Marlene Dietrich - Leni Riefenstahl Doppelbiografie - Neue Zürcher ...
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Belletristik<br />
Lyrik Jan Wagner zeigt sich in seiner kleinen Prosa als kluger Beobachter von Augenblicken und<br />
Nebensächlichkeiten<br />
Vom Tagwerk des Dichters<br />
Jan Wagner: Die Sandale des Propheten.<br />
Beiläufige Prosa. Berlin Verlag,<br />
Berlin 2011. 239 Seiten, Fr. 28.50.<br />
Von Angelika Overath<br />
Was tut ein Lyriker auf dem Poesiefestival<br />
in Bratislava, wenn Pause ist? Er stolpert<br />
in die «World Dog Show». Erst<br />
fremdelt er unter Chow-Chows und<br />
Möpsen, Neufundländern und Windspielen,<br />
Rottweilern und Leonbergern,<br />
dann aber ahnt er zunehmend im «freudigen<br />
Bellen der Collies», im «herrischen<br />
Kläffen der Setter», im allgemeinen<br />
«Japsen und Winseln» eine geheime<br />
Wahlverwandtschaft zu den Züch-<br />
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011<br />
tern dieser menschennahen Geschöpfe.<br />
Während ein frisch gestriegelter Riesenschnauzer<br />
sich dem Fotografen präsentiert,<br />
tritt sein Besitzer «mit Anmut<br />
und Bescheidenheit» zur Seite, «in seinem<br />
Gesicht das feine Lächeln dessen,<br />
der weiss, dass es gut ist, dass es gelungen<br />
ist, der den Betrachtern die Frucht<br />
all seiner Mühen mit der freundlichen<br />
Geste des Schöpfers überlässt: Seht, das<br />
Werk ist fertig, erfreut euch daran.»<br />
Zum Alltag eines Dichters gehören<br />
aber auch die zu schützenden, zu besprechenden<br />
oder herauszugebenden<br />
Kollegen («Über neue Gedichte», «Vom<br />
Pudding. Formen junger Lyrik»). Immer<br />
vertritt er die Ehre seines Fachs ganz im<br />
Sinn Dylan Thomas’: «Ein gutes Gedicht<br />
Island Zerstörung unberührter Landschaften<br />
Island ist das Land der Vulkane und Geysire, der<br />
langen Winter, des Eises und der unberührten Natur.<br />
Der Gletscherfluss Jökulsa a Bru galt als der wildeste<br />
Strom der Insel im Norden Europas. Er hat sich über<br />
viele tausend Jahre tief in die Erde eingeschnitten<br />
und eine ganz eigene Landschaft hervorgebracht.<br />
Heute ist von ihm nur mehr ein Rinnsal übrig<br />
geblieben. Zwischen 2003 und 2006 wurde in der<br />
Gegend ein riesiger Staudamm errichtet, der es<br />
erlaubte, 57 Quadratkilometer Land zu überfluten,<br />
darunter die Weiden der letzten frei lebenden<br />
Rentiere des Landes. Über siebzig Wasserfälle fielen<br />
dem gigantischen Projekt zum Opfer. Die Proteste<br />
von Umweltschützern waren vergeblich, die Nutzung<br />
ist absurd: Hauptabnehmer des hier produzierten<br />
Stroms ist eine Aluminiumfabrik. Island hat kein<br />
Bauxit. Der Rohstoff kommt aus Australien und<br />
Brasilien, das Aluminium wird in alle Welt verschifft.<br />
Olaf Otto Becker hat sich mit seinen ebenso schönen<br />
wie aufrüttelnden Büchern zum Verschwinden des<br />
Nordpol-Eises in kürzester Zeit einen Namen<br />
gemacht. In dem neuen Band legt er auf bedrückende<br />
Weise offen, wie hinter der vermeintlichen<br />
Unberührtheit Islands bereits seine Zerstörung liegt.<br />
Unsere Sehnsucht nach Weite und Ruhe trifft hart auf<br />
die Spuren der Wirtschaftskrise. Gerhard Mack<br />
Olaf Otto Becker: Under the Nordic Light. Hatje<br />
Cantz, Ostfildern 2011. 160 S., 93 Farbbilder, Fr. 85.–.<br />
ist ein Beitrag zur Wirklichkeit». Oder<br />
er mischt sich ein in alte Diskussionen<br />
und rettet (endlich!), was seit Gottfried<br />
Benns Verbot niemand gewagt hat, den<br />
«Wie-Vergleich» für die Lyrik. Im Unterschied<br />
zur Metapher, die schnell autoritär<br />
kurzschliesse, bleibe das «Wie»<br />
demokratisch und auf Augenhöhe mit<br />
dem Leser. Wunderbarerweise belegt er<br />
dies ausgerechnet mit einer Benn-Zeile<br />
aus einem frühen Morgue-Gedicht, wo<br />
über notdürftig versorgte Krebskranke<br />
gesagt wird: «Manchmal/ wäscht sie die<br />
Schwester. Wie man Bänke wäscht.»<br />
Was wäre sein Tagwerk ohne die Feiertage<br />
der Preise! Jan Wagner verbeugt<br />
sich souverän vor so unterschiedlichen<br />
Dichtern wie Arno Reinfrank, Ernst<br />
Meister, Wilhelm Lehmann und hebt sie<br />
damit noch einmal aus dem Sog des Vergessens.<br />
Der studierte Anglist setzt sich<br />
mit Klassikern der modernen Lyrik auseinander<br />
(beispielsweise Walt Whitman,<br />
Wallace Stevens). Und dann stolpert<br />
er wieder durch eine irische Winterdämmerung<br />
und glaubt plötzlich,<br />
über den Hügeln grossartig den Mond<br />
aufgehen zu sehen; es waren aber die<br />
Scheinwerfer eines Campingwagens,<br />
der kurzsichtige Dichter hatte die Brille<br />
nur nicht aufgesetzt.<br />
Aus der narrenden Sehschwäche aber<br />
entzündet sich ein Lob der Unschärfe,<br />
denn niemals wäre dieser Mond/Campingwagen-Augenblick<br />
in der Erinnerung<br />
geblieben ohne die radikale Täuschung,<br />
die in das Empfinden fällt wie<br />
ein Blitz, wie eine Epiphanie in die Vagheit<br />
der Existenz.<br />
Nicht nur das italienische Domizil<br />
vor Rom, wo er über die Zeitmaschine<br />
Lyrik nachdenkt, gehört zu den Produktionsbedingungen,<br />
auch die Kneipe in<br />
Neukölln, wo alte Topfpflanzen weise<br />
nicken, und das Übersetzertreffen in<br />
Helsinki mit finnischen Lyrikern, die –<br />
mittels der gemeinsamen Sprache Englisch<br />
– sich über «poetische Treue» und<br />
den Verzicht verständigen, den jedes<br />
Übersetzen ausmacht. Oder er streift<br />
zwecks wechselseitiger Inspiration mit<br />
Malern durch griechische Olivenhaine.<br />
Aber er hatte sein Haiku über die Zeit<br />
bereits zu Hause in Vorfreude geschrieben:<br />
«sagt: welcher prophet/ verlor die<br />
sandale dort,/ aus der schon moos<br />
wächst». Ein Maler entdeckt nun die<br />
Sandale im Hain. Was ist jetzt mit der<br />
Zeit und der Wirklichkeit?<br />
Wer für sie empfänglich ist, wird<br />
ohne Lyrik nicht leben wollen. Und er<br />
darf mit grossem Vergnügen in diesem<br />
entspannten und lehrreichen, in diesem<br />
freundlichen Buch lesen, das mitnimmt<br />
in die gesteigerte Welterfassung eines<br />
Menschen, der sprachlich reaktionsbereit<br />
durchs Leben geht.<br />
Jan Wagner ist ein Botanisierer von<br />
Augenblicken (und Lesemomenten), ein<br />
bewundernswürdiger Goldschmied der<br />
Nebensächlichkeiten, die uns manchmal<br />
retten. ●