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<strong>atw</strong> Vol. 63 (<strong>2018</strong>) | Issue 8/9 ı August/September<br />
EDITORIAL 428<br />
Kernenergie: Totgesagte leben länger<br />
oder der Sommer <strong>2018</strong><br />
Liebe Leserin, lieber Leser, obgleich die Kernenergie ein sowohl umfassendes technisches Potenzial mit<br />
weiteren Entwicklungsperspektiven für den Einsatz in der Energieerzeugung als auch attraktive betriebswirtschaftliche<br />
Rahmenbedingungen, sowohl für bestehende Anlagen als auch für Neuanlagen – ein verlässliches regulatorisches und<br />
politisches Umfeld vorausgesetzt – bietet, fehlten hierzu lange sichtbare Impulse.<br />
Die Kernenergie wurde bzw. wird zudem mit ernsten<br />
Herausforderungen der Märkte konfrontiert. So kann sie<br />
ihre wirtschaftlichen Vorteile aus zwei Gründen nicht<br />
ausspielen: Zum einen existieren kaum noch freie Strommärkte;<br />
regulierte Märkte mit teils überbordenden und<br />
kaum noch überschaubaren Subventionssystemen verhindern<br />
jegliche Marktentwicklung in Richtung effizienter<br />
Systeme überhaupt. Zum anderen sind Anlagen mit langen<br />
Abschreibungszeiten, wie es bei der Kernenergie mit rund<br />
20 Jahren der Fall ist, wenig attraktiv – langer Atem ist für<br />
Kernkraftwerksbetreiber erforderlich.<br />
Bemerkenswerte Entwicklungen im Frühjahr/Sommer<br />
<strong>2018</strong> setzen insbesondere mit ihren technischen Akzenten<br />
deutliche Zeichen für Zukunftsimpulse:<br />
1. Ende April <strong>2018</strong> lief in St. Petersburg, Russland, die<br />
Akademik Lomonosov vom Stapel. Der Leichter ist ausgerüstet<br />
mit zwei Kernreaktoren vom Typ KLT-40S, wie sie<br />
erfolgreich seit vielen Jahrzehnten in Eisbrechern zum<br />
Einsatz kommen. Jeder Reaktor kann bis zu 35 MW Strom<br />
liefern sowie 200 GJ/h Fernwärme, ausreichend für die<br />
Versorgung von rund 100.000 Menschen in polaren<br />
Regionen. Der Leichter wurde nach dem Stapellauf durch<br />
Ost- und Nordsee nach Murmansk geschleppt, wo die<br />
Kernbrennstoffbeladung erfolgt. Im kommenden Jahr<br />
wird die Akademik Lomonosov in die Tschuktschen-Region<br />
im Osten Russlands zu ihrem endgültigen Einsatzort<br />
geschleppt.<br />
2. Am 6. Juni <strong>2018</strong> erreichte der Kernkraftwerksblock<br />
Taishan 1 in der im Süden Chinas gelegenen Provinz<br />
Guangdong Erstkritikalität. Es ist dies die erste Anlage<br />
weltweit vom Typ EPR und damit nach dem 2016 in Betrieb<br />
gegangenen russischen WWER-1200 in Nowoworonesch<br />
der zweite Reaktortyp der Generation III+ in Betrieb. Mit<br />
einer Nennleistung von 1750 MW brutto ist es der weltweit<br />
leistungsstärkste Kernkraftwerkstyp. Der Bau der Anlage<br />
begann im Jahr 2009. In Europa sind 2 typgleiche Blöcke<br />
seit 2005 (Olkiluoto 3, Finnland) bzw. 2007 (Flamanville 3,<br />
Frankreich) in Bau. Ursprünglich waren Reaktoren des<br />
Typs EPR für ein westeuropäisches Zubauprogramm entwickelt<br />
worden und werden von Framatome geliefert. Am<br />
chinesischen Standort Taishan befindet sich ein zweiter<br />
Block in der Inbetriebnahme. Der französische Staatspräsident<br />
Emmanuel Macron und der indische Präsident<br />
Narenda Modi unterzeichneten im März <strong>2018</strong> einen<br />
Vertrag, der zum Bau von sechs EPR in Indien führen soll.<br />
3. Am 21. Juni <strong>2018</strong> erreichte der Kernkraftwerksblock<br />
Sanmen 1 in der chinesischen Provinz Zhejiang Erstkritikalität.<br />
Es ist dies die erste Anlage weltweit vom Typ<br />
AP1000 und damit der dritte Reaktortyp der Generation<br />
III+ in Betrieb. Der Bau der Anlage begann im Jahr 2009.<br />
Am 8. August <strong>2018</strong> erreichte der baugleiche Block Haiyang<br />
1 in der chinesischen Provinz Shandong ebenfalls Erstkritikalität.<br />
An beiden Standorten ist jeweils ein weiterer<br />
Block in Bau. Der AP1000 mit einer Bruttoleistung von rd.<br />
1250 MW ist eine Entwicklung von Westinghouse. Der Bau<br />
begann im Jahr 2009. In den USA sind an den Standorten<br />
Vogtle und Summer vier Blöcke in Bau; für die beiden<br />
Blöcke Summer wurde im August 2017 ein Baustopp<br />
beschlossen, u.a. da die Westinghouse Electric Company<br />
als Hersteller ein sog. „Chapter 11-Insolvenzverfahren“<br />
ein leiten musste. Inzwischen hat die kanadische Brookfield<br />
Business Partners das Kerntechnikunternehmen übernommen.<br />
Unter anderem die indische Regierung ist<br />
zuversichtlich, einen Vertrag über den Bau von 6 AP1000<br />
in Indien in der nächsten Zukunft unterzeichnen zu<br />
können.<br />
Diese Inbetriebnahmen kennzeichnen nicht nur, dass bei<br />
allen Herausforderungen und auch damit verbundenen<br />
Verzögerungen, technisches Neuland in der Kerntechnik<br />
erfolgreich beschritten werden kann. EPR, AP1000 oder<br />
auch WWER-1200 können jetzt Impulse mit sich bringen,<br />
die der Vermarktung auf den bereit stehenden neuen<br />
Märkten für die Kernenergie Schwung liefern – auch wenn<br />
diese Märkte derzeit nicht unbedingt in Europa liegen.<br />
Ach ja Europa ... zwei Sätze zur Alten Welt:<br />
1. Die Kernenergie und damit die in manchen Medien fast<br />
gebetsmühlenartig gescholtenen Reaktoren an den<br />
belgischen Standorten Tihange und Doel haben im<br />
bisherigen Jahresverlauf rund 60 % des Strombedarfs des<br />
Landes gedeckt. Die derzeitige belgische Regierung<br />
hatte im April <strong>2018</strong> für alle Kernkraftwerke des Landes<br />
einen „Energiepakt“ bestätigt, der eine Stilllegung der<br />
Anlagen in den Jahren 2022 bis 2025 vorsieht. Es ist<br />
dies ungefähr die siebte Ausstiegsankündigung einer<br />
belgischen Regierung.<br />
2. Die Regierung Großbritanniens fördert die Entwicklung<br />
und den Bau von modularen Kernreaktoren kleiner<br />
Leistung (SMR: small modular reactor). Ein 200-Mio.-<br />
Pfund Investitionsprogramm im Rahmen der langfristigen<br />
Industriestrategie des Landes soll den Bau einer Pilotanlage<br />
am Standort Trawsfynydd im Norden Wales<br />
forcieren.<br />
Es bleibt also nicht nur spannend, was die Zukunft der<br />
Kernenergie weltweit betrifft, es gibt jetzt auch Zukunftsperspektiven<br />
sogar für einen Ausbau weltweit– mit derzeit<br />
454 Kernkraftwerken weltweit in Betrieb...so viele wie<br />
noch nie zuvor.<br />
Christopher Weßelmann<br />
– Chefredakteur –<br />
Editorial<br />
Nuclear Energy: the Dead Live Longer or the Summer of <strong>2018</strong>