1525 das Domkapitel die beibehaltenen Neuerungen - Historicum.net
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300 Winfried Schulze Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte 301<br />
reichischen Städten und Märkten gewidmeter Traktat ist ein Beispiel für<br />
eine Auffassung von innergesellschaftlichen Konflikten, <strong>die</strong> darin zunächst<br />
Bewährungsproben der territorialstaatlichen Regimente sah. Neumairs<br />
Leistung mag in <strong>die</strong>ser Gegenüberstellung um so deutlicher werden.<br />
Versuchen wir, <strong>die</strong> hier angestellten Überlegungen, <strong>die</strong> <strong>das</strong> angesprochene<br />
Thema nur thesenhaft angehen konnten, noch einmal zusammenzufassen,<br />
so lassen sich <strong>die</strong> folgenden Ergebnisse festhalten:<br />
1. Die Erfahrung des Bauernkrieges von <strong>1525</strong> bedeutet sowohl für Untertanen<br />
wie für Landesfürsten und adlige Grundbesitzer einen wichtigen<br />
Anstoß, <strong>die</strong> Skala der gewaltfreien Möglichkeiten zur Lösung sozialer<br />
Konflikte zwischen den angesprochenen Gruppen zu erweitern. Die agrarische<br />
Konjunktur und <strong>die</strong> steigende Bedeutung der bäuerlichen Untertanen<br />
für <strong>die</strong> finanzielle Basis der Territorialstaaten bildeten den Hintergrund<br />
<strong>die</strong>ser Tendenzen, <strong>die</strong> territorial unterschiedliche institutionelle Konsequenzen<br />
haben konnten. Die Verbesserung der Beschwerde- und Klagemöglichkeiten,<br />
<strong>die</strong> Einrichtung von Schiedskommissionen zur Beilegung<br />
sich anbahnender oder ausgebrochener Streitigkeiten laufen in der Tendenz<br />
darauf hinaus, den notwendigen Spielraum für den Austrag von Konflikten<br />
überhaupt erst zu schaffen und damit <strong>die</strong> gefährliche Alternative von Zusehen<br />
oder Zuschlagen zu überwinden. Trotz der weiterhin gültigen Kriminalisierung<br />
allen bäuerlichen Widerstands verschafften sich <strong>die</strong> Obrigkeiten<br />
ausreichenden Handlungsspielraum bei der Aburteilung solcher<br />
Aktionen, indem sie <strong>die</strong> Strafe von der Gesamtheit aller Umstände, damit<br />
von der politischen Zweckmäßigkeit abhängig machten. Daneben erweiterten<br />
<strong>die</strong> Territorialstaaten ihr administratives und exekutives Potential, <strong>das</strong><br />
<strong>die</strong> sozialen Beziehungen zwischen Grundherrschaften und Untertanen<br />
zunehmend disziplinierte.77<br />
2. Die zunehmend anerkannte Notwendigkeit flexibler Konfliktlösungen<br />
findet auch auf dem Sektor der zeitgenössischen Politikwissenschaft ihr<br />
Pendant. Ausgehend von der „statischen" Veränderungslehre der aristotelischen<br />
„Politik" (C. J. Friedrich), 78 den römisch-rechtlichen Bestimmungen<br />
über <strong>die</strong> „seditio" und der steuertheoretischen und -praktischen Literatur<br />
der Zeit entstehen schon im 16. und vermehrt im 17. Jahrhundert<br />
spezielle Erörterungen über <strong>das</strong> Aufstandsproblem. Sie werden in der<br />
Absicht geschrieben, den territorialen und städtischen Führungsgruppen<br />
Hilfsmittel für <strong>die</strong> Analyse, Verhinderung und <strong>die</strong> möglichst reibungslose<br />
Beilegung solcher Bewegungen an <strong>die</strong> Hand zu geben. Hatte schon <strong>die</strong><br />
77 Die Überlegung von der sozialdisziplinierenden Tendenz des absolutistischen<br />
Staates bei G. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in:<br />
ders., Geist und Gestalt, S. 179-97, hier S. 187 ff. — Diese Tendenz wird etwa<br />
sichtbar bei V. L. v. Seckendorff, Teutscher Fürsten-Staat, Jena 1737 (zuerst 1656),<br />
Neudr. Aalen 1972, S. 212, wenn er <strong>die</strong> Kontrolle aller Besitzverträge zwischen<br />
Grundherren und Untertanen zur Vermeidung von Streitigkeiten fordert.<br />
78 C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 174 ff.<br />
Polizeiliteratur <strong>die</strong>ser Epoche vor der Aufgabe gestanden, <strong>die</strong> neu aufgetretenen<br />
Ordnungsprobleme einer in Fluß geratenen Gesellschaft aufzufangen,<br />
so trug <strong>die</strong> Aufstandsliteratur darüber hinaus der Tatsache Rechnung,<br />
daß <strong>die</strong> „allgemeine Krise der herrschenden kirchlichen und weltlichen<br />
Ordnungen" (Hans Maier) 78 unvermeidliche Konflikte produzierte,<br />
-<strong>die</strong> unter möglichst geringen Verlusten aufgefangen werden mußten. Die<br />
hier angeführte Aufstandsliteratur, <strong>die</strong> sicherlich noch reichhaltiger ist und<br />
sich zudem im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts noch vermehrt, belegt<br />
allein mit ihrer Existenz <strong>die</strong>sen Tatbestand. Die trotz ihrer sprachlichen<br />
Skurrilitäten wertvolle Untersuchung von Hans L. Stoltenberg hat 1937<br />
<strong>die</strong> Entstehung einer politischen „Wirrwissenschaft" im späten 16. Jahrhundert<br />
verzeich<strong>net</strong> und damit <strong>die</strong> wissenschaftliche Reaktion auf <strong>die</strong><br />
Häufung sozialer Konflikte plastisch zusammengefaßt."<br />
Ein Zitat soll <strong>die</strong>se eher thesenhaften Bemerkungen zur Bedeutung sozialer<br />
Konflikte im späten 16. und im 17. Jahrhundert abschließen. Es scheint<br />
geeig<strong>net</strong>, den vermuteten Zusammenhang zwischen dem Ausgang des<br />
Bauernkrieges und den oben beschriebenen Konsequenzen noch einmal<br />
herzustellen und zu exemplifizieren. Im „Thesaurus practicus", einem<br />
Handbuch politisch-rechtlicher Grundbegriffe des 17. Jahrhunderts von<br />
Christoph Besold, findet sich in der 4. Auflage von 1697 im Artikel „Aufruhr"<br />
<strong>das</strong> zustimmend übernommene Zitat eines gewissen „Johannes<br />
Leuctherus":<br />
„Weil nu kein ander Regiment im römischen Reich zu hoffen ist, wie auch Daniel<br />
anzeigt, so ists nicht zu raten, daß mans ändre, sondern es flicke und plätze dran,<br />
wer da kann, solange wir leben, strafe den Mißbrauch und lege Pflaster und Schweden<br />
(d. h. Verband oder Pflaster – W. S) auf <strong>die</strong> Blattern. Wird man aber <strong>die</strong><br />
Blattern ausreißen mit Unbarmherzigkeit, so wird den Schmerz und Schaden niemand<br />
mehr fühlen als solche klugen Barbierer, <strong>die</strong> <strong>das</strong> Geschwür lieber ausreißen<br />
als heilen wollen. Wohlan, Deutschland ist vielleicht reif und, ich fürchte, einer starken<br />
Strafe wert. Gott sei uns gnädig!"81<br />
Kein Zweifel, daß hier <strong>die</strong> administrative Praxis der frühneuzeitlichen<br />
Territorialstaaten ihre theoretische Begründung findet. Die ganze Bedeutung<br />
des Zitats wird freilich erst dann deutlich, wenn man den wirklichen<br />
Autor <strong>die</strong>ser Passage kennt. Niemand anders als Martin Luther verarbeitete<br />
hier 1535 in der späten Auseinandersetzung mit Thomas Müntzer,<br />
veranlaßt durch <strong>die</strong> Auslegung des 101. Psalms, <strong>die</strong> Erfahrung des Bauernkrieges.<br />
82 Das problemlose Einfügen <strong>die</strong>ses Lutherzitats in den Aufruhr-<br />
79 Maier, Staats- u. Verwaltungslehre, S. 87.<br />
80 H. L. Stoltenberg, Geschichte der deutschen Gruppenwissenschaft (Soziologie) mit<br />
besonderer Beachtung ihres Wortschatzes, Bd. 1, Leipzig 1937, S. 64, 411.<br />
81 Besold, Thesaurus practicus, S. 58. Ich zitiere hier bereits nach der in der folgenden<br />
Anm. angegebenen Quelle, <strong>die</strong> den Originaltext leichter verständlich macht.<br />
82 Martin Luthers Werke, WA Bd. 51, S. 258 („der 101. Psalm . . . ausgelegt"). —<br />
Den Hinweis auf den wirklichen Verfasser des Zitats verdanke ich der nützlichen