13.11.2015 Views

LJ_15_11

LJ_15_11

LJ_15_11

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

Hintergrund<br />

Gedanken, was wir mit den vielen Daten<br />

überhaupt anfangen wollen? Wenn wir<br />

alle Organismen sequenziert haben – haben<br />

wir dann verstanden, wie das Leben<br />

funktioniert? Wir haben in der Biologie<br />

das Ziel aus den Augen verloren. Es gibt<br />

zu wenig Wertschätzung für Theorie, für<br />

das Denken.<br />

Liegt das teilweise auch daran, dass die<br />

Biologie so nahe an der Medizin angesiedelt<br />

ist? „Wir wollen eine Krankheit besiegen“<br />

ist immer eine gute Begründung, die jeder<br />

sofort versteht. Tut sich die Biologie schwer,<br />

ihre eigene Rechtfertigung dagegenzuhalten,<br />

unabhängig von einem absehbaren medizinischen<br />

Nutzen?<br />

Jäger: Das Problem ist relativ neu, und<br />

das hat auch wieder mit der Geldmenge<br />

zu tun, die in die Wissenschaft fließt. Sobald<br />

es politisch relevant wird, muss ein<br />

direkter, kurzfristiger Nutzen genannt<br />

werden. Und dieser Nutzen ist meist Technologie<br />

oder Medizin. Mein europäisches<br />

Projekt, das ich in Spanien geleitet hatte,<br />

ist ein Beispiel dafür. Unsere Forschung<br />

mussten wir quasi als Testfall für eine Software<br />

„verkaufen“. Das steht doch auf dem<br />

22<br />

Kopf! Aber nur so kommt man an die europäischen<br />

Forschungsgelder ran. Sogar<br />

in der Grundlagenforschung gibt es heute<br />

folglich den Druck, etwas medizinisch oder<br />

technologisch Relevantes zu produzieren.<br />

Wobei das ein Widerspruch ist. Grundlagenforschung<br />

bedeutet doch, dass man vorher<br />

nicht weiß, was man später eventuell damit<br />

anfangen kann?<br />

Jäger: Genau. Aber das heißt ja nicht,<br />

dass Grundlagenforschung nicht zu Anwendungen<br />

führt. Der Nutzen kommt<br />

schon, aber manchmal extrem verzögert<br />

und unvorhersehbar.<br />

Zum Beispiel<br />

der Laser: Stellen<br />

Sie sich einmal vor,<br />

es gäbe den heute<br />

nicht. Aber genaugenommen war der Laser<br />

anfangs eine nutzlose Spielerei. Toll,<br />

damit kann man Lichtpunkte machen! Es<br />

hat Jahrzehnte gedauert, bis daraus eine<br />

Anwendung wurde. In die Grundlagenforschung<br />

steckt man viel Geld hinein, aber<br />

betriebswirtschaftlich gerechnet kommt<br />

erst mal nichts zurück. Das führt dazu,<br />

dass Wissenschaft heute als Luxus-Investition<br />

angesehen wird, die sich nur reiche<br />

Länder leisten. Das könnte man aber<br />

umdrehen: Die reichen Länder sind unter<br />

anderem deshalb so wohlhabend, weil sie<br />

über lange Zeit in nicht messbare Grundlagenforschung<br />

investiert haben. Heute muss<br />

aber alles messbar sein. Das schadet nicht<br />

nur der Wissenschaft. Der Druck, der damit<br />

einhergeht, macht die Leute auch krank.<br />

Wenn man den Output in der Grundlagenforschung<br />

nicht messen kann, hat man<br />

aber ein Problem: Die raren Stellen in der<br />

Forschung sollten ja fairerweise die besten<br />

Wissenschaftler bekommen. Wie identifiziert<br />

man die besten Leute, wenn man keinen Vergleichsmaßstab<br />

hat?<br />

Jäger: Ein Mathematiker hat dazu mal<br />

gesagt: „Wir lesen die Arbeiten der Bewerber.“<br />

Das ist in der Biologie zugegebenermaßen<br />

schwierig, bei oft 200 oder mehr<br />

Bewerbern auf eine Stelle. Aber man kann<br />

schon darauf achten, originelle Ideen zu<br />

fördern. Bewerber mit guten Ideen vernachlässigt<br />

man aber, wenn man zu sehr<br />

auf den Output schaut. Dann fördert man<br />

stromlinienförmige Karrieristen. Wollen<br />

wir wirklich, dass die Grundlagenforschung<br />

dominiert wird von Leuten, die<br />

immer mehr vom selben produzieren?<br />

Ihr persönliches Forschungsinteresse, die<br />

evolutionäre Systembiologie, ist ein gutes<br />

Beispiel für Grundlagenforschung, die noch<br />

ganz am Anfang steht. Können sie ganz kurz<br />

„Es gibt zu wenig Wertschätzung<br />

für Theorie, für das Denken.“<br />

umreißen, worum es bei diesem recht neuen<br />

Feld eigentlich geht?<br />

Jäger: Mit Genetik und Genomik können<br />

wir zwar Faktoren identifizieren, die<br />

an biologischen Prozessen beteiligt sind.<br />

Wir wollen überdies aber herausfinden,<br />

wie diese Faktoren zusammenwirken, um<br />

einen Organismus hervorzubringen. Und<br />

Umweltfaktoren kommen auch noch dazu.<br />

Um das zu verstehen, muss man modellieren.<br />

Das ist wegen der vielen Faktoren<br />

sehr kompliziert, das kann man im Kopf<br />

nicht mehr durchdenken. Die evolutionäre<br />

Systembiologie, wie ich sie sehe, versucht<br />

also nicht nur, einzelne<br />

Faktoren zu<br />

identifizieren; wir<br />

wollen vor allem<br />

verstehen, wie ganze<br />

Prozesse funktionieren – und wie diese<br />

Prozesse die Entwicklung von Organismen<br />

steuern. Das beeinflusst auch den Fortgang<br />

der Evolution, denn die Entwicklungsprozesse<br />

können nur eine Auswahl der theoretisch<br />

denkbaren Organismen produzieren.<br />

Die natürliche Selektion sieht also nur eine<br />

eingeschränkte Auswahl der denkbaren<br />

Phänotypen.<br />

Manche sagen: Die evolutionäre Systembiologie<br />

ist ein ganz anderer, geradezu revolutionärer<br />

Ansatz, um Evolution zu verstehen.<br />

Das große Wort vom „Paradigmenwechsel“<br />

ist zu hören. Ist da was dran?<br />

Jäger: Ja und nein. Die Ideen waren<br />

schon lange da. Zum Beispiel hatte Conrad<br />

Waddington [britischer Entwicklungsbiologe,<br />

1905-1975] dazu viel geschrieben<br />

und geforscht. Aber es war früher nicht<br />

möglich, diese theoretischen Ideen mit experimentellen<br />

Daten zu kombinieren. Das<br />

ist wirklich neu. Deshalb würde ich dafür<br />

plädieren, diesem Ansatz Zeit zu geben.<br />

Die evolutionäre Systembiologie ist ein<br />

Großprojekt, und es wird keine schnellen<br />

Antworten geben.<br />

Also ein Beispiel, dass man nicht nur<br />

einem einzelnen Forscher, sondern einem<br />

ganzen Feld Zeit einräumen muss, wenn man<br />

wirklich neue Einsichten gewinnen will?<br />

Jäger: Ja. Es kann sogar passieren, dass<br />

man am Ende feststellt, dass jeder Organismus<br />

nach seinen eigenen Regeln evolviert<br />

und dass es auf der Ebene der Prozesse<br />

keine übergeordneten Gesetzmäßigkeiten<br />

gibt. Das könnte man dann als ein Scheitern<br />

der evolutionären Systembiologie ansehen.<br />

Aber andererseits wäre das auch eine interessante<br />

Einsicht – auch wenn ich nicht<br />

hoffe, dass es so kommt!<br />

Interview: Hans ZAUNER<br />

<strong>11</strong>/20<strong>15</strong> Laborjournal

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!