong>die</strong> mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts<br />
einsetzte. Keiner der Steuertraktate jener Zeit versäumte es, auf <strong>die</strong> Gefahren<br />
hinzuweisen, <strong>die</strong> aus der gewaltsamen Eintreibung der Steuer, der<br />
ungerechten Überbesteuerung und anderem Mißbrauch erfolgen konnte:<br />
„Es entsteht Haß, aus Haß Verachtung. Verachtung aber zeugt Konspiration",<br />
schreibt Kaspar Klock in seiner Dissertation von 1608. 44 Diese Warnung<br />
Klocks be<strong>die</strong>nt sich einer Erfahrung, <strong>die</strong> schon in der aristotelischen<br />
„Politik" niedergelegt worden war. Mit <strong>die</strong>sem klassischen politikwissenschaftlichen<br />
System ist zugleich der allgemeine Ausgangspunkt angesprochen,<br />
auf dem sich <strong>die</strong> neue Aufstandsliteratur entwickelt. Den politik-<br />
42 H. Maier, Die ältere deutsche Staats- u. Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft) —<br />
Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland, Neuwied<br />
1966.<br />
43 G. Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, jetzt<br />
in: ders., Geist u. Gestalt des frühmodernen Staates — Ausgewählte Aufsätze,<br />
Berlin 1969, S. 35-79. E. A. Seils, Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen,<br />
Beichtvater Kurfürst Maximilians I. von Bayern, Lübeck 1968, und H. Dreitzel,<br />
Protestantischer Aristotelismus u. absoluter Staat. Die „Politica" des Henning<br />
Arnisäus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970. — Zu erwähnen sind hier auch<br />
P. J. Winters, Die „Politik" des Johannes Althusius u. ihre zeitgenössischen<br />
Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. u. im beginnenden<br />
17. Jahrhundert, Freiburg 1963 und A. Voigt, Über <strong>die</strong> „Politica generalis" des<br />
Johann Angelius von Werdenhagen (Amsterdam 1632), Erlangen 1965.<br />
44 K. Klock, Dissertatio theorico — practica de contributionibus ho<strong>die</strong>, ut<br />
plurimum in Germania usitatis, Basel 1608, concl. LXVI. Ähnlich H. Bocer,<br />
Tractatus de jure collectarum nunc primum in lucem editus, Tübingen 1617,<br />
S. 7; Christoph Wintzler, Observationes de collectis seu contributionibus imperii<br />
et provinciarum, Frankfurt 1612, S. 8; Gothard Marquart, Dissertation de contributionibus<br />
(praes. H. Conring), Helmstedt 1669, thesis 80, 82, 83; und vor<br />
allem J. W. Neumair von Ramsla, Von Schatzungen und Steueren sonderbarer<br />
Tractat, Schleusingen 1632 passim, um nur einige Werke zu nennen.