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Marlene Dietrich - Leni Riefenstahl Doppelbiografie - Neue Zürcher ...

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Belletristik<br />

SUSANNE SCHLEYER<br />

Schulroman Judith Schalansky erzählt von einer desillusionierten Lehrerin<br />

in Vorpommern, die gar nicht so grob ist, wie sie sich gibt<br />

Faustrecht im<br />

Klassenzimmer<br />

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe.<br />

Suhrkamp, Berlin 2011. 222 Seiten,<br />

Fr. 33.50.<br />

Von Martin Zingg<br />

Das kann vorkommen: dass eine Romanfigur<br />

unsympathisch erscheint. Und<br />

dass man dennoch weiterliest und damit<br />

nicht aufhören möchte. Inge Lohmark<br />

ist eine unsympathische Gestalt, bisweilen<br />

ein kleines Scheusal – und man<br />

bleibt ihr lesend dennoch gerne auf der<br />

Spur. Lehrerin an einer Schule im Hinterland<br />

von Vorpommern, seit über<br />

dreissig Jahren, und dort zuständig für<br />

Biologie und Sport. Am Charles-Darwin-Gymnasium,<br />

wie es seit der Wende<br />

heisst, ist Inge Lohmark bekannt für<br />

einen unterkühlten Unterrichtsstil.<br />

Judith Schalansky<br />

Judith Schalansky, geboren 1980 in<br />

Greifswald, studierte Kunstgeschichte<br />

und Kommunikationsdesign. Mit dem<br />

Matrosenroman «Blau steht dir nicht»<br />

hat sie 2008 erstmals auf sich aufmerksam<br />

gemacht. Es folgte 2010 der «Atlas<br />

der abgelegenen Inseln», ein liebevoll<br />

gestaltetes, viel gefeiertes Buch, das in<br />

zahlreiche Sprachen übersetzt worden<br />

ist. Mit dem opulenten Band «Fraktur<br />

mon Amour» hat die an Gestaltungsfragen<br />

interessierte Autorin überdies<br />

eine Liebeserklärung an die Frakturschrift<br />

vorgelegt. Judith Schalansky<br />

lebt in Berlin.<br />

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011<br />

Frontal und «kreidelastig» geht es bei<br />

ihr zu, und alle wissen, dass sie gerne<br />

unangekündigte Arbeiten schreiben<br />

lässt. Sie schützt sich hinter einem Panzer<br />

aus Sarkasmus und hält immer auf<br />

Distanz: «Zum professionellen Verhältnis<br />

gehörten keine Nähe, kein Verständnis.<br />

Armselig, aber begreiflich, wenn<br />

Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten.<br />

Das Kriechen vor dem Machthaber.<br />

Unverzeihlich hingegen war es, wie sich<br />

Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen.<br />

Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute<br />

Moden und Wörter. Um den Hals<br />

bunte Tücher. Blondierte Strähnen.<br />

Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu<br />

machen.»<br />

Gegen derlei Versuchungen ist sie gefeit.<br />

Ihre Schüler und Schülerinnen, ihre<br />

«natürlichen Feinde», wird sie ohnehin<br />

nicht mehr lange aushalten müssen,<br />

denn Inge Lohmark steht am Ende ihrer<br />

Laufbahn. Ihre Schule soll in vier Jahren<br />

geschlossen – «abgewickelt» – werden,<br />

in der Region leben zu wenig Kinder. In<br />

der Region scheint es überhaupt an vielem<br />

zu fehlen. Judith Schalansky erzählt<br />

in ihrem Roman «Der Hals der Giraffe»<br />

nicht allein von Inge Lohmark und deren<br />

biologistischer Weltsicht, sondern indirekt<br />

auch von den schwindenden Perspektiven<br />

eines ganzen Landstrichs in<br />

der ostdeutschen Provinz, die sie – erzählerischer<br />

Schachzug von grossem<br />

Raffinement – ausgerechnet in einer<br />

Schule zur Sprache bringt.<br />

Als der Roman einsetzt, hat eben ein<br />

neues Schuljahr begonnen. Gerade einmal<br />

zwölf Jugendliche sitzen in der<br />

«Klasse neun», fünf Jungen, sieben<br />

Mädchen: «Ganz vorne hockte ein verschrecktes<br />

Pfarrerskind, das mit Holzengeln,<br />

Wachsflecken und Blockflötenunterricht<br />

aufgewachsen war. In der<br />

letzten Reihe sassen zwei aufgedonnerte<br />

Gören. Die eine kaute Kaugummi, die<br />

andere war besessen von ihrem schwarzen<br />

Hengsthaar, das sie pausenlos glättete<br />

und strähnchenweise untersuchte.<br />

Daneben ein hellblonder Knirps in<br />

Grundschulgrösse. Ein Trauerspiel, wie<br />

die Natur hier die ungleiche Entwicklung<br />

der Geschlechter vorführte.» Es ist<br />

die letzte Klasse, die es an dieser Schule<br />

geben wird, und natürlich sitzen darin,<br />

wie die Lehrerin schon längst weiss, lauter<br />

Gymnasiums-Untaugliche. Allenfalls<br />

«Nachschub fürs Rentensystem».<br />

Unablässig kommentiert Inge Lohmark<br />

in Gedanken, was sie sieht und<br />

hört und tut. Judith Schalansky lässt sie<br />

in kurzen, oft abgehackten Sätzen monologisieren,<br />

in einem Nonstoptext, der<br />

vor nichts und niemandem halt macht.<br />

Es sind meist apodiktische Sätze, Merksätze,<br />

die auf alles gepappt werden, was<br />

daherkommt.<br />

Mit dem Blick der Biologin<br />

Wir erfahren aus der allesumschlingenden<br />

Suada, dass die Lohmark verheiratet<br />

ist mit Wolfgang und mit ihm eine Tochter<br />

hat, Claudia. Wolfgang, in DDR-Zeiten<br />

Veterinärstechniker, der in einer<br />

LPG Kühe besamen musste, betreibt<br />

nun eine Straussenfarm. Neun Tiere hat<br />

er im Augenblick.<br />

Er ist damit zum Held der Ostsee-<br />

Zeitung geworden, die ihn alle paar Wochen<br />

wieder mal befragt. Leider stopft<br />

er das Gemüsefach im Kühlschrank mit<br />

den kokosnussgrossen Strausseneiern<br />

voll: «Wer sollte die denn essen? Die<br />

grössten tierischen Zellen überhaupt.<br />

Ein Omelett für eine ganze Schulklasse.»<br />

Gemeinsame Mahlzeiten des Paares<br />

sind selten, man hat sich arrangiert, und<br />

wenn sie zusammen sind, gefällt Inge<br />

Lohmark, dass sie nicht mit ihrem Mann<br />

reden muss.<br />

Tochter Claudia hat sich längst in die<br />

USA abgesetzt. Ein einziges Mal hat<br />

man sie noch besucht, aber was sie dort<br />

treibt, ist den Eltern schon lange nicht<br />

mehr klar. Sie meldet sich selten und<br />

dann nur knapp. Einmal kommt eine<br />

Mail, mit der sie, ziemlich wortkarg, ihre<br />

Eheschliessung mitteilt, «Just married»,<br />

darunter eine Foto. Dass sie noch Kinder<br />

haben wird, dass Inge Lohmark also<br />

Grossmutter werden könnte, scheint inzwischen<br />

eher unwahrscheinlich.

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