Konstrukteure der Zukunft - DAAD-magazin
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Kultureller Mix prägt Istanbul:<br />
Monika Tug˘utlu und Thomas Mühlbauer<br />
fühlen sich als Weltbürger<br />
den Bürgern ärgert. „Aber ich glaube ich könnte<br />
gar nicht mehr in Deutschland leben“, sagt<br />
die 49-Jährige. Die deutschen Alltagssorgen<br />
erscheinen ihr unbedeutend verglichen mit<br />
den Gedanken über Umwelt und Menschenrechte<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Angst vor dem nächsten Erdbeben,<br />
die sie und ihre Nachbarn und Freunde<br />
umtreiben.<br />
Lesung mit Kemal und Grass<br />
Neben ihrem Beruf engagiert sich Monika<br />
Tug˘utlu für die Kulturstiftung <strong>der</strong> deutschtürkischen<br />
Wirtschaft, die 2005 auf Initiative<br />
<strong>der</strong> Deutschen Botschaft gegründet wurde.<br />
„Im Moment kämpfen wir noch immer darum,<br />
vom türkischen Staat als Stiftung anerkannt<br />
zu werden“, berichtet Monika Tug˘utlu, die<br />
im Verwaltungsrat <strong>der</strong> Stiftung sitzt. Solange<br />
dieser Status und damit die Gemeinnützigkeit<br />
<strong>der</strong> Organisation nicht gewährt werde, seien<br />
Unternehmen mit Spenden zögerlich. Mit einem<br />
wichtigen Ereignis konnte die Kulturstiftung<br />
dennoch zu den Feiern zur Kulturhauptstadt<br />
Europas beitragen, die in diesem Jahr<br />
in Istanbul begangen wurden: Sie lud Yas˛ar<br />
Kemal, einen <strong>der</strong> bedeutendsten türkischen<br />
Schriftsteller, und Literaturnobelpreisträger<br />
Günter Grass zu gemeinsamen öffentlichen<br />
Lesungen und Diskussionen ein. Die beiden<br />
Schriftsteller kennen sich gut. Günter Grass<br />
hielt 1997 die Laudatio, als Yas˛ar Kemal mit<br />
dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels<br />
ausgezeichnet wurde.<br />
In ihrer Freizeit liest Monika Tug˘utlu gerne<br />
deutsche Literatur. „Früher habe ich kofferweise<br />
Bücher aus Deutschland mitgebracht“, erzählt<br />
sie. Und als sie noch jeden Tag zu ihrem<br />
Büro am Taksim-Platz auf <strong>der</strong> europäischen<br />
Seite fuhr, besuchte sie häufig die türkischdeutsche<br />
Buchhandlung. Sie liegt am an<strong>der</strong>en<br />
Ende einer Flaniermeile mit Cafés, Kinos und<br />
Kaufhäusern, die den Taksim-Platz und den<br />
Galata-Turm miteinan<strong>der</strong> verbindet.<br />
Hier, auf <strong>der</strong> Istiklal Caddesi (Straße <strong>der</strong> Unabhängigkeit),<br />
im Herzen des alten Stadtteils<br />
Beyog˘lu, führt Thomas Mühlbauer die Buchhandlung<br />
in zweiter Generation. Die „Türk<br />
Alman Kitabevi“, so <strong>der</strong> türkische Name <strong>der</strong><br />
Buchhandlung, liegt unweit <strong>der</strong> Deutschen<br />
Guter Standort: Die deutsche<br />
Buchhandlung liegt an <strong>der</strong> quirligen Istiklal Caddesi<br />
<strong>DAAD</strong> Letter 3/10<br />
Schule Istanbul. An dieser Privatschule, die<br />
zur Deutschen Botschaft in Ankara gehört,<br />
werden hauptsächlich türkische Schüler unterrichtet.<br />
„Unser Hauptgeschäft sind Schulbücher“,<br />
sagt Thomas Mühlbauer, „aber wir<br />
haben das gesamte Spektrum deutscher Bücher<br />
auf Lager.“ Beson<strong>der</strong>s groß ist die Auswahl<br />
an Sprach- und Lehrwerken, an Reiseführern<br />
und Büchern, die sich mit <strong>der</strong> Türkei und<br />
dem Islam befassen. Außerdem gibt es eine<br />
Abteilung für Kin<strong>der</strong>- und Jugendbücher und<br />
in <strong>der</strong> zweiten Etage eine Spezialabteilung<br />
für naturwissenschaftliche und medizinische<br />
Fachliteratur. „Meine Kunden“, so Mühlbauer,<br />
„sind Deutsche, die in <strong>der</strong> Türkei leben, ebenso<br />
wie Türken, die in <strong>der</strong> Türkei Deutsch gelernt<br />
o<strong>der</strong> längere Zeit in Deutschland gelebt<br />
haben.“ Seine Kunden interessieren sich für<br />
die gesamte Bandbreite: von Trivialliteratur<br />
bis hin zu anspruchsvolleren Werken o<strong>der</strong><br />
Fachliteratur. Die „Türk Alman Kitabevi“ ist<br />
die einzige deutschsprachige Buchhandlung<br />
in <strong>der</strong> Türkei – und in Istanbul ist sie eine<br />
Institution.<br />
Treffpunkt für Deutsche<br />
Thomas Mühlbauers Kunden kommen nicht<br />
nur wegen <strong>der</strong> deutschen Bücher, „für Deutsche<br />
ist die Buchhandlung häufig erste Anlaufstelle,<br />
wenn sie in Istanbul ankommen“,<br />
berichtet er. Sie kommen wegen des Schwarzen<br />
Bretts, an dem Gesuche und Angebote für<br />
Wohnungen, für Sprachunterricht o<strong>der</strong> auch<br />
Jobs aushängen. In einem Reiseführer wird<br />
die Buchhandlung deshalb direkt unter dem<br />
Goethe-Institut als wichtige „Kontaktbörse“<br />
aufgeführt.<br />
© José Fuste Raga/AGE/F1online<br />
arbEItEn WEltWEIt<br />
Die Buchhandlung versorgt die Stadt am Bosporus<br />
seit 1955 mit deutschen Büchern. Gegründet<br />
hat sie Thomas Mühlbauers Vater, ein<br />
Österreicher aus Graz, <strong>der</strong> nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg in Istanbul Zwischenstation machte.<br />
Eigentlich sei er auf dem Weg nach Persien<br />
gewesen, dorthin wollte er auswan<strong>der</strong>n. „Er ist<br />
aber in Istanbul hängengeblieben“, so drückt<br />
es sein Sohn aus, die Stadt habe ihm sehr gut<br />
gefallen. Im Alter von zwölf Jahren zieht <strong>der</strong><br />
1967 geborene Thomas Mühlbauer gemeinsam<br />
mit Mutter und Bru<strong>der</strong> von Istanbul nach<br />
Deutschland um. Als 25-Jähriger kommt er<br />
nach Istanbul zurück, um nach dem Tod des<br />
Vaters die Geschäfte weiterzuführen. Die Entscheidung,<br />
nach Istanbul zurückzukehren,<br />
sei ihm nicht schwergefallen, erinnert sich<br />
Thomas Mühlbauer. Auch nach 13 Jahren in<br />
Deutschland seien ihm türkische Kultur und<br />
Sprache noch vertraut gewesen. Er spricht perfekt<br />
Türkisch, nur mit dem Schreiben und Lesen<br />
habe er Schwierigkeiten, weil er nie eine<br />
türkische Schule besucht habe.<br />
„Ich fühle mich zwar als Deutscher, aber ich<br />
denke teilweise auf Türkisch“, sagt Thomas<br />
Mühlbauer, <strong>der</strong> an seiner Heimatstadt vor allem<br />
„die Vielfalt und das bunte Leben“ schätzt.<br />
Damit meint er die vielen Nationalitäten, die<br />
hier zusammenleben, und seinen Freundeskreis,<br />
zu dem neben Türken und Deutschen<br />
Menschen aus allen Ecken <strong>der</strong> Welt gehören.<br />
Nur selten bereitet es ihm Unannehmlichkeiten,<br />
als Deutscher in <strong>der</strong> Türkei zu leben. „Lediglich<br />
wenn ich meine Aufenthaltsgenehmigung<br />
verlängern muss, dann werde ich daran<br />
erinnert, dass ich Deutscher bin, obwohl ich<br />
mich doch eigentlich als Weltbürger fühle.“<br />
Kristina Vaillant<br />
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