atw Vol. 63 (2018) | Issue 8/9 ı August/September
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SPOTLIGHT ON NUCLEAR LAW
Atomausstieg letzter Akt?
Sind die neuen Entschädigungs regelungen für frustrierte
Aufwendungen und nicht mehr verstrombare Elektrizitätsmengen
im Atomgesetz verfassungsgemäß?
Tobias Leidinger
Kurz vor knapp hat der Gesetzgeber auf die verfassungsrechtlichen Mängel reagiert, die das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) in seinem Urteil vom 6. Dezember 2016 zum Atomausstieg (BVerfGE 143, 246) höchstrichterlich
beanstandet hat. Doch die neu geschaffenen Entschädigungsregelungen in der 16. AtG-Novelle werfen neue
Rechtsfragen auf, insbesondere die nach ihrer Verfassungsgemäßheit.
I. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
Nach dem BVerfG-Urteil vom 6. Dezember 2016 musste
der Gesetzgeber bis zum 30. Juni 2018 in Bezug auf
den Atomausstieg einen verfassungsmäßigen Zustand
herstellen (vgl. dazu Leidinger, atw 2017, S. 26 ff.). Dies
erfolgt jetzt durch Entschädigungsregelungen, die durch
das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes
(16. AtGÄndG), in das Atomgesetz eingefügt werden (vgl.
BT-Drs. 19/2508). Da das Änderungsgesetz im Hinblick
auf seine beihilferechtlichen Auswirkungen noch der
Überprüfung durch die EU-Kommission bedarf, kann das
Gesetz, das vom Bundestag am 28. Juni 2018 beschlossen
wurde, nicht sofort in Kraft treten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Kompensation
in zweifacher Hinsicht gefordert: Zum einen bedarf es
eines angemessenen Ausgleichs für frustrierte Aufwendungen,
die die Betreiber im Vertrauen auf den
Bestand der Ende 2010 zusätzlich gewährten Elektrizitätsmengen
getroffen hatten. Zum anderen ist eine Kompensationsregelung
für die Strommengen erforderlich, die
den Betreibern 2002 im Rahmen des „Energiekonsens“
(Atomausstieg I) zugestanden worden waren, die aber
nunmehr – infolge des endgültigen Atomausstiegs II bis
Ende 2022 – nicht mehr konzernintern verstromt werden
können. Letzteres betrifft allein die Betreiber Vattenfall
und RWE. E.ON verfügt noch über freie Kapazitäten, auch
wenn sämtliche eigenen Mengen verstromt sind. EnBW ist
nach eigenen Angaben nicht betroffen.
Neben dem Deutschen Bundestag hat sich auch der
Bundesrat mit den Regelungen befasst (BR-Drs. 205/18).
Auch eine Sachverständigenanhörung hat es dazu am
13. Juni 2018 im Umweltausschuss des Bundestages
gegeben. Die vom Bundesrat erhobene Forderung, im
Rahmen der gesetzlichen Neuregelung sicherzustellen,
dass Rest strommengen nicht auf norddeutsche Kernkraftwerke
(z.B. Emsland, Brokdorf) im Netzausbaugebiet
übertragen werden dürfen – weil dann die Einspeisung
regenerativer Energien eingeschränkt werde –, hat die
Bundesregierung – zu Recht – zurückgewiesen (BT- Drs.
19/2705). Eine solche Einschränkung von Übertragungsmöglichkeiten
müsste zu weiteren, nicht mehr
erzeugbaren Elektrizitätsmengen führen. Das wirft
erneut verfassungsrechtliche Fragen auf, insbesondere
nach einem finanziellen Ausgleich. Im Ergebnis käme es
zu einer noch größeren Belastung für den öffentlichen
Haushalt.
II. „Angemessenheit“ der Kompensation
von zentraler Bedeutung
Von entscheidender Bedeutung ist, ob durch die
neuen Entschädigungsregelungen die verfassungsrechtlich
ge botene Angemessenheit in Bezug auf frustrierte
Auf wendungen und nicht mehr verstrombare Strommengen
hergestellt wird. Denn die „Angemessenheit“
des Ausgleichs ist vom Bundesverfassungsgericht als
zentrales Kriterium einer verfassungskonformen Regelung
bestimmt worden. Fehlt es daran, wären die vom BVerfG
aufgestellten Maßgaben verletzt. Fraglich ist also, ob der
Gesetzgeber das ihm insoweit zukommende Gestaltungsermessen
verfassungskonform ausgeübt hat.
Für den Ausgleich nicht verstrombarer Strommengen
hatte das Gericht drei verschiedene Optionen eröffnet:
Zunächst wäre eine zeitlich auskömmliche Laufzeitverlängerung
bis zu dem Zeitpunkt denkbar, in dem die
ausgleichspflichtigen Strommengen tatsächlich konzernintern
verstromt sind. Das wäre – aus Sicht des Steuerzahlers
– der mit Abstand kostengünstigste Weg. Er wurde
indes nicht beschritten. Es bleibt vielmehr dabei, dass
die Nutzung der Kernenergie „zum frühestmöglichen
Zeitpunkt beendet werden soll“, d.h. es wird am Enddatum
31. Dezember 2022 unverändert festgehalten. Dieses
Datum beruht indes auf einer rein politischen Festlegung,
die bereits in der 13. AtG-Novelle im Jahr 2011 („Atomausstiegsgesetz“)
vorgenommen wurde. Sodann besteht die
Option, eine Weitergabemöglichkeit von Reststrommengen
zu ökonomisch zumutbaren Bedingungen gesetzlich
sicherzustellen oder – als dritte Möglichkeit – einen
angemessenen finanziellen Ausgleich für konzernintern
nicht verstrombare Reststrommengen zu gewähren.
III. Ausgleich für nicht mehr verstrombare
Elektrizitätsmengen
Das neue Gesetz bestimmt mit § 7f AtG (neu) einen
lediglich „konditionierten“ Geldausgleich für nicht mehr
verstrombare Elektrizitätsmengen. Danach müssen sich
die Kraftwerksbetreiber mit nicht verstrombaren Elektrizitätsmengen
zunächst, d.h. primär „ernsthaft darum
bemühen“, diese Mengen an andere Kraftwerksbetreiber
„zu angemessenen Bedingungen zu übertragen“, die zwar
noch über Kernkraftwerke, aber nicht mehr über Elektrizitätskontingente
zur Verstromung verfügen. Nur wenn und
soweit Strommengen zu diesen Bedingungen nicht mehr
übertragen werden konnten, greift dann – sozusagen
subsidiär – eine finanzielle Kompensation.
Es ist mehr als fraglich, ob das Gesetz mit dieser
Regelung den höchstrichterlichen Vorgaben gerecht wird:
Der vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Verstoß
gegen Art. 14 Abs. 1 (Eigentum) und das Gleichheitsgebot
aus Art. 3 Abs. 1 GG resultiert doch gerade daraus, dass es
aufgrund des Ausstiegsgesetzes (13. AtG-Novelle) zu
einem Nachfragemonopol hinsichtlich der nicht mehr
verstrombaren Mengen kommt, also einer Situation, die
per se keine „angemessenen Bedingungen“ für eine
konzernübergreifende Veräußerung der Strommengen
zulässt (vgl. BVerfGE 143, 246 (361)).
Spotlight on Nuclear Law
Nuclear Phase-out Last Act? Are the New Compensation Regulations for Frustrated Expenses in Accordance with the Constitution? ı Tobias Leidinger